Wer die Schuld trägt - H.S. Palladino - E-Book

Wer die Schuld trägt E-Book

H.S. Palladino

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Beschreibung

Eine verschwundene Frau und eine Spur, die zu einem ungesühnten Doppelmord führt – der zweite Fall für Bjørk Isdahl

Es ist Sommer, eine Hitzeglocke hängt über Norwegen und lähmt das Land. Bjørk Isdahl, Wut-Coach für die härtesten Verbrecher im Osloer Gefängnis, wird von einem früheren Kollegen bei der Kriminalpolizei gebeten, ihn bei einem Fall zu unterstützen: Eine Frau ist nicht auffindbar. Ihr Verschwinden steht in Zusammenhang mit einem Doppelmord, der vor zwei Jahren begangen wurde – der Fall, in dem Bjørk als Profilerin die falsche Person als Täter identifiziert hatte. Ein Fehler, der ihr bis heute nachhängt und sie quält. Die Vergangenheit holt sie ein. Hat ihr Fehlurteil von damals ein weiteres Opfer gefordert?

Lesen Sie auch das erfolgreiche Debüt der Autorin: »Die den Schnee fürchten«!

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Seitenzahl: 472

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Es ist Sommer, eine Hitzeglocke hängt über Norwegen und lähmt das Land. Bjørk Isdahl, Wut-Coach für die härtesten Verbrecher im Osloer Gefängnis, wird von einem früheren Kollegen bei der Kriminalpolizei gebeten, ihn bei einem Fall zu unterstützen: Eine Frau ist nicht auffindbar. Ihr Verschwinden steht in Zusammenhang mit einem Doppelmord, der vor zwei Jahren begangen wurde – der Fall, in dem Bjørk als Profilerin die falsche Person als Täter identifiziert hatte. Ein Fehler, der ihr bis heute nachhängt und sie quält. Die Vergangenheit holt sie ein. Hat ihr Fehlurteil von damals ein weiteres Opfer gefordert?

Autorin

Hilde Palladino ist eine norwegische Autorin, die sich nicht im stillen Kämmerchen einschließt, um zu schreiben. Sie reist seit 20 Jahren und liebt es, nur wenige Dinge zu besitzen. Am wohlsten fühlt sie sich über und unter Wasser in Indonesien, und auch in ihrer Heimat Norwegen.

Von H. S. Palladino bereits erschienen

Die den Schnee fürchten

H. S. PALLADINO

WER DIE SCHULD TRÄGT

Thriller

Deutsch von Maike Dörries und Günther Frauenlob

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Den som bærer skyld bei Cappelen Damm, Oslo.

This translation has been published with the financial support of NORLA.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright der Originalausgabe © CAPPELENDAMMAS 2024

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Ricarda Essrich

Umschlaggestaltung: © U1berlin/Patrizia Di Stefano

Umschlagmotive: © Emzzi, Konstantin Aksenov, Vibe Images/Shutterstock

StH · Herstellung: DiMo

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-30099-9V002

www.blanvalet.de

Man will geliebt werden,oder wenigstens bewundert,oder wenigstens gefürchtet,oder wenigstens gehasst und verachtet.

Hjalmar Söderberg, Doktor Glas, 1905

1

Jenny, 2006

Das ist meine Chance. Ihn loszuwerden. Für immer. Ich muss ihn nur in den Wald locken, in die alte Hütte, und ihm dort ein Ende bereiten.

Ich schiebe mich zwischen den Zweigen durch, drücke den Körper an einen Stamm. Bohre die Nägel in die Rinde und klammere mich fest. Mache mich so klein und unsichtbar wie nur möglich. Warte auf ihn. Im Dunkeln, während etwas, von dem ich nicht weiß, was es ist, durch mein Blut kriecht.

Ich spüre meinen Herzschlag bis in den Kopf. Ta-damm, ta-damm. Erinnere mich selbst daran, was ich hätte tun sollen, als die Nachrichten immer beklemmender wurden. Aber was hätte ich der Polizei sagen sollen? Dass jemand mir Unbekanntes mich süß findet?

Solche Dinge führen immer wieder dazu, dass ich mich über mich selbst ärgere. Über meine Schwäche. Meine Unentschlossenheit. Dass ich am liebsten nach Hause laufen, Mama alles erzählen will und noch immer daran glaube, dass sie sich kümmert. Dabei hat sie keinen Schimmer, was ich mache. Jammert bloß permanent über Papa, der sie mit all der Verantwortung alleingelassen hat und nach Spanien gegangen ist. Sie kocht und nervt, dass ich mein Zimmer aufräumen und mir andere Freunde suchen soll. Eine tolle Verantwortung ist das.

Meine Hände sind so blass, dass sie fast durchsichtig wirken. Es dauert eine Weile, bis ich bemerke, wie still es ist. Kein Lüftchen regt sich. Keine Vögel. Keine Insekten. Nur das Rauschen in meinen Ohren und mein Herzschlag. Dabei müsste hier doch irgendwas sein. Ein Knacken, eine Bewegung, ein Geruch. Ein Lichtreflex, der zeigt, dass er hier ist. Aber da ist nur Stille, und ich spüre, was nicht zu sehen ist. Glühende Augen. Bedrohliche Schatten. Geduckte Gestalten, die durch mein Dasein flimmern.

Dann sind plötzlich leise Stimmen in meinem Kopf. Ein Flüstern, was alles schiefgehen kann.

Du kannst dem Tod nicht davonlaufen.

Die Luft ist zäh, ich kann kaum noch atmen. Als hätte jemand seine Hände um meinen Hals gelegt. Wo kommen die Worte her. Papa, vielleicht? Aber warum jetzt? Ist es wirklich so, wie Mama gesagt hat? Ist das ein böses Omen?

Ein Geräusch dringt an mein Ohr, und ich weiß sofort, was es ist. Feste Schritte auf trockenem Waldboden. So vorsichtig, dass man kaum von einer Bewegung sprechen kann, drehe ich den Kopf und sehe ihn. Eine schwarze Silhouette in der dunklen Sommernacht.

Er hebt vorsichtig die Füße, setzt sie kontrolliert wieder auf. Scannt die Umgebung wie eine Waldkatze. Hält die Nase in die Luft und schnuppert. Bleibt stehen. Verharrt eine Weile, bis er sich wieder in Bewegung setzt.

Er ist auf der Jagd.

Auf mich.

Mit jedem Schritt kommt er näher. Fließend, direkt auf mich zu. Vor meinen Augen dreht sich alles. Ich zwinge mich zur Ruhe, bewege keinen Muskel. Ich darf nicht einmal blinzeln. Mit einem Mal empfinde ich Reue. Der Plan ist scheiße. Dass ich ihn habe sehen lassen, wie ich allein in den Wald gehe. Und niemandem gesagt habe, wo ich bin.

Er bleibt direkt unter dem Baum stehen, auf dem ich sitze. Der Stamm knackt, als er sich mit dem Rücken dagegen lehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. Meine Beine krampfen. Ich will schreien, aber meine Kehle schnürt sich zusammen. Bevor es mir richtig bewusst wird, steigen mir Tränen in die Augen. Ich kriege keine Luft mehr. Meine Nase schwillt zu. Ich zwinge mich, durch den Mund zu atmen und dabei ganz still zu sitzen. Kämpfe gegen den Reflex an, die Nase hochzuziehen.

Eine Schar Elstern fliegt durch die Luft. Kreischend und meckernd. Er folgt ihnen mit dem Blick. Höher und höher in die Luft. Sieht den Vögeln nach, bis sie verschwinden. Dann grunzt er leise, stößt sich mit dem Rücken vom Stamm ab und geht geduckt weiter.

Als er zwischen den Bäumen verschwunden ist, lasse ich alle Luft aus den Lungen. Hebe vorsichtig eine Hand und wische mir den Schweiß von der Oberlippe. Sehe in die Richtung, in die er verschwunden ist. Mein Kopf sagt, dass ich so schnell es geht nach Hause rennen soll, aber ich weiß, dass Papa recht hat – wenn man sich wie die Beute aufführt, wird der andere zum Jäger.

Lautlos klettere ich durch die Zweige nach unten. Halte mich am Stamm fest. Warte. Sehe mich um und klettere langsam weiter. Spähe immer wieder durch die Zweige. Als ich fast unten bin, fällt mir ein, dass der unterste Zweig beim Hochklettern geknackt hat. Brauche ich den oder kann ich schon vorher abspringen, ohne Geräusche zu machen?

Vorsichtig setze ich einen Fuß auf den Zweig und hebe den anderen an.

Er bricht. Ein lautes Knacken, wie ein Donner. Ich falle, bleibe mit einem Arm an einem Zweig hängen und schürfe mir an der rauen Rinde den Oberschenkel auf.

Hat er das gehört?

Es bleibt alles still. Als ich mich endlich traue, mich wieder zu rühren, hangele ich mich langsam nach unten und gehe in die Hocke. Nehme einen Zweig und versuche, ihn in die Erde zu bohren, die nach dem heißen, trockenen Sommer steinhart ist. Ich kratze Erde zu einem kleinen Häufchen zusammen, spucke in die Hände und vermische alles. Stecke etwas in den Mund und schmiere mir das Zeug auf Hals, Gesicht und Arme. Dann auf die Beine. Jetzt bin ich kaum mehr zu sehen.

