Die Cogheart-Abenteuer: Zirkus der Lüfte - Peter Bunzl - E-Book

Die Cogheart-Abenteuer: Zirkus der Lüfte E-Book

Peter Bunzl

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Beschreibung

Alte Geheimnisse können schwer wiegen, wenn man fliegen will. Eingeladen zu einer spektakulären Show von Slimwoods fantastischem Zirkus der Lüfte, können Lily, Robert und der mechanische Fuchs Malkin es kaum erwarten, an Bord zu springen. Doch hinter den waghalsigen Aktionen des bezaubernden Vogelmädchens und anderer Darsteller verbirgt sich etwas Unheimliches. Und bald enthüllt die wachsame Direktorin Madame Lyons-Mane einen tödlichen Plan für Lily. Könnten die Geheimnisse aus Lilys Vergangenheit ihre einzige Chance sein, dieser schrecklichen Falle zu entkommen? Der dritte Band der Cogheart-Abenteuer begeistert mit dem unverwechselbaren Charme des viktorianischen Englands und fesselt mit einem hochspannenden Plot.

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Seitenzahl: 420

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DIE COGHEART-ABENTEUER

PETER BUNZL

ZIRKUS DER LÜFTE

DIE COGHEART-ABENTEUER

ZIRKUS DER LÜFTE

Eine spektakuläre Geschichte von Zauberküns ten und Seil tänzern

PETER BUNZL

LAGO

FÜR MUM UND DAD

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

1. Auflage 2022

© 2022 by LAGO, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die englische Originalausgabe erschien 2018 bei Usborne Publishing Ltd. Usborne House, 83-85 Saffron Hill, London EC1N 8RT, England unter dem Titel Skycircus. © 2018 by Peter Bunzl. All rights reserved.

Cover and inside illustrations: Clockwork Key © Thinkstock / jgroup; Border © Shutterstock/ Lena Pan; Stripes © Tippawankongto; Grunge/halftone © Shutterstock / MPFphotography; Crumpled paper texture ©

Thinkstock / muangsatun; Circus lettering and decoration © Thinkstock / Shiffarigum; Clockface © Shutterstock / Vasilius; coffee ring stains © Thinkstock / Kumer; Wood Texture © Thinkstock / NatchaS; Plaque © Thinkstock / Andrey_Kuzmin; Newspaper © Thinkstock / kraphix; Old paper texture © Thinkstock / StudioM1

Die gewählte männliche Form bezieht sich immer zugleich auf weibliche, männliche und diverse Personen. Auf konsequente Mehrfachbezeichnung wurde aufgrund besserer Lesbarkeit verzichtet.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Christiane Bernhardt, Gisela Fichtl

Redaktion: Christiane Geldmacher

Umschlaggestaltung: dem Original nachempfunden

Umschlagabbildung und Abbildungen Innenteil: Becca Stadtlander

Satz: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook by tool-e-byte

ISBN Print 978-3-95761-210-6

ISBN E-Book (PDF) 978-3-95762-302-7

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-303-4

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.lago-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

INHALT

FÜNF JAHRE ZUVOR ...

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

EIN LEXIKON MERKWÜRDIGER WÖRTER

DANK

FÜNF JAHRE ZUVOR ...

Die meisten, die in ihren Träumen fallen, wachen auf, bevor sie am Boden aufkommen.

Sie nicht.

Sie träumte davon zu fliegen.

Im Bruchteil der Sekunde, bevor sie zu Boden stürzte, breitete sie die Arme weit aus und spreizte ihre Finger wie Federn, ein Vogel im Sturzflug.

Die Luft trinken.

Die Wolken küssen.

Den Horizont mit einem großen, herrlichen Schluck leer trinken.

Bis eine wütende rote Sonne sie vom Himmel brannte ...

Und nichts blieb als der Geschmack von Asche in ihrem Mund.

Danach wachte sie allein und orientierungslos auf ihrem harten Bett aus Holzpaletten auf, das auf dem Dachboden des Armenhauses von Camden stand, und notierte mit einem Bleistift das Datum neben all den anderen auf dem abblätternden Putz. Dann kauerte sie sich wieder unter ihre kratzige Decke und dachte vor dem Aufstehen an all die Dinge, die sie verpasste.

Das Frühstück bestand aus Resten der mageren Mahlzeit, die ihr am Vortag nach oben gebracht worden war. Von ihrem Blechteller fütterte sie die harten Krumen den tapferen Vögeln, die sich auf ihre Fensterbank setzten. Sie streckte ihre Hände durch die Gitterstäbe und bot ihnen Brösel an.

Wenn sie fertig waren, sah sie ihnen zu, wie sie über die Hausdächer hinwegglitten, und sie wünschte sich, auch sie könnte sich so hoch in die Luft emporschwingen. Doch sie konnte genauso wenig fliegen, wie sie auch nur einen Fuß vor die Tür des Zimmers setzen konnte. Sie war schon so lange eingesperrt, dass sie vergessen hatte, wie die Jahreszeiten schmeckten.

Die einzige Person, die sie hin und wieder zu Gesicht bekam, war der Küchenjunge. Jeden Nachmittag schlenderte er über den Hof und zog an dem knarzenden Flaschenzug, um einen Korb mit Essen zu ihr nach oben zu befördern; manchmal schickte er ihr auch eine Nachricht mit. Wenn es Zeit war, den Teller zurückzugeben, legte sie ihm gerne ein Geschenk und eine Antwort bei.

Im Frühling schickte sie ihm leere Eierschalen aus den Nestern der Hausspatzen; im Sommer Federn von den sich mausernden Tauben; im Herbst Kastanien, die sie aus den stacheligen grünen Hüllen pulte, die auf die Dachschiefern fielen; im Winter waren es weiße Knöchelchen, die von den aasfressenden Krähen sauber abgenagt worden waren.

Sie erfreute sich an seinem überraschten Gesicht, wenn er ihre Geschenke bekam. Seine winzigen Augen leuchteten unter seinem dunklen Haar und sein belustigtes Grinsen ließ sein gebräuntes Gesicht strahlen. Sein Lächeln war das Einzige, das sie je sah.

Bis zu dem Tag, an dem die Besucherin kam.

Das Knarren der Treppe und das Rasseln von Schlüsseln im Schloss kündigte ihr Kommen an.

Dann öffnete die Besitzerin des Armenhauses, Miss Cleaver, die Tür, trat ein und gab ihr das Zeichen, sich von ihrem Bett zu erheben.

Die Besucherin wischte sich eine Strähne ihres silbernen Haars aus dem Gesicht, trat hinter Miss Cleaver hervor und lief durch die Dachbodenkammer auf sie zu.

»Guten Morgen, Angela. Ich bin weit gereist, um dich kennenzulernen.«

Angela, ja, das war ihr Name. Es war lange her, dass sie ihn gehört hatte. Sie wollte den Gruß erwidern, doch als sie ihren Mund öffnete, um zu antworten, lagen ihr die Worte weder auf der Zungenspitze, noch versteckten sie sich tief in ihrem Inneren. Sie wollte nicht unhöflich sein, aber manchmal, wenn sie nervös war, bekam sie einfach keinen Ton heraus. Es war Ewigkeiten her, seit sie zum letzten Mal mit jemandem gesprochen hatte, und sie wusste kaum noch, wo sie ihre Antworten abgespeichert hatte.

Die Besucherin kam näher, strich eine Falte in ihrem himmelblauen Kleid glatt und hielt neben Angelas Bett inne. Sanftes Sonnenlicht fiel durch das vergitterte Fenster hinter ihrem Kopf und ließ engelsgleiche goldene Strahlen in ihren grauen Locken aufblitzen.

»Kannst du laufen?«, fragte die Besucherin.

Anstatt zu antworten, warf Angela ihre kratzige Decke zur Seite, griff nach ihrem Stock und mühte sich auf die Beine.

