Die Contessa - Angela von Gatterburg - E-Book

Die Contessa E-Book

Angela von Gatterburg

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Beschreibung

Das Portrait einer zerstrittenen, württembergischen Adelsfamilie unserer Zeit und die Geschichte der zwei ungleichen Schwestern Clara und Antonia. Die junge Antonia, Nachfahrin einer uralten Adelsfamilie, liegt nach einem Selbstmordversuch im Koma. An ihrem Krankenbett lässt ihre Schwester Clara die Geschichte ihrer Familie Revue passieren. Eine fremde, geheimnisvolle Welt eröffnet sich dem der Geschichte aufmerksam lauschenden Arzt. Ein rätselhaftes, historisches Gemälde entpuppt sich als Spur zu den Abgründen in der Familiengeschichte – und als Schlüssel zu Antonias Selbstmordversuch…

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Das Buch

Die junge Aristokratin Antonia unternimmt kurz vor ihrer Hochzeit einen Selbstmordversuch. Während sie im Krankenhaus im Koma liegt, lässt ihre Schwester Clara für Antonias Arzt die wechselvolle Geschichte ihrer Kindheit und Jugend lebendig werden. Wie in einem wunderbaren melancholischen Film beschwört sie das Leben im Schloss herauf, wo ein Todesreiter und ein Gespenst ihr Unwesen treiben und wo die Schwestern eines Tages ein geheimnisvolles Bild geschenkt bekommen. Es zeigt die schöne Contessa Elisabetta, eine Ahnin, die magische Kräfte zu haben scheint. Fasziniert von der unkonventionellen Frau kommen die Grafentöchter sorgsam gehüteten Familiengeheimnissen auf die Spur und beschwören erbitterte Auseinandersetzungen mit dem Vater und den Traditionen der Familie herauf.

Angela von Gatterburgs erster Roman, das Porträt einer eigenwilligen Adelsfamilie, ist eine Geschichte über weibliche Selbstbehauptung, über Schmerz, Liebe, Verrat und Versöhnung.

Die Autorin

Angela von Gatterburg, geboren 1957, wuchs mit Geschwistern, Dienstboten und Kindermädchen in einem Odenwälder Schloss auf. Der aristokratischen Erziehung, ergänzt durch einige Disziplinierungsjahre in einem Klosterinternat, folgen erste Bälle und andere zweifelhafte Vergnügungen. Seit 1987 arbeitet Angela von Gatterburg als Redakteurin beim Nachrichtenmagazin

Angela von Gatterburg

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Neuausgabe bei Refinery November 2016

ISBN 978-3-96048-061-7

1

An einem Sommertag im August verkündete meine Schwes­ter Antonia, eine Fee werde die Familie in den nächsten Tagen aufsuchen und die nächsten fünfhundert Jahre nicht mehr verlassen. Die Fee war nicht eingeladen, wie meine Großmutter bemerkte, aber um solche Formalien kümmern sich Feengeschöpfe nicht. Antonias Fee erschien also, wenn auch in anderer Gestalt, als wir erwartet hatten. Sie sollte Glück in unser Leben bringen, das war ihre Aufgabe. Doch wie viele Glücksfeen hatte sie mächtige Gegenspieler.

An jenen August, der über zwanzig Jahre zurücklag, dachte ich an dem Abend, als ich den Anruf erhielt. Ich hörte Schumanns Klavierkonzert a-Moll, ein Lieblingsstück von mir, das ich auflegte, wenn ich meine eigene Musik und den Sound der Beatles oder Stones leid war. Das Telefon klingelte, ich drehte die Musik leiser, ging zum Schreibtisch und nahm den Hörer ab.

»Frau von Haimburg?« Ich kannte die Stimme nicht und schwieg einen Moment. »Oder sollte ich lieber Gräfin Haimburg sagen?«

Gräfin Haimburg! So hatte mich schon lange niemand mehr genannt, das ist einfach kein Name für eine Frau, die Rockmusik macht.

Ich lachte kurz. »Nennen Sie mich Clara. Was gibt’s«?

Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang angespannt und fremd: »Mein Name ist Moser. Ich bin Arzt und Psychiater und außerdem ein entfernter Bekannter Ihres Vaters. Es geht um Ihre Schwester Antonia.«

Mir wurde flau im Magen, ich spürte, wie sich kalter Schweiß auf meiner Stirn bildete. Antonia ist die jüngere von uns beiden und ich bin geradezu lächerlich besorgt um sie. Ich riss mich zusammen und begann mit hastigen Strichen das vor mir liegende Blatt Papier vollzukritzeln.

Doktor Moser sprach langsam und bedächtig, so als wollte er mich keinesfalls erschrecken. Er arbeite, erläuterte er mir, im Universitätskrankenhaus Heidelberg – das ist die Stadt, die unserem Familiensitz im Odenwald am nächsten liegt –, und dort habe man Antonia eingeliefert.

Wäh­rend der Arzt sprach, kritzelte ich verbissen weiter und versuchte, mich zu konzentrieren. Ob ich so bald wie möglich kommen könne, fragte er. Er habe erfahren, ich sei lange die engste Vertraute von Antonia gewesen, und er hoffe, ich könne ihm bei dem Versuch, sie zu behandeln, helfen. »Sobald sie aufwacht.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Doktor Moser wartete ab. Er schien ein geduldiger Mensch zu sein. Ich brauchte Zeit, ich war verwirrt. Aufwacht? Wieso wacht Antonia nicht auf?

Ich fühlte mich in meine Kindheit zurückversetzt. Antonia war der Mensch, der mir am meisten bedeutete. Ich hielt unsere Verbindung immer für schicksalhaft und habe nie versucht, dieser schwesterlichen Liebe zu entkommen, auch nicht in Zeiten, als Antonia mich zur Raserei brachte mit ihrer Naivität, ihrer wirren Wahrsagerei, auch nicht, als wir seltener zusammen waren, weil ich beschlossen hatte, nach London zu ziehen. Dass Antonia den Kontakt irgendwann abbrach war nicht meine Schuld. Wie lange war das nun her?

Wäh­rend ich den Telefonhörer umklammerte und dem Arzt, der begonnen hatte, mir den Sachverhalt zu erklären, lauschte, starrte ich auf das Foto meiner Schwester, das in einem schlichten Silberrahmen auf dem Schreibtisch stand. Antonia ist 26 Jahre, ein Jahr jünger als ich und eine Schönheit. Sie war schon als schönes Kind zur Welt gekommen, mit makellos feiner, faltenloser Haut, schwarzem Haar und blaugrünen Augen, das lieblichste Geschöpf, das Gott je in unser Dorf gesandt hat, wie die Hebamme, sich bekreuzigend, sagte.

»Ich würde das alles gern mit Ihnen in Ruhe besprechen, wenn Sie hier sind«, sagte Doktor Moser.

Ich bezweifelte, dass ich mich je wieder beruhigen würde, nachdem der Arzt mir knapp und sachlich mitgeteilt hatte, Antonia habe einen Selbstmordversuch unternommen, wäh­rend eines Balls auf Schloss Ehreshausen. Sie hatte sich von einer der blumengeschmückten Terrassen vor dem Festsaal in die Tiefe gestürzt, wäh­rend die anderen Gäste sorglos schwatzten und Walzer tanzten.

»Ihr Zustand ist kritisch, aber stabil«, sagte der Arzt.

Sie hatte wie durch ein Wunder keine inneren Blutungen. Ein Bein war gebrochen, kompliziert, soweit ich Doktor Moser folgen konnte, außerdem hatte sie Prellungen, die nicht dramatisch waren und eine mysteriöse Kopfverletzung, die den Ärzten Rätsel aufgab.

»Wir vermuten, dass es sich um ein Schädeltrauma handelt, wenngleich ich nicht genau weiß, welcher Art«, sagte er. »Vielleicht sollte ich besser sagen, dass es sich um keine der üblichen Verletzungen handelt, es liegt keine schwere Hirnschädigung vor oder etwas in dieser Richtung. Ihre Hirnfunktionen sind offenbar intakt. Doch sie ist bewusstlos, und sie will nicht aufwachen. Wir wissen nicht warum. Vielleicht können Sie uns helfen.«

Ich sagte nichts. Der Doktor räusperte sich. »Ein Teil der Familie ist natürlich bereits anwesend, wie Sie sich vielleicht vorstellen können.«

»Das kann ich mir gut vorstellen. Ich halte es allerdings für unwahrscheinlich, dass dieser Umstand eine große Hilfe für Antonia ist.«

Ich hörte mich antworten und schüttelte unwillkürlich ärgerlich den Kopf. Musste ich gleich wieder sarkastisch werden, nur weil ich völlig durcheinander war?

Ich holte tief Luft und versprach dem Arzt, das nächste Flugzeug zu nehmen.

Meine Hände zitterten, als ich in Heathrow anrief und einen Flug nach Frankfurt buchte, sie zitterten immer noch, als ich begann, wahllos einige Pullis, Kleider und Hosen aus der Schublade meiner Kommode zu zerren. Wie würde das Wetter im Odenwald sein? Auch so angenehm warm wie hier? Ach was, das war unerheblich. Antonia. Von der Terrasse gesprungen wäh­rend eines Balls in Ehreshausen.

Warum? Sie hat es getan trotz all dieser Menschen, dachte ich, angesichts all dieser Ballbesucher in Abendkleid und schwarzem Frack. Sie hatten sie springen sehen, ein Champagnerglas in der Hand, plaudernd, wenige Meter von ihr entfernt stehend.

Wahrscheinlich war der gesamte Familienclan Zeuge der Tragödie gewesen. Was war geschehen? Antonia hatte mir nie geschrieben, doch über die Briefe meiner Großmutter hatte ich von ihrem Leben erfahren.

