Die den Schnee fürchten - H.S. Palladino - E-Book
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Die den Schnee fürchten E-Book

H.S. Palladino

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Beschreibung

Wo Schnee fällt, werden Geheimnisse begraben – bis eine Lawine entsteht ... Das aufregende Thrillerdebüt aus Norwegen!

Seit Bjørk Isdahl als Profilerin durch ein Fehlurteil in Ungnade gefallen ist, arbeitet sie als Wut-Coach und Drogenberaterin. Ihre psychische Verfassung ist seit dem Vorfall nicht viel stabiler als die ihrer Klienten. Wiederkehrende Albträume um eine Schneelandschaft suchen sie nachts heim. Als sich eine drogenabhängige Patientin vor Bjørks Augen auf brutale Weise umbringt, findet sie einen Zettel mit der Aufschrift »Ich weiß, warum du Albträume hast«. Auf der Suche nach einer möglichen Verbindung zu dieser Frau wird nach und nach klar, dass deren Tod kein Selbstmord war – und welchen Dämonen sich Bjørk stellen muss.

Der Auftakt zur neuen Thriller-Reihe aus Norwegen – psychologisch, tiefgründig und packend!

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Seitenzahl: 468

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Seit Bjørk Isdahl als Profilerin durch ein Fehlurteil in Ungnade gefallen ist, arbeitet sie als Wut-Coach und Drogenberaterin. Ihre psychische Verfassung ist seit dem Vorfall nicht viel stabiler als die ihrer Klienten. Wiederkehrende Albträume um eine Schneelandschaft suchen sie nachts heim. Als sich eine drogenabhängige Patientin vor Bjørks Augen auf brutale Weise umbringt, findet sie einen Zettel mit der Aufschrift »Ich weiß, warum du Albträume hast«. Auf der Suche nach einer möglichen Verbindung zu dieser Frau wird nach und nach klar, dass deren Tod kein Selbstmord war – und welchen Dämonen sich Bjørk stellen muss.

Autorin

Hilde Palladino ist eine norwegische Autorin, die sich nicht im stillen Kämmerchen einschließt, um zu schreiben. Sie reist seit 20 Jahren und liebt es, nur wenige Dinge zu besitzen. Am wohlsten fühlt sie sich über und unter Wasser in Indonesien und auch in ihrer Heimat Norwegen. Die den Schnee fürchten ist ihr Debütroman.

H. S. PALLADINO

DIE DEN SCHNEE FÜRCHTEN

Thriller

Deutsch von Maike Dörries und Günther Frauenlob

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Den som frykter snøen bei Cappelen Damm, Oslo.

This translation has been published with the financial support of NORLA, Norwegian Literature Abroad.

Das Zitat von Ingvar Ambjørnsen auf Seite 7 stammt aus Die Nacht träumt vom Tag, übersetzt aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, Edition Nautilus Verlag, Hamburg 2014.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright der Originalausgabe © CAPPELENDAMMAS 2022

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Ricarda Essrich

Umschlaggestaltung: © U1berlin/Patrizia Di Stefano

Umschlagmotive: © Mariesol Fumy/Trevillion Images; Regine Heintz/Arcangel Images; Maridav/Shutterstock.com

StH · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-30094-4V002

www.blanvalet.de

Für Stein Magne

»Erst, wenn man anfängt, vor sich selbst wegzulaufen, zieht sich der Teufel die Stiefel an.«

Ingvar Ambjørnsen, Die Nacht träumt vom Tag

Alles, was ich fürchte, ist mit einem Mal da, lebensecht und detailliert. Die Kette, die mich festhält, der widerliche Gestank, der Schnee auf Kopf, Schultern und Beinen.

Ein Schrei will durch meinen Hals nach oben.

Lass mich raus!

Es ist nur ein Gedanke.

Lass mich gehen!

Keine Reaktion, nicht einmal ein Blick in meine Richtung. Nur ein Schatten, der im Unwetter verschwindet.

Die Hoffnung stirbt. Der Schnee fällt. Legt sich um mich, bis alles weiß ist. Voller Angst zerre ich an den Ketten, versuche, mich loszureißen. Huste, rutsche weg, huste wieder, bis mir schwarz vor Augen wird. Das alles führt zu nichts. Es hilft mir nicht weiter. Ich sitze hier fest, bis ich geholt werde, bis ich unter einer warmen Decke wieder aufwache.

Ein Zweig knackt und mein Kopf zuckt nach oben. Ein Hirsch springt los, dann knallt es infernalisch. Nebel legt sich auf das Wasser, die Bilder verschwimmen. Ein dunkler Fleck zeichnet sich auf der Brust des Tieres ab, das zu Boden geht und stirbt. Im Moor versinkt. Verschwindet.

Alles hat ein Ende. Nur der Schnee bleibt. Kalt und beißend. Und das verrohte Böse.

1

Der Anruf kommt spät am Abend. Ihre Stimme ist geprägt von der unverkennbaren Heiserkeit eines Menschen, der zu lange Drogen genommen hat.

»Ich bin’s«, sagt sie.

»Entschuldigung?«

»Ich.« Ein Seufzen. »Azora.«

Es dauert ein paar Sekunden, bis ein Bild von ihr in meinem Kopf auftaucht. Ich unterdrücke ein Stöhnen, spüre ein kaltes Kribbeln an meinen Schultern.

»Wie, zum H… Wie …?« Mir will einfach kein einziges freundliches Wort über die Lippen.

»Ich muss dich treffen«, sagt sie. »Jetzt gleich.«

Ich schüttele den Kopf, obwohl sie mich nicht sehen kann. »Tut mir leid, es ist schon spät und …«

»Wir Mädchen halten doch zusammen, oder?«

»Nein, nein, vergiss es.«

»Hör mal, ich …«

Es gibt nur eine Möglichkeit, dem einen Riegel vorzuschieben: Ich beende das Gespräch, lege mir endlich die geheime Nummer zu, über die ich schon so lange nachdenke, und hoffe darauf, dass sie mich vergisst. Das wäre der einfache Weg. In ihrer Stimme schwingt aber so viel mit, ein großer Frust darüber, dass ich sie nicht verstehe.

»Ich kann dich nicht länger schützen«, sagt sie.

Ich seufze tief, verdrehe die Augen. Einer der Gründe, weshalb ich in der Drogenberatungsstelle aufgehört habe, ist genau diese Neigung zu konstruierten Wirklichkeiten, zu Paranoia. Alte Scheiße in neuer Verpackung. Das alles wurde mir einfach zu viel.

»Bitte …«, fleht sie mich an und murmelt eine Adresse, die ich nicht kenne.

Ihre Verletztheit kratzt an meinem Gewissen. Die Probleme dieser Frau sind zweifelsohne zu groß, als dass sie sie allein lösen könnte. Andererseits weiß ich ganz genau, was passieren wird, wenn ich sie zu nah an mich heranlasse und in ihre Wahnvorstellungen mit hineingezogen werde. Irgendwann stecke ich fest und komme nur noch mit Mühe wieder los. Irgendwie muss ich ihr ein für alle Mal klarmachen, dass sie mich nicht mehr anrufen soll.

»Nein«, sage ich und lasse die Stille für mich arbeiten. Hoffe, dass sie versteht, wie ernst ich es meine. Ich will schon auflegen, als ich höre, wie sie sich räuspert.

»Ich weiß, wieso du Albträume hast.«

Mein Gehirn koppelt sich vom Blutkreislauf ab. Mit weichen Knien gehe ich ans Fenster. Starre runter in den Park, in dem die nackten Bäume stramm wie Soldaten in einer Reihe stehen.

»Grønland«, sagt sie. »Kommst du?«

Ich hole tief Luft. Presse die Lippen zusammen, während sie die Adresse wiederholt.

»Okay«, sage ich. »Ich komme.«

Ich muss das beenden. Ein für alle Mal.

Ich suche Pullover, Parka und Stiefel zusammen und werde übermannt von den Erinnerungen aus der Drogenklinik. Sehe die Frauen vor mir, denen das Leben übel mitgespielt hat. Nicht immer hat der Aufenthalt ihre Situation verbessert. Eine von ihnen Azora, aus der ich nie richtig klug geworden bin.

Unser Telefonat lässt mich nicht los, und plötzlich erinnere ich mich auch an das, was sie damals gesagt hat. Aber dass sie weiß, warum ich Albträume habe, kann nicht stimmen. Sie kann unmöglich wissen, was nicht einmal ich weiß.

Ich gehe in Richtung Grønland, wo sich der Großteil der Osloer Drogenabhängigen herumtreibt. Dabei sollte das Viertel einmal die exotische Oase der Stadt werden, aber die Distanz ist groß zwischen kreativen Künstlern und weltoffenen Touristen. Dass sich hier Sozialhilfeempfänger und Aktienmakler die Hand reichen, ist ein frommer Wunsch geblieben. Stattdessen gibt es eingeschlagene Schaufenster, Huren und Junkies, die die wenigen attraktiven Plätze bevölkern. Es ist wirklich so, als würde dieser Stadtteil aktiv an seiner Selbstzerstörung arbeiten.