Ich stehe auf. Meine Tränen sind versiegt. Ich verlasse den Trampelpfad und nehme den Umweg zur Hütte.

2

Ich wollte ihn nicht in meiner Gruppe haben, niemand wollte das. Leif Moen war ein schlaksiger Typ mit fettigen Haaren, einem dünnen Pferdeschwanz und einem verletzten Auge, durch das er wie eine halb blinde Katze aussah. Auf die Vorderseite des Halses war der etwas eingefallene Kopf eines kahlen alten Mannes tätowiert, der wie ein Lederball ohne Luft aussah.

»Bjørk, auf so eine Frage antworte ich nicht, das weißt du.«

Der Ball bewegte sich im Takt mit der rauen Stimme. Eine fast unterirdische Stille erfüllte den Raum. Leif war einer der unbegreiflichsten Menschen, die ich kannte. An einem Tag ein Vulkan, am nächsten eine Klapperschlange. Sicher war nur, dass er immer seine eigene Agenda verfolgte.

»Nächste Frage«, sagte er.

Ich schob mein Kinn vor, um seine Standhaftigkeit zu imitieren. Ich war es leid, dass er so manipulativ war. Immer versuchte er, mich aus der Ruhe zu bringen, aber ich hatte dem inzwischen etwas entgegenzusetzen, war in den letzten Monaten immer selbstsicherer geworden. Meine Tochter war nun fast ein Jahr alt, und ihr Vater und ich verbrachten mehr Zeit miteinander. Die Medien schienen mich vergessen zu haben. Hoffentlich. Und so sah ich nach einigen finsteren Jahren endlich wieder Licht.

Ich schlug die nächste Seite des Protokolls auf. Las die Notizen, die ich mir nach dem letzten Mal gemacht hatte. Es drängte mich, auch jetzt meine Eindrücke festzuhalten, aber ich hatte nichts zu schreiben. Nichts, das als Waffe taugte, war hier zugelassen.

Leif lehnte sich zurück und verschränkte die Hände im Nacken. Streckte sich langsam und kontrolliert, bis sein Skelett knackte. Es fühlte sich an, als würde er jedes Detail von mir studieren, jede meiner Bewegungen. Und analysieren, was er sah.

»Wir sind wie Skinners Tauben«, sagte er so unvermittelt, dass ich zusammenzuckte. »Wir tanzen nach der Pfeife, um zu kriegen, wonach uns gelüstet.«

Ich drückte mir den Zeigefinger zwischen die Augen und tat so, als dächte ich über die Philosophie nach. »Und du hast keinen Hunger?«

Er lehnte sich noch weiter zurück, fixierte mich mit dem gesunden Auge. »Nicht, wenn das die Belohnung dafür ist, ein braver Junge zu sein.«

Der kühle Raum war gut vor der brennenden Sonne abgeschirmt. Im künstlichen Licht der alten Neonröhren sahen wir blass aus wie Gespenster. Ich versuchte nicht einmal, mein Seufzen zu unterdrücken.

»Hast du noch immer nicht verstanden, warum du hier bist?«

»Ich glaube, die Leute kapieren nicht, wie hart das ist.«

Er warf einen Blick auf die anderen drei Männer. Sie antworteten mit einem schnellen, fast unsichtbaren Nicken. In ihren Blicken lag etwas Gequältes. Ich achtete immer darauf, niemanden zu erniedrigen, aber es war schon ein bisschen seltsam, dass Leif sich selbst noch immer als normalen Menschen ansah, der die Scheiße der anderen einfach nicht akzeptieren konnte.

»Es steht dir frei zu gehen«, sagte ich und zeigte in Richtung Tür. »Wenn du bleibst, musst du aber auch bereit sein zu teilen.«

Leif zeigte mit einem krummen Zeigefinger auf sein verletztes Auge. »Weißt du, wie das passiert ist?«

Natürlich wusste ich das, er ließ darüber niemanden lange im Unklaren. Ich konnte mir den Vorfall bildlich vorstellen. Leif hatte den Anführer der Motorradgang, in der er Mitglied war, herausgefordert, und zum Dank hatte man die Spitze eines Messers mit einem Feuerzeug erhitzt. Leifs Augapfel war teilweise geschmolzen. Mit dem Bild vor meinem inneren Auge kam auch der imaginäre Geruch. Verbranntes Salz.

»Der andere sieht schlimmer aus«, sagte Leif und grinste breit.

Von den übrigen Männern kam gedämpftes Murmeln. Ich blätterte eine Seite weiter, um seine verfaulten Zähne nicht sehen zu müssen.

»Hör mal, Baby«, sagte er mit einer Stimme, die alles andere als weich und verführerisch war. »Was ich fühle, ist irrelevant. Wichtig ist nur, dass das nicht wieder passiert. Ich dachte, du würdest das regeln.«

Ich faltete das Protokoll zusammen. »Das ist nicht so einfach, wenn man den Karren alleine ziehen muss.«

»Ich hab einfach keinen Bock, über irrelevante Dinge zu reden.«

»Es reicht jetzt, Leif«, sagte ich. »Wenn du wirklich Resultate willst, musst du darüber reden. Gefühle sind das Wichtigste, was wir haben.«

Er schnaubte. »Komm schon, Baby. Reiß dich zusammen.«

Ich streckte den Rücken, wie er es gerade getan hatte.

»Nein, wenn sich hier einer zusammenreißt, dann du«, sagte ich und hob einen Finger. Die Worte kamen schärfer als beabsichtigt aus meinem Mund, trotzdem feuerte ich weiter. »Die Frage ist bloß, ob du Manns genug bist, das einzusehen.«

Plötzlich hielten alle die Luft an. Wie immer kam kein Mucks von den anderen, wenn Leif redete.

»Manns genug?« Er zog eine Braue hoch und seine Augen wurden schmal. Dann richtete er sich auf seinem Stuhl auf und lachte so heftig, dass sein Brustkorb bebte. Das laute, dröhnende Lachen wurde von den Wänden zurückgeworfen. »Du hast Eier, das muss man dir lassen, Bjørk.«

Die anderen atmeten hörbar aus. Ich musste mich beherrschen, nicht am Kragen meines Pullovers zu zerren. Sah die vier einen nach dem anderen an.

»Wenn ihr die Wut in den Griff kriegen wollt, müsst ihr darüber reden, wie es sich angefühlt hat, wie schwer das auch sein mag. Vor, während und nach der Tat. Ihr müsst euren Verstand nutzen, um euch umzuprogrammieren.«

Ein Grunzen wie von einer Rotte Wildschweine war zu hören.

»Mehr hast du uns heute nicht zu sagen?«, fuhr Leif fort. »Ich dachte, du wärst hier, um uns zu helfen, und nicht, um so pseudoexistenziellen Quatsch zu faseln.«

Ich schluckte. »Ich habe noch keinen endgültigen Eindruck von dir, von keinem von euch. Aber es gibt ein paar Werkzeuge, die ich selbst genutzt habe, als …«

Ich hielt die Luft an, schwebte ins Ungewisse. Und sie schienen instinktiv zu spüren, dass in diesem Moment eine Verbindung zwischen uns entstand.

Aber war das klug?

»Als ich ziemlich in der Scheiße steckte.«

Vier Augenpaare betrachteten mich, als ich draußen auf dem Flur Schritte hörte, die sich näherten. Ich sah zur Tür, aber niemand öffnete.

»Wir waren auf der Suche nach einem Typ, der unter dem Verdacht stand, zwei siebzehnjährige Mädchen vergewaltigt und getötet zu haben. Die Kripo war verzweifelt, und die Medien verlangten die Lösung des Falls. Ich war neu und hatte Angst, nicht gut genug zu sein. Es vergingen Monate, aber wir kamen nicht weiter. Der Druck von meinen Vorgesetzten war unerträglich. Schließlich empfahl ich die Festnahme des verdächtigen Mannes.«

Große schwarze Flecken tanzten durch mein Sichtfeld. Die Ruhe, die ich eben noch gespürt hatte, war weg. Wie lange würde ich durchhalten? Wie viele Monate, bis es mir wieder so ging wie beim letzten Mal?

Ein Fuß begann zu zucken, aber ich zwang mich weiterzureden.

»Wir sind voll auf die Schnauze geflogen. Als der DNA-Beweis kam, der ihn als Täter ausschloss, war es zu spät. Er hatte sich in seiner Zelle erhängt.«

Und da war er: Mein schlimmster Feind. Diese so vollständig schiefgelaufene Ermittlung.

»Ich trage die Schuld am Tod eines Menschen«, sagte ich. »Genau wie ihr.«

Die Männer nickten langsam. Leif verschränkte die Arme vor der Brust.

»Die Gegensätze des Lebens«, sagte er. »Nur dass du nicht einsitzt.«

Natürlich hatte er recht. Ich war nicht ins Gefängnis gekommen, auch wenn ich es sicher verdient hätte. Ich wollte das Gespräch beenden, als Leif den Kopf zur Seite neigte.