Mich überwältigte Traurigkeit, mir war ganz schlecht vor Elend. Ich holte mir ein Taschentuch aus dem Badezimmer, lief konfus im Wohnzimmer hin und her, blieb einige Minuten am Fenster stehen und starrte in die dunkle Nacht hinaus.

Schließlich nahm ich meinen roten Lederkoffer aus dem Kleiderschrank und legte ihn aufs Bett.

Ihr Zustand ist kritisch, aber stabil.

»Vielleicht könnten Sie mir ein wenig von ihrer Familie erzählen«, hatte dieser Psychiater gesagt. Er wollte verstehen, warum Antonia gesprungen war. Das wollte ich auch.

Mit energischen Schritten ging ich an die Vitrine, nahm ein Glas heraus und goss mir einen Whiskey ein.

Mein Kopf war voller lebhafter Bilder aus meiner Kindheit, ich brauchte sie mir nicht mühsam ins Gedächtnis zu rufen, sie waren da, immerzu. Schöne Bilder, schlimme Bilder, rätselhafte Bilder. Ich war nach London gezogen, um hier, in sicherer Entfernung von meiner Familie, zu leben, weit weg von meiner Heimat. Aber hatten die Bilder da­durch etwas von ihrer Macht eingebüßt? Natürlich nicht.

Der Wechsel in ein anderes Land war mir nie wie eine Flucht vorgekommen, ich lebte gern in dieser schillernden, bunten, weltoffenen Stadt. Wir schrieben das Jahr 1966, London war aufregend. John Lennon verkündete in einem Zeitungsinterview, die Beatles seien populärer als Jesus und Mary Quant, die Erfinderin des Minirocks, hatte gerade einen königlichen Orden verliehen bekommen. Die Leute liebten Swinging London, die Stadt galt als die Metropole des Jahrzehnts, und ich lebte mittendrin.

Und doch verging nahezu kein Tag, an dem ich nicht an Antonia oder jemand anderen aus meiner Familie dachte. Es ist wohl gleichgültig, wie viele Kilometer einen von zu Hause trennen, seiner Familie entkommt man nicht. Vor allem nicht einer wie meiner.

Ich würde Doktor Moser helfen, ich würde mit ihm in der Vergangenheit herumstöbern, ihm die Geschichte meiner Familie erzählen. Ich war entschlossen, die Ereignisse der Vergangenheit oder der Gegenwart aufzuspüren, die meine Schwester gequält und schließlich in Panik versetzt hatten. Und ich würde Antonia beistehen, wäh­rend sie hilflos dalag, vielleicht ohne Erinnerung, wenn sie aufwachte, gefangen in der Zeitlosigkeit der Gegenwart.

Ich wollte Doktor Moser von unserem Leben im Schloss erzählen. Wir waren reiche, verwöhnte Kinder gewesen in einer wirren, schwierigen Zeit, wir hatten gelebt wie in einem behüteten Traum. Behütet? Ich wusste, dass das nur ein Teil der Wahrheit war. Irgendwann hatten Antonia und ich erstaunt entdeckt, dass wir in einer Welt heranwuchsen, zu der wir kein Zutrauen fassen konnten. Durch ein kurzes Telefongespräch mit einem unbekannten Arzt war ich wieder eingeholt worden von meiner Familiengeschichte und von den Fehlschlägen meines eigenen Lebens.

Ich starrte auf meine achtlos gepackten Pullis, Hosen und Sommerkleider, ging ins Bad, putzte mir gedankenverloren die Zähne, zog mein Nachthemd an und ging zu Bett. Alle meine Gefühle reduzierten sich jetzt auf Antonia: Ich wollte sie wiederhaben. Was hatte Doktor Moser gesagt? Ihr Zustand ist kritisch, aber stabil.

2

Im August 1944 gab die fünfjährige Antonia zur Teestunde mit wichtiger Miene eine Prophezeiung ab. Eine Fee werde auf Schloss Haimburg erscheinen, erklärte sie und die nächsten fünfhundert Jahre nicht mehr verschwinden. »Es ist eine besondere Fee. Sie kommt mit Sonne im Herzen und Kartoffeln im Bauch.«

Theresa Gräfin Haimburg, Antonias Großmutter, schnaubte wie ein Pferd. Ihr Schnauben brachte höchste Missbilligung zum Ausdruck. »Red keinen Unsinn, Antonia«, sagte sie streng. »Meines Wissens ist weder eine Fee noch sonst jemand eingeladen.«

Antonia überhörte den Einwand ihrer Großmutter und zwinkerte ihrer älteren Schwester Clara verschwörerisch zu. Clara begriff sofort, dass Antonia gründlich über den Zeitpunkt ihrer Ankündigung nachgedacht hatte und zu dem richtigen Schluss gekommen war, dass nur die Teestunde dafür in Frage käme.

Bei den Mahlzeiten hatten Clara und ihre Schwester, sofern sie mit den Erwachsenen am Tisch saßen, zu schweigen. Jeder Verstoß wurde damit geahndet, dass sie sich mit dem Teller in der Hand vor das Schlosstor setzen mussten, um dort, den spöttischen Blicken aller Angestellten und vorbeikommenden Dorfbewohner ausgesetzt, weiterzuessen und Buße zu tun.

Clara, eine kleine, trotzköpfige Person, saß wegen ihres aufbrausenden Temperaments dauernd vor dem Schlosstor, Antonia vergleichsweise selten. Sie verhielt sich klüger als ihre Schwester. Antonia besaß ein ungetrübtes Kindergemüt, um ihren Mund spielte ein gewinnendes Lächeln und die meisten Erwachsenen brachten ihr angesichts ihrer Lieblichkeit viel Milde entgegen – Milde, mit der die struppige und ungestüme Clara nicht rechnen konnte.

Antonia fiel bereits als Kind durch heftige Fieberkrämpfe und seltsame Vorhersagen auf. Sie sprach sehr früh, allerdings nur, wenn es ihr passte, und als sie vier Jahre alt war, erklärte sie ihrer Familie, sie verfüge über besondere Geis­tes­kräfte. Sie könne Zeitreisen unternehmen, mit Schwänen und Wassermolchen sprechen, Gedanken lesen und in die Zukunft schauen, Fähigkeiten, die sie zu entwickeln gedenke, um sie fortan zum Wohle ihrer Mitmenschen auszuüben.

»Ha!«, hatte Großmutter Theresa ausgerufen, wie sie es häufig tat. Es klang wie ein Schlachtruf. »Wassermolche kommen mir nicht ins Haus. Zeitreisen kannst du unternehmen, so viele du willst. Sie müssen nur pünktlich zu den Mahlzeiten beendet sein.«

Die meisten Familienmitglieder reagierten, nachdem sich die Aufregung gelegt hatte, nachsichtig auf Antonias Mitteilungen, schließlich hatten Sonderlinge in dieser Familie Tradition. Großmutter Theresa gestand ihrer Schwiegertochter, dass es eine ganze Reihe von Haimburg-Ahnen gab, die über ähnlich lästige Talente verfügten. »In die Zukunft zu sehen und in andere Welten zu gleiten, das hat sie wohl geerbt«, sagte sie. »Kein Grund zur Beunruhigung. Vielleicht wird sie später durchs Leben schweben, mit dem Kopf in den Wolken. Nicht die schlechteste Art, sein Dasein zu verbringen.«

Graf Eduard, Antonias Vater, war entschieden anderer Meinung. Er wollte keine Tochter mit dem Kopf in den Wolken und ärgerte sich, als er Anzeichen von Wunderlichkeiten bemerkte. Antonia erhielt einen energischen Klaps von ihm, als sie ihre erste Zeitreise erwähnte.

Eduard, Theresas ältester Sohn, hing mit starken Ge­füh­len an seiner Familie, glaubte jedoch nicht an die Vererbung unliebsamer Fähigkeiten. Woran man nicht glaubte, so lautete seine schlichte Lebensphilosophie, das konnte auch keine Macht über einen haben. Er hielt Antonias Veran-lagung für einen schlechten Scherz des Universums, für unaristokratisch, er bestand auf einer vernünftigen Tochter, die sich standesgemäß verhielt. Außerdem war er überzeugt, dass ihren Eigentümlichkeiten mit energischen Erziehungsmaßnahmen und bestimmten Wildkräutersäften, die zuzubereiten der Köchin aufgetragen wurde, beizukommen sei. Antonia wurde auf seine Anordnung hin regelmäßig in einem braunen, übelriechendem Sud gebadet, der aussah wie Hühnerbrühe.

»Am besten, niemand kümmert sich um ihre Ideen«, befahl Eduard. »Dann vergehen diese Spinnereien von allein.«

Dieser Ansicht schloss sich nach anfänglichem Zögern Antonias Mutter an – auch weil sie es nicht wagte, ihrem Mann zu widersprechen –, und so beachtete keiner der Erwachsenen, mit Ausnahme des Kin­der­mäd­chens Anna, Antonias Voraussagen.

Auch herrschte Krieg in Deutschland, und man hatte genug damit zu tun, die weitverstreute Sippe im Auge und durch entsprechende Umsicht und Fürsorge am Leben zu erhalten.

Antonia verzieh die familiäre Ignoranz großmütig, hatte sie doch neben der gutgläubigen Anna in ihrer Schwester Clara eine willige Zuhörerin. Das genügte ihr. Sie schien es für eine Frage der Höflichkeit zu halten, sich selbst und anderen so wenig Unannehmlichkeiten wie möglich zu bereiten.

Bei einigen Visionen jedoch, das erkannte die scharfsinnige Clara bald, legte Antonia Wert auf die Aufmerksamkeit der Erwachsenen und versuchte sie mit List und Charme zu erringen. Hilfreich war dabei das beträchtliche Vokabular, über das Antonia, ebenso wie ihre Schwester, verfügte.

