Die Diebe von London - Renée Holler - E-Book

Die Diebe von London E-Book

Renée Holler

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Beschreibung

Auf der Flucht vor ihrem bösen Onkel, kommt Alyss nach London und wird prompt bestohlen. Sie ahnt nicht, dass hinter jeder Ecke noch weit größere Gefahren lauern. Niemand ist sicher! Nur Jack, der Taschendieb, fürchtet sich nicht. Die dunklen Gassen der Stadt sind sein Zuhause. Bis zuerst sein jüngerer Bruder spurlos verschwindet, und dann sogar Alyss. Werden Jack und seine Bande es schaffen, das düstere Geheimnis zu lösen, oder sind die Kinder für immer verloren? Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt…

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RENÉE HOLLER

Mit Illustrationen von Bernd Lehmann

Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

© 2014 arsEdition GmbH, München

Das Buch erschien 2013 unter dem Titel Das Geheimnis des goldenen Salamanders bei bloomoon, ein Imprint der arsEdition GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Renée Holler, vertreten durch die Agentur Hanauer, München

Covergestaltung: Inkcraft, Melanie Miklitza, München

Innenillustrationen: Bernd Lehmann

Lektorat: Kristin Neugebauer

Umsetzung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN eBook 978-3-8458-0896-3

ISBN Printausgabe 978-3-8458-0770-6

www.arsedition.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Inhalt

Alyss

Jack

Der Salamander

Rotschopf

Ankunft in London

Nachforschungen

Feen, Riesen, Menschenfresser

Verzaubert?

Der Dieb

In der Patsche

Aussichtslos

Zufall?

Ratten

Im Zauberhaus

Entkommen

Der Goldschatz der Girona

Zur silbernen Nixe

Verpasst

Gefangen

Eine nächtliche Aktion

Ein neues Versteck

Ein belauschtes Gespräch

Der Häscher

Der Plan

Das Geheimnis des goldenen Salamanders

Allein und verlassen

Schiff ahoi

Alyss

Hatton Hall, Freitag, 6. September 1619

Alyss blieb atemlos stehen. Die Schritte näherten sich, ihre Verfolger würden jeden Augenblick um die Ecke stürzen. Sie musste sich beeilen, denn die Jungen durften sie auf keinen Fall einholen. Sie hatte das Ende des langen Flurs erreicht. Es ging nicht mehr weiter. Rechts führte eine Tür in Vaters Arbeitszimmer, in dem sich Onkel Humphrey eingenistet hatte, links lag die Tür zur Bibliothek. Da die Ratcliffs Bücher verabscheuten, war dies der beste Platz, um sich zu verstecken. Hastig drückte sie die Klinke und schlüpfte in den Raum.

Obwohl es noch Tag war, herrschte hier Dämmerlicht. Die schweren Damastvorhänge waren zugezogen, um die Bücher vor dem Sonnenlicht zu schützen. Nur ein schmaler Lichtstrahl schien durch einen Spalt. Aber Alyss fand sich in der Bibliothek blind zurecht. Vor allem seit ihr Vater in der Neuen Welt verschollen war, hatte sie viele Stunden zwischen den geliebten Büchern verbracht. Sie atmete tief ein. Nichts spendete mehr Trost als der vertraute Geruch nach Leder, Papier und Druckfarbe. Alyss horchte auf. Die Stimmen aus dem Gang klangen bedrohlich nah. Die Zeit war knapp. Sie hastete um den schweren Tisch herum auf das Bücherregal rechts vom offenen Kamin zu. Es reichte vom Boden bis zur Decke. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, schob vorsichtig ihre Hand zwischen zwei Lederbände auf dem fünften Regalbrett und tastete die Wand hinter den Büchern ab. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Vor lauter Aufregung konnte sie den Hebel, der dort verborgen war, nicht gleich finden. Im Flur war es plötzlich still geworden. Doch schon einen Augenblick später konnte man die Jungen flüstern hören. Sie waren vor der Tür zur Bibliothek stehen geblieben. Alyss musste sich beeilen.

Endlich! Der Hebel. Es gelang ihr, ihn zu fassen. Sie drückte ihn nach unten und presste ihr Gewicht gegen das Holzregal. Mit einem dumpfen Klicken gab es nach, und die ganze Wand, mitsamt den Büchern, bewegte sich leise quietschend nach hinten. Wie von Zauberhand klaffte zwischen dem Mauerwerk des Kamins und dem Regal ein dunkler Spalt. Alyss raffte ihre Röcke und zwängte sich durch die Öffnung. Dahinter war gerade genug Platz für eine Person. Sie drückte sich dicht an die Mauer und schob mit einem Ruck das Regal zurück. Danach hielt sie einige Herzschläge lang den Atem an und lauschte. In der Bibliothek regte sich nichts. Vermutlich hatten sich die Jungen entschlossen, zunächst im Arbeitszimmer nach ihr zu suchen.

Seit die drei Brüder vor ein paar Monaten hier eingezogen waren, hatten sie nicht aufgehört, sie zu schikanieren. Wenigstens hatte Alyss ihnen gegenüber einen großen Vorteil: Sie war auf Hatton Hall aufgewachsen und kannte jeden Winkel. Schaudernd dachte Alyss an das letzte Mal, als die Ratcliff-Jungen sie erwischt hatten. Sie hatten sie in den hinteren Teil des Gartens gezerrt, um sie an den Stamm einer Eiche zu fesseln. Danach hatten sie neben ihren Füßen ein Feuer angezündet, sie als Hexe beschimpft und ihr ins Gesicht gespuckt. Wenn der Gärtner nicht im letzten Augenblick aufgetaucht wäre, wer weiß, wie das grausame Spiel geendet hätte. Vor einer Woche hatten sie ihr eine tote Ratte ins Bett gelegt und gestern war sie von ihnen den ganzen Tag lang in den Keller gesperrt worden. Es war nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn die Jungen sie dieses Mal erwischten. Trotz des warmen Tages begann Alyss plötzlich zu frösteln. Sie konnte die klamme Mauer hinter ihrem Rücken durch ihr Mieder spüren. Zumindest war sie hier zunächst sicher.