In einem Shop frage ich nach dem Weg. Der Mann, der zwischen Kohl, Süßkartoffeln und Ingwer steht, erinnert mich an ein schlankes Insekt mit flackernden Augen. Als könnte er, falls nötig, jeden Moment zustechen. Er trägt einen Strickpullover und einen Wollschal, den er sich so eng um den Hals gewickelt hat, als wollte er sich erwürgen. Er begleitet mich nach draußen und zeigt in Richtung einer Seitenstraße.

»Graues Haus, gewölbte Durchfahrt zum Hinterhof.«

Das Gebäude ist nicht schwer zu finden. Ein staubfarbenes Mehrfamilienhaus mit massiver Holztür, die nicht zu erkennen gibt, was für Firmen sich dahinter verbergen. Auf den Klingeln sind die Ziffern der Stockwerke notiert, keine Namen. Fensterläden sperren die Welt aus. Ich gehe in die Durchfahrt, bleibe stehen, bereite mich innerlich vor.

Aus einem Büro fällt fahles Licht in den Hinterhof. Paletten stapeln sich an einer Wand. Ein rostiges Fahrrad, ein Kühlschrank, ein kaputter Schreibtisch neben einem Container, in dem das alles vermutlich hätte landen sollen. Eine Feuerleiter führt an der Außenwand nach oben, gesperrt durch ein Gittertor etwas oberhalb des Bodens. Die Luft riecht fremd. Süßlich scharf, gemischt mit dem Geruch nach geschmolzenem Plastik. Ich sehe mich um, fahre mit den Fingern durch die Haare. Azora ist nicht da.

Ich bin sauer, dass ich mich habe breitschlagen lassen herzukommen, und nehme mein Handy heraus. Nichts. Ich habe keine Nachricht von ihr übersehen. Vermutlich hat sie mich direkt nach unserem Gespräch vergessen, ist Minuten später im Drogenrausch eingeschlafen. Ich stelle sie mir auf einem fleckigen Sofa vor, mager und apathisch. Ihr Gesicht hat jede Persönlichkeit verloren, die Augen sind unnatürlich tief in den Schädel gesunken. Warum zum Henker habe ich in dieses Treffen eingewilligt? Ich mache auf dem Absatz kehrt, will gehen, tue es dann aber doch nicht. Frauen wie sie haben es nicht leicht. Es bringt mich nicht um, wenn ich etwas warte.

Die Feuchtigkeit des gerade zu Ende gegangenen Regens hängt noch in der Luft, Nebel klebt an den Dächern. Ich beginne, hin und her zu laufen, schlage die Jacke enger um mich, reibe mir die Hände, lege sie zusammen und blase hinein. Wie ich diese Jahreszeit hasse! Wenn Azora in zehn Minuten nicht da ist, gehe ich.

Mein Ärger ist schnell wieder verflogen. Ich lasse mir ihren Namen auf der Zunge zergehen, während der Schotter unter meinen Sohlen das nasse Laub zerreibt. Nennt sie sich nur so oder heißt sie wirklich so? Ich weiß es nicht mehr. Ich muss mir eingestehen, dass ich in all diesen Jahren nicht an sie gedacht habe. Dabei ist es nicht erstaunlich, dass sie meine Nummer herausgesucht hat. Im letzten Jahr prangte mein Gesicht immer wieder auf den Titelseiten der Zeitungen, als verhassteste Frau des Landes.

Mit einem Mal habe ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich weiß nicht, wieso. Lasse meinen Blick über die Bürofenster schweifen und spüre ein Kribbeln im Nacken. Ich drehe mich um, kneife die Augen zusammen und blinzele hoch zum Dach. Folge mit dem Blick der Kante. Ist sie da raufgegangen? Plötzlich bilde ich mir ein, dort oben einen Schatten zu sehen, aber das ist sicher nur eine Reflexion im Nebel. Eine Katze, oder Tauben, die dort oben Schutz für die Nacht gesucht haben. Trotzdem beschleunigt sich mein Puls. Ich sollte nicht hier sein, nicht in diesem Viertel, nicht allein. Besonders nicht um diese Uhrzeit.

Als das Licht, das durch das Fenster fällt, ausgeschaltet wird, liegt der Hinterhof im Dunkeln. Ich trete ein paar Schritte zurück, kriege weiche Knie und werde noch sensibler für den süßlichen Gestank. Höre entfernt Reifen auf nassem Asphalt. Trotzdem lasse ich den Rand des Daches nicht aus den Augen. Im Moment ist dort oben keine Bewegung auszumachen. Nur der metallisch graue Nebel, der über die Dächer zieht.

Ich warte.

Lausche.

Bereite mich vor zu gehen.

Dann ist da plötzlich wieder das Gefühl, beobachtet zu werden. Hat mich jemand hergelockt, um mich auszurauben? Oder will mir jemand etwas antun, wegen der Sache im letzten Jahr? Systematisch scanne ich die Bürofenster, suche nach Silhouetten. Dann nehme ich mein Handy und denke, dass Azora nicht kommt. Sehe ein letztes Mal zum Dach hoch, während ich lauschend zu ergründen versuche, ob ich wirklich allein bin.

Ich bin auf dem Weg zur Durchfahrt, als ich ihn höre. Der Schrei schneidet sich durch das Dunkel, durch meinen Körper. So voller Todesangst, gefolgt von einem dünnen Flattern, das die Luft in Schwingung versetzt. Es kommt von oben. Ich überlege nicht, was da geschieht, schwinge bloß herum und hebe den Blick. Sehe die Gestalt fallen, sich in der Luft drehen und nur wenige Meter vor mir auf dem Boden aufschlagen.

2

Die Polizei ist sehr schnell zur Stelle. Ich sitze etwas abseits auf der Straße in der Hocke und fühle mich vollkommen blutleer. Das Geräusch des zerplatzenden Schädels auf dem Asphalt läuft in meinem Kopf in einer Endlosschleife, als zwei Beamte, ein Mann und eine Frau, auf mich zukommen. Sie tragen kurze schwarze Jacken und dazupassende Hosen. Ich muss ihnen meinen Namen genannt haben, oder sie wissen, wer ich bin, denn sie sprechen mich mit vollem Namen an.

»Bjørk Isdahl«, sagt die Frau. »Sie haben angerufen, nicht wahr?«

Ich schüttele langsam den Kopf. Verstehe einfach nicht, warum Azora mich zur Zeugin ihres Selbstmords gemacht hat.

»Haben Sie nicht?«

»Hä?« Erst jetzt werde ich wieder auf die Beamten aufmerksam.

»Sie haben die Tote gefunden?«

Die Worte wollen nicht aus meinem Mund. »Sie ist gesprungen.«

»Haben Sie das gesehen?«

Ich starre vor mich hin. Der Körper im freien Fall, das Geräusch, es will nicht aus meinem Kopf. Ich schüttele wieder und wieder den Kopf, starre vor mich hin, bis mir endlich klar wird, dass ich mich zusammenreißen muss.

»Ja, ich habe sie fallen sehen.«

»Verstehe«, sagt die Frau. »Wohnen Sie in der Nähe? Arbeiten Sie hier?«

»Nein«, antworte ich. »Ich war mit ihr verabredet.«

»Sie kannten die Tote?«

»Ich habe vor ein paar Jahren ein Praktikum in einer Drogenklinik gemacht. Lebensrad. Sie war da eine Weile Patientin. Sie hat mich heute Abend angerufen.«

»Dann können Sie sie identifizieren?«, fragt die Polizistin.

»Azora, sie wurde Azora genannt. Den Nachnamen kenne ich leider nicht.«

»Was wollte sie?«

Der Mann ist neben mir in die Hocke gegangen. Seine Freundlichkeit macht mir bewusst, wie hart ich zu Azora war. Hat sie mir meine Gleichgültigkeit angehört? Meinen Unwillen, sie zu treffen? Hätte ich entgegenkommender sein müssen?

Ich versuche, den Beamten zu erklären, warum ich in das Treffen eingewilligt habe.

»Sie hat mich immer wieder bedrängt. Ich wollte dem ein Ende machen, bevor es eskaliert.«

Sie nicken, verständnisvoll, bekommen meine Kontaktdaten und helfen mir, ein Taxi zu rufen. Ich fahre nicht nach Hause, sondern zu Kristian. Erkläre ihm am Telefon, was passiert ist, damit er versteht, dass ich es nicht auf einen neuerlichen Streit abgesehen habe.

Als ich in seine Wohnung komme, legt er die Arme um mich, streichelt mir den Rücken und hält mich lange fest. Ich drücke mein Gesicht an seine Brust und klammere mich an ihn. Am liebsten würde ich die ganze Nacht so stehen bleiben. Kein Reden, keine Anklagen, keine lauten Stimmen. Einfach nur hier stehen, die Wärme und den Duft des anderen spüren.

