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Beschreibung

Eine Schlange im Bauch, ein Zahnstocher in der Leber, ein Ballon in der Luftröhre: Manchmal verbergen sich hinter quälenden medizinischen Beschwerden bizarre Erklärungen. Jede Woche berichten Ärzte im Magazin stern von ihren außergewöhnlichsten Fällen. Die Rubrik »Die Diagnose« gehört zu den beliebtesten Seiten der Zeitschrift. Erstmals zusammengefasst in einem Buch erzählen Mediziner von Patienten, die an rätselhaften Symptomen leiden und deren ungewöhnliche Krankengeschichten dank akribischer Detektivarbeit zu einer überraschenden Auflösung kommen.

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Der Arzt als Detektiv – rätselhafte Fälle aus der Medizin

Eine Schlange im Bauch, ein Zahnstocher in der Leber, ein Ballon in der Luftröhre: Manchmal verbergen sich hinter quälenden Beschwerden bizarre Erklärungen. Jede Woche berichten Ärzte im Magazin stern von ihren mysteriösesten Fällen. Erstmals zusammengefasst in einem Buch erzählen Mediziner von Patienten, die an rätselhaften Symptomen leiden: ungewöhnliche Krankengeschichten, die dank akribischer Detektivarbeit zu einer überraschenden Auflösung kommen. Wahre Geschichten – so verblüffend, dass man sie kaum glauben kann.

DR. MED. ANIKA GEISLER wurde in München geboren und studierte an der Berliner Charité Medizin. Ihre journalistische Ausbildung absolvierte sie an der Hamburger Henri-Nannen-Schule. Seit 2000 arbeitet Anika Geisler als Medizinredakteurin und Reporterin beim Hamburger Magazin stern, für das sie auch als Ressortleiterin tätig war. Seit 2013 betreut sie die Rubrik »Die Diagnose«, in der Ärzte ihre ausgewöhnlichsten Krankengeschichten schildern. Für das vorliegende Buch hat sie die besten Fälle aus dem stern ausgewählt.

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Dr. med Anika Geisler (Hg.)

DIE

DIAGNOSE

Wenn Ärzte zu

Detektiven werden –

rätselhafte Krankheiten

und ihre Ursachen

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Copyright © 2017 by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München und ® Lizenz der Marke STERN durch Gruner + Jahr GmbH & Co KGAlle Rechte vorbehalten. Umschlag: FavoritbüroUmschlagmotiv: forden, Shutterstock.com und FavoritbüroSatz: Leingärtner, NabburgISBN 978-3-641-21385-5V002
www.penguin-verlag.de

VORWORT

Nichts ist so spannend wie die Wirklichkeit

Idealerweise sieht ein Besuch beim Arzt so aus: Der Patient spricht über seine Beschwerden. Der Mediziner hört aufmerksam zu, untersucht sein Gegenüber, stellt eine klare Diagnose und verordnet das Richtige. Der Mensch gesundet, Arzt und Patient sind zufrieden, Ende der Geschichte.

So weit die Theorie. In der Praxis bitten den Arzt manchmal Menschen um Hilfe, deren Krankheitssymptome sich nur sehr schwer einordnen lassen. Warum kann ein Maurer auf einmal kaum noch sehen und hören und warum droht sein Herz zu versagen? Was hat ein Abend, der Jahre zurückliegt, mit chronischen Bauchschmerzen zu tun?

Die in diesem Buch geschilderten Fälle haben alle eines gemeinsam: Sie stellten Mediziner verschiedener Fachrichtungen vor ein Rätsel – bis diese die Ursache für die körperlichen oder psychischen Probleme dann doch noch fanden und die richtige Diagnose stellten. Manchmal brauchte es dafür Geduld, Beharrlichkeit und Erfahrung, manchmal brachte die Ärzte ein Geistesblitz auf die richtige Spur. Oft bedurfte es eines kriminalistischen Spürsinns, bis der Übeltäter ermittelt wurde. Ärztliche Routine jedenfalls sieht ganz anders aus.

Jede der folgenden Fallgeschichten erschien zuerst in der Zeitschrift stern – als wöchentliche Folge der 2013 erstmals erschienenen Rubrik »Die Diagnose«. Seitdem schreiben dort Mediziner aus Deutschland und der ganzen Welt Woche für Woche, wie sie für unklare Beschwerden erstaunliche, skurrile und manchmal unglaubliche Erklärungen fanden. Eine Schlange im Bauch, ein Zahnstocher in der Leber, ein Ballon in der Luftröhre – jeder Fall hat sich genau so ereignet. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden lediglich in einigen Geschichten biografische Details der Patienten verändert.

Die Schicksale, von denen die Ärzte erzählen, bilden einen reizvollen Kontrast zu der allgemein bekannten Routine in Praxen und Krankenhäusern. Sie zeigen: Nichts ist so spannend wie die Wirklichkeit.

SCHLEICHENDES GIFT IM LEIB

Eine junge Frau hat seit Langem Bauchkrämpfe, die jeden Tag wiederkommen. Die Ärzte entfernen den Blinddarm und die Galle – doch nichts hilft. Bis ein Internist herausfindet, was der Patientin ein paar Jahre zuvor zugestoßen ist.

Von Dr. Albert Selva-O’Callaghan

Aufgezeichnet von Astrid Viciano

Die junge Frau litt an starken Schmerzen im Bauch. Immer wieder traten die Krämpfe auf, mindestens einmal am Tag – das ging schon seit Jahren so. Das berichtete die 21-Jährige, als sie zu uns in die Uniklinik Vall d’Hebron in Barcelona kam. Davor war sie bereits in einem anderen Krankenhaus in der Stadt gewesen. Dort hatten die Ärzte auf Verdacht die Gallenblase und den Blinddarm entfernt – aber die Krämpfe kamen wieder.