Die Besucherin bot ihr ihre Hand an. »Möchtest du mich gerne auf eine kleine Reise begleiten?«

Angela zögerte. Wie oft schon hatte sie sich gewünscht, den Dachboden zu verlassen, doch jetzt, da die Freiheit zum Greifen nahe war, hatte sie Angst. Die Fremde konnte doch bestimmt nicht schlimmer sein als das Armenhaus oder Miss Cleaver? Sie machte keinen schlimmeren Eindruck, aber so ein Eindruck konnte täuschen.

Angela rieb sich die Augen und starrte die Besucherin ohne zu blinzeln an, die ihr zur Erwiderung ein schwaches Lächeln schenkte.

»Nimm meine Hand. Ich verspreche dir, dass wir an einen ganz besonderen Ort gehen werden. An einen sicheren Ort. Und wenn wir dort ankommen, werde ich dir helfen, deine Flügel zu finden. Möchtest du das gerne?«

Angela nickte. Ja, das wollte sie. Sie wollte es sogar sehr. Es war, als hätte die Besucherin direkt in ihre Träume geblickt.

Doch wie sollte diese Dame, die aussah, als hätte sie sich kein einziges Mal in ihrem Leben um irgendetwas bemühen, auch nur einen Finger rühren müssen, ihr, einem zerbrechlichen Waisenmädchen, das Fliegen beibringen?

Um das herauszufinden, musste sie alles riskieren.

Ein letztes Mal ließ sie ihren Blick durch den staubigen Raum schweifen, dann griff sie nach der Hand der Besucherin und hielt sie fest in der ihren.

KAPITEL 1

Hast du jemals deinem Herzschlag gelauscht und dich gefragt, wie es eigentlich tickt?

Lily Hartman hatte genau das getan. Und zwar viele Male.

Äußerlich war sie ein ganz gewöhnliches junges Mädchen mit flammend rotem Haar, rosigen Wangen und Augen in der Farbe des tiefen grünen Ozeans. Doch innerlich unterschied sie sich so von anderen Menschen, wie sich Kreide von Käse unterscheidet, oder Zahnrädchen von Knochen.

Das rührte daher, dass Lily das Cogheart hatte — das Ewige Herz, das aus einem Uhrwerk bestand. Ein mechanischer Apparat mit Federn und Zahnrädchen, der sich in ihrem Brustkorb befand. Seit sie vor einem Jahr erfahren hatte, dass sie das Ewige Herz besaß, hatte sich Lily viele Gedanken über die einzigartigen Eigenschaften des Ewigen Herzens gemacht.

Allem Anschein nach war es unzerstörbar — ein Perpetuum mobile. Lily wusste nicht genau, was das sein sollte, aber Papa hatte Anspielungen gemacht, dass es bedeutete, sie — oder zumindest das Herz — würde immer weiter existieren. Mit der Vorstellung eines ewigen Lebens konnte sich Lily nicht so recht anfreunden. Der Gedanke daran, alle zu überdauern, die sie jemals gekannt und geliebt hatte, war nicht sonderlich verlockend. Er vermittelte Lily das Gefühl, kein natürlicher Mensch, sondern eher die Laune eines Erfinders zu sein ...

Zumindest betrachtete sie sich als solche, wenn sie über derlei Dinge grübelte — auch wenn sie versuchte, dies zu vermeiden, da es so viel anderes gab, worüber man nachdenken konnte. Heute zum Beispiel war der dreiundzwanzigste September und ihr vierzehnter Geburtstag.

Lily war froh darüber, dass ihr unglückliches dreizehntes Lebensjahr nun der Vergangenheit angehörte. Es war eine Zeit voller Schwierigkeiten gewesen, eine Zeit voller gefährlicher Situationen, die sie ohne die Hilfe ihrer Freunde nie überstanden hätte. Dass dieses Jahr jetzt vorüber war, war definitiv ein Grund zum Feiern.

Das Problem war nur, dass niemand feierte.

Weder ihr bester Freund Robert noch Malkin, ihr Mechantier-Fuchs, noch Papa noch die Mechan-Köchin und Haushälterin Mrs Rust. Noch nicht einmal Captain Springer, Mr Wingnut oder Miss Tock — die restlichen Uhrwerkdiener, der Gut-Brackenbridge-Brigade. Kein Einziger von ihnen!

Das fühlte sich geradezu kriminell ungerecht an und schlichtweg skandalös! Und das Schlimmste daran war, dass Papa ihr Geburtstagsfest auf morgen vertagt hatte, genauso gut hätte er es gleich ganz abblasen können.

Stattdessen sollte es später am Abend eine große Zusammenkunft im Speisesaal geben, die nicht etwa stattfand, um ihren vierzehnten Geburtstag zu feiern — wie man hätte erwarten können -, sondern um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Gilde der Mechanisten Papa für seine Forschungsarbeit an Mechanern und Mechantieren so etwas wie einen Preis für sein Lebenswerk verlieh ... oder so ähnlich.

Ehrlich gesagt, so ganz genau wusste es Lily nicht, da sie in dem Moment aufgehört hatte zuzuhören, als er gesagt hatte, dass ihre Geburtstagsfeier wegen der Preisverleihung nicht stattfinden könne. Natürlich hatte er sich bei ihr entschuldigt, aber der Termin stand fest. War schon vor Langem fix gemacht worden. In Stein gemeißelt. Und konnte deshalb nicht verschoben werden.

Daher also hatte Lily den ganzen Tag Trübsal geblasen.

Das Schwierige dabei war nur, einen geeigneten Platz zum Trübsalblasen zu finden, da man im gesamten Haus mit den verklirrten Vorbereitungen für Papas »besonderen Termin« beschäftigt war.

Um zehn nach fünf hatte Lily schließlich einen Platz auf der Treppe gefunden. Sie hatte sich sogar umgezogen und trug jetzt ihr hellrotes Abendkleid — ihr Lieblingskleid, weil es das Einzige war, das Taschen hatte, und weil sie sich darin von der düsteren Tapete im Korridor abhob. (So würde der gesamte Haushalt ihre schlechte Laune vielleicht doch noch bemerken und was für eine Märtyrerin sie doch war.)

Doch bislang schenkte ihr niemand Beachtung.

Durch die geöffneten Türen des Speisesaals beobachtete sie, wie sich Papa in seinem weißen Seidenhemd und seinem eleganten schwarzen Frack nervös durch sein zurückgekämmtes Haar fuhr. Er gab Mr Wingnut, einem der Mechaner, noch ein paar letzte Anweisungen zur Tischgestaltung.

Miss Tock, das Mechan-Hausmädchen, stand ganz in der Nähe und polierte das Besteck, das auf der Anrichte bereitlag, aufs Penibelste. Dabei bewegten sich ihre Arme mit flinken monotonen Uhrwerkbewegungen und die abgesplitterte Farbe auf ihrer Stirn legte sich vor Konzentration in Falten.

Am anderen Ende des Flurs stand die Küchentür einen Spalt weit offen und Lily konnte hören, wie Mrs Rust, die Mechan-Köchin, mit Töpfen und Pfannen hantierte und die Speisen, die sie zubereitete, verfluchte, als wären sie lebendig und könnten sie verstehen.

»ZAHNRÄDCHEN UND CHRONOMETER, KOCH SCHON, WIRD’S ENDLICH, DU VERMALEDEITE FORELLE!«, rief sie. Und dann: »VERKLIRRTES UHRWERK, WIRD AUS EUCH KOHLKÖPFEN WOHL NIEMALS SAUERKRAUT?« Ihre Ausdrucksweise war nur ein klein wenig unflätiger als sonst.

Von Robert, der seit dem frühen Tod seines Vaters vor bald einem Jahr bei ihnen lebte, hatte Lily den ganzen Tag keinen Mucks gehört. Sie nahm an, dass er in seinem Zimmer war und sich für das Abendessen in seinen schicken Anzug warf. Malkin, dieser rotpelzige Schlingel, war höchstwahrscheinlich bei ihm. Entweder das oder er führte etwas im Schilde, buddelte zum Beispiel wieder Löcher in den Rasen.

Lily hatte gerade beschlossen, sich irgendwohin zurückzuziehen, wo sie wirklich allein wäre, um in Ruhe so richtig schmollen zu können, als sie ein eigenartiges Klopfen an der Haustür hörte.