»Haben sie ihn gekriegt? Den Schuldigen?«

Die Frage, die noch immer so wehtat. Und die Antwort, die das Ende meiner Karriere besiegelt hatte. Und noch schlimmer: ein Täter, der bereits zwei Mal getötet hatte und mit seinem Projekt garantiert noch nicht fertig war.

»Nein«, sagte ich. »Wir haben ihn nie gefasst.«

3

Mich vor vier Mördern bloßzustellen? Wie blöd kann man sein? Ich ließ mich auf die Rückbank des Taxis fallen und schob die Sonnenbrille zurecht, die die unwirtliche Landschaft noch grauer färbte. Öffnete das Fenster und schloss es gleich wieder, weil es draußen nach Gülle stank.

Mir fielen die Augen zu, und meine Gedanken gingen zurück zu der Diskussion vor drei Jahren. Der letzten vor der Verhaftung von Ellingsen.

»Sind wir wirklich hundertprozentig sicher?«, hatte der Chef der Ermittlungsabteilung des Kriminalamts, Absalon Lund, immer wieder gefragt. »Ist das unser Mann?«

Ich weiß noch genau, wie er, der Mentor, zu dem ich aufsah, vor dem überfüllten Schreibtisch stand. Normalerweise der Inbegriff eines Wikingers, ein Fels in der Brandung, der stoische Ruhe ausstrahlte. Doch an diesem Tag waren seine roten Haare zerzaust, das Gesicht mager unter dem wildwüchsigen Bart. Die Finger umklammerten das Phantombild eines großen weißen Mannes in dunkelblauer Jeans, langärmeligem Pullover und einer tarnfarbenen Wollmütze mit einem gelben Zeichen an der Seite. Das Zeichen war entscheidend, die Zeugin war sich sicher gewesen. Eine Art Logo in Form eines Hirschkopfes, bei dem nur ein Teil des Geweihs intakt war.

Die anderen waren sich nicht hundertprozentig sicher, ich mir hingegen schon. Dabei hatten wir nur Indizien. An einer Wand in Ellingsens engem Büro hingen Fotos der beiden dunkelhaarigen Mädchen. Lyra und Henriette. Zwei weibliche Requisiten in der Inszenierung eines Mannes. Zum Sterben verurteilt, weil die Fantasie eines anderen Menschen wertvoller war als ihre Leben.

»A primal condition«, sagte ich.

Abs hob den Kopf. »Und das ist was?«

Ich zeigte auf die Karte hinter ihm. »Das Feuchtgebiet am Øyeren als letzte Ruhestätte für die Opfer könnte eine Rückkehr zur Natur symbolisieren.«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Und?«

»Die Tat ist für ihn eine Notwendigkeit, die er nicht auf die leichte Schulter nimmt. Dass er die beiden in einem beliebten Naherholungsgebiet abgelegt hat, sagt uns, dass er wollte, dass sie schnell gefunden werden. Damit sie nicht irgendwo im Wasser verrotten.«

»Und was willst du uns damit sagen?«

»Dass es ein Wunder ist, dass du nicht noch mehr Eltern besuchen musstest.«

Er trat einen Schritt vor. Ich konnte ihn inzwischen recht gut lesen, was nicht immer der Fall gewesen war. Er war skeptisch, dass die Indizien vor Gericht standhielten.

»Wir müssen uns absolut sicher sein, bevor wir ihn festnehmen, Bjørk. Wir haben eine einzige Chance, diesen Typ zu überraschen, und das muss klappen.«

Ich nahm ihm die Phantomzeichnung aus der Hand und schnippte mit dem Finger auf das Papier. Nach den monatelangen Ermittlungen kannte ich den Typ mit der tarnfarbenen Mütze besser als irgendwer sonst. Ich sah immer wieder vor mir, wie er die Mädchen studierte. Sich ihre Verhaltensmuster einprägte und auf den richtigen Augenblick wartete, bis er dann irgendwo im Dunkeln zuschlug. Wenn ich mir ihre letzten Minuten vorstellte, wenn sie erkannten, was geschehen würde, brachte mich das immer aus der Fassung. Hatten sie das Geräusch der harten Sohlen hinter sich gehört? Die Erregung gerochen, vielleicht ohne zu wissen, was es war?

Es deutete absolut alles auf Ellingsen hin. Er passte genau ins Bild.

»Du willst also warten, bis der nächste Jogger eine Tote findet?«, fragte ich.

»Hör auf.« Abs Stimme war hart und frustriert und sein großer, breiter Körper wirkte mit einem Mal irgendwie gedrückt. »Schon mal was von begründetem Verdacht gehört?«

»Verdammt!«, sagte ich. »Der Verdacht ist begründet. Er wurde weniger als einen Kilometer vom Fundort der Leiche bei einer Verkehrskontrolle gestoppt. An seinem Arbeitsplatz wurden Spuren der Kleider von beiden Mädchen gefunden. Und die Kommentare seinen Kollegen gegenüber deuten eine Verbindung an.«

»Das sind alles nur Indizien.«

»Nehmt ihn fest, während wir das noch einmal durchgehen. Tu es für die beiden Teenager, die sechs Tage lang vergewaltigt und mit einem Stich in den Hinterkopf, genau in die Medulla oblongata, getötet wurden.«

Abs stellte eine dreckige Tasse beiseite, schob seinen Hintern auf den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn du dich irrst, sind wir beide fertig. Das ist dir klar, oder?«

»Unter normalen Umständen wäre ich ganz deiner Meinung«, sagte ich. »Dann wäre ich auch fürs Warten, für eine Fortsetzung der Überwachung. Aber wir haben es hier nicht mit einem verschmähten Lover oder irgendeinem Ex zu tun. Unser Täter ist ein erwachsener Mann, der garantiert schon früher getötet hat. Derart perfekte Morde begeht man nicht, ohne zu üben.«

»Wenn du dich irrst, sind wir erledigt.«

»Ich irre mich nicht. Er ist es. Und wir haben keine Zeit.«

Abs stand auf. Wanderte durch den Raum. Das Team war erschöpft. Technische, taktische und elektronische Funde wurden seit Monaten analysiert. Die ganze Nachbarschaft war abgeklappert und Familien und Freunde verhört worden. Bekannte Sexualstraftäter, Follower in den sozialen Medien, Männer, die in der Gegend gesehen worden waren. Wie ein Trawler, der sein Netz über den Meeresboden zieht, hatten wir nichts ausgelassen. Und erst kürzlich hatten wir auch noch diverse namenlose Funde und Vermisstenmeldungen sowie vermutlich illegal eingewanderte Migranten unter die Lupe genommen, um sicherzugehen, dass nicht noch mehr Mädchen Opfer desselben Täters geworden waren.

»Glaubst du, dass er aufhört?«, fragte ich.

Abs schüttelte den Kopf. Wir waren ein eingespieltes Team, aber so erschöpft hatte ich ihn noch nie gesehen.

Nein, der Täter war noch nicht fertig. In diesem Punkt waren wir uns einig, aufgrund einer Sache, die wir noch nicht an die Medien weitergegeben hatten. Eine Art Muster.

Vor dem Verschwinden der beiden Mädchen waren ihre Haustiere ebenfalls verschwunden.

Und beide Mädchen waren mit gelben, dreieckigen Ohrmarken getaggt worden. Wie sie für das Markieren von Tieren benutzt wurden.

»Wir sind da.«

Ich rieb mir das Gesicht und öffnete die Augen. Das Taxi hielt vor einem sandfarbenen Haus im Zentrum von Oslo. Der Fahrer zog seelenruhig meine Karte durch das Lesegerät. Als er endlich fertig war, nahm ich sie ihm aus den klammen Fingern und stieg aus.

»Hallo, Sie haben die Quittung vergessen!«, rief er auf gebrochenem Norwegisch hinter mir her, aber ich war bereits auf dem Weg über den glühend heißen Bürgersteig.

Eine Frau stand am Eingang und rauchte. Anfang fünfzig, lila Kaftan, kein Schmuck. Mit dem pflaumenfarbenen, in Schnecken hochgesteckten Haar sah sie aus wie eine gealterte Prinzessin Leia.

»Sie haben den Weg gefunden«, sagte sie.

Ich erkannte die Stimme von dem Telefongespräch am Vorabend, erinnerte mich aber nicht mehr an ihren Namen.

Zum Glück half sie mir auf die Sprünge. »Rita Waage, Journalistin. Willkommen zum True-Crime-Podcast Durch die Dunkelheit.«

Ihre Stimme war seltsam monoton, die matten Augen nicht so neugierig, wie ich es von einer Journalistin erwartet hätte. Ich bereute es bereits, sie nicht gegoogelt oder mir wenigstens einige ihrer Podcasts angehört zu haben. Rief mir das Versprechen ins Gedächtnis, das ich mir gegeben hatte, alles nur Erdenkliche für ein normales Leben mit einem stabilen Einkommen zu tun. Für meine Tochter.

