Die Diener der Unvergänglichen - Anna Möbius - E-Book

Die Diener der Unvergänglichen E-Book

Anna Möbius

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Beschreibung

Hexen und Zaubersprüche? Gibt es nicht! Davon war Leni bisher fest überzeugt. Doch ein Museumsbesuch ändert alles: Ein Zwister überfällt das Grüne Gewölbe in Dresden! Das magische Geschöpf stiehlt ein Schmuckstück und sticht die Besucher. Auch Lenis Eltern sind unter den Opfern. Wo soll Leni jetzt bloß ein Mittel gegen Zwistergift auftreiben? Zum Glück findet sie in dem Kämmerling Niko und der Hexe Solandra zwei neue Freunde, die sich mit Zauberei auskennen und ihr bei der Suche helfen. Doch Leni ist eine unliebsame Zeugin des Überfalls und ihr droht Gefahr ...

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Seitenzahl: 451

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Buchbeschreibung:

Hexen und Zaubersprüche? Gibt es nicht! Davon war Leni bisher fest überzeugt. Doch ein Museumsbesuch ändert alles: Ein Zwister überfällt das Grüne Gewölbe in Dresden! Das magische Geschöpf stiehlt ein Schmuckstück und sticht die Besucher. Auch Lenis Eltern sind unter den Opfern. Wo soll Leni jetzt bloß ein Mittel gegen Zwistergift auftreiben? Zum Glück findet sie in dem Kämmerling Niko und der Hexe Solandra zwei neue Freunde, die sich mit Zauberei auskennen und ihr bei der Suche helfen. Doch Leni ist eine unliebsame Zeugin des Überfalls und ihr droht Gefahr …

Über die Autorin:

Anna Möbius ist im Südharz aufgewachsen, einer Gegend, in der fantastische Geschichten zum Greifen nahe scheinen. Die magische Atmosphäre des Bergwaldes hat sie zu ihrem Debütroman »Die Diener der Unvergänglichen« inspiriert. Momentan schreibt sie an weiteren Fantasy-Romanen. Anna Möbius lebt am Schönbuchrand in der Nähe von Tübingen.

Für meine Ninja.

Inhaltsverzeichnis

Buchbeschreibung

Über die Autorin

Widmung

Neuigkeiten

Die Kräuterstube

Holger Nieswurz

Hexen, Dessis, Kämmerlinge

Auf dem Festplatz

Vergiftet

Erinnerungszauber

Waldspaziergang

Überraschungsbesuch

Der Wanderpilz

Hexenfamilie

Wedellinde

Zaubertränke

In der Werkstatt

Kampf in der Hexenküche

Heimkehr

Danksagung

Zum Schluss

Neuigkeiten

Ein künstlich fruchtiger Geruch verteilte sich langsam, aber unaufhaltsam im Fliegenschlag. Bukko Hengsterlein zählte die geleistete Stundenzahl der Fliegen im Kopf zusammen – es waren dreiundzwanzig – und schrieb sie auf die Rechnung. Dabei wanderte seine Nasenspitze eigenständig von links nach rechts.

Der Duft wurde stärker.

Verwundert legte Bukko den Stift beiseite. Er blickte vom Schreibtisch auf und runzelte die Stirn, wodurch seine Brille bis zur Nasenspitze rutschte.

Wo zum vierdrüsigen Leimspinner kam dieser Geruch her? Der Wind trug ja ab und zu Autoabgase und im Sommer auch mal einen Hauch von gegrilltem Fleisch von den Elbwiesen herüber. Doch der von Menschen gemachte Gestank wurde sofort durch den Sog des nahen Flusswassers fortgespült.

Bukko schob seine Nase nach vorn und schnupperte. Süßstoffe, Säuerungsmittel, künstliches Erdbeeraroma … Und alles so nah, dass er nicht nur den Duft von gezuckerten Früchten, sondern schon den Ärger roch, der in ihm hochstieg.

Konzentriert suchte Bukko den kleinen Raum ab, der sein Unternehmen enthielt. Sein Blick wanderte über die gemauerten Wände mit den winzigen Löchern der Einflugschneisen.

In keinem steckte eine Fliege.

Bukko musterte das Regal, in dem sich fünfzig mit Stroh gefüllte Nester dicht an dicht drängten.

Fast alle waren leer.

Zum Schluss blieb die niedrige, durchsichtige Decke übrig. Wie ein großes Fenster schloss sie den Fliegenschlag ab und bot eine herrliche Sicht auf die Wellen des Flusses.

Für einen Moment ließ Bukko sich von der Bewegung des Wassers gefangen nehmen. Er liebte die Kraft und Beständigkeit, mit der die Elbe vorwärtsdrängte. Aus diesem Grund hatte er den Fliegenschlag am dritten Sandsteinpfeiler der Dresdner Augustusbrücke anbringen lassen. Allerdings kopfüber. Die Schwerkraft war – Magie sei Dank – umgekehrt, sodass über Bukkos Kopf, wo es Richtung Erde ging, die Elbe dahinrauschte.

An der Aussicht entdeckte Bukko jedoch nichts Ungewöhnliches. Auch seine Nase bestätigte ihm, dass der penetrante Geruch nicht von der Decke herunterströmte. Ebenso wenig ging das Summen der Fliegen von ihren Nestern aus. Das Brummen einer ganzen Fliegenschar drang vom Boden unter dem Schreibtisch zu Bukko herauf, dem einzigen Fleck, den er nicht einsehen konnte.

Mit einem Ruck schob Bukko seinen Stuhl vom Tisch weg, sodass er mit der Lehne an die Wand stieß, und legte den Kopf schief, um einen Blick auf die geschützte Stelle zu werfen. Er strich die grauen Haarsträhnen aus seinem Gesicht, die ihm über die Brillengläser gefallen waren, und fand, wie befürchtet, einen ganzen Haufen der geflügelten Insekten.

Statt in ihren Nestern Zuflucht zu suchen, krabbelten die Fliegen um die Quelle der süßen Duftspur.