Meine Augen laufen über, als er sich aus meiner Umklammerung löst. All das, was im letzten Jahr passiert ist, spült gleichsam aus mir heraus. Die Tränen fließen, die Schultern beben. Ich beuge mich vor und öffne die Schnürriemen meiner Stiefel, hänge meine Jacke auf und wische mir das Gesicht mit der Serviette ab, die Kristian mir reicht. Dann führt er mich ins Wohnzimmer, platziert mich auf dem Sofa und legt mir eine weiche Decke um die Schultern. In der Küche kocht er einen Tee, drückt mir den Becher in die Hände und gießt sich selbst ein Glas Rotwein ein.

Er passt so gut in diese Wohnung, in meiner war er viel zu groß, füllte die Zimmer auf fast beklemmende Weise aus. Hier, unter den hohen Decken und zwischen den klassischen Möbeln, die so schwarz wie seine Haare sind, fügt er sich in das Interieur wie auf einem inszenierten Foto. Wieso denke ich an derart triviale Dinge, nachdem sich gerade vor meinen Augen jemand das Leben genommen hat? Ich zwinge mich, mich auf Kristian zu fokussieren, der sich mir gegenüber hingesetzt hat.

»Willst du darüber reden?«, fragt er.

Ich trinke einen Schluck von dem brühheißen Tee. Die Kamille entkrampft meine Muskeln. Endlich finde ich eine Art Ruhe und beginne langsam zu reden. Ein ums andere Mal wiederhole ich, was Azora gesagt hat, was ich gedacht und getan habe. Kristian hört geduldig zu. Zwischendurch stellt er eine Frage, die meiste Zeit aber lässt er mich einfach reden.

»Ich kriege das nicht zusammen«, sage ich nach einer Weile. »Sie hat mich angerufen. Weil sie reden wollte. Warum nimmt sie sich dann das Leben?«

»Sie hat sich nicht unbedingt zurechnungsfähig angehört.«

Ich schüttele den Kopf. »Vielleicht nicht, sie hat aber gesagt, dass sie mir etwas Wichtiges erzählen wollte. Und es scheint ihr wirklich ernst gewesen zu sein.«

Er sieht mich verwundert an. »Aber du kanntest sie doch gar nicht?«

Ich denke an frühere Gespräche mit ihr. Ich habe Kristian nie davon erzählt, doch jetzt strömt aus mir heraus, wie unwohl ich mich bei diesem Praktikum gefühlt habe und was für ein schlechtes Gewissen ich hatte, die angebotene feste Stelle abgelehnt zu haben, obwohl ihnen Leute fehlten. Und dann diese Frau. Azora. Sie wollte einfach nicht nachgeben.

»Das ging mir alles zu nah. Ich konnte mit diesen Drogenabhängigen nicht arbeiten. Nicht nur wegen ihr, aber …«

»Verstehe«, sagt Kristian. Er beugt sich vor und legt beide Hände um das Rotweinglas.

»Anfangs, als ich noch neu in der Klinik war, wirkte es so, als würde sie mich nicht kennen«, fahre ich fort. »Dann hat sie plötzlich behauptet, mich schon als Kind gekannt zu haben.«

»Aber das stimmte nicht?«

Ich stelle den Becher auf den Tisch und schiebe ihn in die Mitte.

»Vielleicht war sie auf derselben Schule, was weiß ich. In einer der Klassen über mir. Vielleicht eine Nachbarin, an die ich mich nicht erinnere. Sie war definitiv ein paar Jahre älter als ich. Ich hab es nie rausgekriegt, vermutlich war das alles nicht real.«

Eine Weile sitzen wir da, ohne etwas zu sagen. Ich schlage die Decke enger um mich. So war es schon immer mit Kristian und mir. Die Stille zwischen uns war nie peinlich.

»Wie geht es dir?«, fragt er schließlich. »Ich meine … sonst so?«

Ich ziehe den Becher wieder zu mir, trinke, bevor ich antworte. Versuche zurückzuhalten, was er nicht hören will. Ringe meiner Stimme Zuversicht ab, als ich sage: »Abs will nächste Woche mit mir sprechen.«

Er nickt langsam. Stellt das Weinglas ab, aus dem er kaum etwas getrunken hat.

»Du … sollst zurück?«

»Ich hoffe es.«

»Sicher, dass das klug ist?«

Die Frage ärgert mich, obwohl ich wusste, dass sie kommen würde.

»Warum fragst du?«

Er hebt beschwichtigend die Hände. »Ich meine nur …«

»Du siehst doch, wie es mir nach einem Jahr zu Hause geht.« Ein Kloß wächst in meinem Hals. Ich versuche, seinem Blick standzuhalten. »Du hast doch selbst gesagt, dass …«

»Sie hätten dir eine Entschädigung zahlen müssen.«

»Ich habe einen unschuldigen Mann sterben lassen, Kristian. Für so etwas wird man nicht entschädigt, eigentlich kommt man dafür ins Gefängnis.«

Er stöhnt. »Jetzt hör aber auf. Der Mann stand unter Verdacht. Außerdem hast du ihn nicht …«

»Weil ich ihn für schuldig gehalten habe …«

Er sieht mich skeptisch an und schweigt eine ganze Weile. Es wirkt so, als müsste er die folgenden Worte von weither holen.

»Ich weiß nicht, aber es braucht doch sicher mehr als das Votum einer einzelnen Person bei der Polizei, um jemanden ins Gefängnis zu bringen. Du musst endlich damit aufhören, dir das anzukreiden.«

Ich drehe mich hin und her, winde mich aus der Decke, als wollte ich gehen.

»Haben wir nicht genug über dieses Thema geredet? Jens Ellingsen ist tot. Und das war mein Fehler.«

Wieder sieht er mich wortlos an. Aus seinen dunklen Augen strahlt etwas, das ich nicht recht deuten kann. Ich weiß, dass er mich liebt und gern hätte, dass ich über Nacht bleibe. Er hat es nicht gesagt, aber er wünscht sich, dass wir wieder als Paar zusammenfinden. Gleichzeitig hasst er meine Arbeit, sowohl die, die ich habe, als auch die, zu der ich zurückwill. Er ist überzeugt, dass sie mich kaputtmacht. Es gab eine Zeit, in der diese Ängste berechtigt waren, doch mittlerweile habe ich wieder alles unter Kontrolle.

»Entschuldigung«, sagt er, ohne mich anzusehen.

»Wofür?«

Er hebt den Blick. »Du hast etwas Grausames erlebt, und alles, was ich tue, ist …«

Er hält inne, reibt sich das Gesicht, steht auf und geht in die Küche. Ich starre in die Leere, die er hinterlässt, und lausche auf meinen Herzschlag. Ich könnte über Nacht bleiben. Seine Wärme spüren, ihn in mich eindringen lassen. Mit seinem Atem an meinem Ohr einschlafen und seine dunklen Arme um mich spüren. Mein Körper beginnt sanft vor Lust zu zittern, doch ein Geräusch macht dem allen jäh ein Ende. Das verfluchte Geräusch des zerschmetternden Schädels.

Es ist sicher besser, zu Hause zu schlafen.

»Was ist?«, fragt Kristian.

Er steht mit einer hochgezogenen Augenbraue vor mir, lächelt zärtlich, als hätte er meine Gedanken gelesen. Plötzlich erinnere ich mich an das Gefühl, das ich hatte, als ich auf Azora wartete. Dass mich jemand beobachtet.

»Bestimmt bilde ich mir das nur ein …«

»Was?«

»Ich hatte das Gefühl, nicht allein zu sein.« Mein Hals schnürt sich zu.

Kristian sieht mich an. Ich weiß, was er denkt. Er will eine stabile Lebensgefährtin, die die liebende Mutter seiner zukünftigen Kinder werden kann. Nicht einen Menschen, der Tod und Schande mit nach Hause bringt.

»Könnte es nicht einfach ein Unfall gewesen sein?« Als ich nicht antworte, fährt er fort: »Du weißt, dass ich immer nur dein Bestes will. Und dass ich dich für den klügsten, hübschesten Menschen halte, den ich jemals getroffen habe.«

»Aber …?«

»Ich kann nicht mit jemandem zusammen sein, der solche Situationen geradezu sucht.«

»Dann bist du gegen die Polizei? Sollen wir sie abschaffen?«, sage ich und spüre den Trotz in mir aufkeimen. »Oder sollten Polizisten einfach keine Familie haben?«

»Du weißt ganz genau, dass ich das so nicht meine.«

Ich weiß es, aber seine Worte machen mich nur noch wütender.

»Eine von uns beiden wünscht sich ganz einfach, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.«

»Um dabei selbst vor die Hunde zu gehen«, murmelt er.

Ich kommentiere das nicht.