Hätten die Kollegen die Patientin genauer befragt, hätten sie herausgefunden, dass der Grund des Übels ein paar Jahre zurücklag: Damals hatte ein Abend das Leben der Frau für immer verändert.

Sie stammte aus Südamerika und war erst vor Kurzem nach Spanien gezogen. Ihre Familie hatte in Barcelona eine Bar eröffnet, dort wollte sie arbeiten. Außerdem hoffte sie, dass die spanischen Ärzte endlich die Ursache ihrer Bauchschmerzen finden würden. In ihrer Heimat hatte sie deswegen immer wieder die Notaufnahme verschiedener Krankenhäuser aufgesucht. Vergebens. Die Ärzte hatten ihr Schmerzmittel verschrieben, aber nie eine richtige Diagnose gestellt.

In unserer Klinik war die Patientin zuerst bei den Chirurgen aufgenommen worden. Die Kollegen vermuteten eine krankhafte Einstülpung des Darms, setzten eine Operation an und öffneten die Bauchdecke der Frau. Sie fanden nichts. Danach stellten sie uns Internisten in einer Besprechung die heikle Krankengeschichte vor. Dabei zeigten sie ein Röntgenbild: Auf Höhe des linken Beckens waren im Bauchraum mehrere Fremdkörper zu sehen. Was war das?

Als ich die Patientin danach persönlich kennenlernte – eine kleine, schüchterne Frau –, erzählte sie mir, was passiert war. Ein paar Jahre zuvor war sie in ihrer Heimatstadt in Südamerika abends auf der Straße brutal ausgeraubt worden. Die Täter hatten auf sie geschossen und ihr Geld gestohlen. Sie blieb schwer verletzt liegen, die Kugeln hatten sie in den Bauch getroffen. In einer Notoperation verschlossen die Chirurgen ihren durchlöcherten Magen und retteten ihr das Leben.

Aber offensichtlich waren damals Schrotkugeln im Körper zurückgeblieben, die wir nun als Auffälligkeiten im Röntgenbild sehen konnten. Doch das war noch keine Erklärung für die Bauchkrämpfe, denn der menschliche Organismus umhüllt Fremdkörper normalerweise mit Bindegewebe und macht sie so unschädlich.

Waren damals nach der Notoperation die Darmschlingen miteinander verklebt, war das der Grund für die Schmerzen? Unsere chirurgischen Kollegen sagten, sie hätten bei ihrem Eingriff keine Verwachsungen gesehen.

Wir nahmen der Patientin Blut ab – und sahen, dass sie zu wenig rote Blutkörperchen hatte. Wir untersuchten den Urin und fanden einen auffälligen Wert: Die Konzentration der Delta-Aminolävulinsäure war deutlich zu hoch, sie fällt bei der Bildung des roten Blutfarbstoffs an. Und wir entdeckten, dass die Bleikonzentration im Blut um mehr als das Zehnfache erhöht war. Die Schrotkugeln hatten also im Laufe der Jahre kontinuierlich Blei abgegeben, hatten die Bildung der roten Blutkörperchen gehemmt und die Bauchschmerzen ausgelöst – die Frau litt an einer chronischen Bleivergiftung.

Jetzt ging es darum, das Schwermetall möglichst rasch aus dem Körper zu entfernen. Daher gaben wir der Patientin zehn Tage lang intravenös eine spezielle Substanz, die Metalle an sich bindet. So entstand ein chemischer Komplex aus Säure und Blei, der mit dem Urin ausgeschieden wurde.

Schließlich operierten die Chirurgen noch einmal: Sie entfernten die Schrotkugeln aus dem hinteren Bauchraum, nahe dem linken Becken. Acht Metallstückchen fanden sie, jedes von ihnen hatte einen Durchmesser von etwa einem halben Zentimeter.

Noch heute kommt die Frau regelmäßig zu mir in die Klinik. Nach den schlechten Erfahrungen der vergangenen Jahre möchte sie sicher sein, dass mit ihr alles in Ordnung ist. Ihre Bauchschmerzen sind seit dem Ende unserer Therapie verschwunden.

Dr. Albert Selva-O’Callaghan ist Oberarzt in der Inneren Medizin an der Universitätsklinik Vall d’Hebron in Barcelona, Spanien.

ALLES DREHT SICH

Eine Frau leidet an Schwindelattacken. Ein Orthopäde versteift ihren Hals – die Symptome bleiben. Schließlich stellt ein Neurologe die richtigen Fragen.

Von Prof. Dr. Thomas Brandt

Aufgezeichnet von Anika Geisler

Die Dame, die an jenem Wintertag vor einigen Jahren in meiner Sprechstunde saß, war zusammen mit ihrem Mann aus einer anderen Stadt angereist. Sie war ziemlich verzweifelt nach einer drei Jahre langen Leidenszeit. Ich erinnere mich noch gut an das Röntgenbild, das die 50-Jährige mitbrachte – es sah unglaublich aus: Die Wirbelsäule war mit einer Metallplatte versteift, von der Schädelbasis bis zu den unteren Halswirbeln. Die Hausfrau erzählte mir, wie es dazu gekommen war.

Drei Jahre zuvor hatte die Frau zum ersten Mal eine extrem unangenehme Schwindelattacke. Alles hatte sich gedreht, sie hatte sich hinlegen müssen, ihr war übel geworden. Die Attacke hatte ein paar Minuten gedauert, dann war der Spuk vorbei. In den Wochen danach war der Schwindel immer wieder zurückgekehrt, völlig unberechenbar. Manchmal hatte er nur eine Minute gedauert, ab und zu eineinhalb Stunden. Währenddessen war die Frau außer Gefecht gesetzt. Sie hatte sich nicht mehr getraut, Auto zu fahren oder allein einzukaufen.