Ein langsames, rhythmisches Rat-t-tat-tat.

Das Klopfen war ziemlich beharrlich.

Lily sah sich um, ob nicht jemand anderes da wäre, der die Tür öffnen könnte, aber da niemand zu sehen war, stand sie schließlich auf und lief durch den Flur.

Als sie nach der Türklinke griff, hörte das Klopfen auf, und als sie die Tür öffnete, war keiner zu sehen. Doch auf der Türschwelle lag eine kleine rot-weiß gestreifte Hutschachtel, die mit buntem Geschenkband verschnürt war.

Unter dem Band steckte ein cremefarbener Umschlag, adressiert an:

Miss Hartman von Gut Brackenbridge

Lily bückte sich und hob die Hutschachtel auf. Ein Geschenk! Wie aufregend! Sie hatte nichts von außerhalb des Hauses erwartet. Sie blickte sich aufmerksam nach dem geheimnisvollen Phantom um, das es geliefert haben musste, aber wer auch immer es sein mochte, schien wie vom Erdboden verschluckt.

Sie zog den Umschlag unter dem Geschenkband hervor und nahm die Karte heraus. Sie zeigte die Radierung eines gestreiften Heißluftballons, der über einem rot-weiß gestreiften Zirkuszelt schwebte. Auf der Rückseite der Karte stand in der gleichen krakeligen Schrift wie auf dem Umschlag ein Gedicht geschrieben:

Liebe Lily,

unsere Frage ist schlicht und sie ist auch kein Scherz:

So mancher von uns grübelt, wie eigentlich tickt es, dein Herz?

Zwei Dinge können das Rätsel lösen, die nennen wir hier ganz verwegen -

das eine ein funkelnagelneues und das andre aus einem alten Leben!

Wir hoffen, dir gefallen die Gaben beide und sagen dir, du bist es wert:

Wir wünschen dir schöne Geschenke, sei innig zum vierzehnten Geburtstag geehrt!

Lily dachte darüber nach, von wem diese Verse wohl sein mochten und was sie bedeuten könnten. Insbesondere eine Zeile ließ sie aufhorchen:

Wie eigentlich tickt es, dein Herz?

Der Satz beunruhigte sie. Er schien, als wüsste jemand ein bisschen zu gut über sie Bescheid. Als wüsste die Person, die ihr die Karte geschickt hatte, über ihr mechanisches Herz Bescheid ... dabei hatte außer Papa, Malkin, Robert und den Haus-Mechanern niemand Kenntnis davon ... Oh, und Anna und Tolly. Aber keiner von ihnen hätte ihr so etwas zukommen lassen, oder vielleicht doch?

Und überhaupt, warum so ein kryptisches Rätsel mit Hinweisen und Anspielungen? Denn was sollte »ticken« in diesem Zusammenhang wohl bedeuten, wenn nicht das Geräusch ihres Herzens? Die Frage war nicht nur, wer sie war, sondern, was sie war ... Es sei denn, sie läse da vielleicht etwas zu viel hinein? Könnte es eine unbeabsichtigte Redewendung gewesen sein? Vielleicht machte sie sich zu viele Sorgen um das Ewige Herz, hatte zu viel Angst, dass es entdeckt werden könnte ...

Die geheimnisvolle Lieferung wurde noch eigenartiger, da es sich dabei um das erste und einzige Geschenk handelte, das Lily heute bekommen hatte.

Sie löste die Schleife, hob den Deckel der Hutschachtel und spähte hinein.

Im Licht der Sonne leuchtete ein roter Streifen auf.

Lily nahm den Deckel vollständig ab.

Im Inneren der Schachtel war kein Hut oder sonst ein Gegenstand, den man vernünftig als Kopfbedeckung hätte tragen können. Stattdessen lag in einem Bausch aus grünem Seidenpapier ein dünnes Buch, das in weiches portweinrotes Leder gebunden war. Auf die Vorderseite war die Spiralform eines Ammoniten in Gold geprägt.

Lily nahm das Buch aus der Schachtel. Es war kaum größer als ihre Hand. Die Seiten waren zerknickt, das Buch voller Papierschnipsel, die als Lesezeichen daraus hervorlugten. Ein Notizbuch also?

Sie öffnete es und blätterte durch die ersten Seiten. In der Mitte der ersten Seite standen drei tintenblaue Buchstaben gedruckt:

G.R.F.

Lily wusste sofort, wem das Notizbuch gehört hatte: ihrer Mama, Grace Rose Fairfax. Fairfax war ihr Mädchenname gewesen, bevor sie Professor John Hartman geheiratet hatte, bevor sie Lily bekommen hatte und bevor sie in dieser tragischen verschneiten Nacht vor fast acht Jahren gestorben war.

Es war ihr Notizbuch. Ein Notizbuch, von dessen Existenz Lily nichts gewusst hatte.

Lily war so in Gedanken vertieft, dass sie ihre Bedenken über die Nachricht auf der Geburtstagskarte völlig vergaß. Sie fühlte sich, als würde sie ein Stück der Vergangenheit in Händen halten.

Ihr Finger zitterten, als sie die Seiten umblätterte, ihre Augen flogen über seltsame Zeichnungen und Sätze. Das Notizbuch schien ein Versuch zu sein, die Grundlagen des Fliegens zu dokumentieren. Es war voller Tagebucheinträge, Zeichnungen, Collagen, Diagramme und Skizzen von Vögeln.

Grafiken vom Verhältnis zwischen Gewicht und Flügeln wechselten sich mit Abbildungen und Landkarten ab, die die Windströmungen am Himmel über England darstellten, und mit nachkolorierten Bildern, die aus Zeitschriften und Zeitungen gerissen worden waren, und Engel, Sphinxe und Harpyien darstellten. Auf einer Seite war sogar eine Illustration, die aus einem Kinderbuch über Ikarus und Dädalus gerissen worden war, mit ihren Flügeln aus Wachs und Federn, mit denen sie zu nah an die Sonne heranflogen.

Sie würde Zeit brauchen, um sich all das genauer anzusehen. Und sie musste herausfinden, wer es ihr geschickt hatte. Von den anderen im Haus würde sich doch bestimmt keiner die Umstände machen, ein Geschenk für sie auf der Türschwelle abzustellen, oder? Aber wo sollte Mamas Notizbuch sonst herkommen? Keiner der Ortsansässigen hatte es abstellen können, weil niemand in der Gegend Mama gekannt hatte — sie war gestorben, bevor sie hierhergezogen waren. Außerdem war Papa sehr darauf bedacht, dass sie für sich blieben, insofern schien es unwahrscheinlich, dass irgendwelche Nachbarn oder Dorfbewohner überhaupt von Lilys Geburtstag wussten. Auf der Karte war von zwei Geschenken die Rede, und doch war da nur eines. Vielleicht gab es noch einen weiteren Hinweis in der Schachtel? Sie suchte in dem grünen Seidenpapier, doch da war nichts.

Noch immer in Gedanken über dieses Rätsel versunken, ging Lily die Verandatreppe hinunter und blickte in der Hoffnung, ein Zeichen zu entdecken, woher die mysteriöse Lieferung gekommen war, die Auffahrt hinunter. Doch alles, was sie sah, war Captain Springer, der Mechan-Hausmeister und Fahrer, der den Rasen vor dem Haus rechte. Die Zahnrädchen und Federn seiner Arme und Beine zitterten und tuckerten, als er das Laub auf einem großen, ordentlichen Haufen sammelte. Der ramponierte Lack seines Metallgestells hatte fast die gleiche rostrote Farbe wie die herbstlichen Blätter.

Um seine Aufmerksamkeit zu erlangen, steckte Lily sich ihre Finger in den Mund und pfiff so laut sie konnte.

Captain Springer hörte mit dem Rechen auf und drehte seinen Kopf, wobei seine großen Kulleraugen surrten, als seine Pupillen sie scharfstellten. »Hat uns gerade jemand im Haus einen Besuch abgestattet?«, brüllte Lily.