Alyss hatte den Tag, an dem sie den geheimen Raum zum ersten Mal gesehen hatte, nie vergessen. Der Vater hatte ihr in der Bibliothek von seiner Kindheit erzählt, von jener Zeit, als Königin Elisabeth das Land regierte und es unter Todesstrafe verboten war, die katholische Messe zu lesen. Alyss konnte sich noch gut daran erinnern, wie entsetzt sie darüber gewesen war. In Hatton Hall, hatte ihr Vater sie beruhigt, sei kein Priester zu Schaden gekommen. Dann war Ralph Sinclair zum Bücherregal gegangen, sodass Alyss gemeint hatte, er wollte ihr ein Buch zeigen. Stattdessen hatte er das Regal zur Seite geschoben und den Eingang zum Hohlraum enthüllt. Er hatte ihr erklärt, dass dies ein Priesterloch sei, in dem sich die Geistlichen bei Gefahr hatten verstecken können. Damals ging es um Leben und Tod. Heute ... Alyss lauschte. Die Stimmen der Jungen im Gang waren hinter der Bücherwand nur noch gedämpft zu hören.

Auf Augenhöhe befand sich in dem Versteck ein Guckloch, durch das man bequem in die Bibliothek blicken konnte. Nur kleine Staubpartikel tanzten im schmalen Sonnenstrahl, der durch den Spalt in den Vorhängen fiel. Doch dann wurde die Tür aufgerissen und George, Henry und Toby stürmten in den Raum.

George, der älteste der drei Brüder, stapfte siegessicher Richtung Fenster und riss die Vorhänge auf. Doch außer Spinnweben und Staub konnte er hinter den Stoffbahnen nichts entdecken.

»Vielleicht ist sie in die Truhe rein.« Henry, sein jüngerer Bruder, begann in der Holztruhe, in der Alyss’ Vater Landkarten aufbewahrte, zu wühlen. Es war unerträglich, durchs Guckloch zu beobachten, wie der Junge die kostbaren Karten achtlos auf den Boden warf. Schließlich ließ er enttäuscht den Deckel der Truhe zufallen. »Hier sind überall nur olle Bücher. Vielleicht ist die dumme Gans doch in die andere Richtung gelaufen.«

Doch George, sein Gesicht vor Anstrengung rot angelaufen, schüttelte den Kopf. »Überlegt doch mal. Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Im Zimmer auf der anderen Seite des Flurs war sie nicht, also muss sie hier sein.«

Alyss’ Herz klopfte inzwischen so laut, dass sie überzeugt war, man würde es auf der anderen Seite hören.

»Vielleicht ist sie aus dem Fenster raus.« Toby, der jüngste der drei, kroch unter dem Schreibtisch hervor. Im Gegensatz zu seinen beiden Brüdern war er mager und blass.

»Quatsch. Das ist doch viel zu hoch.« George sah sich im Zimmer um, dann begann er zu grinsen »Henry. Guck doch mal in den Kamin hoch. Wetten, sie hat sich dort versteckt.«

Pflichtgetreu befolgte der Bruder die Anordnung und griff nach dem Schürhaken. Obwohl Alyss ihn vom Guckloch aus nicht sehen konnte, hörte sie, wie er damit im Rauchabzug herumstocherte.

»Nichts«, meinte er schließlich. »Entweder, sie hat sich in Luft aufgelöst, oder ...«

»Ich weiß, was passiert ist«, unterbrach Toby eifrig. »Sie hat sich unsichtbar gemacht.«

»Wie kommst du denn da drauf?«

»Na, Mama sagt doch immer, dass Tante Dolores eine spanische Hexe war. Ist doch logisch, dass Alyss auch eine Hexe ist. Genau wie ihre Mutter. Und Hexen können sich unsichtbar machen.«

Alyss verspürte einen Stich, als der Junge den Namen ihrer Mutter erwähnte. Sie war bei ihrer Geburt gestorben, trotzdem war sie ihr immer sehr nah gewesen, denn ihr Vater hatte viel von ihr erzählt. Ralph Sinclair hatte sich auf einer seiner Reisen in die junge Frau verliebt und sie mit sich zurück nach England gebracht. Tatsächlich war sie Spanierin gewesen, doch eine Hexe gewiss nicht.

»Unsinn!«, meinte auch George. Verärgert, dass Alyss ihnen entwischt war, schlug er mit der Faust krachend auf den Tisch. Dann schritt er zwischen Regal und Tisch hin und her, so nah am Guckloch vorbei, dass Alyss meinte, seinen sauren Schweiß riechen zu können. Plötzlich hielt er an und ließ sich auf den gepolsterten Armstuhl neben dem Tisch fallen. Er faltete seine Hände über seinem beträchtlichen Bauch und streckte die kurzen Beine von sich.

»Schade, die blöde Ziege ist vermutlich in die andere Richtung gerannt.« Er seufzte, doch dann zog sich ein breites Grinsen über sein Gesicht. »Das nächste Mal wird sie nicht so leicht davonkommen.« Er leckte sich genussvoll die Lippen. »Ich kann’s kaum erwarten, bis Papas Häscher sie in die Finger kriegt. Gegen den hat sie nicht die geringste Chance.«

»Welcher Häscher?«, fragte Henry. Auch der kleine Toby, der gerade Ralph Sinclairs Globus entdeckt hatte und mit dem Finger um die Achse drehte, hielt interessiert inne.

Eine Weile konnte man nur hören, wie George mit seinem Stiefelabsatz gleichmäßig auf die Dielen klopfte. Das Pochen wurde immer schneller, bis es jäh aufhörte.

Alyss in ihrem Versteck hielt erregt die Luft an.

»Papa hat sich einen genialen Plan ausgedacht, wie er sich Alyss vom Hals schaffen kann«, verkündete George schließlich, während er selbstgefällig grinste. »Sie wird bald für immer von hier verschwinden.«

Was sollte das bedeuten? Alyss lief ein kalter Schauer über den Rücken. Hatton Hall war ihr Zuhause. Auch wenn sich in den vergangenen Monaten viel geändert hatte, war sie stets davon überzeugt gewesen, dass die Ratcliffs sich nur vorübergehend einquartiert hatten. Nachdem ihr Vater von seiner letzten Seereise nicht zurückgekehrt war, hatte der Staat Onkel Humphrey, einen entfernten Vetter ihres Vaters, als ihren Vormund ernannt. Sie war erst zwölf und konnte sich nicht allein um das Landgut kümmern. Kurz darauf war Onkel Humphrey mit seiner ganzen Familie – Cybill, seiner Frau, und George, Henry und Toby, seinen drei Söhnen – angerückt.