Die Teestunde liebten die Schlosskinder, schon weil ihre Mutter sie genoss und es eine der seltenen Gelegenheiten war, mit ihr zusammen zu sein. Der Teesalon war voller grüner Pflanzen, er wirkte hell und freundlich, die Sessel und Sofas leuchteten in goldgelbem Chintz, der Tisch war groß, oval und mit nachtblauem Samt ausgeschlagen. An den Wänden hingen große Spiegel und Gemälde, die schneidige Herren mit Schnurrbärten und ernste Damen mit tiefen Dekolletees zeigten. Für die Schwestern war es einer der schönsten Räume im ganzen Schloss.

Auch Großmutter Theresa, robust an Magen und Gemüt und nicht zimperlich im Umgang mit kleinen Menschen, schien den Geschwistern zur Teezeit milder als sonst. Es gab trotz der schlechten Zeiten Honigkekse, Marmeladenkrapfen, starken schwarzen Tee aus einer zierlichen Silberkanne, verfeinert mit Zucker, Sahne oder Zitrone, dazu milden Sherry.

Es war ein ruhiger, ja langweiliger Tag, nichts deutete auf besondere Ereignisse hin. Lediglich Pfarrer Ferdinand und Tante Hugoline waren zu Gast.

Pfarrer Ferdinand, ein rotgesichtiger, gutmütiger Mensch, hatte bereits vor Jahren sämtliche seelsorgerischen Pflichten für die Grafenfamilie Haimburg übernommen, keine leichte Aufgabe angesichts der zahlreichen Kommunionen, Verlobungen, Eheschließungen und Taufen, nicht zu reden von dem Beistand, den er wäh­rend der vielen Beichten zu leisten hatte, weil einer in der Familie im Glauben schwankend wurde, was häufig vorkam, oder fürchtete, sich einer Todsünde schuldig gemacht zu haben, was in Unkenntnis der Gebote ebenfalls häufig vorkam.

Tante Hugoline war eine von denen, die sich ihrer eigenen Verdammnis sicher wähnten und ihre Verfehlungen deshalb häufig und mit entsprechend theatralischer Gebärde ausführlich mit Pfarrer Ferdinand besprachen.

»Hugo, deine Sünden halten sich in Grenzen, genau genommen sind sie nicht der Rede wert,« pflegte Großmutter Theresa zu sagen, worauf Tante Hugoline beleidigt schmollte. Die beiden Schwestern hätten unterschiedlicher nicht sein können. Hugoline war klein, rundlich und hüllte sich in wallende Gewänder, um dies zu kaschieren, die Haare hatte sie zu einem riesigen Dutt aufgesteckt. Theresa war groß und schlank, hielt sich sehr gerade, kleidete sich elegant und ging schnell und zielgerichtet. Ihr graues, lockiges Haar trug sie kurz und immer tadellos frisiert.

»Hugo, in diesen Säcken siehst du aus wie ein wandelndes Zelt mit Beulen«, sagte Theresa häufig. Aber ihre Schwester bestand auf ihren Kleidern, die für Damen mit ähnlichen Problemzonen schließlich stilbildend wurden. »Sie sind gesund, weil sie einen nicht einschnüren,« behauptete Hugo.

Sie hatte einen ausgeprägten Hang zur Rührseligkeit und war in ständiger, übertriebener Sorge um die Familie. Beides versuchte ihre Schwester Theresa ihr seit langem abzugewöhnen, ohne rechten Erfolg.

Hugoline hatte bis vor kurzem zufrieden in einer Landvilla bei Königsberg gelebt, gemeinsam mit Johannes von Aalen, den alle nur »den Oberst« nannten. Er war ein entfernter Verwandter, der sehr früh beide Eltern verloren hatte und mittellos war. Er war jung, unverheiratet und blieb in einem Seitenflügel der Villa meist für sich. Doch begleitete er Hugo zu vielen gesellschaftlichen Anlässen und brachte seinerseits Gäste ins Haus. Jetzt war er als Soldat im Krieg, und Hugoline hatte sich auf Einladung ihrer Schwester schon vor Monaten ins Haimburg-Schloss be­geben.

Der mögliche Besuch geheimnisvoller Feen versetzte sie, wie Clara und Antonia an diesem Nachmittag befriedigt feststellten, in helle Aufregung.

»Eine Fee! Zu Besuch! Hier im Schloss!«, rief Tante Hugoline und starrte die Schwestern bestürzt an.

»Hugo, reiß dich zusammen. Noch ist keine Fee eingetroffen,« mahnte Großmutter Theresa.

Antonia und Clara, bislang überzeugt davon, dass diese spezielle Tante mit keinen besonderen Geistesgaben gesegnet wäre, schauten aufmerksam und erfreut zurück. Immerhin nahm ihre Tante die Prophezeiung ernst.

»Ja, Tante Hugoline, sie kommt bestimmt. Du darfst ihr guten Tag sagen, wenn du möchtest«, sagte Antonia liebenswürdig.

»Wenn diese Fee nur für fünf Pfennig Verstand hat, dann bleibt sie, wo sie ist!«, schnaubte Großmutter Theresa. Lieber Himmel, dieses Kind! Eine Fee, das fehlte noch! Hatte sie nicht schon genug um die Ohren? Rings um sie herum geriet die Welt aus den Fugen, was sollte sie tun, wenn nun auch noch einzelne Familienmitglieder verrückt spielten? Großmutter Theresa missfiel es, wenn Dinge und Menschen in ihrer Umgebung in Unordnung gerieten und, schlimmer noch, sich ihrer Kontrolle entzogen.

Ihre Enkelin Clara hingegen fand die Aussicht, einer Fee zu begegnen, äußerst aufregend. Man stelle sich das vor, eine Fee zu Gast! Was würde man ihr erzählen? Ob sie überhaupt sprechen könnte? Würde sie gern mit Puppen spielen? Ob man ihr vielleicht den Schlossteich mit seinen Fröschen oder den Kramladen von den Österleins zeigen sollte?

»Bestimmt bleibt die Fee zum Abendessen! Sie darf neben mir sitzen!«, rief Clara und sprang dabei vor Aufregung dreimal heftig in die Luft und wieder auf den Boden, was den großen Spiegel im Teesalon leicht klirren ließ und dazu führte, dass eines der vielen gerahmten Ahnenbilder leicht verrutschte. Clara erntete augenblicklich mehrere strafende Blicke.

»Ich glaube nicht, dass Feen sehr viel essen«, sagte Antonia versonnen. »Kartoffeln nur im Notfall. Sie schätzen, glaube ich, Süßigkeiten, Brausepulver und Kekse. Man muss sie gut füttern, wo sie doch von so weit her kommen.«

Alle lachten. Nur Großmutter Theresa schnaubte erneut ärgerlich. Kekse! Aber sie respektierte die Veranlagung ihrer Enkelin, schließlich kamen Schrullen in den besten Familien vor. Sie war überzeugt, diese lächerlichen Säfte und Bäder, die Antonia verabreicht wurden, würden ihren Hang zu Prophezeiungen und Parallelwelten kaum zum Verschwinden bringen. Bisher hatte das Mäd­chen sich da­mit begnügt, in andere Welten abzuschwirren, dagegen war nichts einzuwenden, wenigstens nicht, solange ihr Vater nichts davon erführe.

Es wäre angenehm, dachte Theresa, wenn Antonia nicht gar so viel Ungewöhnliches in der Zukunft sehen würde, oder wenn es denn schon sein müsste, es wenigstens stillschweigend täte.

Die Aussicht, demnächst eine Kekse mümmelnde Fee im Schloss herumstreichen zu haben, fand Großmutter Theresa wenig erbaulich. Wahrscheinlich würde sie alles zu­krümeln.

Sie seufzte. Antonia, dachte sie, wird immer wie ein zerstreuter Engel durchs Leben gehen, auch wenn ihrem Vater das nicht passt. »Es liegt nun mal in der Familie«, pflegte sie ihm zu sagen und löste damit bei ihrem Sohn regelmäßig einen Wutanfall aus. Er wollte auch nichts von den anderen Spukgeschichten hören, die kursierten, geschweige denn, sie ernst nehmen. »Blödsinn«, knurrte er, wenn Gäste da­nach fragten, »alles Blödsinn.«

»Schloss der Geister« oder »Geisterschloss« nannten die Odenwälder, die Dörfler und auch viele Standesgenossen das Haimburgische Anwesen. Mit einer gewissen Berechtigung, wie Großmutter Theresa zugeben musste. Sie war Realistin und hatte sich, wenn auch schweren Herzens mit den Namen abgefunden. Der Odenwald, zu dem Schloss und Dorf gehörten, galt eben als magischer Ort, an dem sich allerlei Wesen herumtrieben.

Und dann gab es da noch diese Familientragödie. Ein junger Graf – er hieß Heinrich und zweifelsfrei handelte es sich um einen Vorfahren der Familie Haimburg – hatte sich 1768 kopfüber aus dem Fenster gestürzt. »Kopfüber«, wiederholte Antonia ehrfurchtsvoll, die wie Clara die Geschichte wieder und wieder hören wollte. Es geschah aus Liebeskummer, der Graf war der Frau seines Bruders verfallen. »Aus Liebeskummer«, sagte Clara an dieser Stelle immer und nickte wissend.

Der junge Graf Heinrich war zu Tode, doch nicht zur Ruhe gekommen. Sein Geist verlangte nach einer Aufgabe und fand sie alsbald.

Er erschien anderen Menschen als Vorbote des Todes, auf einem Pferd reitend. Heinrich, der Todesreiter, wie er schon bald hieß, kam den Leuten auf den Feldern und in den Dörfern der Umgebung entgegen, schweigend und ohne drohende Gebärde.