Captain Springer schüttelte den Kopf. Er klapperte lose am Kreuzgelenk in seinem Hals. »Ach, du meine Schrauben, nein. Den ganzen Nachmittag nicht. Warum? Ist etwas passiert?« Lily fragte sich, ob sie ihm von dem Geschenk erzählen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen.

»Nichts Besonderes«, sagte sie.

»Tsts«, schnalzte Captain Springer tadelnd mit der Zunge und widmete sich wieder seiner Arbeit.

Lily nahm die Hutschachtel, ging ins Haus zurück und zog die Tür hinter sich zu. Ein paar Sekunden lang verharrte sie in der Eingangshalle, strich mit ihren Fingern über den Deckel der Schachtel und dachte über das Notizbuch und die Karte nach.

Es wäre wohl besser, wenn sie sich ein Plätzchen suchen würde, um die Sache vor dem Abendessen genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Standuhr neben der Tür zum Salon zeigte fünf nach halb sechs. Bis um sechs blieb ihr noch Zeit, dann würden die ersten Gäste für die Party eintreffen.

Wenn sie wirklich noch ein paar Seiten lesen wollte, musste es an einem Ort sein, an dem keiner nach ihr suchen würde — und sie kannte genau den richtigen Platz dafür!

Die Hutschachtel unter einen Arm geklemmt, stieg Lily die Prunktreppe hinauf und lief den Flur entlang. Sie ging an der Bibliothek vorbei und dann an Papas Arbeitszimmer, wo das Porträt von Mama, die auf sie herunterblickte, über dem Kamin hing.

Sie passierte die geschlossene Tür von Roberts Zimmer und hörte, wie er mit Malkin stritt.

»Ich versuche hier, eine heikle Operation durchzuführen«, sagte Robert.

»Dann lass mich helfen«, antwortete Malkin.

»Nein, du verhedderst dich nur mit deinem Fuchspelz im Getriebe. Oder zernagst etwas Wichtiges.«

»Nein, werde ich nicht.«

»Du kaust gerade jetzt auf meinem Hosenbein herum!«

»Tja, ich muss meine Zähne eben scharf halten. Außerdem solltest du wissen, dass du nach Mottenkugeln stinkst.«

Roberts Antwort entging Lily, da sie weiterlief, vorbei am hinteren Badezimmer und dem Wäscheschrank. Am Ende des Flurs griff sie nach einem Paar gläserner Türknäufe, die auf Handhöhe in die Tapete eingelassen waren. Sie drehte an ihnen und betrat einen geheimen Dienstbotenaufgang, der an der Hinterseite des Hauses nach oben verlief.

Lily stieg die steile Treppe hinauf, ließ die Unterkunft der Mechaner links liegen und kam schließlich zu ein paar Holzstufen, die in ein Turmzimmer unterm Dach ganz oben im Haus führten. Dort erstreckten sich staubige Holzdielen unter den vier großen Rundbogenfenstern, die in Richtung Norden, Süden, Osten und Westen zeigten.

Vor dem Ostfenster stand auf einen Dreifuß montiert ein Teleskop, das Lily, Robert und Papa manchmal benutzten, um in die Sterne zu blicken. Am anderen Ende des Raums, unter dem Westfenster, lag ein von der Sonne ausgeblichener Teppich. Darauf befand sich ein alter Polstersessel, der aussah, als hätte er eine rabiate Eichhörnchen-Attacke überlebt, dabei hatte in Wirklichkeit nur Malkin ein bisschen daran genagt. Neben dem Sessel stand ein Überseekoffer, den Lily und Robert als Kaffeetisch benutzten, und auf dem Koffer stapelten sich jede Menge Bücher, halb leer getrunkene Teetassen und eine alte Öllampe.

Als Lily und Robert den Raum zu ihrem Rückzugsort erkoren hatten, hatte Lily die Wände eifrig mit Kupferstichradierungen aus ihren schaurigsten Groschenromanen geschmückt und diese an die kahle Ziegelwand um den Sessel herum gepinnt. Da waren vier Illustrationen aus Varney the Vampyre Versus the Air-Pirates und sechs aus Spring-Heeled Jack Battles the Spider Monsters — eine Serie, die Lily besonders gerne mochte, seitdem sie wusste, dass ihre Freundin Anna Quinn ein paar der Heftchen verfasst hatte.

Jede einzelne der grausigen Seiten war großzügig mit leuchtend roter Farbe bespritzt worden, um sie noch blutrünstiger aussehen zu lassen. Lily hatte eine ganze Tube Rot aus ihrem Wasserfarbenmalkasten für junge Damen aufgebraucht, um sie zu bemalen und einen Großteil ihrer Nadeln aus ihrem Näh-Set für fleißige Schneiderinnen, um sie an die Wand zu pinnen — die letzten Geburtstagsgeschenke von Papa waren also doch noch zu etwas nutze.

Die Bilder flatterten im Wind, als Lily das nächstgelegene Fenster öffnete, um ein bisschen frische Luft hineinzulassen.

Sie ließ die Hutschachtel neben den Sessel fallen und setzte sich. Sie wiegte das rote Notizbuch in ihrem Schoß, dann öffnete sie es und blätterte zur ersten der beschriebenen Seiten.

In die oberste Zeile hatte ihre Mama den Tag und das Datum gekritzelt, darauf folgte ein erster Eintrag:

Sonntag, der 1. September 1867 Fairfax Haus

Eine neue Fliegologie

Inspiriert von den Schriften der außergewöhnlichen Mechanistin Ada Lovelace. Insbesondere durch ihre neuartige Studie »Fliegologie«, in der sie als Erste die Erschaffung von uhrwerkbe triebenen, geflügelten Kreaturen skizziert - Ornithopter, deren Flug dem der Vögel nach empfunden war.

Auf diesen Seiten möchte ich ihre Theorien weiter ausarbeiten und meinen eigenen Gedanken Raum geben, sodass sie sich in die Höhen emporschwingen können, derer sich Ada bereits vor dem Ende dieses herrlichen Jahrhunderts erfreuen durfte.

Nicht nur möchte ich meinen täglichen Fortschritt bei diesem Unterfangen festhalten, sondern auch die Herausforderungen dokumentieren, denen ich mich als eine der ersten Frauen gegenübersehe, die im Feld der Mechanik - einem von Männern beherrschten Gebiet - forscht.

Mein Name ist Grace Rose Fairfax, und das ist meine Geschichte ...

Als Lily das las, bildete sich in ihrem Hals ein Kloß. An einigen Stellen füllten sich ihre Augen mit Tränen und sie verlor ihren Fokus. Die Vorstellung, ihrer Mama durch diese Seiten wieder näherzukommen, war beinahe mehr, als sie ertragen konnte. Jeder Satz fühlte sich wie eine Einladung an, die zu erhalten sie nicht erwartet hatte, zu einer Unterhaltung, von der sie nicht einmal geahnt hatte, dass sie sie führen könnte.

Wie lange hatte Mama wohl an dem Fliegologie-Projekt gearbeitet? War es ihr je gelungen, es in die Realität umzusetzen? Papa hatte es ganz bestimmt nie erwähnt, und auch nicht das Notizbuch. Wer hatte es also geschickt? Vielleicht würde ihr der zweite Hinweis, der in dem Rätsel erwähnt wurde, eine Antwort geben, wenn er denn schließlich einträfe.

Wenn sie so darüber nachdachte, hatte Papa nicht viel darüber gesprochen, dass auch Mama Mechanistin gewesen war. Er hatte es hier und da nebenbei erwähnt, aber war nie ins Detail gegangen. Lily hätte ihn zu gerne nach seinem und Mamas gemeinsamen Leben gefragt, aber sie fürchtete, dass ihn ein Gespräch über die Vergangenheit aus der Bahn werfen würde. Und außerdem schien es, als fände sie nie den richtigen Moment.

Jetzt und hier, zwischen den Seiten des roten Notizbuchs, würde sie vielleicht die Antworten auf die Fragen finden, die ihr so auf dem Herzen lagen. Ein Herz, das an jenem kalten Oktobertag vor sieben Jahren, an dem Mama gestorben war, gebrochen war.