Bukko richtete sich auf. Dann schob er die Brille auf die Nasenwurzel und seinen runden Bauch vom Stuhl hinunter. Er watschelte um den Schreibtisch herum, um besser an die Fliegenschar heranzukommen und den Übeltäter zu erwischen, der den Geruch eingeschleppt hatte.

Schwerfällig ließ Bukko sich auf die Knie nieder und kroch ein Stück unter den Tisch. Er hoffte, dass die Schurwolle seiner Hose keinen Schaden durch den Steinfußboden nahm. Zumindest war er so kurz, dass er mit dem Kopf nicht an die Tischplatte stieß. Bukko holte tief Luft und pustete mitten in den Insektenhaufen hinein.

Flüchtig hüllte ihn eine schwarze Wolke ein, bevor an die dreißig Fliegen in Richtung ihrer Nester davonflogen.

Bukko starrte auf das klägliche Etwas, das unter dem Schreibtisch sitzen blieb, und wurde mit einem Schlag richtig wütend.

»Wo bist du denn hineingeraten, du fahrlässiges, gefräßiges Ding?!«, herrschte er die große Fliege an, die auf dem Boden hockte und einen Klumpen Erdbeerkaugummi am Hinterteil kleben hatte. »Hast du das ganz allein geschafft? Oder hattest du dabei Hilfe? Hm? Heraus mit der Sprache! Wie ist das passiert? Weißt du, wie viel Arbeit es macht, so was von deinem Körper zu kratzen, ohne dich zu verletzen? Fünfzig Hexendukaten habe ich für dich bezahlt, weil du angeblich ein fitter Spion bist! Ich wollte aber nicht wissen, was sich Menschenkinder so alles in die Münder stopfen!«

Die Fliege setzte zu einer Antwort an, doch Bukko ließ sie nicht zu Wort kommen.

»Dreckspatz! Müllsammler!«, schimpfte er weiter, während er das ungezogene Insekt aufhob und langsam hin- und herdrehte. »Wie soll ich diesen Mist bloß von deinem Körper kriegen?«, fragte er aufgebracht, als ihn das Klopfen an der Tür aus seinen Gedanken riss.

Überrascht sah Bukko auf. Ein Besucher, und dann um diese Tageszeit, das war ungewöhnlich. Der Großteil von Bukkos Kundschaft schaute lieber nicht persönlich vorbei, sondern schickte einen Boten in Gestalt einer Fliege. Einige Kunden suchten ihn im Schutz der Abenddämmerung auf, kündigten sich allerdings vorher an. Niemand war so unverschämt, unangemeldet aufzutauchen.

Wieder klopfte es an der Tür. Diesmal so laut, dass die jüngeren Fliegen aus ihren Nestern krabbelten.

Bukko legte die Kaugummifliege auf seinen Schreibtisch. Dann lief er los und erreichte die Tür, bevor der Besucher ein drittes Mal auf sie einschlug. Bukko kniff die Augen zusammen, öffnete und machte sich im Türrahmen breiter, als er ohnehin schon war. Doch sobald er die schmale Gestalt im dunkelblauen Kapuzenpullover erblickte, fiel die Spannung von ihm ab. Er gab den Weg frei und winkte seinen Neffen Niko in den Fliegenschlag hinein. Immerhin zeigte das schuldbewusste Grinsen in Nikos Gesicht, dass ihm klar war, wie sehr er die Fliegen durcheinanderbrachte.

Bukko schüttelte den Kopf. Doch was sollte er tun? Verwandtschaft war wichtiger als alles andere. Und die Ruhe im Laden war sowieso dahin.

Niko bückte sich beim Eintreten, um durch den niedrigen Eingang zu passen. »Hallo, Onkel Bukko«, grüßte er. Dann zog er seine Kapuze vom Kopf, wuschelte die zerzausten Haare durch und schaute über die Schulter zurück.

Augenblicklich sah Bukko das Menschenmädchen. Mit schlotternden Knien und bleichem Gesicht zwängte es sich unter dem Türrahmen hindurch in den Fliegenschlag.

Das Kind war einen ganzen Kopf größer als Bukko, fast so groß wie Niko, der mit seinen 1,65 Metern nicht nur ihn, sondern auch die meisten anderen Kämmerlinge überragte. Die schulterlangen blonden Haare des Mädchens standen ihm zerzaust vom Kopf ab. Die hellgrünen Augen huschten nervös hin und her. Das Mädchen atmete schnell, so als sei es gerannt oder sehr aufgeregt. Sofort vergrub es die Hände in den Ärmeln seiner grauen Jacke, wodurch sich die Schultern wie bei einer buckligen Alten krümmten.

Nach zwei Schritten blieb das Mädchen stehen. Es starr-te für einen kurzen Augenblick durch die gläserne Decke hindurch, die über seinem Haaransatz hing. Die Augen des Mädchens weiteten sich. Dann ruckte sein Kopf schlagartig zu Boden, und es stierte auf seine pinkfarbenen Schuhe. Vermutlich, um der Aussicht zu entkommen. Manche Menschen ertrugen es nicht, kopfüber wie Fledermäuse dazustehen. Auch wenn die Schwerkraft umgedreht war und sie nicht hinunterfielen.

Abschätzend musterte Bukko seine Besucherin: ein junges Gesicht, relativ unauffällige Kleidung und weder Besen noch Zauberstab in Sicht. Wie eine Hexe sah sie nicht aus. Warum Niko sie wohl hergebracht hatte?

Bukkos Kopf kribbelte vor Neugier. Doch alles zu seiner Zeit. Zunächst wackelte er zur Tür und schloss sie. Das Mädchen wich in Richtung Schreibtisch aus.

»Igitt, was ist das denn?«, ertönte es plötzlich hinter Bukko.