»Warum ist ein Job wichtiger als unsere Beziehung?«, fragt er. »Ich verstehe das einfach nicht …«

»Kristian …«

Wieder hebt er abwehrend die Hände. Starrt zu Boden und sieht mich dann an, als erwarte er eine vernünftige Antwort.

Was soll ich sagen? Dass ich mir nie eine Familie gewünscht habe? Dass ich mir nicht sicher bin, ob ich Kinder will? Nichts davon kann ich als Argument anbringen, weil er sonst glaubt, dass unsere Beziehung eine Lüge war, und das war sie nicht. Das Einzige, was ich sagen kann und was einigermaßen Sinn ergibt, ist das, was sich in meinen Körper eingebrannt hat. Dass sich nichts, aber auch wirklich gar nichts mehr richtig anfühlt, wenn man den Tod eines anderen Menschen verschuldet hat.

Die Ratlosigkeit, die ich in den letzten Stunden gespürt habe, ist noch bedrückender als vorher.

»Dann ist es wohl entschieden«, sage ich.

»Die Arbeit bedeutet dir mehr als unsere Beziehung?«

Es gibt nichts mehr zu sagen. Ich wende das Gesicht ab, stehe abrupt auf und gehe in den Flur. Ziehe mich an. Kristian versucht nicht, mich aufzuhalten. Er fleht mich nicht an zu bleiben. Als ich die Tür hinter mir schließe, beginnt es hinter den Augenlidern zu brennen, und ich weiß, dass die letzten Wochen nur ein langer Abschied waren.

3

»Wer will anfangen?«

Marcos hebt die Hand, wie er es immer tut.

»Lust auf Kontrollverlust«, sagt er. »Damit ich jemand die Fresse polieren kann.«

Ich blättere durch die Aufzeichnungen vom letzten Mal. Azoras Selbstmord war vor drei Tagen, seitdem habe ich kaum geschlafen. Die wenigen Stunden waren begleitet von Albträumen, merkwürdigerweise nicht von ihr. Nicht von dem fallenden Körper, dem Kopf, der auf dem Boden aufschlägt, oder dem Blut auf dem Asphalt. Ich habe die Albträume, die mich schon so lange begleiten, wie ich denken kann. Der Wald, der Hirsch, das Wasser. Der Schnee, der mich erstickt.

Ich betrachte die vier Männer vor mir. Das Zimmer ist gemütlich eingerichtet, mit guten Stühlen und einem Sofa, das ich gratis auf eBay gefunden habe. Sie sitzen entspannt da, als hätten sie sich zum Alltagsplausch bei irgendwem im Wohnzimmer getroffen. Meine Aufgabe ist es, sie dazu zu bringen, sich zu öffnen und über die Gründe zu sprechen, wegen derer sie hier sind. Und ihnen ein Werkzeug an die Hand zu geben, um andere Entscheidungen treffen zu können.

Marcos ist ein schmächtiger Mann. Er stammt ursprünglich aus Brasilien, und sein kräftiger Akzent und seine Stimme sind alles andere als furchteinflößend. Trotzdem hat er absolutes Annäherungs- und Kontaktverbot zu seiner früheren Frau, nachdem er sie immer wieder grün und blau geschlagen hat. Er hat ihr die Wangenknochen gebrochen, die Nase, das Schlüsselbein und diverse Finger. Ich lasse seine Aussage unkommentiert, betrachte die anderen und sehe Tore kaum merklich nicken. Er würde es niemals zugeben, aber das Gefühl, das Marcos beschreibt, ist ihm derart bekannt, dass er seine Körperreaktion nicht unterdrücken kann. Gaute amüsiert sich. Er ist einige Jahre jünger als die anderen, was er mit größerer Aggression zu kaschieren versucht. Das Haargummi, das er immer wieder auf die Finger schnalzen lässt, verrät aber, dass er Ablenkung braucht. Reza hockt mit versteinertem Gesicht da. Auch er erkennt sich in den Gefühlen wieder, zeigt aber nur selten, was in seinem Kopf vor sich geht. Er schafft es, sich in Situationen wie dieser unter Kontrolle zu halten. Warum schafft er das nicht, wenn es wirklich darauf ankommt?

»Ist dieser Jemand eine bestimmte Person?«, frage ich so freundlich und verständnisvoll wie nur möglich, um das Gespräch auf eine konkrete Situation zu lenken.

Ein paarmal war ich kurz davor, Kristian anzurufen, um zu hören, ob wir uns noch einmal treffen können, es ist aber immer bei dem Gedanken geblieben. Ich bin zu feige und habe mich entschieden, zuerst das Treffen mit Abs hinter mich zu bringen. Wenn ich meinen alten Job zurückbekomme und alles wieder gut wird, kann ich auch Kristian kontaktieren.

Marcos verzieht Nase und Mund. Mir ist ein Zucken in seinem Gesicht aufgefallen. Bevor er etwas Krasses von sich gibt, blinzelt er zweimal kurz mit einem Auge. Manchmal ist es das rechte, das andere Mal das linke. Ein System habe ich bis jetzt nicht erkennen können.

»Filho da puta«, schnaubt er und gestikuliert wild mit den Händen. »Mein Chef, … ja, und mein Schwager. Ex-Schwager. Eigentlich immer nur diese beiden. Diese Woche.«

Er lehnt sich zurück, in gespielter Entspannung. Ich habe vergessen, wonach ich gefragt habe. Eine spezifische Person, ja. Genau.

Wut kann ebenso zur Sucht werden wie Drogen. Adrenalin und Dopamin in den Adern können verführerisch entspannend sein. Die Substanzen lassen einen spüren, dass man lebt, und steigern das Verlangen nach mehr. Ich vermute, dass Marcos’ Probleme lange vor seiner Ehe begonnen haben.

»Aber vorläufig hast du noch niemandem die Fresse poliert, oder?«, frage ich. »Also in dieser Woche?«

»Nicht in dieser Woche, nein.« Er versucht sich an einem Grinsen, während sein Adamsapfel auf und ab hüpft. Er weiß, dass es falsch ist, über Wut zu lachen, auf jeden Fall dann, wenn andere unter dieser Wut zu leiden haben. Aber er weiß auch, dass er hier Dinge sagen kann, die anderswo nicht möglich sind.

Ich reagiere nicht auf sein Grinsen.

»Was ist denn mit deinem Chef?«, frage ich.

Marcos richtet sich auf und schnaubt.

»Latscht rum und spielt den ach so Klugen«, sagt er und zuckt schließlich mit den Schultern. »Hab echt genug davon.«

»Kommt deine Wut gleich oder erst später?«

»Auf den Chef? Vor der Arbeit, glaube ich.« Er sieht zu Tore, der ihm bestätigend zunickt.

Ich richte mich auf. Tore ist der Einzige in der Gruppe, mit dem ich Probleme habe. Er ist vor ein paar Monaten aufgetaucht, ein Mann Anfang fünfzig. Copywriter. Stahlgraue Haare, attraktiv. Geschieden, drei erwachsene Kinder. Er hat immer wieder Beziehungen mit deutlich jüngeren Frauen, die aber nie lange halten. Grund dafür ist, seiner Meinung nach, dass sie mit seinem südländischen Temperament nicht klarkommen. Ich weiß noch, was ich mir bei unserer ersten Begegnung notiert habe: »Trägt seine Wut wie eine Trophäe vor sich her.«

Ich setze den Stift aufs Papier, notiere mir heute aber nicht viel. Ein Gedanke hat sich in meinem Kopf festgesetzt, den ich einfach nicht loswerde. Habe ich an dem Abend zwei Gestalten auf dem Dach gesehen?

»Du fängst den Tag schon wütend an?«, frage ich Marcos.

»Ja, kommt vor …«

»Bevor dein Chef etwas gesagt hat?«

Blinzel, blinzel. Ich weiß, wohin das führt.

»Hat wohl was gesagt, am Tag davor.«

»Du bist also schon wütend, bevor du deinem Chef am Morgen begegnest, und trotzdem ist er es, der dich wütend macht?«

Ich will ihn mit der Frage provozieren. Nicht alle halten das für die richtige Vorgehensweise, wenn man mit vier Männern in einem Raum sitzt, die nachweislich eine verdammt kurze Zündschnur haben. Ich vertraue auf den Prozess.

»Ich weiß doch, wie das läuft«, antwortet Marcos und sieht zu den anderen.

Reza zupft an den Haaren auf seinem Unterarm. Gaute lässt das Haargummi schnalzen.

»Und dem willst du vorbeugen?«, frage ich Marcos.

Er reckt den Daumen in die Höhe.

»Warum?« Ich bohre tiefer nach, warum Marcos glaubt, die Wut mit nach Hause nehmen zu müssen.