Ihr Hausarzt hatte sie zum Orthopäden geschickt, mit den Worten: Das könne ja von der Halswirbelsäule kommen. Der Orthopäde hatte ein Röntgenbild gemacht und war zu dem Schluss gelangt, sie hätte eine »Gefügelockerung«, eine abnorme Beweglichkeit der Halswirbelkörper. Ein zweiter Orthopäde hatte die Patientin schließlich operiert und die Halswirbelsäule mit einer Metallplatte versteift. Seitdem konnte die Frau den Kopf kaum noch seitlich drehen oder nach vorn beugen. Aber: Die Schwindelattacken waren geblieben.

Als Nächstes war die Patientin zu einem HNO-Arzt gegangen, der durch Befragung herausfand, dass sie während des Schwindels schlechter hörte. Es gibt unterschiedliche Schwindelarten mit verschiedenen Ursachen – die Abgrenzung ist manchmal nicht ganz einfach, alle Begleitsymptome sind wichtig. Der HNO-Arzt diagnostizierte einen Morbus Menière – eine Krankheit, bei der zu viel Flüssigkeit im Innenohr ist und damit ein Überdruck im Gleichgewichtsorgan herrscht. Daraufhin hatte sie über ein Jahr spezielle Medikamente genommen – geholfen hatten sie nicht.

In unserem Schwindel-Zentrum sehen wir im Jahr etwa 5000 Patienten, bevorzugt Problemfälle mit unklaren Diagnosen oder unbefriedigendem Therapieerfolg. Sie reisen aus ganz Deutschland an, manchmal auch aus dem Ausland, den USA oder Neuseeland. Nun also saß die Dame mit dem eindrucksvollen Röntgenbild des Halses vor mir. Sie hatte auch Kernspin-Befunde dabei: Ein Tumor und multiple Sklerose waren bereits ausgeschlossen worden.

Ich fing noch mal ganz von vorn an mit der Krankengeschichte. Ich bat sie, den Schwindel haarklein zu beschreiben. Wie genau drehte sich die Welt um sie? Gab es bestimmte Auslöser? War ihr noch was anderes aufgefallen? Da sagte sie den simplen Satz: »Manchmal habe ich dabei im Hinterkopf Schmerzen.« Das war er – der entscheidende Hinweis. Es gibt eine Schwindelform, die mit Kopfschmerzen einhergeht: der Migräneschwindel, auch vestibuläre Migräne genannt. Das ist eine Migräneattacke, die sich nicht durch die typischen halbseitigen und pulsierenden Kopfschmerzen äußert, sondern durch Schwindel.

Die Patientin erzählte, dass sie früher an klassischer Migräne gelitten hatte. Als sie schwanger wurde, als junge Frau, hörte die Migräne auf; das kommt oft vor – durch die hormonelle Umstellung. Vor drei Jahren, als sie in die Wechseljahre gekommen war, war die Migräne offensichtlich zurückgekehrt – aber in einer anderen Form.

Diese Schwindelart kann man gut behandeln: mit Medikamenten für die Migräneprophylaxe. Die Patientin nahm die Tabletten ein halbes Jahr, die Attacken verschwanden sofort. Schließlich konnte sie die Arznei absetzen. Ich habe die Frau noch mehrmals gesehen: Ihr ging es gut. Sie konnte wieder einkaufen und Auto fahren, führte ein selbstständiges Leben.

Und die Lehren aus der Geschichte? Drehschwindel kommt niemals von der Halswirbelsäule – das kann ich nach 40 Jahren Berufserfahrung sicher sagen. Und: Wer an Schwindel leidet, sollte zum HNO-Arzt oder Neurologen gehen – die unnötige Versteifung der Halswirbelsäule ärgert mich bis heute.

Prof. Dr. Thomas Brandt ist Direktor des Deutschen Zentrums für Schwindel- und Gleichgewichtsstörungen am Klinikum Großhadern in München.

ATEMLOS. ABER WARUM?

Der Junge würde ersticken. Es gelang einfach nicht, ihn zu beatmen. Irgendwas steckte in der Luftröhre – so tief, dass es nicht zu sehen war. Der Notarzt hatte nur eine Chance, das Leben des Kindes zu retten: die Flucht nach vorn.

Von Dr. Gernot Rücker

Aufgezeichnet von Inga Olfen

Der Notruf muss verzweifelt geklungen haben. Glucksende Geräusche im Kinderzimmer hatten die Mutter aufgeschreckt. Sie war hingelaufen und hatte ihren anderthalbjährigen Sohn leblos auf dem Boden gefunden. Sie hatte den Notruf gewählt, sich den Jungen geschnappt und war mit ihm zum Aufzug gehastet. Wir rasten mit Blaulicht zu dem Hochhaus. Bei solchen Kindernotfällen zählt jede Minute.

Als wir aus dem Notarztfahrzeug sprangen, hatte die Frau das Kind gerade der Besatzung des Rettungswagens übergeben.

Es lag auf der Trage, blaugrau im Gesicht. Atemstillstand.

Schon extrem verlangsamter Herzschlag, ein Zeichen von schwerem Sauerstoffmangel. Normalerweise lässt der sich mit Beatmung beheben. Doch das ging nicht. Der Beatmungsbeutel ließ sich nicht richtig ausdrücken. Aber warum? Hatte der Junge etwas verschluckt?