Alyss hatte schon bald gemerkt, dass Humphrey nie das Wohl seines Mündels im Auge hatte, sondern nur seine eigenen Interessen, denn vom ersten Tag an verhielten sich die Ratcliffs, als seien sie die Herren von Hatton Hall, und behandelten Alyss wie eine Küchenmagd. Der Vormund entließ den Gutsverwalter Thomas und seine Frau Beth, die sich stets wie eine Mutter um das Mädchen gekümmert hatte. Selbst der alte Gärtner und der Stallknecht wurden ausgewechselt. An den ewigen Haferbrei, den man ihr neuerdings zu essen gab, hatte sie sich schon fast gewöhnt. Doch dass die Ratcliffs nun vorhatten, Alyss ein für alle Mal aus dem Weg zu schaffen, das hätte sie niemals für möglich gehalten. Sie drückte ihr Auge dichter ans Guckloch.

»Alyss geht fort von hier?«, staunte Henry. »Wieso?«

»Nicht freiwillig, du Dummkopf. Vater wird sie gegen ihren Willen wegschaffen.«

»Erzähl schon.« Einen Augenblick lang konnte man keinen Laut hören.

»Erinnert ihr euch an Vaters neuen Freund, der vor einigen Wochen hier auftauchte?«, begann George schließlich.

»Den Mann aus London mit der großen Nase?« Henry schnippte mit den Fingern.

»Genau der!« George senkte seine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern: »Papa hat ihn beauftragt, das Mädchen zu beseitigen.«

Beseitigen? Was hatte der Onkel mit ihr vor? Plötzlich hatte Alyss das Gefühl, dass ihr im Priesterloch die Luft ausging.

»Woher willst du das wissen?«

»Ich habe ihr Gespräch vom Flur aus mitgehört.« Der ältere Bruder blickte die beiden jüngeren triumphierend an, während er sich eine fettige Haarsträhne aus der Stirn strich.

»Und? Was haben sie besprochen?«

»Also, erst mal waren sich beide einig, dass Vater ohne Alyss Herr von Hatton Hall wäre.«

»Aber Vater ist ihr Vormund. Er hat doch ohnehin das Sagen«, erwiderte Henry.

»Nur solange sie noch ein Kind ist. Du Blödmann! Wenn sie volljährig wird, ändert sich das. Sie wird das Landgut erben, und unsere Familie wird wieder so arm wie die Kirchenmäuse sein. Und deswegen soll Alyss von hier weg.« Seine Stimme war so leise geworden, dass Alyss ihn nur noch mit Mühe verstand. »Papas Freund hat dann angeboten, das zu erledigen. Als Gegenleistung soll Papa irgendwas für ihn suchen. Auf jeden Fall wird der Mann bald wiederkommen, um sich Alyss zu holen.«

»Und was hat er mit ihr vor?«

George zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Mama kam den Gang entlang und ich habe den Rest nicht mehr mitbekommen. Ich kann mir da allerdings so einiges vorstellen, wie man ein Mädchen auf Nimmerwiedersehen loswird. Zum Beispiel könnte er sie in einen Sack stecken und wie eine Katze im Fluss ersäufen.«

Alyss schauderte. Das würde sie den Jungen tatsächlich zutrauen.

»Wie wäre es mit Bedlam?« Auch Henry schien es zu gefallen, sich auszumalen, wie man Alyss fortschaffen könnte. Vor Aufregung waren seine abstehenden Ohren rot angelaufen.

»Bedlam?«, unterbrach ihn Toby. »Was ist das?«

»Das ist ’ne Klapsmühle in London, in die sie Irre stecken. Wer dort landet, kommt nicht so schnell wieder raus.«

»Aber Alyss ist doch nicht verrückt.«

»Egal. Das spielt keine Rolle.«

»Und jetzt? Sollen wir weiter nach ihr suchen?« Toby blickte fragend von Henry zu George.

»Nee. Keine Lust mehr.« George erhob sich vom Armstuhl und ging auf die Tür der Bibliothek zu. »Ich habe eine bessere Idee. Wir gehen in die Küche. Dort roch es vorhin nach Mandelpastetchen. Alyss können wir ruhig Papas Freund überlassen.«

Das ließen sich seine beiden Brüder nicht zweimal sagen. Einen Augenblick später schlug die Bibliothekstür zu und die Schritte der Jungen verhallten im Gang.

Alyss dagegen rührte sich nicht von der Stelle. Wie gelähmt stand sie in ihrem Schlupfwinkel hinter dem Regal. Nach einer Weile sank sie zu Boden und schlang ihre Arme um die Knie. Sie begann am ganzen Leib zu zittern. Obwohl sie fest entschlossen war, nicht zu weinen, traten ihr Tränen in die Augen und begannen die Wangen hinabzukullern. Noch nie hatte Alyss sich so alleine und so verlassen gefühlt. Am liebsten hätte sie sich hier im Priesterloch wie in einem Schneckenhaus verkrochen und ihr Versteck nie wieder verlassen. Aber während sie hinter dem Bücherregal langsam verhungerte, würde der Besitz ihres Vaters an Onkel Humphrey gehen. Nein, das durfte sie auf keinen Fall geschehen lassen. Sie musste handeln und Hatton Hall vor den bösen Plänen des Onkels beschützen. Entschlossen schniefte sie und wischte sich die Tränen aus den Augen. Eines war klar: Sie musste weg von hier, bevor Onkel Humphreys Häscher zurückkam.