»Er hat einen melancholischen Ausdruck«, sagten die, die ihn gesehen hatten. Er tat niemandem etwas und war doch bald entsetzlich gefürchtet – denn dass sein Erscheinen den baldigen Tod ankündigte, glaubten alle, die hier in der Gegend wohnten.

Großmutter Theresa hatte nie etwas von dem todbringenden Ahnen gehört, bevor sie durch ihre Heirat Herrin von Schloss Haimburg wurde. »Papperlapapp«, sagte sie und schenkte der Legende vom Todesreiter keinen Glauben bis zu dem Zeitpunkt, als ihr Ehemann eines Tages nach Hause kam und blass und erschrocken berichtete, er sei dem fahlen Mann im Schlosshof begegnet.

Drei Tage später starb er an einem Herzinfarkt.

Großmutter Theresa war außer sich. Es war nicht so sehr der Verlust ihres Mannes, der sie schmerzte – sie fand Ehemänner angenehm, aber durchaus entbehrlich –, es waren die Umstände, die sie empörten.

Sie trauerte maßvoll, und nach der würdevollen Beerdigung ihres Gatten stellte sie Erkundigungen an. Eingehende Befragungen in den Dorffamilien ergaben: Drei Tage war die Frist, die allen, denen der Geist Heinrichs begegnete, gewährt wurde. Offenbar fand der Todesbote, diese Zeit solle genügen, um sich auf den Abschied vorzubereiten.

Selbst Theresa kam nun nicht umhin, die Existenz des reitenden Geistes anzuerkennen. Ja, sie musste sogar zugeben, dass es ein armer Ahne ihrer angeheirateten Familie war, der dort draußen herumtrabte. Sie tat es zähneknirschend.

Der Todesreiter war jedoch nicht der Einzige, den es umtrieb. Unglücklicherweise gab es noch ein hauseigenes Gespenst im obersten Stock, das Theresa ebenfalls nicht verleugnen konnte. Es war wäh­rend eines strengen Winters plötzlich aufgetaucht, schlich in den zugigen Korridoren herum wie eine weiße, dicke Nebelschwade und litt unüberhörbar an Schnupfen.

Nach anfänglicher Panik sprachen die Schlossbediensteten beruhigend auf das schniefende Wesen ein und versorgten es mit Holunderblütentee und blauen Taschentüchern, die auf einen eigens dafür aufgestellten Tisch im obersten Stockwerk drapiert wurden.

Obwohl das Schlossgespenst offenbar keine bösen Ab­sich­ten hegte und sich nur selten bemerkbar machte – und das so gut wie nie, wenn Gäste kamen –, hatte sich Theresa Gräfin Haimburg all die Jahre an Schnupfentrine, wie das Gespenst mittlerweile salopp genannt wurde, nicht recht gewöhnen können.

»Sicher, in anderen Schlössern spukt es auch, manchmal sogar auf das Grässlichste«, sagte sie oft, »aber eine Furcht ­erre­gende Spukgestalt hat ihre Berechtigung, ja ehrt das Gemäuer, in dem sie haust.«

Doch ein schniefendes Gespenst, das jede Menge Taschen­tücher verschliss und sonst zu nichts nutze war?

Großmutter Theresa jedenfalls, energisches und vitales Oberhaupt einer der angesehensten Familien des deutschen Adels, war das Ungemach im oberen Stockwerk schlicht peinlich. Der stolze Name Haimburg war geachtet, die Bauern der Umgebung zogen ihre Mützen, wenn sich Theresa näherte, ein Verhalten, das sie durchaus als angemessen empfand. Den Ruf der Familie wollte sie nicht durch bleiche Reiter und schniefende Gespenster gefährdet wissen, entsprechend selten wurden der blasse Geselle und das Wesen im obersten Stockwerk erwähnt.

»Kann die Fee irgendwas? Wünsche erfüllen, irgendetwas herbeizaubern?«, fragte Pfarrer Ferdinand interessiert. Er war ebenso wie die von ihm verehrte Gräfin Haimburg von eher praktischer Wesensart. In die kleine Antonia war er völlig vernarrt, auch wenn ihn ihre wirren Gedanken, die um Feen, Zauberer, Engel und allerlei andere Geschöpfe kreisten, oft befremdeten.

»Sie wird kommen. Ich habe sie in meinem Geist gesehen. Sie bringt Erzählungen aus der Vergangenheit und Botschaften für mich«, sagte Antonia, deren Beharrungsvermögen beträchtlich war, wenn es um ihre Voraussagen ging. Sie ahnte, dass sie im Begriff war, eine grundsätzliche Debatte auszulösen, und es tat ihr ein bisschen Leid, aber nur ein bisschen. Denn, obwohl sie bemüht war, es jedem recht zu machen – eine Eigenschaft, die sich in späteren Jahren verlieren sollte –, war ein kleiner Familiendisput in ihren Augen stets anregend.

Ursula Maria Gräfin Haimburg lächelte und legte eine Hand auf ihren Bauch, der sich unter einem dunkelblauen Leinenkleid wölbte. Sie war schwanger und in diesem Zustand nicht leicht aus der Ruhe zu bringen. Doch dachte sie insgeheim, dass sich die Phantasien ihrer Tochter in letzter Zeit in geradezu beängstigender Weise entwickelten. »Spinnereien«, so nannte es ihr Mann. Sie hoffte, dass es sich um Phantasien handelte, die sich auswachsen würden, und nicht etwa um geheimnisvolle, magische Fähigkeiten, die ihre Tochter womöglich für immer zur Außenseiterin machten.

Gräfin Haimburg seufzte leise. Ihre Tochter hatte schon von Hausgeistern, sprechenden Bäumen und fliegenden Hasen gesprochen. Nun war es eine Fee. Sie lächelte Antonia liebevoll an. »Was geht nur vor in deinem kleinen Kopf?«, fragte sie und strich ihr über das glänzende, schwarze Haar.

Antonia lächelte zurück, entwand sich ihrer Mutter jedoch, nahm die Hand ihrer Schwester und trat mit Clara an eines der großen Erkerfenster, die auf den Schlosshof hinausgingen. »Eine schöne Fee wird kommen«, sagte sie nochmals leise und nickte dabei nachdrücklich ein paar Mal mit dem Kopf.

In kindlicher Furchtlosigkeit vertraute sie ihren Voraussagen bedingungslos, führte sogar Buch darüber. Jeden Tag lauschte sie nach innen, ob neue Prophezeiungen an die Oberfläche ihres jungen Bewusstseins drängten, und malte die entsprechenden Visionen dann mit bunten Stiften in ein Buch. Allabendlich besprach sie die Visionen mit ihrer Schwester in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer. Antonias Aufzeichnungen hatten zweifelsfrei ergeben, dass die vorausgeahnten Ereignisse eintraten, wenngleich, und das bereitete ihr Kummer, nicht immer in der von ihr vermuteten Weise und schon gar nicht zu dem von ihr vermuteten Zeitpunkt.

So hatte sie letztes Jahr im tiefsten Winter einen weißen Hasen vorhergesehen, der im Schlossgarten herumflog. Sie und Clara hingen daraufhin stundenlang, in dicke Decken gehüllt, am offenen Fenster, um das Wundertier nicht zu versäumen, bis es Clara schließlich zu dumm wurde und sie ihre Beobachtung aufgab. Antonia ließ sich nicht beirren. Der Hase tauchte tatsächlich auf, aber erst im Mai und niemand außer Antonia sah, wie er anmutig über Großmutters Rosenstöcken kreiste. Der fliegende weiße Hase zwinkerte Antonia zu, bevor er wieder verschwand.

Das beteuerte Antonia jedenfalls, und Clara glaubte ihr. Sie war äußerst ärgerlich darüber, dass sie das Hasentier verpasst hatte und somit als verlässliche Zeugin ausschied.

Wäh­rend Clara und Antonia träumerisch aus dem Fens­ter in den Schlosshof blickten, Antonia die langen schwar­zen Haare um einen Finger gewickelt, begann im Salon ein kleiner Disput.

»Das Kind entwickelt sich Besorgnis erregend. Es gibt seltsame Dinge von sich, wenn du mich fragst«, sagte Tante Hugoline leise.

»Ich frage dich aber nicht«, sagte Ursula Gräfin Haimburg, die von allen nur Bärchen genannt wurde, spitz. »Außerdem«, fügte sie schnell hinzu, »wie heißt es bei Shakespeare? Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als eure Schulweisheit sich träumen lässt.«

»Und es gibt weit weniger Schulweisheit, als wir uns träumen lassen«, erwiderte Großmutter Theresa, der in diesem Moment selbst nicht ganz klar war, ob sie nun für oder gegen außerirdische Wesen argumentierte. Sie riss sich zusammen.

»Ich sorge mich doch nur um das Kind«, sagte Tante Hugoline beleidigt. »Eduard würde ihr Gerede nicht gefallen, davon bin ich überzeugt. Aber bitte, hackt nur alle auf mir herum.«

»Nun, vielleicht handelt es sich bei der Fee um einen Engel Gottes. Und Gottes Geschöpfe zu erwarten, ist gewiß nicht frevelhaft«, gab Pfarrer Ferdinand zu bedenken. Sein Einwand ging hoffnungslos unter.

»Feen hin oder her, Antonia hat nun mal diese Veranlagung, Dinge vorauszusehen, ob es ihrem Vater gefällt oder nicht«, sagte Großmutter Theresa. »Sie war seit ihrer Geburt ein wenig eigentümlich, wie ein Porzellanpüppchen, sehr hübsch anzusehen. Die meiste Zeit schien sie mit ihren Augen in eine andere Welt zu blicken, selbst wenn sie einen direkt ansah. Sie sabberte auch nicht wie andere Babys, was ich persönlich sehr schätze.« Theresa trank einen Schluck Tee. »Die meisten Babys sind doch sehr, nun ja, würdelose Wesen.«

Pfarrer Ferdinand hob amüsiert die Augenbrauen, Tante Hugoline klatschte in die Hände, ob vor Vergnügen oder vor Entsetzen, war nicht ganz klar. Clara und Antonia sahen weiter erwartungsvoll aus dem Fenster, sie hörten nicht zu. Vielleicht hätte die Fee ja die Güte, in diesem Moment zu erscheinen, dachte Clara, das würde die Diskussion um Antonias Vorhersage vielleicht beenden.