Lilys Hand wanderte an ihre Brust und sie tastete nach dem weichen Umriss ihrer Narben — Schnitte, die, wie sie früher gedacht hatte, vom zersplitterten Glas des Unfalls herrührten, bei dem sie schwer verletzt und ihre Mama getötet wurde. In Wirklichkeit kamen sie von der Transplantation des Ewigen Herzens, das ihr in ihren Körper eingepflanzt worden war.

Die schweren Wunden waren schon seit Langem verheilt, doch der Phantomschmerz und der Verlust, den sie mit sich gebracht hatten, hallten noch immer in ihrem Inneren nach, und Lily war nicht danach, diese Emotionen gerade heute noch einmal zu durchleben. Nicht an ihrem Geburtstag.

Sie nahm ihre Hand von der Brust und klappte das Notizbuch zu. Dabei fiel eine Karte aus Büttenpapier aus den Umschlagseiten, glitt wie eine Feder zu Boden und blieb zu ihren Füßen liegen.

Sie bückte sich hinunter, hob sie auf und drehte sie um, um sie genauer in Augenschein zu nehmen.

Auf der Vorderseite war das Bild eines Mädchens in einem Rüschen-Tutu und mit Ballettschuhen in Silber und Gold aufgeprägt. Es war schwierig, von dem Bild auf das Alter des Mädchens zu schließen, doch schätzungsweise sah sie aus, als wäre sie so um die fünfzehn. Ihre langen, schlanken Arme streckte sie ausgebreitet nach oben, und hinter ihr entfaltete sich ein gigantisches Paar mechanischer Flügel.

Es schien ganz so, als würden die Flügel dem Rücken des Mädchens entspringen, als gehörten sie zu ihrem Körper. Jede einzelne Feder, jedes Zahnrädchen und Drähtchen war bis ins kleinste Detail in Tusche gezeichnet und darum herum stand in verschnörkelten Buchstaben:

Unter der Abbildung befand sich eine Nachricht für Lily:

Diese VIP-Eintrittskarte erlaubt es Lily Hartman und drei Freunden, uns zu besuchen und Antworten zu erhalten.

PS: Angelique würde dich nach der Vorführung gerne kennenlernen!

War das womöglich der zweite Hinweis? Eigenartig, Lily kannte niemanden mit dem Namen Angelique und auch keine Zirkusleute, und von Slimwoods fantastischem Fliegenden Zirkus — was auch immer sich hinter diesem Namen verbarg — hatte sie noch nie etwas gehört ... Aber zu lesen, dass ein Hybrid-Mädchen mit Flügeln sie kennenlernen wollte — gleich nachdem sie von Mamas Fliegologie-Projekt erfahren hatte, und das in derselben Einladung, die das Versprechen auf Antworten in Aussicht stellte —, war einfach zu verlockend.

Hybride waren in der heutigen Zeit sehr ungewöhnlich, und Lily hatte bisher noch nie einen gleichaltrigen getroffen. Tatsächlich waren ihr bisher nur zwei über den Weg gelaufen: schreckliche augenlose Männer namens Roach und Mould, die versucht hatten, sie umzubringen. Ansonsten hatte sie keinerlei Anhaltspunkt darüber, wie viele von ihnen noch auf der Welt existierten. In ihrer Vorstellung waren die anderen höchstwahrscheinlich versteckt; irgendwo außer Sicht, weggesperrt, so wie sie, um die »normale« Bevölkerung nicht zu beunruhigen.

Insofern war es schön, ein Mädchen zu treffen, das, zumindest auf dem Bild, sein Anderssein offen zeigte und stolz darauf zu sein schien. Lily hoffte, ihre Flügel wären echt und nicht bloß ein raffiniertes Kleid oder ein Fantasiegebilde. Doch wie war sie überhaupt zum Zirkus gekommen? Und gab es eine Verbindung zwischen ihr und Mama?

Sie betrachtete das Bild des Mädchens genauer, doch ihr Gesicht verriet nichts, es war ein Mysterium, durch Spuren vom Druck verwischt, löste es sich auf dem Papier auf. Es gab nur einen Weg, die Wahrheit zu erfahren — sie müsste gleich heute zur Abendvorstellung des Fliegenden Zirkus. Das war ihre einzige Möglichkeit, mit Angelique zu reden und womöglich etwas über ihre Mama zu erfahren.

Seit seinem eher weniger vielversprechenden Anfang hatte sich dieser Geburtstag doch noch als weit interessanter entpuppt, als sie erwartet hätte. Noch einmal überflog sie die Eintrittskarte.

Die Adresse war ihr nicht bekannt, doch die Sonne stand noch am Himmel — wenn der Zirkus in Brackenbridge war, könnte sie ihn wahrscheinlich hier von ihrem Turmfenster aus sehen.

Sie stand auf und drückte ein Auge an das Ende des Teleskops; ihr Herz tickte laut, als sie die Objektivlinse über die Landschaft gleiten ließ und sich umsah.

Die am Himmel vorüberziehenden Wolken waren goldumrandet wie Schweißflecken auf dem Seidenfutter eines alten Huts. Vom Wasser des River Bracken stieg ein dünner gelber Nebel auf und kroch langsam in Richtung Dorf, wo die herbstlich rot leuchtenden Baumkronen die unregelmäßigen Linien der Hausdächer unterbrachen.

Auf der Weide am letzten Zipfel des Dorfes, halb hinter Büschen und Bäumen verborgen, blitzte ein goldenes Licht in der rasch aufziehenden Dämmerung auf.

Lily nahm es ins Visier.

Es war eine geflügelte Galionsfigur an der Vorderseite eines festgebundenen Luftschiffs.

Darüber schaukelte ein Heißluftballon. Die rot-weiß gestreifte Ballonseide wippte sanft wie ein Glühwürmchen in der Dämmerung und warf Lichtstreifen über die Spitze eines riesigen Zelts aus Segeltuch und eine hohe runde Holzumzäunung, die mit bunten Plakaten zugepflastert war.

Zahlreiche Menschen wateten bereits durch den kniehohen Nebel, um sich vor der Verkaufsbude für die Eintrittskarten und vor dem geschlossenen Eingang in einer Schlange anzustellen — das also war der Zirkus der Lüfte.

KAPITEL 2

Robert lief die Zeit davon. Gleich begann das Fest für den Professor. Jeden Moment würden die Gäste erscheinen, und er musste sich für das abendliche Ereignis noch umziehen. Das Problem war, dass er Lilys Geburtstagsgeschenk noch nicht fertig repariert hatte.

Er hatte immer schon vorgehabt, ihr ihre Taschenuhr spätestens bis zu ihrem vierzehnten Geburtstag wieder instand zu setzen und sie ihr dann als Überraschung zu überreichen. Doch jetzt saß er da im allerletzten Moment und arbeitete noch immer daran. Noch immer lag da diese Uhr und wollte einfach nicht laufen.

Immerhin hatte Malkin aufgehört, an seinem Hosenbein herumzuknabbern — eine Ablenkung weniger. Allerdings lag der alte mechanische Fuchs noch eingerollt unter seinem Tisch und ging ihm mächtig auf den Zeiger.

»Warum dauert das so lang?«, fragte Malkin und blinzelte mit seinen schwarzen Augen. »Du hast gesagt, du wärst längst fertig.«

»Ein Teil noch ...«

Robert betrachtete das Innere der Uhr durch seine Lupenbrille. Die Spiralfeder, das Räderwerk, die Unruh, der Anker, das Ankerrad, sie waren alle perfekt ausbalanciert und aufeinander abgestimmt, wie eine Miniaturlandschaft. Am oberen Rand des Gehäuses, unterhalb der Krone, befand sich die Herstellermarke: T.T. — sein Dad, Thaddeus Townsend.

Die Uhr hatte Thaddeus vor Jahren gefertigt, und Lilys Papa hatte sie gekauft und ihr zu ihrem neunten Geburtstag geschenkt. Doch das Uhrwerk im Gehäuse war stehen geblieben, als er, Lily und Malkin in Hampstead Heath aus dem fahrenden Luftschiff in den Fleet-See gesprungen waren. Und seit diesem Tag hatte Robert vor, sie selbst zu reparieren.