Wie sehr sie ihren Vater vermisste! In Gedanken konnte Alyss ihn deutlich an seinem Schreibtisch sehen, über Seekarten gebeugt, die schulterlangen braunen Haare hinter die Ohren geklemmt. Egal wie beschäftigt er gewesen war, für Alyss hatte er immer Zeit gehabt, und früher, als sie klein gewesen war und sich vor allen möglichen Dingen gefürchtet hatte, brauchte sie nur auf seinen Schoß zu klettern. Er hatte sie getröstet, bis alles wieder gut war. Aber ihr Vater war nicht hier. Er würde nicht vom Meeresgrund zurückkehren, um die Ratcliffs aus dem Haus zu verjagen und Thomas und Beth wieder einzustellen.

Ralph Sinclair war nun schon vor mehr als einem Jahr sorglos und zuversichtlich, wie so oft zuvor, in die Neue Welt gesegelt. Alyss wusste, dass er im Auftrag des Königs reiste, um Seine Majestät mit Berichten aus den Kolonien zu versorgen. Sosehr ihr der Vater jedes Mal fehlte, hatte sie nie daran gezweifelt, dass er nach jeder abenteuerlichen Expedition wohlbehalten zu seiner Tochter nach Hatton Hall zurückkehren würde. Die traurige Nachricht, die Alyss genau acht Wochen nach seiner Abreise erhielt, traf sie völlig unvorbereitet. Wie konnte es möglich sein, dass die Aurora mitsamt ihrer Besatzung und ihrem Vater nie in Jamestown angekommen war? Das Schiff, vom Ozean verschluckt, spurlos verschwunden blieb? Trotz aller Vermutungen, dass sie Schiffbruch erlitten hätten und die Mannschaft ertrunken sei, hoffte Alyss noch immer auf die Rückkehr ihres Vaters. Sie glaubte fest daran, ihren Vater eines Tages wiederzusehen, und dann würde alles endlich wieder gut werden. In der Zwischenzeit musste sie etwas unternehmen. Doch was konnte eine Zwölfjährige allein gegen einen erwachsenen Mann ausrichten? Absolut gar nichts. Sie musste Hilfe holen. Aber wen? Außer den Ratcliffs hatte sie keine Verwandten, und sie hatte keine Ahnung, wohin es die treuen Diener Thomas und Beth verschlagen hatte. Plötzlich durchzuckte sie eine Erinnerung. Ja, natürlich ... das war es. Da gab es doch noch jemanden, der ihr helfen könnte. Jetzt brauchte sie nur noch einen Plan.

Jack

London, Freitag, 6. September 1619

Jack hockte mit den anderen Kindern der Bande auf Molls Dachboden. Wie jeden Abend wurden sie dort in der Kunst des Diebstahls unterwiesen. Doch Jack konnte sich nicht konzentrieren. Er musste heute besonders oft an seinen Bruder denken. Ned war seit genau fünf Wochen spurlos verschwunden.

»Ihm ist sicher nichts passiert«, hatten ihn die anderen Bandenmitglieder immer wieder aufgemuntert. »Die haben ihn nur beim Klauen erwischt und ins Heim gesteckt. Die Kinder werden schon nach ’n paar Wochen entlassen. Er taucht sicher bald hier auf. Und vergiss nicht, sie waren zu zweit. Guy ist schon fast vierzehn und gibt sicher auf den Kleinen acht.«

Doch Jack ließ sich nicht trösten. Trotz aller Ermutigungen befürchtete er das Schlimmste. Natürlich hatten seine Freunde recht. Wenn ein Taschendieb Pech hatte und von einem Wachmann auf frischer Tat ertappt wurde, steckte man ihn oft für einige Wochen nach Bridewell. Das ehemalige Schloss, zwischen Themse und Fleet Street gelegen, war kein Gefängnis, sondern nannte sich Besserungsanstalt. Dort sollten Bettler, Landstreicher, Taschendiebe und Verbrecher zu ordentlichen Bürgern umerzogen werden. Doch die Anstalt unterschied sich kaum von den Gefängnissen der Stadt. Jack hatte von einem ehemaligen Insassen erfahren, dass es in Bridewell hart zuging. Man musste von früh bis spät arbeiten und bekam nur Haferschleim zu essen. Wie sollte der achtjährige Ned, der ohnehin schon schwächlich war, das überstehen? Zudem hatte Jack heute herausgefunden, dass die meisten Kinder tatsächlich nach vier Wochen entlassen wurden. Er konnte nicht mehr nur auf den Bruder warten, sondern musste handeln.

Plötzlich sah Jack die Kammer vor sich, in der er mit Ned und seiner Mutter nach dem Tod des Vaters gehaust hatte. Damals hatten sie ständig gefroren. Es war kaum Geld für ausreichend Essen, geschweige denn für Holz zum Heizen vorhanden gewesen. Dann eines Tages konnte die Mutter nicht mehr aufstehen. Sie lag auf der Strohmatratze, ihr Gesicht glühend vor Fieber. Mit schwacher Stimme hatte sie Jack, der damals selbst erst acht Jahre alt gewesen war, gebeten, immer auf seinen vierjährigen Bruder aufzupassen. Erst als ihr Jack sein Wort gegeben hatte, schloss die Mutter beruhigt die Augen. In der folgenden Nacht starb sie.

»Jack!« Molls tiefe Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Die große, kräftige Frau, die nie einen Rock, sondern immer nur Männerhosen, Hemd und Wams trug, blickte ihn erwartungsvoll an. »Na los! Erklär dem Neuen den Scherengriff.«

Doch Jack starrte immer noch mit leerem Blick vor sich hin.

»Verdammt noch mal, Jack! Ich dachte, du bist ’n Meistertaschendieb, mein bester Schüler. Aber statt aufzupassen, bist du heute so ’n richtiger Dussel.« Während sie ihn tadelte, turnte Orlando, ihr kleiner Affe, auf ihren Schultern laut schnatternd hin und her.

»Der Scherengriff, na los!«

Jacks helle, sommersprossige Haut färbte sich tiefrot, fast so rot wie seine leuchtenden Haare. Er schluckte. Sein Hals schien wie ausgetrocknet.