»Du sprichst nicht etwa von Clara, oder?«, fragte Bärchen aufgebracht.

»Aber nein«, sagte Theresa, »natürlich nicht. Clara ist auch ein ganz besonderes Kind. Sie sabberte ganz wenig. Ich dachte eher an die vielen Kinder in der entfernteren Verwandtschaft.«

»Babys«, sagte Bärchen, »Babys sabbern nun mal, das liegt in ihrer Natur.«

»Ich weiß«, sagte Großmutter Theresa. »Ich weiß. Schließlich habe ich selbst zwei Kinder großgezogen. Aber manche Babys sabbern immerzu und sehen dabei aus, nun ja, als seien sie debil.«

Einen kurzen Moment herrschte Stille. »Verzeih mir, meine Liebe, aber manchmal glaube ich, du hältst jedes Wesen unter zwanzig für debil«, sagte Bärchen trocken. Alle lachten.

Antonia und Clara bewunderten Großmutter Theresa. Sie war voller Energie und Tatkraft und besaß schöne bemalte Zinnsoldaten, mit denen sie die Kinder spielen ließ, wenn auch nur selten. Großmutter Theresa ihrerseits hing an ihren Enkelinnen, legte allerdings wenig Wert auf ihre Gesellschaft.

Wenn Antonia mit einem Strauß Blumen in den Salon kam, knickste und sagte, »Großmama, ich gratuliere dir zum Ersten Mai«, sah sie nur kurz von ihren Briefen auf, musterte Antonia wie eine Fata Morgana und sagte nichts weiter als: »Sehr schön. Bring die Blumen in die Küche. Und dann nimm ein Zückerchen und geh und mal ein Pferd.«

Mit diesen immergleichen Worten wedelte sie alle Kinder zur Tür hinaus. Dieses »Nimm ein Zückerchen und geh und mal ein Pferd« verfolgte die Schwestern wie der Glockenklang der alten Standuhr im Herrenzimmer.

Antonia war ausdauernder als Clara mit ihren Besuchen und gleichzeitig gehorsamer. Sie trollte sich nach einem kurzen Griff in die silberne Zuckerdose und tat, wie ihr ge­heißen. Die zahllosen Pferdebilder, die so entstanden, warf Großmutter, die für Pferde noch weniger übrig hatte als für kleine Kinder, regelmäßig in den wuchtigen, grünen Kachel­ofen im Esszimmer.

Trotzdem liebte Großmutter Theresa ihre Enkel innig, nur eben auf ihre Weise. Es war eine Liebe voller Selbstbeherrschung, ohne stürmische Umarmungen, Küsse oder ähnliche Liebesbekundungen. Von derlei Getue hielt sie überhaupt nichts.

Immerhin tauchten die Schwestern regelmäßig in dem Tagebuch auf, das sie führte. »Antonia wird als junges Mäd­­chen sehr hübsch sein. Wenn ihre extravaganten Talente nicht in der Pubertät verschwinden, sollte man Umsicht und Fürsorge für sie schleunigst in andere Hände abgeben«, notierte sie etwa, ohne dass klar wurde, was für Hände sie damit meinte. Ein anderes Mal offenbarte sie ihrem Tagebuch, dass sie Clara besonders gern mochte. »Was für ein fabelhafter Verstand für ein Mäd­chen! Was für eine stete Bereitschaft zum Widerspruch! Könnte später allerdings lästig werden.«

Sie fühlte sich zuständig für die beiden Schwestern, besonders jetzt, wo Eduard im Krieg und Bärchen in anderen Umständen war. Sie wollte für sie nur das Beste, daran hatte sie selbst keinen Zweifel.

Feenbesuche allerdings würden Antonias Vater nicht gefallen, eine gewisse Strenge erschien ihr deshalb unvermeidlich.

Sie griff zu der kleinen silbernen Glocke und klingelte kurz nach Anna, der Kinderfrau.

»Ich werde Anna noch mal mit allem Nachdruck bitten, Antonia auf andere Gedanken zu bringen«, sagte sie mit Schärfe in der Stimme.

Bärchen nickte. »Ja, sicher hast du Recht. Wäre Eduard jetzt hier, würde er sich mächtig aufregen. Er glaubt nicht an Feen und ist überzeugt davon, dass Antonia sich mit Spukgeschichten und anderem Unsinn Kopf und Verstand vernebelt.«

Bärchen dachte kurz an ihren Mann, seufzte wieder und strich sich mit der Hand über den Bauch. Ihr drittes Kind sollte in drei Monaten zur Welt kommen. Vielleicht, dachte Bärchen, würde ein Säugling ihren Mann sanfter stimmen. Vielleicht würde ein weiteres Kind ihn ablenken von den strengen Disziplinierungsmaßnahmen, die er für unerlässlich hielt.

Liebevoll blickte sie auf ihre beiden Töchter. Sie trugen geblümte Kleider, blaue Söckchen und ein passendes Band im Haar. Clara und Antonia tollten gern auf dem gräflichen Anwesen herum, am liebsten – Bärchen wagte es weder ihrem Mann noch Großmutter Theresa zu sagen – bei den Schweinen und Kühen im Stall und hinter dem Schloss, im Wäldchen am See.

An manchen Tagen kamen sie völlig verdreckt nach Hause und ließen sich, bevor sie jemand zu Gesicht bekam, von Anna abschrubben. An anderen Tagen, wenn sie sich um ihre Mutter sorgten, mochten sie nicht nach draußen gehen. Bärchen war von eher zarter Natur, von einer geradezu ätherischen Anmut. Sie hatte von ihrem Vater die Anlage zu periodisch auftretenden Depressionen geerbt, dazu kam ihre schwächliche Konstitution. Sie fühlte sich häufig antriebs- und energielos, auch wenn das ihrer Schönheit keinen Abbruch tat. Manchmal blieb sie tagelang in ihrem Zimmer, um allein zu sein, ließ sich zu den Mahlzeiten entschuldigen und bat darum, nicht gestört zu werden. Sie betrachtete sich in ihrem vergoldeten Toilettenspiegel und sah eine junge Frau mit hellem Teint, großen, blauen Augen, das Gesicht umrahmt von blondem, lockigem Haar. Ihr Aussehen war unverändert, und doch war sie sich seltsam fremd und wollte keinen Menschen um sich haben. Ihre Gedanken kreisten um ihre Jung­mäd­chen­jahre, um eine verloren gegangene Liebe, doch sie sprach nie über die Ereignisse der Vergangenheit. Eigentlich passte ihr Kosename »Bärchen« nicht recht zu ihr, sie hatte nichts von einem kleinen Bären, kränkelte oft und mochte sich nur wenig der frischen Luft aussetzen. Und doch nannte sie fast jeder so, und die Kinder liebten den Kosenamen ihrer Mutter.

Bärchen erschreckte das Ungestüm ihrer Töchter meist, doch sie ließ sie gewähren so gut es ging, am liebsten hätte sie sie in bequeme Lederhosen gesteckt, damit sie unbekümmert den ganzen Tag im Schweinestall herumtoben konnten, auf Bäume klettern, Frösche und Molche im Schloss­teich fangen. Doch Hosen waren völlig undenkbar für Mäd­chen.

»Eine behoste Frauensperson in unseren Kreisen ist vulgär und höchst verdächtig«, pflegte Bärchens Mutter zu sagen, die sehr auf Etikette hielt. Bärchen widersprach nicht. Viele Dinge waren vulgär und höchst verdächtig, und leider wurden es mehr und mehr, je älter die Mäd­chen wurden. Sie wusste, dass auch ihr Mann Hosen nicht dulden würde, er war in allen Fragen strenger als sie.

Eduard hielt nichts von Nachsicht. Er hatte, was die Erziehung seiner Kinder anging, unerschütterliche Prinzipien.

Sie waren nur angesichts der Kriegsturbulenzen in den Hintergrund getreten. Wenn er jetzt nach Hause kam, erschöpft, müde und zunehmend stiller, vergeudete er keine Zeit damit, sinnlos an seinen Töchtern herumzumäkeln.

Eduard Graf Haimburg kämpfte als Offizier an der Ostfront. Bärchen hatte gehofft, er würde in den nächsten Wochen heimkehren, aber sein letzter Brief hatte unmiss­verständlich deutlich gemacht, dass an einen Heimaturlaub derzeit nicht zu denken wäre.

Anna, das Kin­der­mäd­chen, erschien und knickste vor Großmutter Theresa.

»Anna, nimm die beiden Mädchen mit. Lass sie nicht ins obere Stockwerk, du weißt schon, warum. Geh mit ihnen in die Küche. Lies ihnen etwas Erbauliches vor oder erzähl ihnen etwas über Rosenzucht. Tu, was du willst, nur denk dran, was wir besprochen haben.«

Anna machte den Mund auf, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann jedoch anders und winkte Clara und Antonia mit einer knappen Handbewegung und einem leichten Lächeln zu sich.

Kaum hatten die Kinder den Teesalon verlassen, begannen die Erwachsenen über den Krieg zu sprechen. In der Normandie waren 150 000 alliierte Soldaten gelandet, in Weißrussland hatte die Offensive der Roten Armee begonnen, im Führerhauptquartier »Wolfsschanze« hatte Adolf Hitler einen Bombenanschlag überlebt. »Oberst Claus Graf Schenk von Stauffenberg war der Attentäter. Man hat ihn hingerichtet, natürlich«, sagte Großmutter Theresa düster. »Ich fürchte, der militärische Widerstand ist endgültig gescheitert.« Sie sah kurz zu ihrer Schwester und dachte an den Oberst. Er habe bei den Widerständlern mitgemischt, hieß es vage. Nun war er entweder tot oder auf der Flucht. Ob Hugo das klar war? Darüber wollte Theresa jetzt jedenfalls nicht sprechen. Später vielleicht.