Er hatte Monate damit verbracht, jedes einzelne Element der Uhr zu reinigen, und nun musste er nur noch den einen letzten Edelstein als Lagerstein einsetzen, auf dem das Ankerrad aufsaß. Mit seiner Pinzette nahm er behutsam den winzigen glitzernden Edelstein, der auf seinem Tisch lag.

Seine Hand zitterte, als er sie über das Uhrengehäuse hielt und den Stein an seinen Platz manövrierte.

»Was hast du Lily geschenkt?«, fragte er Malkin, eher um sich abzulenken denn aus Neugier.

Der Fuchs zog die Lefzen zurück, sodass seine gelben Zähne sichtbar wurden. »Verrat ich nicht. Das ist eine Überraschung.«

Robert fragte sich, ob die tote Maus die Überraschung war, die Malkin in einer staubigen Ecke herumgeschubst hatte. Robert hatte ihn dabei beobachtet. Aber er wagte nicht zu fragen.

Der Lagerstein glitt problemlos an seinen Platz und passte sich zwischen den anderen Teilen ein. Robert schloss das Uhrengehäuse. So! Sein Werk war vollendet.

Sein Magen kribbelte vor Aufregung, als er die Uhr zum ersten Mal aufzog und sich vor die Augen hielt. Er hörte die Teile des mechanischen Uhrwerks ticken und die Zeiger bewegten sich so gleichmäßig, wie sie sollten.

Er stellte die Uhrzeit nach seiner neuen Kaminuhr und steckte die Uhr in einen Umschlag, den er mit einer roten Schleife zuband.

Jetzt konnte er sie Lily gleich geben, wenn er sie traf.

Er stand auf und warf sich rasch für den Abend in Schale: ein Anzughemd, eine edle schwarze Hose und Schuhe, die wie Silberknöpfe glänzten.

Er versteckte das Mondamulett seiner Mutter, das er immer unter seinem Hemd trug, bevor er sich die Fliege band und seine Manschettenknöpfe in Zahnradform festmachte.

Dann zog er eine lang geschnittene, seidengefütterte Anzugjacke an und steckte den Umschlag mit der Uhr in die Tasche, bevor er sich im großen Spiegel neben dem Waschtisch bewunderte.

Er sah gar nicht mal so übel aus. Der Anzug passte ihm noch einigermaßen. Er hatte ihn beim Thronjubiläum der Königin im Juli getragen und an seinem eigenen Geburtstag letzten Monat. Auch wenn er feststellen musste, dass er an den Ärmeln seither ein wenig kurz geworden war. Und dass sein Spiegelbild jetzt bis ans obere Ende des Spiegels reichte.

Mit Freude wurde ihm bewusst, dass er gewachsen sein musste. Vielleicht war er dazu ausersehen, der Stattlichste in seiner Familie zu werden? Sein Dad war zu Lebzeiten nicht besonders groß gewesen, seine Mutter und seine kleine Schwester Caddy, die er erst letzten Sommer kennengelernt hatte, hatten sich beide als recht zierlich herausgestellt. Derzeit reisten die beiden durch die Welt und traten mit einer spiritistischen Nummer auf. Und auch wenn sie versprochen hatten, bald zurückzukommen, wusste Robert nicht, wie lange es bis dahin dauern würde. Er wünschte, sie könnten ihn jetzt sehen. Mit seinen vierzehn Jahren und seinem schicken Anzug sah er fast schon aus wie ein richtiger Mann. Und dann führte er auch noch Dads Arbeit weiter — wie stolz sie auf ihn wären!

Nur seine Haare waren noch ein einziges Durcheinander ... Er nahm sich eine Portion Pomade vom Waschtisch und strich sie sich mit der Hand durch seine wirren Locken, um sie zu bändigen.

Es funktionierte nicht. Die Haare sprangen sofort zurück, die widerspenstigen Kräusel zwirbelten sich um seine Ohren wie übereifriger Efeu. Er gab es auf, und nachdem er sich die Hände in der Waschschüssel gewaschen hatte, rückte er stattdessen seine Fliege zurecht.

Als er schließlich fertig war, schloss er den Brustknopf seines Anzugs.

»Wie sehe ich aus?«, fragte er Malkin, der gerade mit dem Seidenpapier aus der Kleiderschachtel, die auf dem Bett lag, raschelte und versuchte, sich daraus einen bequemen Schlafplatz zu bauen.

Der Fuchs bedachte ihn mit einem schwarzlippigen Grinsen und rümpfte seine verschlissene Nase. »Wie ein Pinguin, der gerade seinen Job als Kellner verloren hat.«

»Danke!« Robert überlegte, ob er versuchen sollte, Malkin ein Hundehalsband umzulegen. Teils zu Ehren des abendlichen Ereignisses, teils aus Rache für seinen spöttischen Kommentar. Dann fiel ihm ein, wie scharf und bissig Malkins Zähne waren, wenn er sich ärgerte, und ließ es lieber.

»Ich glaube, Lily versteckt sich vor uns«, sagte Malkin. »Oder sie schmollt. Du weißt, wie böse sie wird, wenn sie denkt, dass niemand sie beachtet, und das sogar, wenn sie nicht gerade Geburtstag hat. Wer verklirrt noch mal weiß schon, wie sie sich heute Abend benimmt, auf einem Fest, bei dem sie nicht die Hauptattraktion ist? Immerhin haben wir unsere Geschenke, um sie aufzumuntern. Trägst du meines für mich, Robert?«

Malkin sprang vom Bett und stupste etwas Kleines, Pelziges über den Boden in seine Richtung. Es war die mausetote Maus, wie Robert befürchtet hatte. »Mir fehlen die Daumen zum Greifen, weißt du.«

»Okay.« Träge gabelte er den verblichenen Nager auf und steckte ihn in seine Tasche. In Fragen wie diesen zog er es vor, nicht mit dem Fuchs aneinanderzugeraten.

Immerhin über sein Geschenk würde Lily sich freuen. Er war selbst richtig zufrieden damit, wie er das hinbekommen hatte. Seine Uhrmacher-Fähigkeiten wurden immer besser und eines Tages würde er Uhrmachermeister sein, genau wie sein Vater. Ihm wurde bewusst, dass er sich immer mehr zu jemandem entwickelte, der Dinge wieder in Ordnung bringen konnte. Egal, wie kaputt sie zuvor waren.

In der Empfangshalle im Erdgeschoss waren alle Lampen angezündet und die Eingangstür stand offen. Lily war nirgendwo zu sehen, doch im Eingangsbereich waren schon die ersten Besucher aufgetaucht. Draußen im glühenden Sonnenuntergang wartete eine Schlange von Dampfdroschken darauf, den Rest der Gäste auf die Eingangstreppe auszuspucken.

Professor John Hartman, Lilys Vater, stand im Foyer, schüttelte Hände und verbeugte sich höflich vor jedem Neuankömmling, der das Haus betrat. Als er Robert und Malkin auf den unteren Treppenstufen entdeckte, winkte er sie verstohlen herbei.

»Habt ihr Lily gesehen?«, fragte er.

Robert schüttelte den Kopf. Malkin schüttelte seine Schnauze.

»Wirklich schade«, sagte John. »Sie verpasst den ganzen Spaß.«

Welchen Spaß?, hätte Robert beinahe gefragt und war überrascht, dass Malkin das diesmal nicht für ihn übernahm.

Inzwischen war die gesamte Empfangshalle und das Wohnzimmer voller muffig-schluffig aussehender Professoren von der Gilde der Mechanisten. Robert wusste, dass sie von der Gilde waren, weil sie alle am Revers ein einzelnes goldenes Zahnrad trugen — das Abzeichen der Gilde. Und dass sie Professoren waren, wusste er auch, denn sie sahen professorig aus — und das bedeutet ziemlich zerknittert, verschroben gekleidet und insgesamt ein bisschen verwildert. Er sah sich nach einem freundlichen Gesicht um, doch er entdeckte niemanden, den er kannte.