Ich reichte ihr die Hand. »Bjørk Isdahl.«

Ihr Händedruck war überraschend schlaff, aber lang. Was für eine Journalistin mochte sie sein? Arbeitete sie für eine der großen Zeitungen? Beim Fernsehen? Von so einem Podcast konnte man doch wohl nicht leben? Am Telefon hatte es sich so angehört, als könnte das Interview meiner Karriere einen gewaltigen Schub geben. Jetzt fragte ich mich, ob es die Mühe wirklich wert war.

»Danke, dass Sie so kurzfristig kommen konnten«, sagte sie. »Sind Sie wieder bei der Polizei?«

Ein schwarzer Käfer lag auf dem Rücken neben meinen Füßen. Als ich ihn mit der Schuhspitze umdrehen wollte, sah ich, dass seine Unterseite trocken und aufgeplatzt war. Im letzten Monat war nicht ein Tropfen Regen gefallen, und mein Gehirn zerschmolz, konnte nicht klar denken und traf die falschen Entscheidungen. Wie eben meine Beichte in der Gruppe oder die Einwilligung zu diesem Interview.

»Ich war externe Beraterin für die Polizei.«

»Aber Sie haben noch immer Ihre Kontakte?«

Ich zog meine Hand weg, damit sie nicht mitbekam, wie ich erstarrte. Rita hatte garantiert gründlich über mich recherchiert, und ich fragte mich, ob es für dieses Interview einen Hintergedanken gab. War sie eine von denen, die Lyra und Henriette vergessen hatten, nachdem bekannt geworden war, dass der Hauptverdächtige der Polizei sich in Untersuchungshaft das Leben genommen hatte? Eine von denen, die den Sturm losgetreten hatten, als offiziell bekannt war, dass ich die Festnahme empfohlen hatte.

»Denken Sie an etwas Spezielles?«, fragte ich.

Rita nahm ein Päckchen Camel heraus, zündete sich eine neue Zigarette mit der alten an und rauchte hektisch weiter.

»Meine Freundin Hege ist seit mehr als einem Tag nicht zu Hause erreichbar.«

Trotz des warmen Nachmittagslichts war ihre Haut blass.

»Könnte es sein, dass sie einfach nicht ans Telefon geht?«

Rita warf einen Blick über die Straße und schnippte die Asche von der Zigarette.

»Hege und ich kennen uns seit über zwanzig Jahren. Das ist sehr untypisch.«

»Haben Sie schon mit der Polizei geredet?«

»Die sagen, dass Hege erwachsen ist und tun kann, was sie will.«

»Aber Sie sind anderer Ansicht?«

Rita zupfte etwas von ihrer Zungenspitze. »Sie hat mich angerufen, hat sich ängstlich angehört.«

Ich neigte den Kopf zur Seite. »Wann?«

»Vorgestern. Wir haben uns nach der Arbeit bei ihr verabredet, doch als ich bei ihr geklingelt habe, hat sie nicht aufgemacht.«

Auf der anderen Seite der Straße ging ein junges Paar vorbei. Die Frau war typisch nordisch. Groß, mit langen, flachsgelben, in einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haaren. Er wirkte eher südländisch. Haut wie Karamell und dunkle, weiche Locken. Sie schoben einen Kinderwagen vor sich her. Das könnten Kristian und ich sein.

»Was ist mit ihrem Arbeitgeber?«, fragte ich.

»Ihr wurde vor einer Weile gekündigt.«

»Gekündigt?«

»Ja, sie …« Ihre Stimme war nur noch ein trockenes Flüstern. »Hege ist so etwas wie eine professionell Trauernde.«

»Hä?« Das Wort schob sich einfach so über meine Lippen.

»Sie geht auf Beerdigungen. Beerdigungen von Fremden. Manchmal organisiert sie die sogar. Vermutlich wurde es dem Elektroladen, in dem sie gearbeitet hat, zu viel, dass sie immer wieder halbe Tage freihaben wollte.«

Professionell Trauernde? Damit hatte ich nun nicht gerechnet.

»Wissen Sie …?«

Rita hob die Hand, um zu signalisieren, dass sie nicht weiter über dieses seltsame Hobby sprechen wollte.

»War die Angst denn begründet?«, fragte ich, als sie weiterhin schwieg.

»Tja, das weiß ich nicht. Es gab ein paar Zwischenfälle, aber …«

»Zwischenfälle?«

»Wir haben jeweils die Wohnungsschlüssel der anderen. Falls eine von uns beiden sich aussperrt.«

»Dann waren Sie bei ihr, weil Sie sie nicht erreicht haben?«

»Gestern früh.« Rita kämpfte gegen die Tränen an. »Da hatte ich wirklich das Gefühl, dass … dass was Schlimmes passiert ist.«

Das junge Paar blieb stehen. Umarmte sich und sah mit liebevollen Blicken in den Kinderwagen. Eingehüllt in eine Rauchwolke wurde mir plötzlich klar, dass Kristian und ich nie so ein Paar werden würden, so herzlich waren wir nicht miteinander.

»Wir müssen das Interview verschieben«, sagte Rita. »Kommen Sie trotzdem mit rein?«

Ohne auf meine Antwort zu warten, tippte sie den Code ein und riss die Tür auf. Ging vor mir durch einen angenehm kühlen Flur, in dessen Ecken sich Staub sammelte. Auf der Innenseite der Deckenlampe krabbelten ein paar träge Motten herum.

»Hat sie Familie?«, fragte ich, als Rita uns in den zweiten Stock führte.

»Ihr Exmann ist vor acht Jahren nach Spanien ausgewandert. Da ist sie garantiert nicht.«

»Und sie hat keinen neuen Mann kennengelernt?«

Der Gedanke beunruhigte Rita. Ihr Oberkörper spannte sich sichtlich an, und ihre Finger zitterten, als sie die Tür des Studios aufschloss und mich hineinführte.

»Nein«, sagte sie. »Hege hat zu viel Mist erlebt, um noch einmal an das große Glück zu glauben.«

Ein Gedanke meldete sich. War das Interview nur ein Vorwand? Hatte Rita mich in Wahrheit angerufen, weil ihre Freundin verschwunden war?

4

Jenny, 2006

Es war vor ein paar Sommern, in den Ferien bei Papas Familie in Spanien. Die feuchte Hitze machte den Körper träge. Am Ende einer engen Gasse lag ein kleiner Platz mit Restaurants und ein paar kleinen Läden. Es war ein dunkler Abend, vor dem schwarzen Himmel hingen Lichterketten mit nackten Glühbirnen in Regenbogenfarben. Die Leute strömten aus ihren apricotfarbenen Häusern. Versammelten sich um wackelige, mit Salat, Pizza, Pasta, Fisch und Wein gedeckte Tische. Viel Wein, aus kleinen Tonbechern getrunken. Alle sprachen durcheinander. Die meisten waren beschwipst, mich eingeschlossen. Papa hatte mir ein Glas Rotwein, gespritzt mit Wasser, eingeschenkt.

Papas Großfamilie saß in der Reihe ganz vorne am Platz. Insgesamt ein netter Haufen. Das Problem ist nur, dass sie einen ständig antatschen wollen. Den Rücken und die Haare. Mir feuchte Wangenküsse aufdrücken. Am ekligsten sind die alten Knacker. Egal, wie laut und deutlich ich sage, dass ich das nicht mag, können sie ihre Finger einfach nicht bei sich behalten. Eines Abends kam Papas Bruder in mein Zimmer, als ich schon im Bett lag. Er beugte sich übers Bett und wünschte mir flüsternd eine gute Nacht. Dabei streifte seine Hand meine Hüfte. Ich knallte ihm eine. Und rief nach Papa. Danach kam der Onkel nie wieder in mein Zimmer.

Mitten beim Essen kamen ein Mann mit Gitarre und fünf Frauen in knallroten Kleidern auf den Platz. Die Frauen hoben ihre knöchellangen Kleider hoch und klackerten mit hohen, breiten Absätzen auf die Pflastersteine im Takt zum Gitarrenspiel. Dazu klatschten sie rhythmisch und zackig in die Hände. Das Stimmengewirr verstummte. Die Frauen begannen, mit langsamen und geschmeidigen, aber bestimmten Drehungen zu tanzen. Die Röcke schmiegten sich um muskulöse Waden. Die Musik steigerte sich und die Bewegungen der Tänzerinnen wurden immer wilder. Sie drehten sich schneller und schneller, die Hände über den Kopf erhoben. Klatschten so energisch den Takt mit, dass es wie Pistolenschüsse klang. Inzwischen klatschten nicht mehr nur die Tänzerinnen. Von allen Tischen kamen Applaus und begeisterte Rufe.

Der Einzige, der nicht mitklatschte, war Papa. Er war gebannt von den Bewegungen der Tänzerinnen. Verschlang mit seinen Blicken jeden Millimeter ihrer Körper, jeden Schwung ihrer Handgelenke. Ich konnte seinen Blick nicht ganz einordnen, spürte nur instinktiv, dass es nicht in Ordnung war.