Ihre Familie und die Landbevölkerung hatten den Krieg bisher weitgehend unbehelligt überstanden. Nur in einigen seltenen Nächten hatten die Dorfbewohner sich in die Kartoffelkeller flüchten müssen. Doch die Lebensumstände hatten sich drastisch verschlechtert. Die Produktion von Lebensmitteln, Fleisch, Getreide, Kartoffeln und Mehl wurde streng kontrolliert, die Ablieferungsforderungen waren hoch. Groß­mutter Theresa hatte es bis jetzt geschafft, den von ihr über alles geschätzten schwarzen Tee gegen Obst und Ge­müse aus den schlosseigenen Ländereien einzutauschen.

Die Arbeit auf den Feldern und im Stall erledigten Alte, Kinder und vor allem Frauen. Einigen Höfen im Dorf hatte man als Ersatz für die einberufenen Männer belgische und französische Kriegsgefangene zugeteilt.

In den Städten, sagte Großmutter Theresa, sei die Zerstörung durch die Bombardierung beträchtlich, die Zahl der Toten kaum abzuschätzen, doch noch bestehe Hoffnung, wenn man den Nachrichten von der Front, den Radio- und Zeitungsberichten Glauben schenken wollte. Sie allerdings hatte nicht die Absicht, das zu tun.

»Ich bete ganz eigensüchtig zu Gott, dass alle Verwandten überleben, vor allem aber meine beiden Söhne«, sagte sie. »Doch ich glaube längst nicht mehr an einen Sieg.«

Furcht und Angst waren allgegenwärtig im Dorf, und jeden Morgen, wenn das Postauto kam, steigerten sich diese Gefühle noch. Es fuhr zuerst ins Schloss und brachte die Post für die Herrschaft und das Gutspersonal. Der Fahrer überreichte Theresa eine Ledermappe und nahm seinerseits die Briefe aus dem Schloss in Empfang.

Dann ratterte er zum Dorfgasthaus, dessen Wirtin als Posthalterin fungierte. Dort standen die Frauen, auch die jungen, in schwarzen Kleidern, und warteten. Und die Wirtin rief mit ihrer leicht heiseren Stimme: »Sophie, ein Brief für dich von deinem Mann und einer für Paula und einer für Hilde.« Und wäh­rend sie die Briefe verteilte, starrten alle auf das graue Päckchen, das ganz unten im Korb lag. Wer würde es diesmal bekommen? Alle wussten, was es enthielt. Ein paar kümmerliche Habseligkeiten und einen Brief vom Kompaniechef, in dem sinngemäß stand: Ich teile Ihnen mit dem tiefsten Bedauern mit, dass Ihr Sohn, Ihr Mann, Ihr Bruder, ihr Onkel, beim Angriff da und da für Führer, Volk und Vaterland den Heldentod gestorben ist. Er fiel durch einen Kopfschuss und war sofort tot.

So und ähnlich lauteten die Briefe, und die Frauen wuss­ten, dass aus ihnen nicht die Wahrheit sprach. Dass ihre Männer, Söhne und Väter erfroren, im kalten Meer ertrunken oder in einem Panzer verkohlt waren, vielleicht auch irgendwo verreckt, den Bauch voller Splitter. Die Frauen halfen einander so gut sie konnten, sie schrien und weinten ihren Kummer, ihre Wut und ihren Schmerz hinaus und trös­te­ten sich gegenseitig.

Die drohende Nähe des Todes bestimmte das Leben im Dorf und auch im Schloss. Theresa versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Ihre beiden Söhne waren im Feld, außerdem ihre drei Brüder, viele Vettern und Neffen. Die Listen der gefallenen Standesgenossen wurden länger und länger, bis jetzt hatte es, nach allem, was man wusste, keinen Haimburg erwischt. Aber man wusste eben nicht alles.

Theresa dachte an Eduard, dann an ihren zweiten Sohn Guido, dessen Kompanie sich in Italien befand. Von ihm hatte sie seit über einem Jahr keine Nachricht. »Hitler ist ein Ungeheuer, ein höchst gefährliches. Und die meisten Deutschen neigen zur Überschätzung der eigenen Größe und zur Unterschätzung der übrigen Welt«, sagte sie.

Tante Hugo dachte an Johannes, den Oberst. Sie hatte keine Post von ihm, sie wusste nicht einmal, wo er kämpfte und ob er überhaupt noch am Leben wäre. Leider versagten Antonias seherische Fähigkeiten bei diesen Fragen, sie vermochte weder über den Verbleib Guidos noch über Hugos Cousin irgendetwas zu sagen. Doch Hugoline blieb hoffnungsvoll. »Vielleicht wird Gott eingreifen und uns von Hitler befreien«, sagte sie.

Großmutter Theresa schnaubte und schüttelte den Kopf. Sie warf einen Seitenblick auf Pfarrer Ferdinand. »Natürlich ist es möglich, dass Gott in seiner Güte in die Geschichte eingreift und das Steuer herumwirft. Ich halte es allerdings für unvernünftig, allzu sehr damit zu rechnen.«

Pfarrer Ferdinand schwieg einen Moment. Dann nickte er. »Sie haben wahrscheinlich Recht. Die Entwicklung an der Ostfront ist bedrohlich, vierzehn weitere Männer aus dem Dorf sind dort gefallen. Und die Juden fallen einem Massenmord zum Opfer, wenn man den Radiovorträgen des emigrierten Schriftstellers Thomas Mann glaubt.«

»Sie hören seine Vorträge heimlich?«, fragte Hugoline entsetzt. Pfarrer Ferdinand nickte.

»Ich würde sofort Juden hier verstecken oder andere vom Naziregime Verfolgte«, sagte Theresa. »Zivilcourage ist die Tugend, die den Deutschen am meisten fehlt.«

»Sie werden vielleicht bald Gelegenheit haben, jemanden zu verstecken, Gräfin«, sagte Pfarrer Ferdinand leise. Er beugte sich zu ihr hinüber und sprach leise und eindringlich auf sie ein.

Bärchen beobachtete, wie Theresa konzentriert zuhörte und dabei einige Male nickte, sie seufzte kaum wahrnehmbar. Ihr war klar, dass ihre Schwiegermutter sehr viel mehr Mut besaß als sie selbst, aber ihr war auch klar, dass das Verbergen eines Regimegegners die gesamte Familie gefährden würde. Sie fühlte sich plötzlich matt und elend, eine vage Ahnung stieg in ihr auf. Theresa wandte sich ihr zu und sagte einige Sätze auf Französisch. Bärchen sah ihre Befürchtungen bestätigt, es ging um Johannes von Allen, Hugolines Cousin, den Oberst. Bärchen hatte ihn bislang nicht kennen gelernt, wusste aber, dass er alles andere als ein Freund Hitlers war.

Tante Hugoline sprach kein Wort Französisch, ihr mache schon die Muttersprache zu schaffen, sagte sie gern kokett.

»Ich kann wegen meiner Magenbeschwerden nicht viel essen«, sagte sie und nahm sich ihren dritten Marmeladenkrapfen. Sie sah Bärchen an. »Wie betrüblich, meine Liebe, dass du in solch einem heißen Sommer, wäh­rend eines derart unerfreulichen Krieges in derart unerfreulichen Umständen bist.«

Bärchen lächelte tapfer, sie fühlte sich kraftloser mit jeder Minute. »Meine Umstände sind alles andere als unerfreulich. Ich bin jetzt schon völlig vernarrt in das Kind und kann die Geburt kaum erwarten.«

»Wie fühlst du dich, meine Liebe?«, fragte Großmutter Theresa. »Meinst du, es kommt in der errechneten Zeit?«

Bärchen strich sich wieder mit der Hand über den Bauch. »Ja, ich denke schon. Ich fühle mich wohl, wenn auch etwas matt.«

»Matt? Ich werde Luise anweisen, dir eine Fleischbrühe zuzubereiten«, sagte Großmama Theresa.

»Aber das ist wirklich nicht nötig«, protestierte Bärchen.

»Papperlapapp, keine Widerrede«, sagte Theresa schroff und ungeduldig, wie es ihre Art war. Bärchen schwieg einen Moment und versuchte ihre Angst zu verdrängen.

»Theresa«, sagte sie unvermittelt, »ich möchte Eduard vor der Geburt des Kindes besuchen, jetzt, nachdem feststeht, dass er nicht kommen kann.«

»Aber Bärchen!« Hugoline verschluckte sich fast an ihrem Krapfen. Und Theresa sah Bärchen an, als hätte sie die Ankunft weiterer unliebsamer Gäste prophezeit.

»Wir haben Krieg, meine Liebe, du kannst schlecht mit dickem Bauch im Hochsommer an die Front reisen.«

»Nicht an die Front, aber wenigstens in die Nähe. Ich muss es einfach tun«, rief Bärchen mit bebender Stimme. Eduard würde sein Baby vielleicht niemals zu Gesicht bekommen, sagte sie, er sei nun schon lange weg und habe auch seine beiden Töchter seit Monaten nicht gesehen. So wolle sie sich zumindest noch einmal mit ihm treffen, falls ihm doch noch etwas passieren würde. Diese Vorstellung war schrecklich, aber nicht unrealistisch und schließlich ausschlaggebend für ihren Entschluss. Das war sie ihm schuldig.