John hatte Roberts skeptischen Blick bemerkt. »Ich habe ein paar von Lilys Freunden eingeladen — diese Reporterin, Anna Quinn, und ihren Assistenten, Bartholomew Mudlark.«

»Und wo sind sie?«, erkundigte sich Malkin.

»Ich weiß nicht«, antwortete John, »aber sie haben versprochen, sich blicken zu lassen. Die Leute hier sind mit dem Abendzeppelin eingeflogen, aber Anna bringt Tolly wahrscheinlich eher in ihrem eigenen Luftschiff mit.«

»Du meinst die Ladybird?«, fragte Robert.

»Genau die.« John nickte. »Sobald sie da sind und wenn der offizielle Teil des Abends vorbei ist, so gegen neun, werde ich eine Rede für Lily halten und ihr vor allen ihr Geburtstagsgeschenk überreichen.«

Er zog zwei kleine Schachteln aus seiner Tasche und zeigte sie Robert und Malkin. Sie waren beide schön eingepackt mit buntem Papier und einer roten Schleife. »Beides sind Überraschungen. Also seid so lieb und behaltet es für euch, bis der große Moment gekommen ist! Du auch, Malkin — ich kenne dich ja.«

»Klar«, sagte Robert.

»Egal, was passiert«, kläffte Malkin.

»Ich danke euch.« John lächelte. »In der Zwischenzeit schaut doch mal nach, ob ihr Lily irgendwo findet. Versucht, sie ein bisschen aufzumuntern und sie dazu zu bringen, dass sie herunterkommt, ja?«

»Ich tue mein Bestes«, sagte Robert.

»Und ich genauso«, bestätigte Malkin. Doch als sie sich auf den Weg machten, fügte er hinzu: »Ich schätze mal, dass sie ein ordentliches Maß an Aufheiterung braucht, wenn sie hört, welcher Art die bisher eingetroffenen Gäste sind.«

Sie beschlossen, ihre Suche in Lilys Zimmer zu beginnen, doch als Robert klopfte und den Kopf zur Tür hereinstreckte, erwies es sich als leer, abgesehen von den Kleidern, die über den ganzen Fußboden verstreut herumlagen, und den Stapeln an Schauerromanen, die ihr Regal zierten. Er schaute unter dem Bett nach für den Fall, dass sie sich dort vor ihnen versteckte, aber dort war sie nicht.

Als er aufstand, stieß er an ihren Nachttisch und das kleine Fossil darauf geriet ins Rutschen. Er legte es vorsichtig wieder richtig hin, so gut er konnte. Das Fossil war ein Ammonit aus Katzengold, der in einen Stein eingeschlossen war, den Lilys Mama, Grace Hartman, am Strand gefunden und ihrer Tochter geschenkt hatte. Robert wusste, dass es eins der letzten Geschenke war, die Lily von ihr bekommen hatte, und deshalb war er noch mal extra-besonders. Lily hatte ihm erzählt, dass Grace eine begeisterte Hobby-Geologin und eine der ersten Mechanistinnen in Großbritannien war.

Als Nächstes kam die Bibliothek, weil Lily dort manchmal gern saß und las, aber auch sie war leer. Genauso wie die anderen Zimmer im Obergeschoss und die Räume der Dienstboten, in denen sie sie eigentlich ohnehin nicht vermutet hatten, da Mrs Rust und die anderen nicht da waren, um sich mit ihr zu unterhalten.

Schließlich schlug Robert vor, es in ihrem Rückzugsraum oben im Turm zu versuchen.

Malkin beklagte sich lautstark, als die beiden die Stufen zu dem höchst gelegenen Zimmer des Hauses hinaufstiegen. »Hier oben ist viel zu viel Winterfeuchtigkeit. Da rosten ja meine Innereien. Sickert bis an meine Federn.«

»John hat uns gebeten, Lily zu finden, Malkin«, sagte Robert. »Und überhaupt, entweder das hier oder stundenlang mit diesen langweiligen Professoren reden — was ist dir lieber?«

»Na ja, wenn du es so ausdrückst ...«

Sie betraten das Turmzimmer und da war Lily. Sie saß in dem schmuddeligen alten Ohrensessel. In den letzten gelben Strahlen der untergehenden Sonne fiel ihr langer Schatten über den staubigen Fußboden. Sie hielt ein rotes ledergebundenes Buch in der Hand, in dem sie offenbar gelesen hatte, doch sie schlug es zu, als sie kamen. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen, so vermutete Robert, hatte sie nichts von dem gehört, was sie gesprochen hatten.

»Was machst du hier oben?«, fragte er.

»Schmollen«, sagte Lily. »Willst du wissen, warum? Weil ich heute Geburtstag habe und mich alle ignorieren. Wuseln um Papa herum, der sich aufführt wie die Königin von Saba. Und jetzt ist das Haus voll mit diesen furchtbaren alten Mechanisten, die alles andere als Spaß sind. Da unten ist niemand für mich.«

»Das ist nicht wahr«, sagte Malkin. »Wenn du dir die Mühe gemacht hättest zu fragen, statt Trübsal zu blasen, hättest du gemerkt, dass tatsächlich Gäste für dich da sind.«

»Und wer soll das sein?«, fragte Lily.

»Anna und Tolly«, antwortete Robert.

»Wirklich?« Lily sprang aus ihrem Sessel.

»Sie sind noch nicht da«, sagte Malkin.

»Oh.« Sie setzte sich wieder auf die Armlehne und umarmte niedergeschlagen ihr Buch.

Das auf den Buchdeckel geprägte Muster glänzte. Es sah aus wie ein Ammonit, dachte Robert. »Was ist das für ein Buch?«, fragte er.

Lily öffnete schon den Mund für die Antwort, da schien sie es sich anders zu überlegen. Nach einer Weile sagte sie: »Ach, nichts, oder du-musst-ein-ganzes-Stück-netter-zu-mir-sein-bevor-ich-es-dir-erzähle.« Sie versteckte das rote Notizbuch hinter ihrem Rücken. »Deine Wahl.«

»Wenn das so ist«, sagte Robert, »wirst du die Geburtstagsgeschenke, die wir für dich dabeihaben, wohl gar nicht haben wollen.«

»Das hab ich nicht gesagt, oder?«, antwortete Lily mit einem schiefen Lächeln. Erwartungsvoll lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück und verschränkte die Arme. »Was habt ihr mir mitgebracht?«

»Gib ihr mein Geschenk zuerst, Robert«, befahl Malkin.

Robert griff in seine Tasche und überreichte ihr entschuldigend das verendete Nagetier.

Lily nahm es auf die Hand und betrachtete es angewidert. »Das ist sicherlich ... mal etwas anderes. Ich meine, völlig anders als alles, was ich je zuvor bekommen habe.«

»Ich dachte, du freust dich.« Der Fuchs schleckte mit seiner langen rosa Zunge über seine Schnurrhaare. »Pass gut drauf auf. Da habe ich viel drüber nachgedacht.«

Lily zuckte mit den Achseln. Robert sah zu, wie sie die tote Maus widerstrebend in die Tasche ihres Kleides steckte.

»Wo ist dein Geschenk, Robert?«, bellte Malkin.

»Irgendwo da hab ich es.« Robert tat so, als würde er seine Jacke durchsuchen. »Ich weiß nur nicht so genau, wo ... Willst du, solange ich es suche, einen neuen Trick sehen, den ich mir beigebracht habe?«

»Du bist auf jeden Fall entsprechend angezogen«, erwiderte sie. »Du siehst aus wie ein richtiger Bühnenzauberer in diesem Aufzug.« Sie musterte sich selbst. »Entschuldige. Ich wollte nicht ...«

»Ist schon in Ordnung«, sagte Robert. Die halbe Familie — die schlimme Hälfte — waren Zauberkünstler gewesen. Er dachte nicht gerade gern an sie. Aber seine Mutter und seine Schwester, die ihm das Mondamulett geschenkt hatten, waren spiritistische Medien im Theater. Sie schrieben ihm manchmal Briefe, in denen sie von ihren amüsanten Abenteuern auf ihren Reisen erzählten und von den Magiern und dergleichen, mit denen sie auftraten. Und seit sie angefangen hatten, einander zu schreiben, hatte er Interesse für die Zauberei entwickelt.