Er drehte sich verwundert um und sah, dass das Mädchen angeekelt zum Tisch schaute. Dort hockte – natürlich – die Fliege mit dem Kaugummiklumpen am Hintern. Sie verbog ihre Brust geradezu abenteuerlich und lutschte an dem klebrigen Brocken.

Bukko war klar, dass das nicht professionell wirkte. Er schluckte seine Unzufriedenheit hinunter und zwängte sich zwischen den Tisch und das Mädchen, um ihm die Sicht zu versperren. Seine Besucherin war dadurch gezwungen, einen Schritt zurückzutreten.

»Ähm – guten Tag«, sagte sie.

Bukko setzte sein gut geübtes, geschäftsmäßiges Lächeln auf – er wusste ja nicht, warum das Mädchen zu ihm gekommen war – und sagte: »Willkommen im Fliegenschlag. Ich bin Bukko Hengsterlein. Meine Fliegen beschaffen jegliche Information in kürzester Zeit und sind von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang im Einsatz.«

Die große Kleine wirkte ratlos. »Fliegen«, murmelte sie und sah zu Niko. »Ich dachte, dein Onkel arbeitet bei der Polizei.«

Überrascht starrte Bukko das Mädchen an. »Wie kommst du bloß auf diese Idee, Kind? Ich habe doch nichts mit der Polizei zu schaffen!«

»Niko hat gesagt, Sie werden meine Eltern suchen.« Das Mädchen schaute zweifelnd zu den Fliegennestern. »Was ist das hier überhaupt?«

Bukkos Gedanken überschlugen sich. Das Mädchen hatte seine Eltern verloren und geglaubt, er würde sie wiederfinden. Das Kind sollte tatsächlich bei der Polizei sein und nicht bei ihm. Warum hatte Niko es aufgegabelt und hergeführt?

»Das hier ist der Fliegenschlag«, wiederholte Bukko, während er im Stillen auf Niko schimpfte. Sein Neffe hatte bestimmt nur helfen wollen. Doch er hatte seinen Standort einem Menschenkind preisgegeben. Das würde garantiert zu Scherereien führen. »Wo hast du sie getroffen?«, fragte er Niko und nickte dabei in Richtung des Mädchens. »Warst du nicht beim Wächterorden?«

»Doch«, sagte Niko. »Leider. Erst stand ich nur rum, weil keiner Zeit hatte. Ein paar Kämmerlinge waren nämlich krank und der Rest hatte zu viel zu tun. Dann haben sie mich zum Grünen Gewölbe geschickt. Angeblich ist das ein gut gesicherter Bereich, in dem es zwar magische Stücke gibt, wo man aber nicht viel machen muss. Angeblich. Ich sollte mich dort mit einer Hexe treffen. Die habe ich aber nicht gefunden. Dann gab es einen Überfall und plötzlich herrschte Chaos. Mittendrin habe ich Leni getroffen. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Also bin ich zu dir gelaufen und habe sie mitgebracht.«

Widerstrebend wanderte Bukkos Blick erneut zu seiner Besucherin. Leni.

Sie sah immer noch verwirrt aus und fragte: »Was sind Kämmerlinge, Niko? Und was meinst du mit ›Hexe‹?«

Niko warf Bukko einen fragenden Blick zu.

Bukko seufzte bekümmert. Manchmal hasste er es, recht zu behalten. Schon als Leni den Fuß über die Türschwelle geschoben hatte, hatte sein Bauchgefühl ihm gesagt, dass er ein unwissendes Kind vor sich hatte. Eines, das die Magie, die es umgab, nie wahrgenommen hatte. Wie sollte er diesem Mädchen erklären, dass die Wirklichkeit ganz anders aussah, als es bisher geglaubt hatte? Da Lenis grüne Augen ihn und Niko so erwartungsvoll anblickten, beschloss Bukko, es möglichst einfach zu machen.

»Eine Hexe ist eine Person, die magische Fähigkeiten besitzt. Sie kann zaubern.«

Lenis Blick wurde spöttisch. »Was meinen Sie damit, dass Hexen zaubern? So was glauben Sie doch nicht wirklich?«

»Das ist keine Frage des Glaubens, sondern eine Tatsache.« Bukko hatte nicht die geringste Lust, mit Leni über die Existenz von Hexen zu streiten. Er sollte Niko zu diesem Überfall aushorchen. Aber hatte sein Neffe Leni ernsthaft versprochen, er würde ihre Eltern suchen und finden? »Was genau ist denn nun passiert?«, fragte Bukko.

Niko sprudelte sofort los: »Im Grünen Gewölbe war ein Zwister. Ein echter Zwister. Unglaublich, oder? Das Ding war so groß wie meine Faust, hatte drahtige Beine und am Kopf einen Rüssel und einen Stachel. Das war auf jeden Fall ein Zwister. Er hat die Besucher gestochen und einen Raum verwüstet. Den Zwister hat bestimmt ein Zauberer geschickt, um etwas zu stehlen.« Er sah Bukko mit wichtiger Miene an.

Da sagte Leni: »Ich hab meine Eltern im Museum verloren. Kann ich bitte mal Ihr Telefon benutzen?«

Bukko überlegte, ob dieser Tag noch weitere Überraschungen für ihn bereithielt. »Das geht nicht –«

»Aber ich habe mein Handy nicht dabei und muss zu Hause anrufen. Vielleicht sind meine Eltern dort. Oder sie sind bei der Polizei, und die suchen mich.«

Bukko hob seine Hand, um Leni zu beschwichtigen. Er wusste, dass Handys für Menschen wichtig waren. Fast so wichtig wie die Fliegen für ihn. »Ich habe kein Telefon irgendeiner Art«, sagte er. »Es ist nicht sicher, mithilfe dieser Dinger zu reden. Telefongespräche kann man nämlich belauschen.«

Leni starrte ihn an, als seien ihm soeben Flügel gewachsen. »Sie haben kein Handy«, sagte sie sichtbar fassungslos.