Tommy, der Neue, ein magerer, blasser Junge, blickte ihn mit großen Augen an. Als Maggie, die älteste der Bande, ihn vor ein paar Tagen bei der London Bridge aufgelesen hatte, war er gerade dabei gewesen, die Gosse nach Essbarem zu durchsuchen. Irgendwie erinnerte der Neue ihn an seinen Bruder. Er war genauso dünn, gleichaltrig, und selbst seine Haare hatten einen leichten Stich ins Rote, obwohl sie mehr ins Braune gingen, während Neds Haare so flammend rot leuchteten wie die seines Bruders. Wie Tommy hatten Jack und Ned nach dem Tod der Mutter ebenfalls versucht, sich allein in den Straßen Londons durchzuschlagen. Bis Guy sie auflas und zu der seltsamen Frau in Männerkleidern brachte. Moll bot ihnen ein Dach über dem Kopf und ausreichend zu essen, auch wenn sie als Gegenleistung von ihren Zöglingen erwartete, dass sie hart arbeiteten und täglich die gestohlene Ware ablieferten.

»Man muss seine Finger wie ’ne Schere bewegen«, erklärte Jack schließlich, während er gleichzeitig seine rechte Faust hochhob. Langsam streckte er den Zeige- und den Mittelfinger und führte sie, wie die Schneiden einer Schere, seitlich auseinander und wieder zusammen. »Damit kann man Sachen aus Taschen ziehen, ohne dass es die Leute spüren.«

Moll nickte, während sie ihre Pfeife paffte und mit dem Rauch Ringe in die Luft blies. Ihr Äffchen versuchte unermüdlich, die Kringel einzufangen.

»Hände«, meinte sie, »sind für euch so was wie ’n Hammer und Eisen für ’nen Schmied. Ihr müsst sie geschmeidig halten, nur so werdet ihr zu echten Meisterdieben.« Sie stellte sich breitbeinig vor die Jungen und Mädchen, hob ihre Arme, während sie ihre Finger mehrmals streckte und beugte. »Fingerfertigkeit, Geschicklichkeit und Menschenkenntnis, das sind unsere besten Waffen. Viel besser als ’ne Muskete oder ’n Dolch von ’nem Straßenräuber. Obwohl so was auch überaus nützlich sein kann.« Sie klopfte mit der Linken auf den Griff ihres Messers, das an ihrem Gürtel baumelte, und zwinkerte den Kindern zu. Danach wandte sie sich wieder an Jack. »Zeig dem Neuen, wie ’n geschickter Dieb sein Opfer beklaut, ohne dass es was merkt.« Mit einer kurzen Kinnbewegung deutete sie in die Mitte des Raums.

Dort baumelte ein lebensgroßer Strohmann an einem Seil, das am Dachbalken befestigt war. Sie nannten ihn James. Er trug Kniehosen, Stiefel, ein Wams und eine Jacke. Auf seinen Strohkopf hatten die Kinder ihm einen breitrandigen Hut gesetzt. Bis auf sein Gesicht sah er so echt aus, dass Jack und Ned, als sie vor vier Jahren zum ersten Mal Molls Dachboden betreten hatten, mächtig erschrocken waren. Sie waren überzeugt gewesen, dort hinge ein Mann. Doch Jack hatte James inzwischen gut kennengelernt. Der Strohmann war eine Übungspuppe für die jungen Taschendiebe. Er half dabei, Tricks zu erlernen und ihre Fingerfertigkeit zu testen.

Taschendiebstahl war keine Kunst, die man von einem Tag auf den anderen lernte. Man musste viel üben und James war geduldig. Doch wer glaubte, dass es ein Kinderspiel war, eine Strohpuppe zu bestehlen, hatte sich getäuscht. Nur weil James keine Augen im Kopf hatte und nichts spüren konnte, bedeutete das nicht, dass er nicht wachsam war.

Zögerlich erhob sich Jack von der Matratze, auf der er mit den anderen Kindern – Tommy, Hal, Walter, Tim, Maggie und Eliza – hockte, alle Augen auf ihn gerichtet. Nur Orlando, immer noch auf Molls Schulter, interessierte sich nicht für das Schauspiel. Zwar hatte er es inzwischen aufgegeben, die Rauchringe zu fangen, doch nun knabberte er stattdessen liebevoll an Molls Ohrläppchen.

»Na los, mach schon!«, forderte Moll Jack auf. »Wir haben nicht ewig Zeit.«

Eine Bodendiele knarrte, doch ansonsten war es mucksmäuschenstill. Jack stand inzwischen vor dem Strohmann. Er hatte oft genug an James geübt, um es zur reinen Routine zu machen. Doch heute tauchte immer wieder Ned vor seinen Augen auf und er hörte deutlich die Stimme seiner Mutter.

»Pass gut auf den Kleinen auf«, war das Letzte, was sie zu ihm gesagt hatte. Doch wenn Jack nicht wollte, dass Moll sich über ihn lustig machte oder ihn gar bestrafte, musste er sich jetzt unbedingt konzentrieren. Automatisch schob er seine Hand zwischen Mantel und Wams des Strohmanns, um nach dessen Gürtel zu tasten. Er wusste, dass dort ein Beutel hing, der mit Münzen gefüllt war. Jacks Aufgabe war es, die Geldstücke zu stehlen, ohne dass James ein Geräusch von sich gab. Doch seine Hand, gewöhnlich geschickt wie keine andere, begann zu zittern. Unzählige Glöckchen, die an der Kleidung der Puppe festgenäht waren, begannen Alarm zu läuten. Nur Diebe mit Fingerspitzengefühl konnten unbemerkt entkommen. Jack war es heute zum ersten Mal seit langer Zeit nicht gelungen, den Strohmann auszutricksen.

Moll schüttelte ungläubig den Kopf. Orlando sprang mit einem riesigen Satz auf den Kopf des Strohmanns, wo er laut kreischend hin und her schaukelte, während die Glöckchen ein wildes Konzert veranstalteten.

»Was ist nur los mit dir?«, versuchte Moll den Lärm zu übertönen.

»Ich ... ich ...«, stammelte der Junge, doch er kam nicht dazu, ihr den Grund für seine Ungeschicklichkeit zu erklären.

»Er denkt, dass Ned was Schlimmes passiert ist«, kam ihm Eliza, die jüngste der Bande, zuvor.