»Keine Ahnung«, sagt er und dreht den Oberkörper hin und her. »Vielleicht will ich einfach nur gut vorbereitet sein.«

»Du lässt also zu, dass dein Chef zu Hause in deiner Küche das Kommando übernimmt?«

Die Frage ist eine Ohrfeige, dessen bin ich mir bewusst, die aber häufig zum Ziel führt. Wut hat nicht selten mit der Angst zu tun, die Kontrolle zu verlieren oder ungerecht behandelt zu werden. Wenn man erkennt, dass man selbst es ist, der die Autorität abgibt und andere über seine Gefühle bestimmen lässt, ist das nicht selten ein Wendepunkt.

»Ich sag mal …«, sagt Marcos. Ich sehe, dass er nachdenkt, weiß, dass er einer von denen ist, die ihr Verhalten wirklich ändern wollen. »Idiotas mit Macht machen mich einfach wütend, weißt du.«

»Könntest du die Wut am Morgen einfach nach Hause schicken?«

»Äh …?«

»Ja …?«

»Fangfrage?«

»Was denken die anderen?«, sage ich und lasse den Blick über die Gesichter der anderen wandern. »Ist das eine Fangfrage, wie Marcos meint?«

Tore hebt die Hand.

»Theoretisch kann jeder die Wut aufhalten, wenn sie kommt.«

»Theoretisch?«

»Wenn das so einfach wäre, würde keiner von uns hier sitzen.«

»Ist es nicht einfach?«, frage ich und achte darauf, nicht herablassend zu klingen.

»Es ist meine Normalität geworden«, sagte Reza.

»Bei mir auch«, sagt Gaute und lässt das Gummi schnalzen. »Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich vergessen, wie es ist, nicht wütend zu sein.«

Die anderen lachen, das normale Reaktionsmuster auf diesen Satz. Trotz der ernsten Lage. Die meisten wissen, dass sie auf dem Weg in den Abgrund sind und dringend umkehren müssen.

»Müssen wir alle Gefühlseinladungen annehmen, die sich melden?«, frage ich rhetorisch. »Oder sind wir es einfach nur so gewohnt, dass wir nichts anderes kennen? Manche Menschen sind mit Wut um sich herum aufgewachsen. Vielleicht gab es zu Hause viel Streit, sodass man nichts anderes erwartet. Aber was ist die letzte Konsequenz von Wut? Wie weit nach unten kann sie einen bringen?«

»Bis ganz nach unten«, sagt Reza. »Direkt in die Hölle.«

Ich hole tief Luft und spüre meiner eigenen Wut nach. Demütigungen machen so etwas mit Menschen. Die Journalisten, die wochenlang vor meiner Wohnung gelauert haben, haben mir das Rückgrat gebrochen. Die Hetze war nicht auszuhalten. Ich habe mich geweigert, nach draußen zu gehen, und mir monatelang mein Essen liefern lassen. Das Schlimmste war aber die Gewissheit, dass ich nie mehr in meinem Job arbeiten und nie das Leben bekommen würde, das ich mir wünschte.

Doch jetzt hat Absalon eine Tür geöffnet.

»Wer sind wir dort?«, frage ich. »Wenn wir uns in die Hölle führen lassen?«

Tore sieht mich an, fordert mich mit seinem Blick heraus.

»Menschen, die zu grausamen Dingen in der Lage sind.«

Ein Schauer läuft über meinen Rücken. Er mag es, es gefällt ihm, sich selbst als jemanden zu sehen, der zu grausamen Dingen in der Lage ist.

»Natürlich liegt darin auch eine gewisse Kraft«, sage ich, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Die Tatsache, dass du in der Lage bist, das zu erkennen, befähigt dich auch dazu, dich selbst als einen Menschen zu sehen, der die Entscheidung treffen kann, keine grausamen Dinge zu tun. Der sich entscheidet, sich nicht von seiner Wut leiten zu lassen, sondern ein stärkerer Mann zu sein.«

Tore wirft mir einen Blick zu, als wollte er sagen »Punkt für dich«.

Wir kommen zum Ende. Ich blicke ihm nach, als er gemeinsam mit den anderen aus dem Raum geht. Er unterscheidet sich nicht von ihnen und ist doch ganz anders. Ich habe schon öfter überlegt, ob ich ihn aus der Gruppe rausnehmen sollte oder ob er meine Karriere wieder in Fahrt bringen kann.

Ehe ich den Ablauf der Stunde protokolliere, mache ich eine Übung, die mir offenbart, was mein Unterbewusstsein über die Männer und ihre Lebenssituationen zu sagen hat. Ich zeichne sie, oder besser gesagt, karikiere sie. Intuitiv fährt der Stift über das Papier, ohne dass ich richtig hinschaue. In der Regel betrachte ich erst hinterher, was ich gezeichnet habe. Manchmal sind es Kritzeleien, andere Male schreiende Dämonen. Ich werfe die Karikaturen immer weg. Die Männer würden es nicht zu schätzen wissen, so dargestellt zu werden.

Heute habe ich Probleme, mich zu konzentrieren. Worüber wollte Azora mit mir reden? Und warum war ich am Telefon so abweisend zu ihr? Außerdem quält mich die Vorstellung, dass dort oben auf dem Dach mehr als nur eine Person war. Azoras Tod triggert Erinnerungen an den Fall, an dem ich vor einem Jahr gearbeitet habe. Jens Ellingsen stand schon lange im Visier der Kripo, er wurde verdächtigt, mehrere junge Frauen vergewaltigt und getötet zu haben. Ich war als externe Beraterin hinzugezogen worden, als Profilerin, und Ellingsen entsprach voll und ganz dem Täterprofil. Deshalb empfahl ich die Festnahme. Als das Ergebnis der DNA-Analyse ihn schließlich entlastete, war es zu spät. Er hatte sich in der Zelle das Leben genommen.

Wäre ich damals nicht so verbohrt gewesen, wäre er heute noch am Leben.

Ich werfe einen Blick auf den Block und sehe, was ich gezeichnet habe. Tore als Phantom der Oper, die Hälfte des Gesichts mit einer weißen Maske verdeckt.

Ich zerreiße die Skizze und werfe sie in den Mülleimer. Räume auf, spüle die Kaffeetassen und schalte die Maschine aus. Es bläst ein heftiger Wind, als ich die Tür abschließe und nach draußen in die Nacht gehe. Meine Schritte hacken auf den Asphalt ein und übertönen das konstante Rauschen, das zu jeder Tageszeit über der Stadt liegt. In der Regel gehe ich ohne Angst nach Hause, auch wenn es draußen dunkel ist. Heute aber beschleunige ich meine Schritte, fingere am Schlüsselbund herum. Aus reinem Reflex schiebe ich die Finger zwischen die einzelnen Schlüssel, mache eine Wolverine-Faust.

Bevor ich die Straße überquere, drehe ich mich kurz um. Sehe ein Auto langsam vorbeifahren und zwinge mich selbst zur Ruhe. Mein Herz hämmert. Ich gehe immer schneller, und mit einem Mal höre ich kurz hinter mir Schritte. Sie werden schneller, wenn ich schneller werde. An der nächsten Kreuzung laufe ich bei Rot über die Ampel, ohne auf den Verkehr zu achten. Ein Fahrer hupt, aber mir ist das egal. Das Haus, in dem ich wohne, ist jetzt nur noch einen Häuserblock entfernt.

An der Haustür zögere ich nicht, fummele nicht lange mit den Schlüsseln herum. Ich gehe hinein, schließe die Tür ab und vergewissere mich, dass sie auch wirklich zu ist. Einen Augenblick bleibe ich stehen und lausche auf Schritte draußen. Fühle mich dumm, als mir klar wird, dass ich mir das alles nur eingebildet habe.

Das Geräusch des zerberstenden Schädels begleitet mich die Treppe hoch, bis in die Wohnung, bis ins Bad. Es verfolgt mich, als ich mich ausziehe und unter die Dusche gehe. Das heiße Wasser verbrüht mich fast, es prickelt auf Schultern, Armen, Rücken. Aber der Schmerz holt mich zurück in eine Art Normalität. Ich nehme die Handdusche und regele die Temperatur. Hocke mich hin, wasche mich zwischen den Beinen und sehe zum Boden der Duschkabine.

Ich bin zwei Wochen über der Zeit. Und einen Monat zu spät.

4

Am nächsten Morgen schrecke ich aus dem Schlaf. Als ich mich aufrichte, registriere ich, dass ich in voller Montur auf dem Sofa geschlafen habe. Ich blinzele ein paarmal und erinnere mich, dass ich mir einen Dokumentarfilm darüber angeschaut habe, wie die westliche Welt Afrika aktiv den Zugang zu Medikamenten erschwert. Bei meinem letzten Blick aufs Handy war es nach drei.

Das graue Licht, das durch die gardinenlosen Fenster in den Raum fällt, sagt mir, dass der Vormittag schon weiter fortgeschritten ist. Noch ehe ich richtig bei mir bin, klingelt es an der Tür, und ich stehe auf, um zu öffnen. Draußen stehen zwei uniformierte Beamte.