Ich ertrug es kaum, ihn so zu sehen, konnte die Augen aber nicht abwenden. Mein Kopf glühte und mir war schlecht. Sie haben Macht, dachte ich. Diese Frauen. Sie können Männer verhexen. Die Erkenntnis machte mir Angst. Ich wollte weg, wollte aufstehen. Aber als ich vom Stuhl aufstand, packte Papa mich am Arm und zog mich wieder zurück.

»Guck zu«, flüsterte er heiser. »Guck zu und lerne.«

5

Rita zeigte mit einem Nicken zum Sofa und ging weiter zum Kühlschrank. Kurz darauf kam sie mit einer Karaffe Wasser mit Gurkenscheiben zurück, in der ein paar Eiswürfel klirrten. Sie schenkte uns in zwei auf dem Tisch stehende Gläser ein. Ich drückte das Glas an meine Wange und den Hals. Hob das Haar an und fächerte mir kühle Luft zu.

»Ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen helfen könnte«, sagte ich. »Die Polizei wäre da die zuständige Instanz.«

Sie setzte sich vis-à-vis auf den Stuhl. Legte die Zigarettenschachtel auf den Tisch.

»Die nehmen mich nicht ernst! Es heißt doch, die ersten achtundvierzig Stunden wären entscheidend? Die sind nun bald vorbei, und Hege ist, verdammt noch mal, noch nicht wieder aufgetaucht.« Sie legte die Hände vors Gesicht und schluchzte leise. »Außerdem würde die Polizei mir nicht glauben.«

Ich fühlte mich ertappt, weil ich tatsächlich skeptisch war. Okay, ich konnte ihre Sorgen nachvollziehen, weil sie ihre Freundin nicht erreichte, glaubte aber auch nicht daran, dass eine alleinstehende Frau mittleren Alters einfach so verschwand. Sollte ich ihr die unschöne Wahrheit sagen? Dass viele erwachsene Menschen aus eigenem Antrieb verschwanden und nicht gefunden werden wollten?

»Gibt es in der Gegend irgendwelche Probleme mit Bandenkriminalität?«, fragte ich, um wenigstens den Anschein zu geben, dass ich über Alternativen nachdachte. »Könnte sie jemand gesehen haben?«

»Hege ist nicht unbedingt sozial. Aber wir könnten mit ihrer Nachbarin Britt reden.«

»Wir?«

Rita tat mir leid. Natürlich machte sie sich Sorgen. Aber falls Hege wirklich verschwunden war, erforderte das Ressourcen, die mir nicht zur Verfügung standen.

»Helfen Sie mir?«, bat sie und fingerte an ihren Nägeln herum. »Ich bezahle Sie auch dafür.«

Rita schien auf ein Angebot meinerseits zu warten, aber ich schüttelte den Kopf.

»Ich bin keine Polizistin und habe keine Möglichkeiten, Telefonkontakte, Überwachungskameras oder Krankenakten zu überprüfen.«

»Könnte sie eingewiesen worden sein?«

»Haben Sie das überprüft?«

»Hege und ich haben doch nur uns«, sagte Rita. »Ich muss wissen, ob ihr was passiert ist. Ist das zu viel verlangt?«

»Sie haben was von Zwischenfällen gesagt«, sagte ich. »Gab es Kampfspuren im Haus?«

Rita stützte die Stirn auf die Finger und biss sich auf die Unterlippe.

»Vor zwei Monaten hat sie einen Einbruch angezeigt. Es ist nichts gestohlen worden, aber unheimlich war es trotzdem.«

Das Eiswasser lief kühl die Kehle herunter. Unter dem Glas hatte sich ein Kondenswasser-Ring gebildet. So ein Einbruch konnte durchaus als bedrohlich erlebt werden.

»Weiß man, wie der Einbrecher reingekommen ist?«, fragte ich.

Rita nahm die Zigarettenschachtel vom Tisch, drückte sie zusammen.

»Es schien alles in bester Ordnung, nur ein paar kleinere Gegenstände standen nicht mehr da, wo sie sonst standen.«

Ich beugte mich zu ihr vor.

»Verstehen Sie mich jetzt bitte nicht falsch, Rita, aber könnte Hege das selbst getan und anschließend vergessen haben?«

Rita richtete sich auf. »Hege ist nicht dement, falls Sie das damit andeuten wollen.«

»Okay«, sagte ich und zog mich wieder zurück. »Erzählen Sie mir von der Scheidung.«

Sie wirkte erleichtert, dass ich ihr zu glauben schien.

»Sie waren eine gute Familie. Ich habe keine Ahnung, was da vorgefallen ist. Die beiden waren total verschieden, aber die Chemie stimmte irgendwie, wenn Sie verstehen.«

»Besser als Sie denken«, rutschte es mir heraus. Ich lächelte verlegen. Kristian und mir ging es genauso. Er zog gesundes, selbst gekochtes Slowfood vor, während ich ein Allesfresser war. Er liebte ewig lange Kunstfilme, in denen in der ersten Stunde rein gar nichts passierte, ich besaß noch nicht einmal einen Fernseher. Ich war impulsiv und spontan, er plante alles. Besonders seit Victorias Geburt war es, als gäbe ihm seine stabile Kindheit das natürliche Recht, über alles von der Kindererziehung bis zur beruflichen Orientierung zu entscheiden. Wir stritten uns, dass die Fetzen flogen, und trieben uns gegenseitig bis zur Weißglut. Aber trotz aller Unterschiede war da immer diese gute Chemie zwischen uns.

»Der Ex hat Familie in Südspanien«, erzählte Rita. »Ein halbes Jahr nach seinem Auszug ist die Tochter verschwunden.«

Ich hatte einen metallischen Geschmack im Mund.

»Was ist passiert?«, fragte ich.

Rita drehte den Oberkörper zur Seite. »Bootsunfall.«

Die knappe Wortwahl bedeutete entweder, dass sie nicht darüber reden wollte oder den Vorfall als nicht relevant für die Suche nach der Mutter erachtete.

»Sie hat das Haus behalten«, sagte Rita und nannte einen Ort zwischen Lørenskog und Lillestrøm, oben am Wald.

Mir entglitt für einen Augenblick der rote Faden. Die Flashbacks kamen in Schüben. Lichter werdende Bebauung, Bäume. Endlose, einsame Wälder. Das war noch so ein Punkt, in dem Kristian und ich uns unterschieden. Er liebte die Wildnis, für mich war der Gedanke, von Natur umgeben zu sein, unerträglich.

»Könnte sie einen Ausflug in die Marka gemacht haben?«, sagte ich, um mich wieder zu sammeln. »Könnte sie gestürzt sein?«

»Quatsch«, sagte Rita und warf das Zigarettenpäckchen zurück auf den Tisch. »Da hätte sie garantiert irgendwer gefunden.«

»Der Wald ist weitläufig da oben«, antwortete ich und fragte mich, ob die Journalistin wusste, dass ich oben an der Stadtgrenze ein Haus hatte.

Rita schüttelte den Kopf. »Hege geht nie allein in den Wald, ist eher der ängstliche Typ.«

Wir saßen eine Weile still voreinander. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihr helfen konnte. War aber getriggert, mehr über Hege herauszufinden, obwohl ich besser die Finger von allem lassen sollte, was nach Polizeifall aussah.

Rita stand auf. »Kann ich Ihnen vertrauen?«

Ehe ich antworten konnte, ging sie zu einem Schreibtisch. Kam mit einer vergilbten VG-Zeitung zurück.

»Die habe ich bei ihr zu Hause gefunden.«

Die Zeitung war drei Jahre alt, aus der Woche, in der offiziell bekannt wurde, dass Ellingsen nicht der Täter war, nach dem wir suchten. Mein Gesicht auf der Titelseite zog mir den Boden unter den Füßen weg. Alles kam wieder hoch. Die Hetze in der Presse, meine Kündigung, die Gerüchte. Die Drohungen auf Social Media. Ich stand auf, um meinen Atem zu beruhigen. Ließ die Zeitung auf dem Tisch liegen, traute mich kaum, hinzuschauen. Das Foto war nicht das Schlimmste. Etwas anderes hatte mich aus der Bahn geworfen, und das brachte alle Ereignisse von damals zurück.

Neben meinem Gesicht war eine Art Logo gezeichnet. Die Konturen eines Hirschkopfes mit nur einem intakten Geweih.

6

Die Marke der Mütze war der Presse nicht bekannt. Genau wie die Ohrmarken und die im Vorfeld verschwundenen Haustiere der Mädchen hatten wir das Mützenlogo unter Verschluss gehalten.

»Sehen Sie sich das an«, sagte Rita.

Ich wedelte abwehrend mit der Hand. Wich ihrem Blick aus. Versuchte mich zu entsinnen, ob Heges Name bei den eingegangenen Tipps zu dem Fall aufgetaucht war. Das wäre aber ein unglaublicher Zufall. Als ich mich wieder einigermaßen sortiert hatte, schlug ich behutsam die Zeitung auf und fand den Artikel über den Doppelmord. An den oberen Rand der letzten Seite war eine Telefonnummer gekritzelt. Meine Nummer.