»Ned? Was soll dem schon passiert sein? Den Bengel haben sie nur geschnappt, weil er sicher mal wieder mit offenen Augen geträumt hat, statt sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Und jetzt sitzt er halt seine Zeit in Bridewell ab.« Sie musterte Jack streng. »Wenn du dich nicht in Acht nimmst, wird dir das Gleiche passieren. Sollte euch allen ’ne Lehre sein.« Sie zog an ihrer Pfeife. Dann hockte sie sich auf den Hocker, der neben dem Dachbalken stand. »Bring mir ’n Bier«, wandte sie sich an Maggie.

Maggie sprang folgsam auf, klemmte sich die langen blonden Haare hinters Ohr und kletterte die Stiegen hinab. Die Küche lag im Parterre neben dem Laden, doch schon kurz darauf kehrte sie mit einem Zinnkrug voller Bier zurück. Moll hob den Krug und trank einen Schluck. Zufrieden rieb sie sich mit dem Ärmel über den Mund.

»Ich hoffe, dass ihr euch morgen alle ordentlich ins Zeug legt«, fuhr sie fort. »Der Jahrmarkt fängt an. Da müsst ihr gut in Form sein. Ich brauch euch und kann’s nicht riskieren, euch wie Ned und Guy zu verlieren.«

Natürlich, der Jahrmarkt! Jack hatte ihn völlig vergessen. Er fand jedes Jahr Anfang September im Stadtteil Southwark südlich der Themse statt und dauerte zwei Wochen. Es gab dort Schaubuden, in denen die erstaunlichsten Kuriositäten zu bewundern waren: Schlangenmenschen, Riesen, Zwerge, Schafe mit zwei Köpfen, sprechende Esel, tanzende Bären, Seiltänzer, Jongleure, Zauberkünstler und vieles mehr. Gleichzeitig war der Markt ein Paradies für Taschendiebe. Bauern, fremd in der Großstadt, die aus den umliegenden Dörfern anreisten, waren leichte Beute. Allerdings war sich auch die Polizei dessen bewusst und es würde auf dem Jahrmarkt von Wachtmeistern nur so wimmeln.

»Na, ich mach dann jetzt Feierabend«. Moll packte Orlando, der immer noch auf James herumturnte, und setzte den Affen zurück auf ihre Schulter. »Komm, mein Süßer, wir gehen den restlichen Abend in die Schenke.« Dann wandte sie sich an Maggie. »Schließ den Laden hinter mir ab. Ich nehme ’n Zweitschlüssel mit für später.« Sie ließ den Blick über ihre Zöglinge schweifen. »Morgen ist ’n wichtiger Tag. Da muss alles wie am Schnürchen laufen. Wechselt euch vor dem Schlafengehen an James ab. Übung macht den Meister. « Dann verschwand sie mit Orlando durch die Klappe im Boden.

Viel später, nachdem die Kerzen längst ausgeblasen waren, lag Jack schlaflos auf dem Strohsack, den er gewöhnlich mit Ned teilte. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere. Es war schwül, die Luft stand schwer im Raum, auch wenn die Dachluke offen war. Er lauschte. Von den anderen Kindern war bis auf leises Schnaufen kein Geräusch zu hören. Sie schlummerten auf den Matratzen, die sie wie jeden Abend vor dem Schlafengehen auf dem Boden ausgebreitet hatten. Von der Gasse drangen hin und wieder die grölenden Stimmen Betrunkener nach oben. In der Ferne erklang das Grollen eines Donners, kurz darauf prasselten die ersten Tropfen auf das Dach. Der Regen würde die Luft abkühlen, und dann würde er es sicher schaffen einzuschlafen.

Um Mitternacht klopfte plötzlich jemand laut und energisch gegen die Ladentür. Wer konnte das zu dieser späten Stunde sein? Moll war bereits vor einer Weile aus der Schenke zurückgekehrt. Jack hatte gehört, wie sie die Treppen zu ihrem Zimmer hochgepoltert war. Wie so oft war sie betrunken gewesen und schlief jetzt bestimmt tief und fest.

»Da klopft’s«, kam die verschlafene Stimme der kleinen Eliza aus der Dunkelheit. Dann flackerte ein Licht auf. Maggie hatte mit der Zunderbüchse eine Kerze angezündet. Inzwischen waren auch die anderen Jungen aufgewacht. Nur Tommy ließ sich in seinem Schlaf durch nichts stören.

»Vielleicht sind dem Typen die Moneten ausgegangen«, schlug Walter vor. Moll unterhielt im Laden im Parterre ein Pfandhaus, in dem sie gestohlene Ware verkaufte oder Kunden gegen Pfand Geld lieh.

»Dann soll er morgen wiederkommen«, gähnte Hal. Er rieb sich die Augen. »Seit wann ist der Laden denn mitten in der Nacht offen?«

»Aber es klingt dringend ...« Maggie strich ihren Rock glatt und schritt mit der Kerze in der Hand auf die Luke zu. »Ich gehe nachschauen. Vielleicht hat Moll ja nur ihren Schlüssel vergessen.«

»Moll ist das nicht. Die ist längst zurück.« Hal drehte sich zur Wand. Auch Walter und Tim entschlossen sich, den nächtlichen Besucher zu ignorieren. Jack dagegen folgte Maggie, Eliza an der Hand, die Treppe hinab.

»Und wenn’s Räuber sind?« Im Laden angekommen, starrte Eliza ängstlich auf die verschlossene Tür, auf die jemand von der anderen Seite mit Fäusten einhieb. »Hier gibt’s viel zu klauen.«

»Räuber sind das sicher nicht«, beruhigte Maggie sie. »Die würden nicht so viel Krach machen und damit alle Nachbarn aufwecken.« Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und sperrte auf.

»Na endlich! Das ist ja fast so, als würde man versuchen, ’nen Toten zum Leben zu erwecken.« Ein Junge mit kurzen Haarstoppeln, triefend vor Nässe, drängte sich an Maggie vorbei durch die Tür. »Gibt’s hier was zu futtern? Ich bin total ausgehungert.« Ohne auf die anderen zu warten, stürmte er die Treppe hoch.

»Guy?« Jack starrte ihm nach, als sei er ein Geist. Obwohl es nur wenige Wochen her war, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte, hätte er ihn fast nicht erkannt, so sehr war er in die Höhe geschossen.