»Bjørk Isdahl?« Die Frau ergreift das Wort. Sie hat bronzefarbene Haut, Haare, für die ich töten würde, und tiefbraune Augen. Zwei Schritte hinter ihr steht ein Mann, ein paar Jahre älter als sie, dessen Körpersprache verrät, was er in diesem Leben alles nicht geschafft hat.

Für einen Moment starren wir uns einfach nur an, die Türschwelle wie ein Hindernis zwischen uns.

»Ja, das bin ich.« Meine Stimme zittert, und ich neige den Kopf etwas zur Seite, um zu kaschieren, dass ich gerade erst aufgewacht bin.

Die Frau stellt sich und ihren Kollegen vor, aber ich kann mir die Namen nicht merken.

»Dürfen wir einen Moment hereinkommen?« Sie ist auf eine Weise autoritär, als wollte sie sagen, dass es besser wäre, sie nicht zum Feind zu haben, wobei ihr linker Wangenmuskel beim Sprechen mikroskopisch kleine Zuckungen macht.

Ich nehme mir Zeit, ihre Ausweise zu kontrollieren.

»Worum geht es?«

»Es ist vielleicht besser, wenn wir das drinnen besprechen.«

Widerwillig trete ich einen Schritt zur Seite und lasse sie eintreten. Sie marschieren ins Wohnzimmer, ohne sich die Schuhe auszuziehen. Daran ändert auch mein demonstrativer Blick auf den Oktobermatsch auf meinem frisch geschrubbten Fußboden nichts. Die Beamten sehen sich in meinem kleinen Bunker von Zuhause um. Ihr Blick wandert vom Tisch mit den runden Feuchtigkeitsflecken zu dem Fernseher, den ich von meinen Eltern übernommen habe, bis zu den Regalen vom Sperrmüll. Der Blick der Frau verharrt einen Moment auf den Büchern des Psychoanalytikers Sándor Ferenczi, dann nickt sie und nimmt ein Buch über Charles Manson heraus.

»Worum geht es?«, fragt ich erneut, obwohl ich längst eine Vermutung habe. Ich bin mir peinlich klar darüber bewusst, wie ich aussehe. Meine Haare stehen sicher in alle Richtungen ab und dunkle Ringe unter den Augen werde ich wohl auch haben. Eine Mischung aus Mascara und den Widrigkeiten der letzten Wochen.

Sie lassen sich mit ihrer Antwort viel Zeit und gehen vor mir her in die Küche. Die Frau sieht aus dem Fenster und dreht sich dann langsam zu mir um.

»Es geht um Azora Strand.«

Genau, wie ich es vermutet hatte. Ich will mir mit der Hand durchs Haar fahren, was allerdings allgemein für ein Zeichen von Unsicherheit gilt, weshalb ich mir angewöhnt habe, es in Situationen wie dieser nicht zu tun.

»Ich weiß nicht mehr, als ich bereits gesagt habe«, beginne ich.

»Mag sein. Trotzdem würden wir gerne noch einmal über diesen Abend sprechen, den zeitlichen Ablauf noch mal durchgehen.«

Ich drücke mit zwei Fingern an die Augenwinkel. Ich weiß, wie so etwas abläuft. Sie wollen, dass ich die Geschichte mehrmals wiedergebe. Sind die Versionen identisch, können sie mich als Verdächtige ausschließen. Ich erzähle noch einmal, dass Azora mich angerufen hat, was sie gesagt hat und dass ich schließlich eingewilligt habe, sie zu treffen.

Der Beamte zieht einen Hocker unter dem Tisch hervor und setzt sich breitbeinig hin.

»Das war alles?«

»Ja.«

»Sie sind also spätabends aufgebrochen, um eine Drogenabhängige zu treffen, die Sie nicht kennen. In einer der übelsten Gegenden der Stadt?«

Seine Stimme klingt mechanisch, und er riecht nach einer Mahlzeit, die man vor einem Arbeitstag nicht essen sollte. Tausend winzige Ameisen krabbeln an meinen Armen hoch, als mir bewusst wird, dass er mir nicht glaubt.

»Das ist richtig«, sage ich. Nach den Zweifeln, die er gesät hat, klingt meine Stimme flach.

»Und davor? Was haben Sie davor gemacht?«

Ich drehe mich zur Kaffeemaschine um, hole Filter und Kaffee aus dem Schrank und gieße Wasser hinein. Ich kann die Wahrheit sagen, dass ich zu Hause gehockt und mir selbst leidgetan habe. Wie eigentlich das gesamte zurückliegende Jahr. Dass ich erst die letzten Wochen wieder damit begonnen habe, Freunde zu treffen, und meinen liebevollen Lebensgefährten von mir geschoben habe. Nichts davon kommt über meine Lippen. Sie wissen, wer ich bin. Insbesondere der männliche Kollege mit den zusammengezogenen Augenbrauen scheint mir sagen zu wollen, dass er weiß, was ich getan habe, und mich dafür verabscheut.

Die Frau spannt die Kiefer an, ihre Muskulatur zuckt.

»Wo waren Sie vorher an diesem Abend?«

»Hier.«

»Sie hat ohne jede Vorwarnung angerufen?«

»Das ist richtig.«

»Und Sie kannten sie nicht?«

Ich seufze tief. Wiederhole die Erklärung über die Drogenklinik. Nehme mir einen Kaffeebecher und gieße mir ein, ohne den beiden etwas anzubieten. Sie machen mich nervös. Ich frage mich, warum sie wirklich hier sind. Es kann nicht nur um die Wiederholung meiner Zeugenaussage gehen.

»Haben Sie an jenem Abend noch mit anderen Leuten gesprochen?«, fragt die Beamtin.

»Wie meinen Sie das?«

Ich halte den Becher mit einer Hand vom Körper entfernt, um entspannt zu wirken. Ein Schweißtropfen rinnt vom Hals zwischen meine Brüste, ich widersetze mich aber dem Drang, ihn wegzuwischen.

»Hatten Sie andere Gespräche?«

»Mit der Polizei.«

»Und früher am Abend?«

»Was hat das mit dem Fall zu tun?«

»Ich weiß, dass das merkwürdig wirkt«, sagt die Frau mit einem Blick, als wären wir plötzlich gute Freunde. »Es ist aber wichtig, dass wir alle Details bekommen.«

»Das ist überhaupt nicht merkwürdig«, antworte ich und hebe das Kinn. »Wie Sie wissen, bin ich als Psychologin auf die Analyse von Verhaltensmustern spezialisiert. Ich habe für die Polizei gearbeitet.«

Sie tauschen kurze Blicke. Manche Leute sehen in Profilern so etwas wie Wahrsager. Ich weiß noch, wie erstaunt ich war, als ich bei der Kripo anfing, dass viele meiner Kollegen sehr überrascht darüber waren, dass die Polizei mich hinzugezogen hatte. Es ist in Norwegen ziemlich ungewöhnlich, Spezialisten wie mich anzuheuern. Die meisten gehen davon aus, dass sich ein Studium des kriminellen Verhaltens eigentlich nur dazu eignet, Serienmörder und Brandstifter zu finden, und davon haben wir hier nicht viele. Absalon Lund hingegen, der entgegen der öffentlichen Meinung der Ansicht war, dass sie jemanden wie mich im Team brauchten – ein Hüne von zwei Metern Größe, mit roten Haaren und passendem Bart –, glaubte an mich. Er wusste, dass ich gut darin war, zu erkennen, was die Leute zu verbergen suchten, und wir waren wirklich ein verdammt gutes Team. Bis ich Mist baute.

Die Frau wird etwas milder. Gespielt, aber sie gibt sich Mühe, das muss ich ihr lassen.

»Wissen Sie was? Wir fangen noch einmal von vorne an.« Sie wirft einen Blick auf die Kaffeemaschine. »Das riecht gut. Könnte ich auch einen Kaffee bekommen?«

Widerwillig schenke ich ihr eine Tasse ein und reiche sie ihr.

»Ich bitte nur um einen Gefallen«, sagt sie. »Beantworten Sie einfach die Fragen, die wir Ihnen stellen.«

Mir wird klar, dass es Ewigkeiten dauern wird, wenn ich nicht nachgebe.

»Okay«, sage ich. »Ich war an diesem Abend allein zu Hause. Habe ich Probleme mit Freunden? Nein. Ein Alkoholproblem? Auch nicht. Eigentlich trinke ich nichts mehr, seit ich weiß, was Alkohol mit dem Körper anstellen kann. Als Azora anrief, hatte ich absolut keine Lust, nach draußen zu gehen, aber irgendwie tat sie mir leid. Ich habe mit Drogenabhängigen gearbeitet. Die meisten kriegen wirklich kaum Unterstützung.«

Das Gesicht des Mannes wird rot.