»Ach, ich weiß, wo es ist!« Er tippte an Lilys Rocktasche, die gegenüberliegende Seite von der toten Maus. »Schau mal da rein!«

Lily steckte ihre Hand in die Tasche und zog einen mit einem roten Band zugebundenen Umschlag heraus. »Wie hast du das gemacht?«, fragte sie verblüfft.

Robert grinste. »Kleiner Taschenspielertrick. Funktioniert genauso, wie wenn du jemandem etwas aus der Tasche klaust, nur dass man etwas hinsteckt, statt es herauszuholen.«

»Was ist in dem Umschlag?«

»Mach auf und schau nach.«

»Es ist schwer.« Sie riss den Umschlag auf und ließ die Taschenuhr auf ihre Hand gleiten.

»Du hast sie repariert?«

Robert nickte.

Lily untersuchte die Uhr, ihre vor Begeisterung weit aufgerissenen Augen spiegelten sich im Messinggehäuse. »Du hast meine Initialen auf die Vorderseite graviert. Und sie tickt wieder!«, rief sie, nachdem sie sich die Uhr ans Ohr gehalten hatte. Ein breites Grinsen zog sich über ihr Gesicht. Sie drückte auf die Krone und der Sprungdeckel öffnete sich. Ein Sekundenzeiger war zu sehen, der über den langsameren Minuten- und Stundenzeigern um das Ziffernblatt wanderte.

»Da ist noch etwas«, sagte Robert.

Er ließ sich die Uhr von ihr geben und drückte dreimal auf die Krone. Da erschien ein vierter Zeiger hinter dem Stundenzeiger und drehte sich schnell im Kreis. Er stoppte ihn über dem Minutenzeiger und die Uhr läutete wie eine Glocke.

»Ich habe ihr einen Wecker eingebaut«, erklärte er. »Ich dachte, der könnte nützlich sein.«

»Ich wette, du musstest dafür das gesamte Uhrwerk auseinandernehmen«, sagte Lily. »Nicht das ganze Uhrwerk, nur hier und da ein paar Zahnrädchen und Hebel. Ich habe vieles davon im Unterricht bei deinem Dad gelernt; er hat mir gezeigt, wie man mechanische Teile verlegt, wenn man die Funktionsweise ändern möchte.«

»Na, das ist das beste Geschenk überhaupt!« Lily wirkte richtig stolz auf ihn.

»Und was ist mit meinem Geschenk?«, fragte Malkin geringschätzig.

»Das war auch gut, aber das hier ist noch besser. Danke!« Sie küsste Malkin auf die Schnauze und Robert auf die Wange.

»Gern«, murmelte Robert, und er fummelte an seinen Manschettenknöpfen herum, weil ihm ganz heiß wurde. »Jetzt hast du alle Zeit der Welt.«

Lily lachte. »Und ich werde sie immer behalten. In meiner Tasche.«

»Wir sollten runtergehen und uns beim Fest sehen lassen«, schlug Malkin vor.

»Vielleicht.«

Lily nahm ihr Buch und ging zur Tür. Dann blieb sie stehen und drehte sich mit spitzbübischem Gesicht zum Teleskop am Ostfenster um. »Ich hab mir gedacht, dass wir nur kurz beim Fest bleiben sollten — da gibt es noch einen anderen Ort, an den ich gern ginge.«

»Und wo ist das?«, fragte Robert.

»Schau mal da durch.« Sie kippte das Teleskop zu ihm.

Robert bückte sich und spähte durch das Okular. Die Landschaft im Dämmerlicht war in Nebelschwaden gehüllt, die so dicht waren wie heruntergefallene Wolken. »Wonach soll ich suchen?«, fragte er.

»Hinter dem letzten Haus links, auf der Wiese an der Flussbiegung am anderen Ende des Dorfs.« Lily stellte es für ihn ein und durch eine Lücke im Nebel entdeckte es Robert ... ein rot-weiß gestreifter Heißluftballon und eine schiffsförmige Holzgondel, angebunden neben einem riesigen Zirkuszelt, das innerhalb eines hohen weißen Holzzauns aufgeschlagen worden war. Die Seide des Ballons flackerte wie eine Öllampe und warf ihr Licht auf eine lange Schlange aufgeregter Dorfbewohner, die den ganzen Weg von der Gasse am Rand des Feldes hinunter bis zum Kiosk und zu dem Tor mit seinen spitzen Pfählen, das sich in dem hohen Zaun rund um den Zirkus befand, standen.

»Lasst mich auch durchschauen! Ich sehe gar nichts!« Malkin sprang um Lilys Füße herum und kratzte an Roberts Bein.

»Füchse schauen nicht durch Teleskope.« Robert verlagerte seinen Fokus auf das Schild über dem Eingang. »Slimwoods fantastischer Fliegender Zirkus«, las er vor.

»Und da gehen wir hin.«

Lily reichte ihm die Geburtstagskarte.

»Ein seltsames Gedicht«, sagte er schließlich, nachdem er es gelesen hatte.

»Was soll das bedeuten? Und was sind das für zwei Hinweise?«

»Das ist der erste.« Lily zeigte ihm die Eintrittskarte.

Die Zeichnung mit dem Mädchen mit Flügeln und die Nachricht machten Robert sprachlos. »Und der zweite?«, fragte er.

»Das.« Lily zog das rote Notizbuch hinter ihrem Rücken hervor. »Es hat meiner Mama gehört. Es geht darin um eines ihrer Projekte, darum, mechanische Flügel zu entwerfen«, erklärte sie, als Robert durch die Seiten mit den verblüffenden Zeichnungen und Skizzen von geflügelten Gestalten blätterte.

»Und du hast keine Ahnung, wer das geschickt hat?«, fragte Malkin.

»Vielleicht dieses geflügelte Mädchen, Angelique. Sie will uns treffen. Ich nehme an, sie ist auch ein Hybrid, so wie ich. Sie sieht nett aus.«

»Ich weiß nicht, Lily. Wie sollte sie an das Notizbuch deiner Mutter gekommen sein?« Robert tippte auf den roten Umschlagdeckel. Irgendetwas an dem plötzlichen und unerwarteten Auftauchen des Notizbuchs machte ihn hibbelig vor Sorge. »Das könnte eine Falle sein. Warum sonst hat es die Person, die dieses Buch hatte, dir geschickt und nicht deinem Vater?«

»Weil ich heute Geburtstag habe.« Lily schnappte sich das Notizbuch wieder und schlug es mit einem Knall zu.

»Aber woher hätten sie das wissen können?« Er reichte ihr die Eintrittskarte und auch die Karte zurück. »Findest du es nicht merkwürdig, dass ein Zirkus nach Brackenbridge kommt? Es war noch nie einer hier. Solche großen Tourneen machen doch normalerweise nicht in so kleinen Dörfern Halt.«

Malkin ließ seine Zunge seitlich aus dem Maul hängen.

»Da hat Robert recht«, sagte er. »Dass sie ausgerechnet an deinem Geburtstag kommen ... dann noch diese Hinweise und Geschenke und die Einladung ... ich meine, was verklirrt noch mal ...?«

»Tja, ich weiß es nicht, Malkin — deshalb sollten wir hingehen und es herausfinden.« Lily schaute auf ihre Taschenuhr. »Es ist jetzt fast zwanzig nach sechs. Wir besuchen die Aufführung, treffen Angelique, und um neun sind wir wieder zurück, noch bevor das Fest halb vorbei ist.«

»Wir können nicht einfach verschwinden, ohne wenigstens mit ein paar Gästen gesprochen zu haben.« Der Fuchs zog missbilligend die Schnauze kraus. »Dein Vater erwartet, dass du dich sehen lässt.«

»Dann sollten wir sie jetzt alle kurz begrüßen, bevor wir uns heimlich davonmachen«, sagte Lily. »Was meinst du, Robert?«