Fromm, wie sie war, glaubte sie auch, Gott und seine himmlischen Helfer zu besonderen Schutzmaßnahmen be­wegen zu können, wenn sie derartige Strapazen auf sich nähme.

»Wir könnten zu Tante Hugoline fahren«, sagte sie angriffslustig wie ein Kind, das das letzte Wort behalten will. »Wir wären näher an der Front, Eduard könnte uns besuchen. Er hätte es nicht so weit und vor der Geburt des Babys werden sie ihn sicher zu mir lassen.«

Bärchen sah abwechselnd Theresa und Hugoline an. Es bestand keinerlei Zweifel daran, dass sie es ernst meinte.

Großmutter Theresa blickte vor sich hin. Das Kind würde in drei Monaten kommen. Sie fand die Naivität ihrer Schwiegertochter rührend, aber ärgerlich. Was Bärchen über die Gefahren und Grausamkeiten des Krieges weiß, dachte sie, passt in eine Teetasse. Das Gleiche gilt für meine Schwester. Hugo wird wahrscheinlich bis zum Ende des Krieges bei uns bleiben müssen, weil eine Rückkehr in ihre Villa immer gefährlicher wird. Sie ahnt nur noch nichts davon.

Bärchen strahlte indessen Tante Hugoline, die potenzielle Gastgeberin, an, begeistert und gleichzeitig mit einem derart flehenden Ausdruck in den Augen, dass diese nicht anders konnte, als feierlich und ganz gerührt von ihrer eigenen Großmut zu sagen: »Selbstverständlich seid ihr mir alle willkommen. Es ist bei uns vielleicht nicht so komfortabel wie hier, aber nun ja, im Wesentlichen ist in der Villa Willershof für alles gesorgt. Kommt und seid meine Gäste.«

Schloss Haimburg lag über tausend Kilometer von Willershof entfernt, das war etwa die Hälfte des Weges bis zu Eduards Kommando.

Großmutter Theresa schüttelte energisch den Kopf. »Das ist nett von dir, Hugo, kommt aber nicht in Frage. Niemand wird in Richtung Osten fahren, du nicht, Bärchen nicht, die Kinder schon gar nicht. Solange Eduard nicht hier ist, um zu entscheiden, habe ich das Kommando. Es ist zu gefährlich, Bärchen, tut mir Leid, eine Reise nach Königsberg kommt unter keinen Umständen in Frage.«

Bärchen blickte traurig zu Boden und strich sich wieder mit der Hand über ihren Bauch. Sie schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen? Ihre Schwiegermutter würde sich, das wusste sie, nicht umstimmen lassen. Und die Reise allein zu machen, dazu fehlte ihr der Mut. »Ich verstehe«, sagte sie leise und nickte leicht.

Die Kinder saßen unterdessen bei Anna in der Küche auf dem Tisch, ließen die Beine baumeln und sahen zu, wie sie einen Hefeteig knetete. Die Küche war groß wie ein Tanzsaal. Eine Tür öffnete sich zu einer Treppe, über die man in einen kleinen Garten gelangte, eine andere führte zum langen Flur, von dem Herren- und Speisezimmer sowie der Teesalon abgingen.

»Muckst euch nicht«, sagte Anna mit ihrer melodischen Stimme und ihrem hübschen Akzent. »Ihr könnt mir beim Kuchenbacken zuschauen und mir von der Fee erzählen.«

Wäh­rend Antonia begeistert schilderte, was für eine wunderbare Fee speziell ihre Fee sei, lauschte Clara ein wenig neidisch, weil sie nie irgendwelche Visionen hatte.

Anna knetete konzentriert ihren Teig. Sie hielt die Vorhersagen Antonias für harmlos, ja sogar für unterhaltsam, sie schätzte die Übersensibilität des Kindes, solange diese sich nicht in wüsten Träumen und Fieberkrämpfen äußerte. Andererseits wäre sie nicht auf die Idee gekommen, Groß­mut­ter Theresa und vor allem Graf Eduard nicht zu gehorchen und Antonia in ihren »Spinnereien« zu bestärken.

Sie hatte, fand sie, allen Grund dankbar zu sein, vor allem Großmutter Theresa und mehr noch der Köchin Luise.

Anna war im Dorf Haimburg in einem Lastwagen angekommen, irgendwann wäh­rend des Krieges. Soldaten hatten sie und einige andere verlauste Mäd­chen wie Kartoffelsäcke vom Wagen gekippt und waren davongefahren. Die Mädchen waren zwischen 15 und 18 Jahre alt und vollkommen verstört.

Luise, die Köchin, hatte Anna wimmernd unten am Fluss gefunden und ins Schloss gebracht. Sie nahm das schmutzige, völlig verängstigte Mäd­chen mit in die Küche, zog sie aus, stellte sie in einen großen Zinnbottich und schrubbte sie mit warmem Wasser ab, wäh­rend sie beruhigend auf sie einredete.

»Musst keine Angst haben, mein kleiner Vogel«, sagte sie. »Ich werde dir nichts tun, und vielleicht, wenn die Herrin es gut meint mit dir, kannst du hier bei mir bleiben.« Luise sah vom ersten Tag an in Anna die Tochter, die sie nie gehabt hatte. Und sie hoffte von Herzen, die Herrin würde die Kleine im Schloss aufnehmen.

Sie machte Anna das alte grüne Polstersofa in ihrer Wohnung im oberen Stockwerk zurecht. Doch das Mäd­chen war sehr unruhig, schrie nachts und wälzte sich ruhelos umher.

Auch tagsüber wirkte Anna, wie Luise sie inzwischen nannte, schreckhaft und ruhelos und sprach kein Wort.

»Was haben die Soldaten nur mit dir gemacht, wo kommst du nur her, wo sind deine Eltern«, murmelte Luise immer wieder, wäh­rend sie Anna überallhin mit sich nahm, ihr zu essen gab und schließlich das Sofa, auf dem Anna schlief, neben ihr Bett schob. Tatsächlich tröstete Luises Nähe das Mäd­chen, und mit der Zeit wurde ihr Schlaf ruhiger. Sie begann, einige Sätze zu sagen in italienischer Sprache, lächelte scheu und begann allmählich, das, was Luise sagte, auf Deutsch zu wiederholen.

Großmutter Theresa, von Luise nie anders als Herrin ge­nannt, hatte ihre Grundsätze. Einer davon war, sich nicht in die Angelegenheiten fremder Leute zu mischen. Ein anderer war, hilfsbereit, couragiert und großzügig zu sein. Manchmal gerieten diese beiden Grundsätze miteinander in Konflikt. Sie machte sich Gedanken über Annas Herkunft, kam jedoch zu keinem klaren Ergebnis. Sie und Bärchen nahmen an, dass Anna aus Italien stammte, sie beherrschte Italienisch perfekt und radebrechte jetzt Deutsch, vielleicht war sie geflüchtet, vielleicht aber auch gekidnappt worden, und ihre Familie suchte sie verzweifelt.

»Wir werden sie hier behalten und dann weitersehen, Luise«, sagte sie. Das Mäd­chen war in einem derart erbarmungswürdigen Zustand, dass niemand im Schloss es über sich gebracht hätte, sie wegzuschicken.

Nach einigen Monaten, als Anna sich erholt und deutlich an Gewicht zugenommen und innere Ruhe gewonnen hatte, als die Striemen auf ihrem Rücken verheilt waren und sie sogar manchmal scheu lächelte, da wusste Luise, dass eine Entscheidung fällig wäre. Sie ging kurz vor dem Abendessen mit Anna zum Salon und klopfte an.

Großmutter Theresa saß an ihrem alten Sekretär und schrieb Briefe.

»Was gibt es, Luise?«, fragte sie, ohne aufzublicken.

»Anna. Es ist wegen Anna, bitteschön. Ich wollte höflich fragen, ob sie hier bleiben kann, Herrin.«

Großmutter Theresa sah auf, schaute quer durch den großen Salon abwechselnd Luise und Anna an und verzog missbilligend den Mund. »Was wird ihre Familie dazu sagen? Wir können sie doch nicht einfach adoptieren. Will sie überhaupt hier bleiben?«

Luise hatte diese Fragen erwartet.

»Oh ja, Herrin, sie möchte sehr gern hier bei mir bleiben. Anna könnte mir in der Küche helfen, bitteschön. Sie könnte im Garten helfen und die Kinder beaufsichtigen. Später könnte sie sich auch um die Kinder des anderen jungen Herrn kümmern.«

Großmutter Theresa wedelte ungeduldig mit ihrer Brille. »Guido ist noch nicht einmal verheiratet, Luise. Also red keinen solchen Unsinn. Außerdem haben Eduard und seine Frau möglicherweise eigene Vorstellungen von einem Kindermädchen.«

Tatsächlich hatten Eduard und seine junge Frau in dieser Hinsicht noch nichts unternommen. Großmutter Theresa fragte sich zum wiederholten Mal, wie und warum jemand Kinder ohne Kindermädchen großziehen wollte.

In diesem Moment betrat ihr Sohn Eduard den Salon durch die Tür, die ins Kaminzimmer führte. Er trug, obwohl er Fronturlaub hatte, seine Uniform und wirkte einschüchternd auf Anna. Die letzten Worte seiner Mutter hatte er offenbar gehört.

»Ich könnte mir kein besseres Kindermädchen vorstellen als Luise«, sagte er. »Sie hat mir und Guido bereits den Hosenboden versohlt, warum sollte sie das bei meinen Kindern nicht auch tun?«

Er lachte und zwinkerte Luise zu, die natürlich nie dergleichen getan, sondern die Grafensöhne verwöhnt hatte, wo sie nur konnte.