»Aber Sie kümmern sich um die?«

»Und jetzt sind Sie dran«, sage ich, stelle meinen Becher auf die Anrichte und verschränke die Arme vor der Brust. »Worum geht es hier eigentlich?«

Die Frau sieht mich direkt an.

»Es wurde ein Foto gefunden.«

Ein Stechen in der Brust. Das ist nicht gut, das kann nicht gut sein.

Ich halte die Luft an, während sie einen Plastikbeutel aus der Innenseite ihrer Uniformjacke nimmt. Darin liegt das Foto einer Frau mit blondem Pferdeschwanz. Sie sitzt allein auf dem Dach der Oper, trägt ein blaues Sommerkleid und klassische Dr. Martens. Neben ihr steht ein Pappkaffeebecher. Sie blickt abwesend über den Fjord. Die Frau auf dem Foto bin ich.

»Oh, dann hat sie mich also gestalkt«, sage ich und denke, dass das Foto im letzten Sommer aufgenommen worden sein muss. »Wie ich Ihnen schon gesagt habe …«

»Sehen Sie sich die Rückseite an«, unterbricht die Frau mich.

Mit unsicheren Fingern drehe ich das Foto um. Lese den Satz, der quer über die Rückseite gekritzelt ist.

Ich weiß, warum du Albträume hast.

»Nur Unsinn«, sage ich, während sich vor meinen Augen alles zu drehen beginnt.

Jemand redet, ich weiß nicht, wer von beiden.

»Sind Sie sich sicher, dass Sie sich nicht doch besser kannten?«

Ich bin mir sicher. Azora kannte mich nicht und ich habe nie mit irgendeinem Außenstehenden über meine Albträume gesprochen.

5

»Könnte es auch ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn sein?«

Ich sitze auf Empfehlung der obersten Behörde für Fälle wie meinen bei meiner Psychologin, einer zierlichen gebürtigen Koreanerin mit Pagenschnitt. Ihr eilt der Ruf voraus, selbst der unsichersten Seele noch Selbstvertrauen einzuflößen, einen echten Durchbruch hatten wir zwei bislang aber noch nicht.

»Chemisches Ungleichgewicht? Wie kommen Sie darauf?«

Sie zupft ihr burgunderrotes Kleid zurecht, ehe sie sich setzt und die Beine übereinanderschlägt. Fachlich ist sie sicher gut, aber ihre beherrschten Gesten wecken bei mir immer Assoziationen von Herdentieren.

»Ich habe gelesen, dass Träume oft von Hormonen gesteuert werden und …«

Mir schießt durch den Kopf, dass eine ausgebliebene Menstruation zum Beispiel ein solches Ungleichgewicht auslösen könnte. Sind die Albträume schlimmer geworden, weil ich schwanger bin?

»Die Träume kommen häufiger?«, fragt die Psychologin wie ein Echo meiner Gedanken.

Ich nicke. »In letzter Zeit fast jede Nacht. Das zehrt.«

»Irgendwelche außergewöhnlichen Ereignisse im Tagesablauf?«

Ich habe keine Lust, von Azora zu erzählen, bin noch nicht so weit, das Ereignis einem Außenstehenden zu erklären.

»Der Ellingsen-Fall liegt jetzt ein Jahr zurück«, antworte ich. »Liegt es daran?«

»Sie stehen im Regen, vom ganzen Land vor die Tür gejagt. Wie fühlt sich das an?«

Sie streicht mit einer Hand über das Notizbuch, legt es auf die Oberschenkel und formuliert ihre Worte als Frage.

Ich muss nicht lange nachdenken.

»Als ob ich es verdient hätte.«

Ich wundere mich wieder einmal, dass dieser Raum absolut geruchsneutral ist. Dass sie völlig geruchsneutral ist. Natürlich sollten Therapieräume neutral sein, wie die Therapeuten auch, aber ich vermisse einen Duft, an dem ich mich festhalten kann.

»Es war seine eigene Entscheidung, sich das Leben zu nehmen«, sagt die Psychologin und reißt mich aus meinen Gedanken.

»Weil ich ihn als Mörder abgestempelt habe.«

»Was wäre die Konsequenz gewesen, wenn er nicht in Untersuchungshaft gekommen wäre?«

»Es gab Menschen, die ihn geliebt haben, seine Frau und eine Tochter.«

»Und wenn er nicht in Untersuchungshaft gekommen wäre?«

Das ist mein wundester Punkt, und seitdem ich hierherkomme, suche ich nach einer Antwort auf diese Frage.

»Wir wären uns nicht so sicher gewesen.«

»Und Sie? Welche Konsequenzen hätte das für Sie persönlich gehabt?«

Wir haben schon öfter darüber gesprochen. Mit variierenden Antworten meinerseits. Ich könnte sagen, dass ich unter Zeitdruck ein Urteil abgegeben habe, weil Eile geboten war, den Mann festzunehmen, der zwei Mädchen vergewaltigt und getötet hatte. In Wahrheit aber hatte ich Angst, es könnte der Eindruck entstehen, dass ich mich nicht auf meine eigenen Fähigkeiten verlassen kann.

»Alles hat Konsequenzen«, sage ich. »Egal, was man tut.«

Die Psychologin richtet den Notizblock aus, ihre schlanke Hand schreibt mit langsamen Bewegungen. Zeichnet sie, wie ich es mache? Nimmt da auf dem Papier gerade eine Hyäne Gestalt an? Oder ein träger Tintenfisch, der seine Tentakel in alle Richtungen ausstreckt? Aber vielleicht kritzelt sie ja auch nur Kreise und denkt ans Abendessen.

»Vor ein paar Tagen hatte ich das Gefühl, dass mir auf der Straße jemand gefolgt ist«, sage ich, um irgendwie vom Thema Ellingsen wegzukommen, aber auch als eine Art Selbstkasteiung. Ich will aus ihr herauslocken, ob sie glaubt, dass mit mir etwas nicht stimmt.

»Tatsächlich oder eingebildet?«

Sie zweifelt also tatsächlich an mir.

»Wahrscheinlich Letzteres«, sage ich und strecke meinen Rücken. »Aber für Sie scheint das ja ohnehin klar zu sein.«

»Wie kommen Sie darauf?«

Ich könnte wetten, dass sie sich dümmer stellt, als sie ist. Wenn ich so in meiner Aggressionsbewältigungsgruppe auftreten würde, hätte ich schon längst einen Anpfiff kassiert.

Mein Tonfall wird trotzig, wie bei einem Kind.

»Ich komme jetzt schon seit zehn Monaten hierher.«

»Ich will nur eruieren«, sagt die Psychologin ruhig wie immer, nicht bereit, sich in meine Krankheitsgeschichte hineinziehen zu lassen, »ob eine reelle Gefahr besteht und wir die Polizei informieren müssen, oder …«

»Oder ob ich krank bin?«, presse ich heraus. »Wollen Sie darauf hinaus? Ist es das, was Sie sich in Ihrem verdammten Buch notieren?«

»Meinen Sie krank wie …«

»Stimmt was nicht mit mir?«, spucke ich aus. »Mir sind schon viele kranke Menschen begegnet. Die meisten sind sich noch nicht einmal im Klaren darüber, schieben die Schuld auf alles Mögliche andere.«

Wir sitzen stumm voreinander, während ich auf das Urteil warte, die Wahrheit.

»Sie sind bei Weitem nicht die erste Polizistin, die hier sitzt und sich für ein verlorenes Menschenleben verantwortlich fühlt«, sagt sie.

Ich halte die Luft an.

»Das ist ein prinzipielles Risiko Ihrer Arbeit. Während der Ermittlungen müssen Sie ständig mit komplizierten Situationen umgehen. Spuren verschwinden, Zeugen erinnern sich nur lückenhaft, verzerren, was sie gesehen haben, werden von anderen Ereignissen beeinflusst, von Sachen, die sie gelesen haben. Was immer die Leute behaupten, das Gedächtnis ist niemals hundertprozentig vertrauenswürdig.«

Ich reibe mir übers Gesicht. Atme tief ein.

»Trotzdem sind wir von Zeugenaussagen abhängig, von Alibis und Personenbeschreibungen.«

»Sie wissen doch, wie das ist«, sagt sie. »Selbst der Klassenbeste irrt sich mal. Sie haben Ihr Urteil unter anderem aufgrund der Beobachtungen anderer gefällt, das dürfen Sie nicht vergessen.«

»Mmh …«

»Gönnen Sie sich zwischendurch auch mal Ruhepausen?«

Natürlich nicht. Ich komme mir idiotisch vor, weil ich mich wieder mal habe aufscheuchen lassen.

»Ich könnte den Arzt bitten, Ihnen ein Rezept auszustellen …« Die Psychologin zögert, weiß, dass der Vorschlag nicht bei mir fruchtet, weil ich chemische Substanzen meide, wo ich kann.

Ohne eine Antwort zu erwarten, fragt sie: »Haben Sie wieder mit Meditation angefangen?«

»Ich probiere es«, sage ich, schließe die Augen, fühle einen schmerzenden Punkt hinter den Augenlidern.