Jack blickte erwartungsvoll auf die Gasse hinaus. An dem Tag, an dem sein Bruder verschwunden war, war er mit Guy auf Diebestour gewesen. Wenn Guy zurückgekehrt war, bedeutete dies sicher, dass Ned auch nicht weit war. Doch draußen ergoss sich nur der Regen wie ein Wasserfall vom Himmel. Von Ned war keine Spur zu sehen. Enttäuscht schloss Jack die Tür und hastete den anderen hinterher.

Wenig später hockten die Bandenkinder im Kreis um den tropfnassen Guy herum, der gierig in einen Kanten Brot biss, den ihm Maggie aus der Küche besorgt hatte.

»Was ist denn mit deinen Haaren passiert?«, fragte Eliza. Guys Schädel leuchtete bleich im Kerzenlicht.

»Kopfläuse«, erklärte er nur kurz. »In Bridewell scheren sie dir automatisch den Schädel.«

»Wo ist Ned?« Das war das Einzige, was Jack im Moment interessierte.

»Ned?« Guy sah sich um. »Woher soll ich das wissen. Ist er nicht hier?«

Jack schüttelte erschrocken den Kopf.

»War er denn nicht mit dir im Heim?«

»In Bridewell? Nee. Bestimmt nicht. Das hätte ich gewusst. Ich dachte, der Dreikäsehoch ist auf und davon, um sich bei seinem älteren Bruder auszuheulen.« Er sah sich um, als würde er Jack nicht glauben. »Wehe dem Bürschchen, falls es sich nur hier versteckt. Ich hab nämlich noch ’n Hühnchen mit ihm zu rupfen.«

»Aber wenn er nicht im Heim war, wo ist er dann?« Jack wurde es plötzlich übel.

»Bin ich Hellseher? Alles, was ich weiß, ist, dass er ’n Hohlkopf ist, wegen dem mich der Wachtmeister erwischt hat. Und das werd ich ihm heimzahlen.«

»Aber er ist wirklich nicht hier.«

»Tatsächlich?« Guy war immer noch nicht überzeugt. Dann begann er zu grinsen. »Na, so bekloppt wie dein Bruder ist, ist er vermutlich in der Klapsmühle gelandet. An deiner Stelle würde ich mal in Bedlam nachsehen. Allerdings musst du verdammt aufpassen, dass sie dich nicht gleich dortbehalten.«

Mit einem lauten Aufschrei stürzte sich Jack auf Guy, und bald wälzten sich die beiden Jungen auf dem Boden. Es dauerte eine Weile, bis die anderen es schafften, die Raufbolde zu trennen.

»Wenn Ned nicht im Heim war, ist er sicher im Knast gelandet«, überlegte Maggie. »Du könntest die Wächter bestechen. Bestimmt reden sie und sagen dir, ob er dort ist.«

»Oder die Leichenräuber haben ihn erwischt«, stichelte Guy weiter. »Die rauben nicht nur Gräber aus, sondern stehlen auch kleine Kinder und ermorden sie, um sie danach an die Anatomie zu verkaufen. Dort werden sie dann in winzige Stücke zerschnitten.«

Bevor Jack sich wieder auf Guy stürzen konnte, hatte sich Maggie dazwischengestellt.

»Lass ihn in Frieden«, fauchte sie den älteren Jungen an.

Als die Kinder endlich das Licht gelöscht hatten und der Reihe nach eingeschlafen waren, konnte Jack schon wieder keine Ruhe finden. Er schmiedete neue Pläne. Trotz aller Zweifel hatte er bisher fest damit gerechnet, dass Ned seine Zeit in Bridewell absaß. Da es zwecklos war, dagegen zu protestieren, hatte er gehofft, dass er eines Tages einfach wieder vor der Tür stehen würde. Doch die Situation hatte sich geändert. Jetzt da er erfahren hatte, dass sein Bruder nicht im Heim war, konnte er nicht weiter untätig herumsitzen. Er musste herausfinden, was genau an jenem Sommertag vor fünf Wochen geschehen war. Er würde Guy ausquetschen, so lange, bis er sich an alle Einzelheiten erinnerte. Er würde die Gefängnisse der Stadt abklappern, und dann war da auch noch Bedlam. Selbst wenn Guy die Irrenanstalt nur erwähnt hatte, um ihn zu provozieren, man konnte nie wissen. Es konnte nicht schaden, sicherheitshalber auch dort vorbeizuschauen. Auf jeden Fall durfte er nicht aufgeben, bis er seinen Bruder gefunden hatte.

Der Salamander

Hatton Hall, Freitag, 6. September 1619

Alyss hockte immer noch im finsteren, klammen Priesterloch hinter dem Bücherregal. Ihr war kalt und ihre Glieder schmerzten. Ihr linker Fuß kribbelte. Er war eingeschlafen. Sie hätte ihre steifen Arme und Beine gerne gestreckt, doch in dem schmalen Raum war dazu kein Platz. Wieso war sie nicht gleich, nachdem die Jungen aus der Bibliothek stürmten, aus dem Loch geschlüpft? Sie hatte lieber vorsichtig sein wollen und sich entschlossen, eine Weile abzuwarten. Und als sie sich dann endlich getraut hatte, war es zu spät gewesen, denn gerade als sie anfing, das Bücherregal zur Seite zu schieben, hatte sie Schritte und Stimmen im Gang gehört. Einen Augenblick später wurde die Tür geöffnet.

In der Bibliothek hatte man inzwischen einen Leuchter angezündet, dessen flackernde Kerzen den Raum erhellten. Die Vorhänge, die George aufgerissen hatte, waren zwar immer noch offen, doch hinter den Butzenscheiben dämmerte es bereits. Wie spät war es? Hatte sie tatsächlich den ganzen Nachmittag im Priesterloch ausgeharrt?

Angespannt lauschte sie, doch statt der Jungen- hörte sie Männerstimmen. Da war Onkel Humphreys hohe Stimme, die sich vor Wichtigkeit fast überschlug. Die tiefe Stimme seines Besuchers dagegen hatte sie noch nie gehört. Interessiert blickte sie durchs Guckloch in die Bibliothek.