»Nein. Aber das brauche ich auch nicht. Ich muss jetzt dringend mit Niko besprechen, was im Grünen Gewölbe geschehen ist. Dann werde ich sehen, was ich für dich tun kann.«

»Was können Sie schon machen?«, murmelte Leni so leise, dass Menschenohren die Worte nicht verstanden hätten. Aber sie machte keine Anstalten zu gehen.

Um seine Gedanken zu ordnen, schaute Bukko für einen Moment zur Decke, also zur dahinströmenden Elbe, bevor er wieder Niko ansah.

»Im Grünen Gewölbe gab es einen Einbruch … Das ist in der Tat beunruhigend. Mach dir aber keine Vorwürfe. Du warst als Neuling vor Ort und solltest nicht die Schätze bewachen, sondern erfahrenen Kämmerlingen und Hexen bei der Arbeit zuschauen. Niemand wird dir die Schuld für den Zwischenfall geben. Besonders, wenn wir den Hexenrat schnell informieren und helfen, den Fall aufzuklären.«

Unliebsame Bilder von dunklen Geschöpfen schlichen sich in Bukkos Kopf, doch er schob sie beiseite.

Er schaute Niko eindringlich in die Augen, als er sagte: »Was die Sache mit dem Zwister angeht: Da musst du dich irren. Es ist nicht nur verboten, einen zu erschaffen, es ist wohl auch sehr schwierig. Die alten Aufzeichnungen von Hexen, die solche Geschöpfe geformt haben, liegen nicht umsonst unter Verschluss. Das Wichtigste aber ist: Ein Zwister ist unsichtbar. Es ist unmöglich, dass du einen beobachtet hast. Wer weiß, was das war.«

Niko verschränkte seine Arme vor dem Körper. »Du musst mir glauben. Ich hab genug Zeichnungen angeschaut –«

»Von Fabelwesen. In Büchern, zu denen du keinen Zugang haben solltest. Deine Neugier bringt dich noch in Teufels Küche.«

»Sie hat ihn auch gesehen!«, rief Niko und zeigte mit dem Finger auf Leni, die die lebhafte Diskussion für den Moment still verfolgt hatte.

»Tatsächlich?«

Bukko verabschiedete sich von dem Gedanken, dass Leni sich einfach nur verlaufen hatte. Die verschwundenen Eltern des Mädchens würden seine Fliegen relativ schnell aufspüren. Der Überfall eines magischen Geschöpfes, vielleicht sogar eines Zwisters, war eine ganz andere Nummer. Aber wenigstens hatte Niko in Leni eine Zeugin des Geschehens gefunden. Das könnte für ihn noch wichtig sein.

»Was genau hast du gesehen?«, fragte Bukko.

Leni schaute von ihm zu Niko, der ihr ermunternd zunickte. »Ich war mit meinen Eltern im Grünen Gewölbe«, sagte sie. »Ich wollte gar nicht hingehen. Aber Mama und Papa wollten unbedingt da rein.«

Bukko winkte mit seiner Hand, damit Leni zum Wesentlichen kam.

»Jedenfalls haben wir uns gestritten, und ich bin vorneweg gelaufen, weil ich keine Lust hatte, mir ewig lang den ganzen Krimskrams anzuschauen.«

Bukko hob den Zeigefinger seiner rechten Hand, um Leni zu unterbrechen. »Hast du was von dem Überfall mitbekommen?«

»Ja, ja, dazu komme ich gleich. Ich war also mit meinen Eltern im Museum. Plötzlich fingen die Leute hinter mir an, laut rumzumeckern. Ich hab noch gedacht, wie komisch, dass alle so schlecht drauf sind. Da habe ich auf einmal das Ding gesehen. Es krabbelte an der Wand und war total eklig. Es hatte einen Rüssel und am Maul darunter einen Stachel. Es hatte viele Beine, wie eine Spinne. Und dann hat es einen Mann angesprungen. Das Ding hat ihn in den Arm gestochen. Ich hab geschrien, aber niemand hat was gemacht. Der Mann, den das Ding erwischt hat, hat es irgendwie gar nicht mitgekriegt. Er hat nicht mal auf den Arm geguckt. Aber er hat den Typ neben sich weggeschubst und rumgeschimpft wie verrückt. Alle sind durcheinandergelaufen und haben rumgeschrien. Da habe ich gemerkt, dass meine Eltern weg sind, und wollte sie suchen. Doch zuerst habe ich noch nach dem Ding geschaut. Ich hatte Angst, dass es mich anspringt. Es ist von Vitrine zu Vitrine gehüpft und hat mit dem Stachel das Glas zerstoßen. Überall lagen Scherben. Und plötzlich ist Niko gekommen und hat mich weggezogen.«

»Ich musste sie in Sicherheit bringen«, sagte Niko sofort. »Sie ist vielleicht die Einzige, die den Zwister gesehen hat und nicht gestochen wurde. Sie ist eine wichtige Augenzeugin.«

Bukko nickte nachdenklich. Er versuchte zu ordnen, was ihm gerade um die Ohren gehauen wurde. »Ein Zwister. Und dann noch ein sichtbarer. Wie ungewöhnlich.«

»Ich will bloß meine Eltern wiederfinden«, sagte Leni. »Sie haben vor dem Museum nicht auf mich gewartet. Sie haben mich einfach zurückgelassen.«

»Sie sind doch auch gestochen worden«, sagte Niko. »Zwister vergiften ihre Opfer, und das Gift verändert sie. Deine Eltern haben gar nicht mehr an dich gedacht.«

»Woher willst du das wissen? Bestimmt haben sie sich nur erschreckt und sind weggerannt.« Leni funkelte Niko herausfordernd an.

»Du siehst deiner Mutter total ähnlich. Ich hab gesehen, dass der Zwister sie erwischt hat!«

»Wartet, wartet bitte!«, beschwichtigte Bukko die beiden. »Lasst mich in Ruhe überlegen.«

Gedanklich sah er fliehende Museumsbesucher und zerbrochene Vitrinen. Sofort gab er Niko recht. Das sonderbare Wesen war bestimmt nicht grundlos in der Kunstsammlung aufgetaucht.