»Sport?«

»Unregelmäßig.«

»Sie haben mal erzählt, dass Sie Karikaturen von den Männern in Ihrer Gruppe zeichnen«, wechselt sie abrupt das Thema.

Ich öffne die Augen. »Ja …«

»Die Männer kriegen die Zeichnungen aber nicht zu sehen, oder?«

»Natürlich nicht.«

»Was, glauben Sie, würde passieren, wenn sie davon Wind bekämen?«

Ich rutsche auf die Stuhlkante vor.

»Kommt vermutlich auf die Zeichnung an.«

»Wären sie verletzt? Sagen wir mal, bei einer nicht ganz so freundlichen Zeichnung?«

»Garantiert.«

Die Psychologin zuckt mit keiner Wimper, als sie sagt: »Interessant daran ist eigentlich die Frage, wieso Sie dieses Risiko eingehen?«

Mein Herz schlägt schneller, sie durchschaut mich direkt. Weiß, wer ich bin, was ich bin.

»Weiß ich nicht«, stammele ich.

»Wissen Sie, was ich glaube?«, fragt sie.

Stille.

»Ich glaube, Sie wollen bestraft werden.«

6

Nach der Therapiestunde gehe ich runter nach Grønland, zurück zu dem staubfarbenen Gebäude.

Als ich den Mann neben dem Container sehe, bleibe ich abrupt stehen und merke, wie verletzlich ich mich fühle, wenn ich allein bin. In einer schmutzigen Jeans und mit gebeugten Knien starrt er auf den schwarzen Fleck auf dem Boden. Wie in Zeitlupe rückt er seine blaue Wollmütze zurecht.

Ich nähere mich langsam. Als ich fast bei ihm bin, zuckt er zur Seite und reißt die Arme hoch, als wolle er sich schützen.

Ich hebe beschwichtigend meine Hände.

»Ich wollte Sie nicht erschrecken.«

Sein Hals ist sehnig, seine Augen haben die Farbe von Scheibenwischwasser, das Gesicht ist das eines großen Kindes. Wie alt mag er sein? 35? 65?

Dann fällt auch mein Blick auf den schwarzen Fleck.

»Kannten Sie sie?«

Sein Kopf wippt in verschiedene Richtungen.

»Mein Beileid«, sage ich in Ermangelung von etwas Einfühlsamerem.

Er starrt wieder auf den Boden. Ich strecke die Hand aus, um mich vorzustellen, belasse es aber bei dem Schulterklopfen. Ich schäme mich, weil ich kein Stück besser bin als alle anderen, für die Drogensüchtige und Obdachlose Füllmaterial im Stadtbild sind, transparente Schatten, von der Welt abgeschnitten, in der die normalen Menschen leben.

»Mein Name ist Bjørk«, sage ich schließlich.

Er sieht mich misstrauisch an. »Charlie.«

»Wart ihr zusammen unterwegs?«, frage ich und suche verkrampft nach Worten, die auf die Straße passen.

Er nickt, schlurft ein paar Schritte weg, bleibt stehen. Ich sehe mich um, als wäre ich zum ersten Mal hier, schaue zu den Dächern hoch und versuche, die Emotionen vom letzten Mal wachzurufen.

»Was hat sie hier gemacht?«, frage ich.

Charlie hebt seinen Arm, streckt ihn aber nicht ganz aus. Er zieht die Hand dicht am Körper hoch, als wollte er nicht zu viel Platz beanspruchen. Ein Finger deutet schließlich auf die Treppe.

Die gelben Zähne in seinem offenen Mund stehen kreuz und quer.

»Schlafen, auf dem Dach«, sagt er.

»Auf dem Dach? Warum?«

»Warme Luft … und ein kleineres Risiko, überfallen zu werden.«

Die Information schockiert mich, ich ziehe den Schal höher ans Kinn.

»Sie hat mich angerufen«, sage ich. »War aber tot, bevor ich mit ihr reden konnte.«

Charlie mustert mich, als würde er am Wahrheitsgehalt meiner Aussage zweifeln. Zum ersten Mal begegnen sich unsere Blicke für mehr als eine halbe Sekunde und ich fühle mich total fehl am Platz.

Ich rufe mir das Gespräch mit Azora in Erinnerung. War da Angst in ihrer Stimme? Verzweiflung? Warum war ihr so daran gelegen, mich an diesem Abend zu sehen? Mir fällt noch etwas anderes ein, das seit dem Vorfall in meinem Kopf herumspukt. Ihr Schrei. Schreit man so, wenn man sich freiwillig zum Sprung entschlossen hat?

»Weißt du, ob sie Probleme hatte?«, frage ich.

»Außer dass sie auf der Straße gelebt hat, oder was?«

Meine Wangen glühen. »Angekommen«, sage ich. »Ich wollte damit sagen … hatte sie Angst vor jemandem?«

Er scheint mich nicht zu hören. Mit ruhigen Bewegungen zieht er eine Selbstgedrehte unter der Mütze hervor und zündet sie an.

»Ich muss nicht antworten.«

»Nein«, sage ich. »Ich versuche nur herauszufinden, wer sie war, wie sie war.«

»Gut«, sagt er schließlich und zieht an der Zigarette, die er zwischen Daumen und Zeigefinger hält, von der Handwölbung geschützt.

»Gut? Inwiefern?«

»Und lebhaft.«

Charlie ist nicht sehr gesprächig, was ich ihm nicht verdenken kann. Wenn ihm jemand solche Fragen stellt, dann vermutlich nicht zu seinem Besten. Er starrt nervös die Fassade hoch, schwankt unruhig hin und her und spuckt zur Seite aus.

Ich habe eine Ausbildung und die Erfahrung in der Arbeit mit Süchtigen, aber um ehrlich zu sein, fand ich die Karriere als Profilerin immer weitaus attraktiver. Aus einem Tatort die Persönlichkeit eines Täters herauszulesen, Muster in seinem kriminellen Verhalten zu ergründen, den nächsten Schritt eines Mörders auszurechnen. Das war viel interessanter, als Menschen zu helfen, denen es in neun von zehn Fällen egal ist.

»Die Beerdigung ist morgen«, sagt Charlie. »Kommst du auch?«

Beerdigung. Das Wort breitet sich in meinem Mund aus wie ein bitterer Geschmack.

Ich habe keine Kirche mehr betreten, seit meine Eltern vor drei Jahren gestorben sind. Noch nicht einmal an ihrem Grab bin ich seitdem gewesen. Ich möchte nicht an den erschütternden Anblick der beiden Särge erinnert werden.

Mama und Papa haben eine ungewöhnlich harmonische Ehe geführt, die fast dreißig Jahre gehalten hat. Als ich einmal unangemeldet nach Hause kam, hörte ich sie streiten. Ich stand benommen im Windfang und habe ihren Stimmen gelauscht. So hitzig hatte ich sie noch nie miteinander streiten hören. Der Gedanke daran schnürt mir immer noch die Luft ab. Ich bin über den Schuhen und Stiefeln zusammengesackt und erst wieder zu mir gekommen, als sie mich dort gefunden haben. Wir haben nie über den Vorfall gesprochen und ich habe sie nie wieder ihre Stimmen gegeneinander erheben hören. Manchmal frage ich mich, ob das der Zeitpunkt war, an dem die Albträume begannen. Der Moment, in dem ich erkannte, dass meine Eltern auch nur ganz normale Menschen sind.

Charlie wartet noch immer auf meine Antwort. Er hat die Selbstgedrehte bis an die Finger geraucht, schmeißt die Kippe weg und tritt sie auf dem Boden aus.

»Sicher«, sage ich, bezweifle aber, dass ich kommen werde. »Hatte sie vielleicht Stress mit jemandem aus dem Milieu?«, frage ich und denke daran, dass da möglicherweise noch jemand anders auf dem Dach gewesen sein könnte. Ein Streit um Drogen, vielleicht.

Charlie dreht sich um, zieht seine Hose hoch. »Irgendwas stimmte wohl nicht.«

»Hatte sie Angst vor irgendwas?«

»Nichts, weswegen sie gesprungen wäre«, sagt er. »In dem Fall hätte sie das schon längst getan.«

»Warum?«

»Die Nächte«, sagt Charlie.

»Die Nächte?«

»Die waren am schlimmsten.«

»Inwiefern?«, frage ich, obwohl ich es mir denken kann.

»Albträume«, sagt Charlie. »Sie hatte schreckliche Albträume. Die haben sie verrückt gemacht, sie hat öfter gesagt, dass sie nicht mehr kann.«

Mein Zwerchfell verkrampft sich.

»Hat sie dir von ihren Träumen erzählt?«, frage ich mit heiserer Stimme und bereue sofort, dass ich die Frage gestellt habe, weil ich die Antwort eigentlich gar nicht wissen will.