Fremdkörper in der Speise- oder Luftröhre sind eine häufige Todesursache bei Kleinkindern. Also schauten wir sofort in den Hals. Dazu nahmen wir ein sogenanntes Laryngoskop, ein Instrument, mit dem man einen Schlauch zur Beatmung in die Luftröhre einlegen kann. Alles war frei, nichts zu finden. Verdammt! Ich fragte die Mutter, ob sie etwas gesehen hatte. Sie hatte keine Idee. Die Zeit rannte. Der Junge hing zwischen Leben und Tod. Wir entschieden, erst einmal den Schlauch zur Beatmung in die Luftröhre einzulegen und zu schauen, ob es dann ging. Der Schlauch traf auf federnden Widerstand. Ein schlechtes Zeichen: Da musste etwas in der Luftröhre stecken, sehr tief, sonst hätte man es sehen können. Was immer es war, zum Herausholen saß es zu weit unten.

Ich befestigte den Beatmungsbeutel auf dem Schlauch, dem sogenannten Tubus. Wieder ließ sich der Beutel nicht durchdrücken.

Als letzte Möglichkeit blieb im Wortsinne die Flucht nach vorn: Vorsichtig stocherte ich mit dem Tubus bis in die Tiefe der Luftröhre und hoffte, dass ich damit den Fremdkörper in eine der beiden Hauptbronchien drücken konnte – eine Lungenseite kann genug Sauerstoff liefern.

Der Tubus ließ sich ein kleines Stück vorschieben. Ich setzte den Beatmungsbeutel drauf und probierte es erneut. Der Beutel ließ sich ausdrücken. Aufatmen!

Der Junge begann rosig zu werden. Aber plötzlich funktionierte die Beatmung wieder nicht. Ich stocherte noch einmal mit dem Tubus. Setzte den Beutel drauf. Drückte aus. Es ging wieder. Jetzt galt es, bloß nicht die Lage zu verändern. Alles so festzuhalten. Und dann schnell loszufahren. Einer der Rettungsassistenten hielt mir das Telefon ans Ohr, ich informierte die Uni-Kinderintensivstation, dann ging es mit Blaulicht und Martinshorn los.

Nach zehn Minuten waren wir in der Klinik, alles wartete schon auf uns. Die diensthabende Oberärztin nahm ein Spezialinstrument und schaute in die Luftröhre. Irgendetwas Blaues sah sie. Sie griff danach, riss zunächst einen Fetzen davon ab, holte es dann an einem Stück heraus. Es war ein Luftballon. Plötzlich wurde der Mutter alles klar: Am Morgen war der Ballon geplatzt. Das Mundstück war abgerissen, und sie hatte ihn in den Papierkorb geworfen. Der Junge musste ihn herausgefischt haben. Er hatte versucht, ihn aufzupusten. Dabei war ihm die Luft ausgegangen. Der Ballon war zusammengeschnurrt und wurde dabei eingesogen. Das Gummi hatte die Luftröhre verstopft.

Der Kleine war dem Erstickungstod sehr nah gewesen. Nur viele glückliche Umstände retteten ihm das Leben: unser kurzer Anfahrtsweg. Dass die Mutter mit ihm aus dem Haus gelaufen kam – was man sonst nie tun sollte, weil man den Rettungsdienst auf dem Weg nach oben verpassen könnte. In diesem Fall schenkte es wertvolle Zeit. Dass sich die Gummimasse in eine Luftröhrenabzweigung schieben ließ. Der kurze Weg in die Uni. Das Kind hatte einfach einen mächtigen Schutzengel!

Später am Nachmittag rief ich noch einmal in der Klinik an. Der Junge war bereits aus der Narkose aufgewacht und hatte gerade einen Joghurt verspeist. Die Mutter war unendlich glücklich. Und ich auch!

Dr. Gernot Rücker ist Notarzt und Leitender Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie an der Universitätsmedizin Rostock.

AUFSTIEGSDRAMA

Nach dem Skiurlaub klagt eine Frau über Schmerzen im Bauch. Die Ärzte entdecken, dass die Organe nicht mehr da sind, wo sie hingehören.

Von Dr. Hans Haase

Aufgezeichnet von Martin Schlak

Als der Anruf kam, stand ich gerade im OP. Ich hatte damals einen anderen Patienten auf dem Tisch. Die Kollegen sagten, es sei dringend, ich müsse mir das Röntgenbild einer Frau anschauen. Also ließ ich mir das Foto auf den Monitor im OP-Saal schicken. Ich sah: die linke Seite eines Brustkorbs, völlig normal. Auf der rechten Seite aber schien die Lunge merkwürdig eingedrückt. Und ich entdeckte Hinweise auf etwas, was dort absolut nicht hingehörte. Mir war klar: Wir mussten schnell handeln. Der Zustand der Frau könnte lebensbedrohlich sein.

Ich erinnere mich gut an diesen Moment, es war ein Nachmittag im Winter. Die Frau, Anfang 40, war ein, zwei Stunden zuvor in unsere Notaufnahme eingeliefert worden: Sie krümmte sich vor Schmerzen, ihr Bauch war stark aufgebläht, mein Kollege hörte nur noch schwache Darmgeräusche.

Wenn Bauchschmerzen unspezifisch sind, ist es schwierig, ihre Ursache zu finden. Man muss sich langsam vortasten und dabei die richtigen Schlüsse ziehen. Wenige Tage zuvor hatte die Patientin wegen der Bauchschmerzen schon eine andere Klinik aufgesucht, da war die Lage nicht so akut gewesen. Die Ärzte hatten sie eineinhalb Tage dort behalten und mit der Diagnose »Magen-Darm-Entzündung« entlassen. Das sollte sich als Fehleinschätzung herausstellen. Der Patientin war es zu Hause kurzfristig besser gegangen, aber dann waren die Beschwerden wieder schlimmer geworden.