»Was ihr gesehen habt, ist auf jeden Fall außergewöhnlich«, sagte Bukko. »Im Grünen Gewölbe liegen magische Gegenstände. Leider weiß ich nicht, was das für Stücke sind und welche Magie eingearbeitet wurde. Für den Hexenrat wird es aber ungemütlich, wenn magische Artefakte verschwinden. Habt ihr mitbekommen, ob das Spinnenwesen etwas gestohlen hat?«

Niko schüttelte den Kopf, und Leni zuckte nachdenklich die Achseln.

Bukko fuhr fort: »Die Kämmerlinge, die Wachdienst hatten, waren also krank. Die Hexe war auch nicht vor Ort. Das ist auffällig. Wenn es stimmt, dass ein Zwister im Museum war, dann steckt eine Hexe oder ein Zauberer hinter dem Überfall. Vermutlich wollte jemand die Magie eines Gegenstandes oder sogar mehrerer Stücke erbeuten. Ich schlage Folgendes vor: Ich schicke sofort eine Fliege zum Hexenrat und informiere ihn über das Ereignis. Die Hexen können den Vorfall untersuchen und ihre eigenen Schlüsse ziehen. Falls sie euch als Augenzeugen benötigen, können sie jemanden hierher schicken, um euch zu befragen. Außerdem lasse ich eine Fliege nach Lenis Eltern suchen.«

Während Bukko schon überlegte, welche Fliegen am besten für die beiden Aufträge geeignet waren, sah er, wie Leni energisch den Kopf schüttelte.

»Habe ich etwas übersehen?«, fragte er verwundert.

»Ja«, sagte Leni. »Ich will nicht hierbleiben und warten, bis irgendwann mal eine Hexe auf einem Besenstiel auftaucht. Ich muss meine Eltern finden. Und ich brauche ein Gegenmittel gegen den Stich von dem Zwisterding. Wo kriege ich das her?«

Bukkos Augenbrauen wanderten von allein in die Höhe. »Ein Gegenmittel«, sagte er matt. Er hatte nicht die geringste Ahnung, ob es so etwas überhaupt gab.

»Genau. Ein Mittel gegen das Gift. Es muss sich doch jemand damit auskennen. Gibt es keine Spritze dagegen?«

»Das sicher nicht. Ich bin selbst kein Zauberer und weiß nicht, was für ein Gift in einem Zwisterstachel steckt. Aber ein einfaches Heilmittel wird es nicht geben. Es müsste ein magischer Trank sein. Denn der Zwister selbst ist ein Geschöpf, das durch Magie erschaffen wird. Man müsste einen erfahrenen Tränkebrauer fragen, ob es überhaupt möglich ist, ein Gegengift zusammenzumischen.«

»Und wenn es nicht geht? Niko glaubt, dass das Ding meine Eltern gestochen hat. Was passiert jetzt mit ihnen?«

Bukko zwang sich, in Lenis Augen zu sehen. »Das Gift fließt durch den ganzen Körper und verändert deine Eltern.«

»Geht es nicht von allein wieder weg?«

Bukko hatte sich nicht mehr so unwissend gefühlt, seit die Zahl seiner Fliegen auf über zehn gestiegen war. »Vielleicht hört die Giftwirkung auf, wenn der Zwister stirbt. Vielleicht nicht. Ich weiß es nicht. Aber auch wenn das Gift nachlässt, wird es vorher genug Schlechtes bewirkt haben.«

»Was denn? Was macht das Gift mit meinen Eltern?«

»Du hast es gesehen. Der Zwister säht Zwietracht, Missgunst, Streit, Neid. Alles, was ein friedliches Zusammenleben unmöglich macht.«

Bukko schaute zu Niko hinüber, der ihn erwartungsvoll ansah. Sein Neffe war es gewohnt, dass er immer einen Trumpf im Ärmel versteckt hielt, den er nur hervorzuziehen brauchte. Doch auf Lenis Probleme war Bukko nicht vorbereitet. Es war eine Sache, zwei Menschen zu finden. Sie vor einer Vergiftung zu retten, etwas ganz anderes. Außerdem überlegte Bukko bereits, was der Hexenrat zu dieser Zwister-Geschichte sagen würde. Niko sollte schon zufrieden sein, wenn sein Name in Zukunft nicht in Zusammenhang mit dem Spinnentier fiel.

»Was mache ich denn jetzt?«, drängelte Leni. Sie hoffte offenbar, dass Bukko ihr ein Heilmittel herbeizaubern würde.

»Wir können gar nichts tun, außer abzuwarten. Ich werde den Hexenrat in deinem Namen um Unterstützung bitten. Vielleicht sind die Hexen und Zauberer bereit, dir im Austausch gegen deinen Bericht zu helfen. Allerdings kann ich dir nicht versprechen, dass sie ein Gegengift auftreiben werden.«

Leni kräuselte die Stirn. »Wie lang soll das denn dauern? Und was ist, wenn die Hexen mir nicht helfen?«

Für einen Moment fiel ihr Blick ins Leere. Dann sah Bukko, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte.

»Ich gehe jetzt zur Polizei«, sagte Leni mit deutlich festerer Stimme. »Das hätte ich gleich machen sollen. Die finden meine Eltern schneller als irgendwelche dummen Fliegen. Und bei Vergiftungen kennen die sich auch aus. Zumindest wissen sie, wo das nächste Krankenhaus ist.«

Diese Wendung kam Bukko ungelegen. Es wäre gar nicht gut, wenn Leni mit ihren jetzigen Erinnerungen zur Polizei lief. Dann müsste eine Hexe oder ein Zauberer ihr Gedächtnis und das von einer Handvoll Polizisten ändern. Außerdem sollte Leni doch Niko entlasten. Beschwichtigend hob Bukko seine Hände.