»Hat Hege das gezeichnet?«, fragte ich und hielt Rita das Titelblatt hin. »Und wieso hat sie meine Nummer notiert?«

Rita sah aus, als stellte sie sich dieselbe Frage. Die Eiswürfel klirrten, als sie das Glas hochnahm.

»Hege hat die Suche nach Antworten auf das Verschwinden ihrer Tochter nie aufgegeben. Und vor ungefähr zwei Jahren scheint sie etwas gefunden zu haben. Ich habe keine Ahnung, was es war, aber sie war eindeutig auf irgendwas gestoßen. Zuerst dachte ich, es hätte was mit den drei Jugendlichen zu tun, aber inzwischen bin ich nicht mehr so sicher.«

»Welche Jugendliche?«

Rita beugte sich vor, musterte mich über den Rand ihres Glases.

»Ihre Tochter Jenny war vierzehn und hing mit drei älteren Jugendlichen ab. Unangenehme Typen, wenn Sie mich fragen. Sie haben sich in einer alten Jagdhütte im Wald getroffen und Alkohol getrunken, Hasch geraucht und weiß Gott was sonst noch. Hege war stinksauer. Sie hat Jenny verboten, die anderen zu treffen, was natürlich nichts nützte. Eines Tages ist Jenny einfach abgehauen und mit den anderen in einem Boot raus auf den Øyeren gefahren.«

»Auf den Øyeren?«

Mein Fuß begann zu wippen. Ich zwang mich zum Stillhalten. Rita konnte nichts von meinem speziellen Verhältnis zu dem Ort wissen.

»Sie haben erzählt, dass sie auf dem Boot übernachtet haben«, sagte Rita. »Und als sie aufgewacht sind, war Jenny weg.«

»Sie wurde nie gefunden?«

Rita schüttelte den Kopf. »Ihre Kleider waren noch an Bord, aber ihr Bikini war weg.«

Das Gefühl, gegen den Sog im Wasser anzukämpfen, war körperlich greifbar. Die Kraft, die einen an den Füßen festhielt, an einem zog, während einem das Wasser in den Mund schwappte. Ich hatte das einmal erlebt, vor langer Zeit.

Rita und ich sahen uns schweigend an, und mit einem Mal verstand ich, wieso sie wissen wollte, ob ich noch Kontakte zur Polizei hatte. Abs’ und meine Zusammenarbeit lag fast drei Jahre zurück. Das letzte Mal hatten wir uns im Zuge der Ermittlungen um den Mord an meiner Schwester vor anderthalb Jahren gesehen. Ich dachte an sie. Wie sie direkt vor meinen Füßen mit dem Kopf auf den Boden aufgeschlagen war. An die Hoffnungslosigkeit in ihrer Stimme bei ihrem letzten Anruf.

Ehe ich abwägen konnte, wie schlau es war, nahm ich das Handy und wählte die Nummer meines früheren Chefs.

»Ich brauche deine Hilfe«, sagte ich, sobald seine Stimme auf der Mobilbox verstummte. »Es gibt da jemanden, mit dem du reden solltest.«

Ich musste ihm nicht sagen, worum es ging, das würde er auch so verstehen.

»Die Polizei?«, fragte Rita, als ich das Handy wieder weglegte.

»Absalon Lund.«

»Haben Sie noch Kontakt?«

»Natürlich.« Ich hatte das Bedürfnis, die darauf folgende Stille zu füllen. »Er ist eigentlich ein ziemlich netter Kerl, dabei hatte ich am Anfang wirklich Angst vor ihm.«

»Warum?«

»Vor der Legende, dem Mythos, seiner Hartnäckigkeit. Er hat einmal einen Verdächtigen zu Fuß in die Berge verfolgt. Fünf Stunden durch einen Schneesturm.«

Rita lächelte. »Hatten Sie Angst, dass er Sie auf solche Ausflüge mitnehmen würde?«

Es schüttelte mich innerlich bei der Vorstellung einer endlos weißen Schneedecke. Ich drückte die Wahlwiederholung.

»Abs wird auf die unlösbaren Fälle angesetzt«, sagte ich, während das Freizeichen ertönte. »Weil er bereit ist, sich vor den schwersten Karren spannen zu lassen. Als ich begriffen habe, für was er in den Krieg zieht, wurde meine Angst durch Respekt ersetzt.«

»Inwiefern Krieg?«

»Das sind eigentlich die Worte der Kollegen. Ein Wikinger auf Kriegszug. Für Wahrheit und Gerechtigkeit.«

»Hehre Worte.«

Ich konnte mich nicht zu einem Lächeln durchringen. Schließlich war Abs auch der Mensch, den ich am tiefsten enttäuscht hatte. Unsere vor drei Jahren eingeleitete Ermittlung war noch nicht abgeschlossen. Während ich erneut anrief, sah ich uns an einem weit entfernten Ort. Vor all den schmerzvollen Erfahrungen, nach denen wir nie mehr die Alten sein würden. Solch finsteren Gedanken konnten mich aus dem Nichts überkommen. Mitten in einem Gespräch, bei einem Lachen, in einem freudigen Augenblick, lauerte das Böse. Zwischendurch gibt es nichts außer der Scham. Glaubte ich ernsthaft, dass sich das irgendwann ändern könnte?

»Bjørk?«

Seine Stimme ließ mich zusammenzucken.

»Ich glaube, ich bin auf etwas gestoßen«, flüsterte ich fast. »Kannst du herkommen? Jetzt?«

Ich wusch mein Gesicht und zog ein leichtes Kleid an, das ich in diesem heißen Sommer meist in der Tasche dabeihatte. Als Abs eine halbe Stunde später vor der Tür stand, bereute ich, ihn angerufen zu haben. Zwischen Rita und ihm baute sich eine unmittelbare Spannung auf. Das sah ich an ihrer geduckten Körperhaltung. Und an seinem flüchtigen und angestrengten Händedruck.

Er hielt meine Hand lange fest.

»Schön, dich zu sehen, Bjørk.«

Während ich versuchte, die Vibes einzuordnen, überlegte ich, ob ich voreilig gehandelt hatte.

»Nehmen Sie doch Platz«, sagte Rita.

Er setzte sich auf die vordere Kante des Stuhls zu meiner Linken. Ich legte die Zeitung vor ihm auf den Tisch. Sein Blick glitt zu der Skizze des Hirsches, aber er verzog keine Miene.

Ich hielt die Luft an. Befallen von der alles lähmenden Angst, dass er meinen Fund nicht ernst nehmen würde.

»Ritas Freundin Hege ist verschwunden«, sagte ich. »Diese Zeitung hat sie zu Hause bei ihr gefunden und …«

»Gibt es Hinweise, dass ihr etwas zugestoßen ist?«, fragte Abs.

Ich fühlte mich betrogen.

»Sie ist weg«, sagte Rita. »Ich habe die Polizei in Lillestrøm angerufen. Die meinten, ich sollte noch ein paar Tage abwarten.«

Abs schüttelte den Kopf. »Die Anzeige wurde zur Untersuchung aufgenommen. Die Fahndungsgruppe der Einheit Ost hat alle Personen im näheren Umfeld befragt, was nicht viele sind. Nachbarn, frühere Kollegen und Taxiunternehmen.«

Woher wusste er das?

»Wurde sie bedroht?«, fragte Rita mit übertrieben dramatischer Miene.

»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Abs.

Rita fingerte an dem Zigarettenpäckchen herum.

»Sie hatte vor irgendwas Angst.«

Abs beugte sich vor, stemmte sich mit den Unterarmen auf den Oberschenkeln ab.

»Für einen offiziellen Fall braucht die Polizei mehr Informationen, und noch einmal mehr, wenn die Kripo eingeschaltet werden soll. Das wissen Sie beide.«

Rita hustete. Wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen.

»Wie wäre es, wenn wir zu ihrem Haus fahren und Sie sich dort umsehen?«

Sie sah Abs unverwandt an. Ich versuchte, seine Reaktion zu deuten.

»Ohne konkreten Verdacht oder Durchsuchungsbeschluss kann ich kein Haus betreten«, sagte er.

Ich tippte mit dem Finger auf die Zeitungsseite.

»Und was ist hiermit?«

»Überwachungskameras«, sagte Rita.

»Ich kriege keine Genehmigung, wenn die Polizei die Kripo nicht um Beistand bittet.«

»Was ist mit dem Handy?«

»Das Einzige, was ich tun kann, ist, bei den Ermittelnden nachzufragen, an welchen Masten Heges Handy sich zuletzt eingewählt hat.«

Rita nickte. Nahm ihr Wasserglas und leerte es. Starrte auf den Boden und schüttelte den Kopf. Sah immer wieder zu Abs, ehe sie den Blick wieder senkte. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass da irgendwas zwischen den beiden war.

»Hab ich irgendwas verpasst?«, fragte ich schließlich.

Abs’ Blick schoss an mir vorbei zu Rita. Er seufzte tief.

»Leider ist es nicht das erste Mal, dass Hege Brodersen die Polizeiressourcen strapaziert.«

7

»Nicht das erste Mal?«

Ich sah sie beide nacheinander an.