Die Frau erzählte meinen Kollegen, dass sie gern Sport treibe. Zwei Wochen zuvor war sie beim Snowboarden verunglückt. Jemand hatte sie umgefahren, sie war gestürzt, kurz bewusstlos gewesen und hatte sich eine Gehirnerschütterung zugezogen. Den Kollegen kam ein Verdacht: Vielleicht hatte der Unfall vor zwei Wochen ja etwas mit den Bauchschmerzen zu tun? Bei solch einem Zusammenstoß spannt sich die Bauchmuskulatur kräftig an. Wenn ein stumpfer Schlag dazukommt, erhöht sich der Druck im Bauch, und es kann zu inneren Blutungen kommen. Doch im Ultraschall war kein Hinweis auf eine Blutung zu sehen. Allerdings schien die Leber deutlich verlagert zu sein, vom rechten Rippenbogen hin zur Mitte des Körpers.

Bei einem Zusammenstoß passiert manchmal auch etwas anderes – wenn auch wesentlich seltener: Ein Teil des Zwerchfells kann reißen. Das Zwerchfell ist eine wenige Millimeter dicke Muskelschicht, die beim Menschen den Bauchraum mit Magen, Leber und Darm vom Brustkorb mit Lunge und Herz trennt. Risse im Zwerchfell sind meist sehr klein, bloß ein oder zwei Zentimeter lang. Das Problem ist, dass sie nicht von allein heilen, so wie eine Wunde in der Haut.

Das Röntgenbild, das die Kollegen mir in den OP schickten, zeigte die Ursache für die starken Bauchschmerzen: Zwischen Rippen und Leber hatte sich durch einen Riss im Zwerchfell eine Dickdarmschlinge weit nach oben in den Brustkorb geschoben – bis auf Höhe des Schlüsselbeins. 60 Zentimeter war diese Schlinge lang. So etwas hatte ich zuvor noch nie gesehen, das kommt absolut selten vor.

Noch am selben Abend habe ich die Frau operiert. Als wir die Bauchdecke aufschnitten, sah ich: An der Stelle, an der sich der Dickdarm durch den Zwerchfellriss gezwängt hatte, war der Darm abgeklemmt und schon minderdurchblutet. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Darmschlinge zu entfernen. Danach nähten wir den Defekt im Zwerchfell zu.

Es ist schwierig zu sagen, wie es genau zu dem Loch gekommen ist. In diesem Fall kann ich einen angeborenen Defekt so gut wie ausschließen. Die Frau hatte einige Jahre zuvor wegen Schmerzen an der Halswirbelsäule eine Kernspintomografie anfertigen lassen. Auf diesem Bild war kein Riss im Zwerchfell zu sehen, und alle Organe waren an dem Platz, an dem sie sein sollten. Außerdem hätte die Frau schwerlich ihre anstrengenden sportlichen Aktivitäten überstanden, wäre die Lunge bereits seit längerer Zeit eingezwängt gewesen. Vermutlich hatte die Patientin eine angeborene Zwerchfellschwäche, die den Riss beim Zusammenstoß auf der Skipiste begünstigt hat.

Die Frau ist heute wieder fit. Der gesunde Mensch hat etwa anderthalb Meter Dickdarm – aber man kann auch mit nur einem Meter gut leben.

Dr. Hans Haase ist Chefarzt der Abteilung für Allgemein-, Viszeral- und Minimalinvasive Chirurgie an der Asklepios Stadtklinik Bad Tölz.

AUF EX!

Ein Mann krümmt sich vor Bauchschmerzen. Im Magen finden die Ärzte etwas Unglaubliches – die Folge einer Torheit, die Jahrzehnte zurückliegt.

Von Dr. Gero Moog

Aufgezeichnet von Nicole Simon

Vor ein paar Jahren kam ein Mann mit Bauchschmerzen in die Praxis. Die Beschwerden traten vor allem im Oberbauch auf, dort, wo Magen, Milz und Leber sitzen, und zogen nach hinten bis zum Rücken. Am schlimmsten war es nach dem Essen, erzählte der Anfang-60-Jährige. Die Untersuchungen durch den Hausarzt hatten nichts Eindeutiges ergeben.

Ich tastete den Bauch ab; unter dem Druck meiner Finger tat er stärker weh, war aber nicht verhärtet. Die Darmgeräusche waren unauffällig. Im Ultraschall sahen Magen, Leber und Milz normal aus. Von den Schmerzen abgesehen, schien der Rentner gesund zu sein. Wir nahmen Blut ab und machten einen Termin für eine Magenspiegelung in ein paar Wochen. Vielleicht bereitete ihm ein Geschwür Probleme oder ein Reizmagen. Auch einen Tumor würden wir so ausschließen können.

Wir entließen den Patienten mit einem Schmerzmittel und einem Medikament, das die Bildung von Magensäure unterdrückt. Beschwerden im Oberbauch entstehen häufig, wenn der saure Verdauungssaft die Schleimhäute von Magen, Zwölffingerdarm oder Speiseröhre angreift. Ich hoffte, dass die Symptome so abklängen.

Doch schon nach wenigen Tagen war der Mann wieder da, er krümmte sich vor Schmerz. Wir machten die Magenspiegelung sofort. Meine Kollegin betäubte den Patienten und schob den dünnen Endoskopieschlauch durch die Speiseröhre bis in den Magen. Dort nahm die Kamera etwas äußerst Seltsames auf: Ein ungefähr 30 Zentimeter langer, dunkler, gekrümmter Fremdkörper lag im unteren Teil des Magens, er sah aus wie eine verkohlte, gekringelte Bratwurst. Das eine Ende steckte in einem Geschwür der Schleimhaut, am Übergang zum Zwölffingerdarm.