»Gib den Hexen und mir eine Chance! Meine Fliegen finden jede Person schneller, als es die Polizei vermag. Und alle Leute, die vom Zwister gestochen wurden, werden unberechenbar sein. Wenn deine Eltern Probleme mit der Polizei haben, macht das alles nur schlimmer. Ich biete dir noch einmal an, den Hexenrat um Hilfe zu bitten. Außerdem werde ich gleich drei Fliegen losschicken, die nach deinen Eltern suchen. Was sagst du dazu?«

Leni funkelte ihn zornig an. »Ach ja? Jetzt haben Sie es plötzlich eilig, mir zu helfen? Jetzt, wo ich zur Polizei gehen will? Vor einer Minute haben Sie noch gesagt, dass vielleicht nicht mal Hexen und Zauberer meine Eltern retten können. Aber nun haben Sie Angst gekriegt, ja? Ich sag Ihnen mal was: Ich will Mama und Papa zurückhaben. Ich will, dass die beiden normal sind und dass das Gift weg ist. Ich will, dass Sie und ihre Fliegen jetzt was unternehmen. Wenn Sie mir nicht helfen, ein Gegengift zu finden, dann gehe ich einfach. Ich erzähle alles der Polizei. Aber Ihnen und Ihren Hexen verrate ich gar nichts. Auch nicht, was sich das Zwisterding geschnappt hat, als es in der Vitrine saß!«

Damit hatte Bukko nicht gerechnet. Er kniff die Augen zusammen und musterte den Teil von Leni, den er bisher nicht wahrgenommen hatte. »Du bist ganz gut im Verhandeln, was? Hat der Zwister also doch etwas gestohlen?«

»Ich sage gar nichts mehr«, wiederholte Leni. »Nicht, bis ich das Gegenmittel habe.«

Bukko hatte nicht geahnt, dass Menschenkinder solche Trotzköpfe sein konnten. »Wie alt bist du denn, Leni?«, fragte er.

»Dreizehn«, antwortete sie und schob herausfordernd das Kinn nach vorn. »Wieso?«

»Ich weiß gern über meine Kunden Bescheid. Das ist alles.«

Während Bukko in Lenis Augen schaute, schlich sich ein Gedanke so leise wie ein Fliegensummen in seinen Kopf. Er sah Niko an, der das Streitgespräch zwischen ihm und Leni erstaunt verfolgt hatte.

»Niko, mir ist eben eine Idee gekommen. Bitte geh mit Leni zu Kjellruns Kräuterstube. Kjellrun verkauft dort doch alles, was es an seltenen Zutaten für die Hexerei gibt. Es heißt, sie könne einem selbst die ausgefallensten Dinge besorgen. Außerdem arbeitet Holger Nieswurz für sie, und der schuldet mir noch einen Gefallen. Kjellrun und Holger haben gute Kontakte zu den Hexen in der Dresdner Umgebung. Vielleicht können sie etwas auftreiben, das gegen den Stich eines Zwisters wirkt. Oder sie wissen, welche Hexen und Zauberer ein Heilmittel brauen könnten. Das kannst du mit Leni zusammen herausfinden. Da Leni sich nicht mit Hexen auskennt, möchte ich sie lieber mit dir dorthin schicken.«

Nun fehlte noch die Vereinbarung mit dem störrischen Mädchen. Aber die würde er bekommen, so wahr er Bukko Hengsterlein hieß.

»Leni, ich möchte mit dir eine Abmachung treffen. Ich helfe dir dabei, deine Eltern zu finden und – wenn es möglich ist – ein Gegenmittel gegen das Zwistergift zu erwerben. Im Gegenzug wirst du deine Beobachtungen des Vorfalls im Museum einem Gesandten des Hexenrates schildern, wenn es von den Hexen und Zauberern gewünscht wird. Damit meine ich alle Beobachtungen. Außerdem soll in deinem Bericht deutlich werden, dass sich mein Neffe Niko tadellos verhalten hat, obwohl er von den Hexen im Stich gelassen wurde. Bist du einverstanden?«

Bukko streckte die Hand aus und wartete.

Leni zögerte einen Moment, dann griff sie für eine Sekunde zu. »Einverstanden.«

Im Anschluss ließ Bukko sich von Leni eine genaue Beschreibung ihrer Eltern geben und notierte ihre Adresse, bevor er seine beiden Besucher auf den Weg schickte. Er wartete, bis Niko und Leni vor die Tür des Fliegenschlags getreten waren. Sobald Bukko allein war, suchte er die Fliegen aus und leitete sie an.

Die Kräuterstube

Leni zog die Tür des Fliegenschlags zu, ließ aber den Metallknauf nicht los. Ihr Blick klebte an dem kleinen Brückenanbau, der sich farblich so gut an den gemauerten Brückenpfeiler anschmiegte wie ein Nachtfalter an graubraun geschuppte Baumrinde. Leni wusste, dass sie auf einer winzigen Plattform stand und dass sie nur vier Treppenstufen von der Brüstung der Brücke trennten. Aber die ersten zwei Stufen würde sie kopfüber zurücklegen müssen, und schon beim Gedanken daran drückte ihr Bauch wie in der Achterbahn.

Langsam zog Leni ihre Hand vom Türknauf zurück und drehte sich um. Ihr Herz galoppierte so schnell wie ein durchgegangenes Pferd. Der Wind zupfte an ihren Haaren und sie roch die Wassertropfen, die sich vom Fluss losrissen, um in die Luft zu steigen. Leni versuchte, den linken Fuß von der Plattform zu lösen und nach unten auf die Treppe zu schieben, doch schaffte es nicht. Stattdessen wartete sie auf den Moment, in dem sie in den Fluss fallen würde. Lenis Atem schwoll zu einem Rauschen an, das die Elbe übertönte.

Nur nicht nach oben schauen, schoss es ihr durch den Kopf.

Über ihr ging es bestimmt zehn Meter in die Tiefe. Unter ihr schienen die Treppenstufen zu schwanken. Vorsichtig tastete Leni nach dem Geländer, das die Treppe begrenzte. Die Kraft glitt aus ihren Knien.