»Es geht um Anna, bitteschön,« sagte Luise schnell und lächelte ihn dankbar an. »Es wäre gut, wenn sie im Schloss bleiben könnte.«

Eduard trat zu seiner Mutter an den Schreibtisch, gab ihr einen Kuss auf die Wange und sagte mit einem kurzen Blick auf die völlig verschüchterte Anna: »Natürlich wird sie hier bleiben, nicht wahr, Mama? Vor allem jetzt, wo sie sich so gemacht hat. Sie könnte Bärchen entlasten und ein Auge auf Clara und Antonia haben. Natürlich darf sie die beiden nicht verwöhnen.«

Er lächelte gewinnend, zwinkerte Luise zu und küsste seiner Mutter die Hand.

Bärchen war mit dem Vorschlag ihres Mannes sofort einverstanden, und so fand Anna ihren Platz im Schloss. Anfangs war sie dem Personal gegenüber, das aus einer Wäscherin, diversen Stalljungen und einem krummrückigen Gärtner bestand, unbeholfen und schüchtern. Sie alle lebten nicht im Schloss, sie kamen morgens oder nachmittags aus dem Dorf.

Anna hielt den Blick gesenkt und sprach so gut wie nie. Sie blieb in der Obhut von Luise, die in der Küche regierte. Von ihr lernte Anna Filets und Sauce Bearnaise zuzubereiten, bei Tisch zu servieren, Rotweinflecken von Damasttischdecken zu entfernen, wie sie die Wäsche zu behandeln hätte und was der Unterschied zwischen Spitzen- und Schweizerstickerei wäre.

An manches konnte sich Anna nicht gewöhnen. So starrte sie in dem getäfelten Speisesaal die Ahnenbilder immer wieder ängstlich an, bis Luise ihr eines Tages sagte: »Lauter Vorfahren von den gnädigen Herrschaften. Manche haben was getaugt, andere nicht. Sehen alle ziemlich mürrisch aus, nicht? Hatten wahrscheinlich schlechte Verdauung.«

Danach machte es Anna nicht mehr so viel aus, unter den gestrengen Blicken der Ahnen den Tisch zu decken und das Silber zu putzen.

Doch nichts war größer als Annas Begeisterung für die zwei kleinen Mäd­chen, denen sie oft vorlas, nachdem sie die deutsche Sprache besser beherrschte. Manchmal sang sie Clara und Antonia auch fremde Lieder vor, melancholische Balladen, deren Inhalt sie den Schwestern übersetzen ­musste. Es ging um Herzen, die nicht zueinander fanden, und um Vögel, die wunderschön sangen und nie wiederkehrten.

»Es sind Lieder aus meinem Dorf«, sagte sie, und diese Erklärung genügte den Schwestern vollauf. Manchmal setzte sich Bärchen abends zu den Kindern, wenn Anna ihnen vorsang, lauschte und sah dabei aus dem Fenster in die Dunkelheit. »Du singst wunderschön, Anna«, sagte sie dann und seufzte.

Von ihrer Mutter erfuhren die Schwestern, dass es sich um italienische Lieder handelte, Lieder aus einem sonnigen Land jenseits der Alpen. Doch obwohl Bärchen sanft und freundlich mit Anna sprach, sie nie schroff anfuhr oder in Verlegenheit brachte, vermochte auch sie ihr nicht zu ent­locken, aus welchem Teil des Landes sie stammte, wo genau ihr Dorf lag, wo ihre Familie sich befand, ob sie Kontakt zu irgendwem aufnehmen wollte.

So beschloss Bärchen, mit Hilfe von Pfarrer Ferdinand Papiere für Anna zu beschaffen. Sie bestimmten gemeinsam mit Luise ein fiktives Geburtsdatum und einen fiktiven Nachnamen. Demnach war Anna mit dem schönen und ein­fachen Nachnamen Paressi jetzt 18 Jahre alt, ihr Geburtstag wurde auf den 7. April gelegt, das war der Tag, an dem Luise sie gefunden hatte.

Die Schwestern liebten Anna zärtlich, sie fühlten sich von ihr ernst genommen. Sie mochten es, wenn Anna sie Carina, Cara oder Bella nannte und sie bei ihr und Luise in der warmen Küche sitzen konnten.

Denn sie waren oft sich selbst überlassen, ihre Mutter lebte vielleicht für sie, aber immer weniger mit ihnen, und mit den Kindern im Dorf sollten die Grafentöchter nicht spielen.

So saßen sie auch an diesem Augusttag, wie so oft, in der Küche und sahen zu, wie Anna Teig knetete.

»Ich glaube, heute oder morgen kommt die Fee«, sagte Antonia.

»Wird sie zum Fenster hereinschweben?«, fragte Anna. »Hat sie Flügel oder kommt sie unauffällig, damit nicht jeder gleich erkennt, dass es sich um eine Fee handelt?«

Antonia fand die Frage interessant und überlegte einen Moment. Auch Clara dachte angestrengt nach. Leider fiel ihr überhaupt nichts ein, kein Wunder, es war ja auch nicht ihre Vision. Schließlich sagte Antonia vergnügt: »Ja, sie kommt verkleidet. Aber ich glaube, sie kommt auf die gewöhnliche Art und Weise, wenn du weißt, was ich damit meine.«

Anna lächelte, doch Clara sah Antonia verständnislos an. »Was meinst du damit, auf die gewöhnliche Art und Weise?«

»Nun ja,« sagte Antonia. »Sie kommt wie andere Besucher auch. Sie geht ganz einfach durch die Tür.«

Den Rest des Tages lungerten Clara und Antonia vor dem Schlosstor herum und nahmen jeden Gast in Augenschein, der hinein- und hinausging. Es waren genau zwölf Menschen, fast alle aus dem Dorf. Ein feenähnliches Wesen war, wie die Schwestern enttäuscht feststellen mussten, nicht dabei.

Abends, als Anna sie bereits ins Bett gebracht hatte, erschien ein später Besucher. Er war nicht angemeldet und trug zwei alte, abgeschabte Lederkoffer mit sich. Luise schrie auf, als sie ihn sah. »Jesses Maria!« Sie rannte in den Salon und meldete Bärchen, Tante Hugoline und Großmutter Theresa, Guido sei überraschend heimgekehrt.

3

Krankenhäuser deprimieren mich und die Heidelberger Universitätsklinik, in der meine Schwester lag, machte keine Ausnahme. »Dritter Stock, rechte Tür«, sagte der Pförtner als ich ihn nach der neurologischen Abteilung fragte. Er sah mich misstrauisch an, lächelte aber zurück, als ich ihm strah­lend zunickte und sehr freundlich »danke« sagte.

Vielleicht sah man mir an, dass ich zu dieser schreck­lichen Familie gehörte, die hier in der Gegend so bekannt war und jetzt für einen kleinen, feinen Skandal gesorgt hatte.

Ich kleidete mich normalerweise nachlässig, von der Musikerin einer wilden Mäd­chenband erwartete man das geradezu. Natürlich war der Eindruck von Nachlässigkeit sorgfältig inszeniert. Ich bevorzugte den Carnaby Look, trug manchmal knappe Minis oder grüne Hosen zu blauen oder roten Uniformjacken. Ich malte mir schwarzblaue Augen und versteckte sie hinter riesigen Sonnengläsern, ich ließ mir meine braunen Haare schwarz färben und lang wachsen. Auf der Bühne stand ich oft in einem kurzen Glitzerkleid oder in bunten, engen Hosen. Mein hochtoupiertes Haar sah manchmal aus wie ein Vogelnest, und ich klimperte mit falschen Ketten.

Es war aufregend, mit der Mode zu spielen in den Sechzigern. In London liefen manche Musiker oder Künstler betont gammelig herum, mit Ponchos, die aussahen wie abgenutzte Wolldecken, andere wirkten mit ihren Mähnen und glitzernden Rüschenhemden wie Zirkusartisten.

Für den Besuch bei meiner Schwester hatte ich mich für einen Hosenanzug in hellblau-metallic und eine weiße Bluse entschieden. Heidelberg war nicht London. Ich wollte einen guten Eindruck machen, auf wen auch immer. Die Haare trug ich lang und glatt, allerdings hatte ich einen kleinen roten Samthut auf dem Kopf. Man soll sich schließlich nicht gänzlich verleugnen, sagte ich mir. Der Samthut, der aussah wie ein umgestülpter Nachttopf, war mein Markenzeichen.

Die drei Stockwerke ging ich zu Fuß, weil ich Fahrstühle nicht ausstehen kann. Meine Reisetaschen schleppte ich mit, ich hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sie irgendwohin zu bringen. In Wahrheit wusste ich noch nicht einmal, wo ich wohnen würde.

Ich fragte eine blonde Krankenschwester, die in robustem Schuhwerk geschäftig hin und her lief, nach dem Zimmer meiner Schwester.

»Ah, Sie sind sicher eine Verwandte«, sagte sie und strahlte mich an, als hätte ich allein dafür augenblicklich einen Orden verdient. Mein Hut schien sie zu befremden, doch sie erkannte mich nicht.

»Ich bin ihre Schwester«, sagte ich. »Ich würde sie gern besuchen.«

»Sie sind die Schwester, was Sie nicht sagen!«

Sie musterte mich kurz. Ich kam ihr entgegen. »Keine große Ähnlichkeit, nicht wahr?«

Verlegen machte sie eine schnelle Handbewegung, ihre Überraschung war ihr peinlich. Nun, es konnte nicht jeder eine so überirdische Schönheit sein wie Antonia. Wir haben beide schwarzes Haar, sie von Natur aus, ich gefärbt, aber damit hört die Ähnlichkeit auch schon auf.

Ich lächelte wieder, wie Frauen das oft tun, wenn sie eigentlich verunsichert sind. Mein freundliches, gelassenes Getue ging mir auf die Nerven. Denn in Wahrheit war ich nervös, gereizt, schlimmer noch, ich hatte Angst.

Andererseits zahlt Freundlichkeit sich meistens aus und verfehlte auch diesmal ihre Wirkung nicht.