Meine Kollegin probierte, das Gebilde herauszuholen. Doch weder mit dem Greifer noch mit der Schlinge des Endoskopiebestecks ließ es sich fassen. Obwohl es hart aussah, bröckelte bei dem Versuch ein wenig von dem unbekannten Material ab. Meine Kollegin beendete die Spiegelung. Als der Patient erwachte, zeigten wir ihm die Aufnahmen. Er rätselte, was das sein konnte. Verschluckt hatte er nichts, sagte er. Doch irgendwie musste der Fremdkörper in seinen Magen gelangt sein. Verschwieg er uns etwas? Damit das Geschwür abheilen konnte, mussten wir das Objekt entfernen. Ich überwies den Patienten an die chirurgische Abteilung des Marienkrankenhauses. Die Kollegen operierten ihn am nächsten Tag. Was die Chirurgen zutage förderten, überraschte selbst die Erfahrensten unter ihnen sehr: Sie holten eine Schlange aus dem Magen. Das Reptil musste schon lange dort gelegen haben. Nur die Form ließ deutlich eine Schlange erkennen. Ihr Körper war schwarz, gekrümmt, hart und völlig mineralisiert. Normalerweise hätte sich das Tier durch den Einfluss der Magensäure auflösen müssen. So etwas hatten die Ärzte noch nie gesehen, sie waren perplex.

Kaum war der Patient erwacht, berichteten die Operateure ihm von der erstaunlichen Entdeckung. Er war peinlich berührt und schien sich nun wieder an etwas zu erinnern. So erzählte er, dass er als junger Mann für seinen Arbeitgeber in Südamerika gewesen sei. Dort habe man auch gebratenes Schlangenfleisch gegessen – eine Spezialität in vielen Ländern. Aus Übermut habe er zudem eine dünne, tote, rohe Schlange zusammen mit einem großen Schluck Schnaps runtergespült.

Wir überlegten, wie die Schlange jahrelang unverdaut im Magen hatte überdauern können. Vielleicht war es Gallenflüssigkeit gewesen, die in den Magen zurückfloss und das Tier derart hatte versteinern lassen. Die mineralische Konsistenz erinnerte den Pathologen, der das Gebilde begutachtete, an einen dunklen Gallenstein. Schließlich hatte das Reptil am Übergang zum Zwölffingerdarm gelegen, nahe am Ausgang des Gallengangs. Es konnte aber auch eine ganz andere Erklärung geben. Sicher war nur, dass die Schlange irgendwann so verrutscht war, dass sich die sehr harte Schwanzspitze langsam in die Magenschleimhaut gebohrt und so das Geschwür verursacht hatte.

Zwei Tage nach der Operation konnte der Mann das Krankenhaus verlassen. Das Geschwür verheilte schnell. Die Schlange gibt es noch immer: Sie liegt in der Pathologie des Krankenhauses in einem Schrank.

Dr. Gero Moog ist Gastroenterologe in einer Facharztpraxis am Marienkrankenhaus in Kassel.

SCHWARZE VERSUCHUNG

Ein Blutwert einer Patientin gibt den Ärzten Rätsel auf: zu wenig Kalium, Ursache unklar. Als der Oberarzt hört, dass sie sich gerade hat scheiden lassen, glaubt er, die Lösung zu kennen. Doch eine Studentin weiß es besser.

Von Dr. Kirsten Holsteg

Sommer 1991. Im Radio lief »I’m Too Sexy« von der britischen Gruppe Right Said Fred. Und ich war in der letzten Phase meines Medizinstudiums, dem Praktischen Jahr, eingeteilt in der Inneren Abteilung eines kleinen Krankenhauses. Der Oberarzt, den ich in Gedanken Dr. med. Fred nannte, war auch too sexy für sein Shirt – er stellte seine durchtrainierte Brust- und Oberarmmuskulatur gern in engen Poloshirts zur Schau. Auch in intellektueller Hinsicht war er sehr von sich überzeugt, insbesondere hielt er sich für einen exzellenten Diagnostiker.

Meine Aufgabe war es, neue Patienten zu untersuchen und ihm im Rahmen der Visite die Krankengeschichte vorzutragen, sodass er mit seinen Diagnosen und Therapievorschlägen brillieren konnte.

An einem besonders heißen Sommertag – Dr. Fred trug ein besonders enges Shirt – berichtete ich ihm über eine junge Frau. Sie litt seit langer Zeit unter Kaliummangel, der sich trotz Einnahme von Kaliumtabletten immer weiter verstärkte. Seit Jahren war sie immer wieder von verschiedenen Ärzten untersucht worden, ohne dass diese eine Ursache gefunden hatten.

Kalium ist ein Blutsalz, das unter anderem die Herzmuskelzellen stabilisiert – ein Mangel kann zu lebensgefährlichen Herzrhythmusstörungen führen. Die Patientin war ansonsten völlig gesund, fröhlich und sah gut aus. Vor einem Jahr hatte sie sich scheiden lassen. Aha, meinte Dr. Fred, klarer Fall, sie nehme Abführmittel, um schlank zu bleiben. Das ist in der Tat die häufigste Ursache für einen Kaliummangel, und ich hatte die junge Frau eingehend dazu befragt. Sie hatte jedoch verneint, und ich sah keinen Grund, ihr nicht zu glauben. Nein, nein, belehrte mich Dr. Fred, das könne ich natürlich noch nicht wissen, aber diese schlanke Patientin in ihrer psychisch angespannten Situation – ach ja, er meinte die Scheidung, aber die schien die Frau meines Erachtens nicht zu belasten – sei nach seiner immensen Erfahrung geradezu ein Lehrbuchbeispiel für Abführmittelmissbrauch.