Da tauchte Niko vor ihr auf. »Wo bleibst du denn?«

Leni war dankbar, dass sie in seine haselnussbraunen Augen schauen konnte. Sie merkte, wie er sie musterte, und wusste, dass ihr die Übelkeit ins Gesicht geschrieben stand.

Tatsächlich fragte Niko: »Ist es die Hexentreppe? Ist dir schlecht?«

»Ich hasse dieses Kopfüber-Zeugs«, presste Leni hervor.

Niko streckte ihr seine Hand entgegen. »Komm, ich halte dich fest! Es sind ja nur zwei Stufen, die du verkehrt herum laufen musst. Dann wirst du durch die Hexentreppe gesogen und kannst ganz normal weitergehen.«

Leni umklammerte mit der linken Hand weiter das Geländer, während sie ihre rechte langsam zu Niko schob. Er griff zu und zog sie leicht zu sich runter. Leni konzentrierte sich auf Nikos Gesicht und setzte ihren Fuß auf die erste Stufe. Sie stürzte nicht mit dem Kopf voran in die Elbe. Niko nickte ihr zu und lief rückwärts weiter. Nervös beobachtete Leni, wie er in der Treppe versank, als bestünde sie aus Treibsand. Schnell ließ sie seine Hand los. Einen Wimpernschlag später war Niko verschwunden. Wieder beugten sich Lenis Knie.

Noch eine Stufe, dachte sie.

Leni hielt die Luft an und machte einen weiteren Schritt. Kaum hatte sie die zweite Treppenstufe erreicht, spürte sie einen starken Sog an ihren Füßen. Der Stein, auf dem sie stand – oder an dem sie hing? –, gab nach, dann wurde sie herumgewirbelt, und endlich war der Himmel wieder über und der Fluss unter ihr. Die furchtbare Hälfte hatte Leni geschafft. Noch zwei Stufen, diesmal aufwärts, und sie wäre in Sicherheit.

Niko stand vor der Brüstung und wartete. »Da bist du ja!«, rief er mit erleichterter Stimme. »Ich hab mich schon gefragt, ob du’s allein schaffst oder ob ich dich holen muss.«

»Es wäre nicht so schlimm, wenn unter uns kein Fluss wär«, grummelte Leni.

Niko berührte die Brüstung, und sofort glitten die Mauersteine der Begrenzung lautlos zur Seite. Schnell schlüpfte er durch die Öffnung auf die Plattform des Pfeilers. Dann winkte er Leni.

»Beeil dich!«, drängelte Niko. »Es ist grad niemand da. Onkel Bukko will nicht, dass Uneingeweihte die Treppe bemerken. Den Fliegenschlag kann man vom Ufer und vom Fluss her nicht sehen. Er ist durch einen Zauber geschützt. Aber wenn jemand die Treppe runterläuft, wird er einfach durchgezogen, egal wer’s ist, und dann sieht er auch den Fliegenschlag.«

Mit Mühe gelang es Leni, nicht zum Fluss zu schielen. Ein Schritt. Und noch einer. Mit zitternden Beinen betrat sie die Aussichtsplattform. Sie brachte sich in Sicherheit, bevor sie zur Lücke in der Steinmauer zurückschaute.

Die Brüstung schloss sich genauso geräuschlos, wie der Durchgang entstanden war. Nach drei Sekunden versperrte die massive Mauer den Weg zur Treppe.

»Wieso hängt der Laden deines Onkels bloß verkehrt herum an einem Brückenpfeiler?«, fragte Leni.

»Das hat Bukko am besten gefallen. Sein Geschäft muss in der Stadt sein. Aber so sieht er sie nicht. Nur das Wasser. Onkel Bukko hat es gern ruhig.«

Und schräg, dachte Leni. Viele Besucher bekam der bestimmt nicht. Zögerlich lief sie bis zur Brückenmauer zurück und schaute nach unten. Zum Glück blieben die Mauersteine an ihrem Platz. Leni sah die Brückenpfeiler und darunter den Fluss. Ein Passagierschiff schob sich eben zwischen zwei Pfeilern hindurch. Den Fliegenschlag entdeckte sie nicht.

»Er ist nicht da«, sagte Leni verblüfft. Wieso nur war sie Niko die Treppe hinunter gefolgt, wo die doch im Nichts endete? Klar, der Weg nach unten war ihr viel kürzer erschienen als der Rückweg. Und auch der dicke Bukko schaffte es irgendwie runter und wieder hoch. Aber trotzdem. Ihr Verstand musste komplett ausgesetzt haben.

»Ich hab doch gesagt, dass der Fliegenschlag durch einen Zauber geschützt ist. Der Zugang zur Treppe öffnet sich auch nur für ausgewählte Personen. Wenn die Mauer geschlossen ist, kommt kein Uneingeweihter durch.«

Niko lächelte selbstzufrieden. Er kam Leni plötzlich ziemlich arrogant vor.

»Kein Uneingeweihter? Uneingeweiht in was denn? In Fliegensprache? Darauf kann ich verzichten!«

»Ich hab ja nicht dich gemeint, sondern unwissende und desinteressierte Menschen, die sich um nichts scheren. Die keine Ahnung von Magie haben.«

»Also Leute wie mich. Super. Jetzt bin ich ein Dessi.«

Niko schüttelte den Kopf. »Lass uns zur Kräuterstube gehen.«

Er lief los, und Leni folgte ihm. Sie war immer noch ein bisschen sauer auf Niko, aber sie war auf ihn angewiesen. Sie musste wohl zu diesem Hexenladen.

»Wo liegt denn die Kräuterstube?«, fragte Leni, während sie zurück in Richtung Altstadt liefen.

»Das ist etwas abseits der Stadt. Am Berghang. Kjellruns Haus ist vom Wald abgeschirmt. Genau richtig für Hexen, die ungestört sein wollen.«

Leni atmete jetzt schon heftig. Sie würde auf keinen Fall einen Berg hochlaufen. Geschweige denn durch die ganze Stadt.