»Heges Tochter ist ertrunken«, sagte Abs.

Rita räusperte sich. »Technisch gesehen wissen wir das nicht, die Polizei hat das sehr schnell als Unfall abgetan. Hege war unheimlich enttäuscht darüber, dass der Fall nicht weiter untersucht wurde. Sie meinte, die Jugendlichen an Bord hätten genauer unter die Lupe genommen werden müssen.«

Abs und ich tauschten schnelle Blicke.

»Gab es einen Anfangsverdacht?«, fragte ich.

Abs schüttelte den Kopf. »Es deutete alles darauf hin, dass sie im betrunkenen Zustand schwimmen gegangen ist.«

Rita winkte ab. »Hege ist überzeugt davon, dass Jenny nicht ertrunken ist. Das Mädchen kannte sich mit Booten aus und war eine sehr gute Schwimmerin.«

Abs seufzte. »Ich sage es noch einmal. Sie war vierzehn und betrunken. Tragisch, aber so etwas passiert. Anschließend hat Hege immer wieder auf höchst kreative Weise den Anstoß dafür zu geben versucht, gegen die anderen an Bord zu ermitteln.«

»Seien Sie nicht so herablassend«, schnaubte Rita. »Können Sie sich vorstellen, was sie durchgemacht hat? Wie es einer Mutter geht, die ihr Kind verloren hat?«

»Natürlich nicht«, sagte Abs. »Und ich verstehe, dass …«

Rita überhörte ihn. »Sie war die Einzige, die etwas unternommen hat, während alle anderen sich auf ihrem Arsch ausgeruht haben. Hat Flugblätter mit einem Foto von Jenny und einer Telefonnummer verteilt. Hat in der ganzen Gegend rumgefragt, ob irgendwer was gesehen hat. Sie hat sogar Menschen aufgespürt, die zur selben Zeit mit dem Boot draußen waren, und sie gebeten, ihre Fotos zu checken. Ich glaube, sie war jeden Tag im Präsidium und hat sich nach Neuigkeiten erkundigt. Als ihr klar wurde, dass ihre Tochter nicht zurückkommen würde, hat sie eine Woche am Stück geschlafen.«

»Sie hat versucht, Zeugen zu beeinflussen«, sagte Abs. »Hat Desinformationen verbreitet, Leserbriefe in der Lokalzeitung geschrieben und bei jeder Gelegenheit gegen die Polizei gehetzt.«

»Es ist genau wie beim letzten Mal«, sagte Rita und knallte das Glas auf die Tischplatte. Dann schnappte sie sich die Karaffe und füllte Wasser nach. Blieb am Waschbecken stehen und stützte sich auf beide Hände.

Ich musterte Abs.

»Wir sind diese Vorwürfe so leid«, flüsterte er. »Spekulationen, Tipps und Theorien ohne jeden Anhaltspunkt. Hege hat die Freunde ihrer Tochter sogar wegen Mordes angezeigt.«

»Mir ist so etwas noch nie untergekommen«, sagte ich. »Dass weder die Polizei noch das Kriminalamt sich um Vermisstenmeldungen kümmern.«

»Wir haben uns gekümmert.«

»Ich dachte, da müsste erst ein …«

»Nicht eine Krone wird mehr für diese Frau verwendet. Das ist ein Beschluss von ganz weit oben.«

Abs schüttelte den Kopf. Dämpfte die Stimme noch mehr. »Ich könnte darauf wetten, dass sie einfach abgehauen ist, ohne etwas zu sagen.«

Ich legte die Hand auf die Zeitung. »Diese Zeichnung kann kein Zufall sein, das weißt du. Das ist genau das Logo von der Mütze.«

Abs schnitt eine Grimasse und kratzte sich im Bart. »Nicht überzeugend genug, um den Fall wieder zu öffnen.«

Ich starrte ihn an. »Willst du damit sagen, dass …«

»Dass was?«

»Dass du nicht mehr daran glaubst, diesen Fall lösen zu können?«

»Mein Gott, Bjørk. Natürlich nicht. Aber wir haben getan, was wir konnten.«

»Bullshit. Wir haben uns viel zu früh auf einen Verdächtigen eingeschossen.«

Abs sah zu Rita, die ungewöhnlich lange brauchte, um die Karaffe aufzufüllen.

»Außerdem ist es danach ja zu keinen weiteren Morden gekommen.«

Ein Punkt, der mich immer wieder zum Nachdenken brachte. Warum verhielt sich so ein Täter drei Jahre lang ruhig?

»Er sammelt neue Energie«, sagte ich. »Glaub mir, der kommt irgendwann zurück, mit neuer Kraft.«

Die Pause zog sich in die Länge und setzte mir zu.

»Sollten wir nicht alles tun, um sie zu finden? Wenn Hege von dem Logo weiß, heißt das doch vielleicht, dass sie …«

»Und warum ist sie damit nicht zu uns gekommen, wenn sie etwas weiß?«

»Mangelndes Vertrauen in die Polizei?«

Dass auch Abs schlaflose Nächte hinter sich hatte, war kein Geheimnis. Wie ich lag er in den Stunden vor der Dämmerung häufig wach. Natürlich wollte er den Fall lösen. Er wusste, dass mein Bauchgefühl meistens richtig war. Und selbst wenn ich mich irrte, steckte oft ein Funken Wahrheit darin. Außerdem war ich mindestens so hartnäckig wie er.

»Wir haben es nicht zu Ende gebracht«, sagte ich. »Die Eltern der Mädchen haben nie eine Antwort erhalten.«

Er seufzte, und ich beugte mich vor und flüsterte ihm ins Ohr.

»Der Typ ist noch nicht fertig. Es liegt ihm im Blut. Er hört nicht auf, bevor wir ihn schnappen. Komm mit zu Heges Haus. Lass uns gucken, ob wir dort etwas finden. Eine Stunde kannst du dafür doch investieren.«

Noch bevor Rita mit der aufgefüllten Karaffe zurück war, hatte ich ihn überredet.

Unsere Schuhe wirbelten Staub auf, als wir auf den rissigen Bürgersteig traten. Abs hatte in einiger Entfernung von Heges Haus geparkt und vorgeschlagen, zu Fuß durch die Siedlung zu gehen. Die Gebäude waren ein Sammelsurium aus niedrigen, funktionalen Wohnblocks, Einfamilienhäusern, einem etwas heruntergekommenen Schulgebäude und einer dreistöckigen Turnhalle mit verblichener brauner Fassade. Hinter den Häusern ragte dichter Nadelwald auf. Die Straßen waren ausgestorben, als wohnte hier eigentlich niemand. Die wenigen Menschen, die wir sahen, wirkten apathisch und müde. Sicher waren sie die sengende Sonne auf dem Asphalt leid. Leid, in einem sterilen Viertel am Rand einer Trabantenstadt zu wohnen.

»Sie ahnen ja nicht, wie dankbar ich Ihnen bin«, sagte Rita und zog uns förmlich über die eintönigen Straßen vorbei an verstaubten Schaufenstern.

Aus den Mülleimern schlug uns Gestank entgegen, als wir uns Heges Viertel näherten. Kein Wunder bei der Hitze, die schon seit Wochen wie ein Tuch über dem Land lag. Ich ließ meinen Blick über die Häuser schweifen, die meisten aus den Neunzigern mit Vorhängen und geblümten Hollywoodschaukeln, Gartenzwergen und verblassten Traumfängern im Türrahmen. Eine Gardine bewegte sich, und für den Bruchteil einer Sekunde waren ein Augenpaar und die Andeutung eines Mundes zu sehen, als wir vorbeigingen.

Rita führte uns zu einem grauen Holzhaus in einem vertrockneten Garten in der Größe eines mittelgroßen Schwimmbeckens. Ich tippte, dass Hege viel Energie in dieses Stückchen Land gesteckt, dann aber den Kampf gegen Trockenheit und Hitze aufgegeben hatte. Die Blätter an den Obstbäumen waren gelb, die Äpfel teilweise verschrumpelt. Die Rosen ließen die Köpfe hängen und in den Beeten war selbst das Unkraut vertrocknet. Von einem der Zweige kam ein metallisches Klimpern. Ein kupferfarbenes Windspiel baumelte über einer angegrauten Teakholzbank. In der schwachen Abendbrise hörten sich die Töne irgendwie falsch an.

»Ein schönes Haus«, sagte ich. »Nicht viele Alleinerziehende können sich so was leisten.«

»Hege hat ziemlich viel von ihren Eltern geerbt«, sagte Rita. »Den Ex hat sie ausbezahlt und recht sparsam gelebt. Sie hat mir mal gesagt, dass das Haus fast schuldenfrei ist.«

Der Kies knirschte unter ihren Füßen. Rita nahm ein Schlüsselbund aus der Tasche und wollte aufschließen, aber Abs hielt sie zurück.