Die Stationsschwester, eine blasse Frau mittleren Alters, die der Visite wie gewohnt still beigewohnt hatte, sollte die Patientin nun zum EKG bringen. Währenddessen werde er, sagte Dr. Fred, persönlich ihren Nachttisch und ihren Schrank durchsuchen (die Schwester schnappte hörbar nach Luft), und wenn er keine Abführmittel finde, werde er einen Besen fressen! Die Schwester lief rot an, wir redeten auf Dr. Fred ein, ein solcher Eingriff in die Privatsphäre sei nicht vertretbar. Die Schwester wandte sich entrüstet ab, und ich verschwand für den Rest des Tages in der Bibliothek, um nach Ursachen für Kaliummangel zu suchen.

Erbrechen, Durchfall, übermäßige Ausscheidung bei bestimmten Nierenerkrankungen – alles war schon im Vorfeld durch den Hausarzt ausgeschlossen worden. Bestimmte Medikamente, die die Ausscheidung über die Nieren beeinflussen – Fehlanzeige. Abführmittel, Lakritz.

Lakritz? Lakritz! Ich machte einen Besuch im Patientenzimmer und fragte die junge Frau beiläufig, was sie denn gern nasche. Mit leuchtenden Augen zog sie ihre Nachttischschublade heraus, die bis zum Rand gefüllt war mit Lakritzvariationen. Zwei bis drei Packungen leere sie täglich, sagte sie. Das ist weit mehr als die empfohlene Höchstmenge, 70 Gramm Lakritze pro Tag. Ein klassischer Fall von »Lakritz-Abusus«. Am nächsten Morgen ging ich in Dr. Freds Büro und fragte ihn, wie er den Besen gern verspeisen wolle. Mit Salz oder mit Pfeffer? Und ob er im Nachttisch Abführmittel gefunden habe. Hatte er natürlich nicht. Sonst auch nichts? Die Lakritze hatte er offenbar nicht weiter beachtet. Ich erklärte ihm, dass darin ein Stoff enthalten ist, der den Substanzen in Abführmitteln chemisch sehr nahe steht.

Die Diagnose war gestellt, die Patientin geheilt, weitere belastende und teure Untersuchungen abgewendet. Und Dr. Fred verhielt sich souverän: Bei der nächsten Chefarztvisite berichtete er vor allen Kolleginnen und Kollegen von dem interessanten Fall, seinem Irrtum und meiner Diagnose. Right, Dr. Fred, dafür bewundere ich Sie bis heute.

Dr. Kirsten Holsteg war damals noch Studentin; heute arbeitet sie als Fachärztin für diagnostische Radiologie in Frankfurt am Main.

AUF DEM HOLZWEG

Ein Mann hat Schmerzen beim Wasserlassen. In der Notaufnahme berichtet er dem Arzt, was er Seltsames an sich entdeckt hat. Der Mediziner hegt einen pikanten Verdacht – und wird schließlich überrascht.

Von Dr. Norman Schöffel

Aufgezeichnet von Bernhard Albrecht

Am meisten lügen wir, wenn es um Sex geht – das habe ich irgendwo mal gelesen. Als Arzt habe ich rund um dieses Thema bei Patienten manches erlebt. Nur sollte einen das Wissen um die menschliche Natur nicht dazu verleiten, vorschnelle Schlüsse zu ziehen.

Der Rentner stellte sich an einem grauen Herbsttag in der Rettungsstelle der Klinik vor, an der ich damals arbeitete. Er erzählte uns eine seltsame Geschichte. Am Abend zuvor habe er beim Wasserlassen Schmerzen in der Blasengegend verspürt. Als er an sich hinuntersah, habe er einen kleinen Holzspieß entdeckt, dessen Spitze in der Öffnung der Harnröhre festsaß. Kurz entschlossen habe er diesen herausgezogen. Dann präsentierte er mir das Stück.

Mein erster Gedanke war: Den hat er sich selbst reingeschoben, aus welchen Gründen auch immer. Wie soll der Spieß sonst dorthin gelangt sein? Und jetzt will er vermutlich wissen, ob er sich dabei verletzt hat. Die Überlegung ist nicht abwegig. Öfter haben wir ähnliche Fälle in unserer Notaufnahme: Menschen, die sich mit einem Fremdkörper sexuell stimulieren – und dann geht dabei etwas schief.

Einen Patienten hatte ich selbst wenige Monate zuvor aufgenommen. Ein junger Mann, unauffälliger Typ, hatte über unklare Unterleibsschmerzen geklagt. Im Gespräch druckste er herum, sodass ich keine Ursache näher in Betracht ziehen oder ausschließen konnte und ihn zum Röntgen schickte. Die Aufnahme offenbarte, woran er litt – im Enddarm steckte ein Marmeladenglas.

Doch eines irritierte mich bei dem neuen Fall: Patienten mit Verletzungen dieser Art sind schüchtern und rücken nicht mit der Wahrheit heraus. Der Mann aber hatte den Hergang so klar und ohne jede Scham beschrieben. Er wirkte absolut glaubwürdig.

Ich rief die diensthabende Oberärztin an. Im Gespräch kamen wir auf eine heiße Spur. Danach fragte ich den Patienten: »Was haben Sie in den vergangenen Tagen gegessen?« Er sagte: »Rollmops.« Dabei habe er einen Spieß versehentlich mit verschluckt. Ich stutzte. Warum erzählte er das erst jetzt? »Sind Ihnen weitere Symptome aufgefallen? Trat zum Beispiel auch Luft beim Wasserlassen aus?« Seine Augen wurden groß. »Woher wissen Sie …?« Ich hakte nach: »War der Urin mal braun verfärbt?« Er verneinte.

Nach einer Blasenspiegelung waren wir sicher: Die Untersuchung offenbarte eine Öffnung an der hinteren Blasenwand. Wohin sie führte, darüber konnten wir vorerst nur spekulieren: zum Dickdarm. Eine Darmspiegelung bestätigte zunächst den Verdacht zwar nicht – aber auch mit unseren besten Geräten sehen wir nicht alles.