Neben dem Schreibtisch, auf dem gleichen Stuhl, auf dem vorher sein Sohn gelümmelt hatte, hockte jetzt Onkel Humphrey. Vor ihm stand Vaters Glaskaraffe, in der er früher immer seinen besten spanischen Portwein aufbewahrt hatte. Nur zu besonderen Anlässen hatte er ein kleines Gläschen davon getrunken. Der Onkel zog gerade den Glasstöpsel aus dem Gefäß.

»Hier können wir uns ungestört unterhalten«, meinte er, während er die blutrote Flüssigkeit in zwei geschliffene Gläser füllte.

Der Mann, der ihm gegenübersaß, schwieg. Nur der Tabak seiner Pfeife, die Alyss vom Guckloch aus sehen konnte, glühte rot, als er daran zog. Gleich darauf stieß er eine Rauchwolke aus, genau wie die Feuer speienden Drachen aus den Geschichten, die ihr Vater ihr früher vorgelesen hatte. Das Gesicht des Fremden, der von Vaters Portwein trank und in seiner Bibliothek gemütlich Pfeife rauchte, konnte sie nicht sehen. Er hatte ihr den Rücken zugewandt. Gerade griff er nach dem Glas, das ihm Humphrey gereicht hatte. Auch der Onkel hob sein Glas und leerte es mit einem Zug.

»Ich habe seit deinem letzten Besuch wie ein Wahnsinniger gerackert«, meinte Humphrey Ratcliff schließlich, nachdem er das Glas auf dem Tisch abgesetzt hatte. »Habe überall nach geheimen Schatzkarten geforscht. Jedes einzelne Buch in der Bibliothek, jede Landkarte, von denen es hier massenweise gibt, überprüft. Danach habe ich jeden Winkel von Hatton Hall durchsucht. Jeden Raum vom Weinkeller bis zu den Schlafgemächern und den Kammern der Dienstboten unterm Dach. Ich habe sogar den Garten umgraben lassen. Doch alle Mühe war bisher umsonst. Ich habe absolut gar nichts gefunden. Wenn du mich fragst, täuschst du dich. Einen Schatz gibt es hier bestimmt nicht.«

Der andere Mann schwieg immer noch, während er Rauchringe in die Luft blies.

Einen Schatz? Suchte der Onkel tatsächlich nach einem Schatz? Wenn es hier auf Hatton Hall einen Schatz gäbe, dann würde sie es doch bestimmt wissen. Allerdings erklärte es, wieso der neue Gärtner, den Onkel Humphrey kürzlich eingestellt hatte, auf dem ganzen Gelände immer wieder Gräben aushob. Sie hatte sich schon darüber gewundert. Nur mit Mühe unterdrückte Alyss ein Husten. Der Rauch begann unerträglich in ihrem Hals zu kratzen. Doch selbst das leiseste Räuspern würde ihr Versteck hinter dem Regal verraten. Das durfte nicht geschehen. Stattdessen musste sie herausfinden, um was es hier ging.

»Hast du das Mädchen gefragt, ob es etwas weiß?«, unterbrach der Fremde sein Schweigen, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

»Alyss? Was soll die denn schon wissen?«

»Vielleicht wo ihr Vater seine Wertsachen versteckt hat.« Abermals zog der Besucher an seiner Pfeife. »Immerhin war sie seine einzige Angehörige. Da wäre es doch nicht ungewöhnlich, sie einzuweihen.«

Für einen kurzen Augenblick wandte der Mann seinen Kopf leicht zur Seite und Alyss konnte im Kerzenlicht sein Profil erkennen. Beim Anblick seiner imposanten Nase, die wie der Schnabel eines Raubvogels aussah, fiel ihr das Gespräch der Jungen ein, das sie von ihrem Versteck aus belauscht hatte. Hatten sie nicht von einem Mann mit großer Nase gesprochen, der sie aus dem Weg schaffen sollte?

»Die Göre zu befragen, kam mir bisher gar nicht in den Sinn«, gab Onkel Humphrey zu und kratzte sich verlegen an der Schläfe.

»Na, dann würde ich vorschlagen, dass du Ralph Sinclairs Tochter erst mal verhörst, bevor wir sie für immer verschwinden lassen.«

Alyss lief ein kalter Schauer über den Rücken. Das war tatsächlich der Häscher.

»Es gibt bestimmte Methoden, mit denen man Antworten erzwingen kann. Aber das muss ich dir sicher nicht erklären«, fuhr der Fremde fort. »Außerdem weiß ich inzwischen aus vertraulicher Quelle genaue Einzelheiten zu dem, was wir suchen.«

»Wieso sagst du das nicht gleich?« Man konnte an der Stimme des Onkels hören, dass er ungehalten war. »Was hast du herausgefunden?«

»Wir suchen nach einem goldenen Salamander, nicht größer als ein Anhänger oder eine Brosche.«

Salamander? Hatte Alyss sich da verhört? Wie konnte der Fremde davon wissen?

»Ein goldener Salamander? Du willst mich wohl zum Narren halten. Hast du nicht gesagt es geht um wertvolle Schätze? Und jetzt sprichst du von einem kümmerlichen Schmuckstück?«

»Ich habe nicht gesagt, dass der Salamander wertlos ist.« Der Fremde blickte sich im Raum um, beinahe so, als spüre er den Blick des Mädchens in seinem Rücken. Dann beugte er sich zu Humphrey Ratcliff und flüsterte etwas in sein Ohr. Hinter dem Bücherregal im Priesterloch konnte Alyss kein Wort davon verstehen. Doch Onkel Humphreys unwirscher Blick hellte sich auf.

»Das ist höchst interessant«, meinte er, nachdem der Fremde sich wieder zurückgelehnt hatte. »Ich werde mir das Mädchen gleich heute Abend vorknöpfen.« Er wollte die Gläser erneut mit Portwein füllen, aber der Fremde hielt seine Hand abwehrend über sein Glas.

»Ich breche besser auf.« Er stand auf, immer noch mit dem Rücken zum Guckloch.

»Jetzt schon? Aber es ist bald dunkel«, wandte der Onkel ein. »Zudem sieht es nach Regen aus.« Erst jetzt bemerkte Alyss, dass es in der Ferne donnerte. »Du kannst gerne hier übernachten. Oder hast du etwa vor, noch heute nach London zurückzureiten?«