»Sehen wir uns erst mal draußen um.«

Die Gardinen waren zugezogen. Abs ging über den Rasen und grüßte eine Nachbarin, die mit einer grünen Gießkanne im Garten nebenan die Rosen wässerte, obwohl im gesamten Østland das Gießen der Gärten untersagt worden war. Auf einer Liege ein Stück hinter ihr sonnte sich eine recht kräftige Jugendliche in einem sportlichen grün-weißen Bikini. Sie hatte ihre Haare unter eine rosa Kappe geschoben. Auf ihrem Bauch lag ein aufgeschlagenes Buch.

Rita und ich setzten uns auf die Bank, während Abs einmal um das Haus herumging.

»Keine zerbrochenen Fensterscheiben«, stellte er eine Weile später fest. »Kein Anzeichen für eine Straftat.«

»Ich weiß nicht, wann ich Hege zuletzt gesehen habe«, sagte die Nachbarin, als wir über die Hecke grüßten. »Ich meine, das wäre gestern gewesen.«

Sie stellte sich als Brit vor und wässerte währenddessen einen Rosenbusch, dessen Blüten die Köpfe hängen ließen.

»Ja, ja, ich weiß, dass das Gießen verboten ist. Aber diese Rosen waren schweineteuer und brauchen Wasser.«

»Verstehe«, log ich. »Hege hat nicht zufällig erwähnt, dass sie sich ein paar Tage freinehmen will?«

Brit schüttelte nachdenklich den Kopf und kippte den Rest Wasser auf ein paar andere Pflanzen. »Sie hätte auf jeden Fall Urlaub nötig gehabt. Die arme Frau hat so viel durchgemacht.«

Drei Ameisen krabbelten von ihrem Knöchel nach oben bis unter ihren Kleidersaum.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Abs.

»Sie wissen das mit ihrer Tochter?«

Wie auf Kommando stand das Mädchen von der Liege auf und kam zu uns. Sie war etwa sechzehn. Baute sich vor uns auf, die Hände in die Seiten gestemmt, die Brust rausgestreckt. Frisch lackierte Fingernägel. Ohne jede Scham sah sie von Abs zu Rita und dann zu mir.

»Kenne ich Sie von TikTok?«

Ich lachte kurz auf. »Sicher nicht.«

Etwas entfernt bellte ein Hund. Das Mädchen grinste. »Okay, dann eben nicht TikTok, aber Sie sind doch diese Profilerin, oder?«

Ein kurzes Schweigen, dann blinzelte sie. »Ich finde Sie cool.«

»Du hast Hege in den letzten Tagen nicht zufällig gesehen?«, fragte ich.

»Nö, I don’t care«, sagte sie, drehte sich um und ging zurück zu ihrer Liege.

Abs schüttelte den Kopf und ging über den vertrockneten Rasen zum Gartentor. Rita hastete hinter ihm her und klirrte mit dem Schlüsselbund.

»Sie kommen doch mit rein?«

Abs blieb stehen. »Wie bereits gesagt, sollte ich ohne einen begründeten Verdacht für eine kriminelle Handlung oder ein Unglück kein Privathaus betreten!«

»Sollte? Und was, wenn ich Sie einlade, mit reinzukommen? Hege hat mir ihre Schlüssel anvertraut, und ich glaube nicht, dass sie etwas dagegen hätte.«

Abs sah mich an, als würde er das nur für mich tun.

»Okay. Aber nur, wenn Sie anschließend noch mal bei der hiesigen Polizei Druck machen oder akzeptieren, dass sie einfach nur verreist ist.«

Rita öffnete die Haustür. Zog Abs hinter sich her ins Haus, während ich im Windfang stehen blieb. Die Luft roch abgestanden, aber sauber. Sommerjacken in Beige und Schwarz hingen an der braunen Garderobe. Ein metallenes Schuhregal mit zwei Paar Ledersandalen, ein paar ausgetretenen, aber gepflegten Joggingschuhen und ein paar Stiefeletten. Kein Spiegel, nur das vergilbte Foto eines älteren Mannes auf einem Segelboot im Wind. Der verschmitzte Ausdruck in seinen Augen verriet, dass er den Code des Lebens geknackt hatte.

Ritas Absätze sendeten Morsesignale aus der oberen Etage nach unten. Abs war auf dem Weg ins Wohnzimmer. Ich lief über einen handgewebten Stoffläufer und nahm mein Handy heraus. Fotografierte alles, das mir instinktiv etwas über Hege verriet. Ich arbeitete mich über einen glänzend sauberen Parkettboden vor, der nach synthetischen Kiefernnadeln roch, und hatte so ein vages Vorher-nachher-Gefühl, ohne sicher sagen zu können, woher es kam und was es ausdrücken sollte. Irgendetwas gefiel mir hier nicht. War es der Geruch? Die zu große Sauberkeit?

Wenn Hege den Hirschkopf auf der Zeitung skizziert hatte, musste sie über den Doppelmord Bescheid gewusst haben. Aber woher hatte sie diese Informationen? Die Zeugin vor drei Jahren hatte geschworen, nur mit der Polizei geredet zu haben.

Eine winkelförmige Küche öffnete sich zum Wohnzimmer. Die Einrichtung mit den klaren Linien, glatten Oberflächen und grauen Plastikstühlen um einen Esstisch war sicher zwanzig Jahre alt. Alles war gepflegt und glänzend. Keine Tassen oder Teller in der Spüle. Keine Brotkrümel auf der Arbeitsfläche aus Granit. Im Kühlschrank standen ein paar sorgsam gestapelte Plastikdosen mit Resten und eine ungeöffnete Packung Elchburger von einem lokalen Anbieter.

Ich hörte ein leises Räuspern und schwang herum. Das junge Mädchen aus dem Nachbargarten stand hinter mir. Barfuß und noch immer im Bikini.

»Habe ich Sie erschreckt?«

Ich lachte. »Ja, ein bisschen.«

»Entschuldigung. Also. Da ist noch was, das ich nicht sagen konnte, als Mama dabei war.«

»Ja?«

»Ich habe Hege gesehen. Vorgestern Nacht.«

»Gesehen? Wo?«

»Hier. Mein Freund hat ein bisschen oberhalb geparkt, und als ich mich durch das Gartentörchen geschlichen habe, ist sie aus dem Haus gekommen.«

Abs war in den Raum gekommen, stand zwischen Küchenecke und Wohnzimmer und betrachtete uns.

»Wann in der Nacht war das?«, fragte ich.

»So gegen drei, vielleicht.«

»War jemand bei ihr?«

»Nee. Sie ist durch das Tor, in weißer Hose und roter Tunika. Und sie hatte eine schwarze Tasche über der Schulter.«

Ich atmete langsam und gleichmäßig aus. Wusste nicht, was ich denken sollte. Abs ging zur Treppe und verschwand mit schweren Schritten nach oben. Wechselte ein paar Worte mit Rita.

Das Mädchen strich sich mit dem Daumen zwischen den Brüsten entlang. »Sagen Sie nichts«, flüsterte sie mir zu. »Mama bringt mich um, wenn sie erfährt, dass ich so spät noch unterwegs war.«

Rita stürmte nach unten und kam zu uns. »Olivia?«

»Hege ist weggefahren«, sagte das Mädchen und wiederholte, was sie mir gesagt hatte.

Rita blies sich eine Locke aus dem Gesicht. »Eine rote Tunika? Das kann nicht stimmen. Hege hat nie Farben getragen.«

»Dann hat sie wohl jetzt damit angefangen«, sagte Olivia. »Man darf sich doch verändern.«

Sie machte auf den Fersen kehrt und verließ die Küche.

Rita klopfte mit dem Finger auf die schwarze Arbeitsplatte. »Das Handy lag immer hier.«

Sie stemmte die Hände in die Seite und starrte auf den leeren Fleck. Ein kleiner Ölfleck in der Größe eines Hemdenknopfs war das einzige Zeichen, dass Hege hier gewesen war.

»Was denken Sie über das, was das Nachbarmädchen gesagt hat?«, fragte ich.

»Olivia ist eine Lügnerin. Glauben Sie ihr kein Wort.«

Ein Schnauben, Olivia stand direkt hinter uns. Sie nickte in Richtung Rita. »Hat Sie Ihnen von ihrem Streit mit Hege erzählt? Vor ein paar Wochen, wie die Verrückten.«

»Raus mit dir!«, zischte Rita.

Olivia sah mich an. »Sind sie nicht süß in diesem Alter?«

8

Jenny, 2006

Das Kleid ist gewagt, ein Traum in Knallrosa. Ich drehe mich vor dem Spiegel hin und her. Studiere, wie mein Po sich unter dem Stoff abzeichnet. Er betont meinen Busen und macht meinen Bauch flacher. Als ich aus der Umkleide komme, unsicher auf viel zu großen Schuhen, verschlägt es Camilla fast die Sprache. Dank Papas Genen sehe ich aus wie eine dieser spanischen Tänzerinnen.

»Das steht dir super«, sagt die Verkäuferin. »Wenn es dir zu freizügig ist, könntest du einen Seidenschal um die Schultern tragen.«

Einen Schal? Wie Mama? Bestimmt nicht. Ich schließe die Augen für einen Moment und stelle mir seine Hände auf mir vor. Denke an die Nachricht, die er mir gestern geschickt hat.