Eine Operation brachte schließlich den Beweis. Unser Patient litt an einer chronischen Entzündung des Darms. Sie hatte auf das umliegende Gewebe im Bauchraum übergegriffen und die Blase penetriert. Im Entzündungsgewebe hatte sich schließlich eine röhrenförmige Verbindung zwischen Darm und Harnblase entwickelt, eine Fistel. Durch diese war der verschluckte Rollmopsspieß in die Blase gelangt.

Auch die Ursache für die Entzündung fanden wir: Dickdarm-Divertikel, eine sehr häufige krankhafte Veränderung, die schon im mittleren Lebensalter unbemerkt beginnen kann. Divertikel sind sackförmige Ausstülpungen in der Darmwand, die sich leicht entzünden können.

Wir entfernten unserem Patienten etwa 30 Zentimeter Darm. Dadurch wurde er geheilt, er wird wohl keine Divertikel mehr bekommen.

Der Mann nahm unsere überraschende Erklärung gleichmütig entgegen. Ich glaube, nur wir sahen etwas Spektakuläres darin. Er war einfach nur dankbar, dass seine Beschwerden ein rasches Ende hatten. Sein Glück war groß, denn eine Divertikelentzündung kann auch auf die ganze Bauchhöhle übergreifen – und das ist lebensgefährlich.

Ich habe dabei gelernt, Patienten öfter zu glauben, was sie erzählen, anstatt gleich mein Urteil über sie zu fällen.

Dr. Norman Schöffel ist Assistenzarzt in der Viszeralchirurgie und habilitiert an der Universitätsklinik Frankfurt am Main.

MIT HAUT UND HAAREN

Das Handgelenk einer Frau schmerzt und schwillt an. Sie muss operiert werden. Der Chirurg findet schließlich die Ursache der Entzündung: ein Haargummi.

Von Dr. Amit Gupta

Aufgezeichnet von Astrid Viciano

Die junge Frau kam abends gegen 23 Uhr in unsere Notaufnahme. Sie war sehr nervös und ängstlich und berichtete, dass sie unter starken Schmerzen im rechten Handgelenk leide. Ich hatte in jener Nacht Dienst und befragte die 28-Jährige. Sie ziehe gerade um, erzählte sie weiter. Deshalb sei sie in den vergangenen Tagen so beschäftigt gewesen, dass sie den merkwürdigen Zustand ihres Handgelenkes kaum beachtet habe – es war angeschwollen. Erst als die Schwellung stärker geworden war, hatte sie ihren Hausarzt aufgesucht. Der verschrieb ihr ein Breitbandantibiotikum. Doch das Gelenk war trotz der Behandlung zunehmend dicker geworden.

Inzwischen habe sie Fieber und Schüttelfrost und leide ständig unter Schmerzen. Sofort untersuchte ich die Patientin: Ihr Puls war normal, ihr Blutdruck ebenfalls, ihre Lungen unauffällig. Nur ihr rechtes Handgelenk war stark angeschwollen. Dort war die Haut sehr warm und druckempfindlich und glänzte. Die Schwellung maß etwa eineinhalb mal zwei Zentimeter. Ich musste nicht lange nachdenken – die Frau hatte offensichtlich einen Abszess am Handgelenk.

Doch wie war der entstanden? Ich vermutete zunächst, dass sie sich mit antibiotikaresistenten Bakterien infiziert hatte. So kommt es zum Beispiel vor, dass Menschen im Fitnessstudio auf den Oberflächen der Geräte mit den Erregern in Kontakt kommen, diese dann mit dem Schweiß der Haut in die Haarfollikel geraten und schließlich unter die Haut. Doch die Patientin hatte in der letzten Zeit kein Fitnessstudio besucht. Auch ein Insektenbiss kam infrage, zum Beispiel von einer Spinne. Oder eine Infektion durch eine verunreinigte Spritze, häufig bei Drogenabhängigen. Doch auch das verneinte die Patientin. Ich ließ ihr Blut abnehmen, um mehr über die Infektionserreger zu erfahren.

Bevor ich weiter nach der Ursache fahnden konnte, musste ich handeln. Ich ließ der Frau Schmerzmittel geben sowie intravenös ein spezielles Antibiotikum – ein Medikament, das besagte resistente Bakterien erfolgreich bekämpft. Dann verabschiedete ich mich für die Nacht.

Am nächsten Morgen operierte ich die Patientin. Unter Regionalnarkose, bei der ihr rechter Arm betäubt wurde, öffnete ich den Abszess mit einem Längsschnitt und ließ den Eiter ab, der sich angestaut hatte. Dann füllte ich die Wunde mit Mull aus, um eine weitere Ansammlung von Eiter oder Wundflüssigkeit zu verhindern.

Die Ursache des Abszesses kannte ich allerdings noch immer nicht. Die Frau berichtete mir, dass sie ein paar Tage zuvor einen Kratzer in der Haut entdeckt hatte, der vermutlich während des Umzugs entstanden war. Das allein brachte mich jedoch nicht weiter. Schließlich erhielt ich die Ergebnisse der Blutkultur – gleich drei verschiedene Bakterien hatten sich im Abszess angesiedelt: Staphylococcus aureus, Streptococcus anginosus und Prevotella buccae. Überraschend war, dass alle drei Erreger typischerweise in der Mundhöhle vorkommen. Dort lösen sie keine Infektion aus – unter der Haut allerdings schon. Schließlich stellt unsere Haut einen wichtigen Schutzschild des Körpers dar. Sie bewahrt uns vor vielen lästigen oder auch gefährlichen Erregern, die in der Umwelt vorkommen. Oder eben in der Mundhöhle.