»Wie weit ist das von hier? Wie kommen wir da hin? Mit dem Bus? Oder mit der Straßenbahn?«

Erleichtert fiel Leni ein, dass sie etwas Geld bei sich trug. Oma Frieda hatte ihr vor drei Tagen einen Zwanziger zugesteckt. Automatisch tastete sie in ihrer Jackentasche nach dem Schein.

»Oh nein«, sagte Niko. »Ich fahre bestimmt nicht mit dem Bus. Da starren mich immer alle so komisch an, wenn mir eine Fliege auf dem Ohr sitzt. Wir nehmen die Hexenbahn, die Ragana.«

»Hexenbahn, na klar. Fliegen Hexen gar nicht auf Besen?«

»Doch. Aber nicht am helllichten Tag über einer großen Stadt. Die Hexenbahn ist viel unauffälliger und schneller.«

Leni zuckte die Schultern. »Na gut. Wo fährt diese Hexenbahn ab?«

»Die Ragana besteht aus Hexenportalen. Es ist ein Netzwerk aus vielen magischen Knotenpunkten. Mit denen kann man sich schnell von Ort zu Ort bewegen. In großen Städten gibt es mehrere, auf dem Land wenige. Ganz in der Nähe ist eins dieser Portale. Das nehmen wir.«

Leni hatte an diesem einen Tag schon so viele seltsame Dinge erlebt, dass es auf eine weitere Merkwürdigkeit nicht ankam. Hauptsache, sie musste die Strecke nicht zu Fuß zurücklegen.

Bald hatten sie den Fluss hinter sich gelassen und betraten die Altstadt. Links von ihnen ragte der schwarze Turm des Residenzschlosses in den wolkenverhangenen Himmel. Unheilvoll sah er plötzlich aus. Als hätte ein Feuer die Steine verbrannt.

Lenis Schritte wurden automatisch langsamer und sie schaute auf die Turmuhr. Es war schon fast halb vier. Als Leni das Grüne Gewölbe mit ihren Eltern betreten hatte, war es erst kurz nach zwei gewesen. Die Zeit zwischen dem Tumult im Museum und ihrem Aufbruch im Fliegenschlag war im Nu verflogen.

Sie schlich hinter Niko her, der in Richtung Semperoper abbog. Leni starrte das runde Gebäude an, über das ihre Eltern so begeistert geredet hatten. Dann blieb sie stehen und schaute sich um. Vor Kurzem war sie mit Mutter und Vater hier vorbeigelaufen. Ob ihre Eltern immer noch in der Altstadt waren? Leni suchte nach den langen blonden Haaren ihrer Mutter und den dunklen Stoppeln ihres Vaters. Sie sah die vielen Pärchen, die um sie herumschlenderten. Ihre Eltern entdeckte sie nicht.

Enttäuscht lief Leni weiter. Die beiden konnten inzwischen wirklich überall sein. Hoffentlich waren Bukkos Fliegen so gut, wie der kleine Mann glaubte. Immerhin flogen die Dinger schnell. Vielleicht hatten sie ihre Eltern in ein paar Stunden gefunden.

Mit wenigen Schritten schloss Leni zu Niko auf, der auf sie wartete und sie besorgt ansah. Zu zweit setzten sie ihren Weg fort. Sie überquerten den Platz vor der Oper und liefen am Zwinger vorbei. Alles sah grau aus. Selbst das Wasser der Springbrunnen plätscherte trüb vor sich hin.

Während Niko in den Park einbog, quälte Leni ihr schlechtes Gewissen. Sie hatte ihren Eltern gegenüber behauptet, dass sie nichts auf der Welt in eine Gemäldegalerie bringen würde. Doch natürlich war Leni zu dieser Zeit verärgert gewesen, weil ihre Mutter ihr das Shoppen abgeschlagen hatte. Wenn Leni statt des Grünen Gewölbes den Zwinger betreten hätte, wäre sie nie von ihren Eltern getrennt worden. Dann hätte der Zwister Mutter und Vater nie gestochen. Aber nun war es zu spät. Jetzt würde sie Niko zur Kräuterstube folgen müssen, um ein Mittel gegen das Zwistergift zu finden. Zu dieser Kjellrun und zu Holger Nieswurz wollte er. Was für komische Namen!

Leni nahm die grünen Wiesen, den Teich und die rauschenden Bäume nur am Rande wahr. Während sie unbewusst nach etwas suchte, das wie eine Haltestelle für Hexen aussah, kreisten ihre Gedanken um Bukko und seine Fliegen.

»Was sind denn nun Kämmerlinge?«, fragte Leni. Niko und Bukko hatten diesen Begriff ein paarmal verwendet. Sie hatte keinen Schimmer, was ein Kämmerling sein sollte.

Niko gab sich zum ersten Mal, seit sie ihn getroffen hatte, verschlossen. »So heißen wir eben«, sagte er schlicht.

Leni musterte ihn. Niko war also ein Kämmerling. Er sah wie ein normaler Mensch aus und verhielt sich so lässig, dass sie neben ihm bestimmt total verkrampft wirkte. Aber im Gegensatz zu ihr hatte er auch keinen verkrüppelten Arm. Automatisch zog Leni ihre Hände in die Jackenärmel ein. So würde Niko den Längenunterschied zwischen dem rechten und dem linken Arm nicht bemerken. Wie alt er wohl war? Niko hatte im Fliegenschlag von einer Aufgabe bei irgendeinem Wächterorden geredet. Das hatte nach einem Praktikum geklungen. Womöglich war er ein, zwei Jahre älter als sie. Vierzehn oder fünfzehn also.

»Kämmerlinge sind schon Menschen, richtig?«, bohrte Leni nach, da sie sich nicht durch Nikos ausweichende Antwort abspeisen lassen wollte.

Leider reagierte Niko diesmal gar nicht auf ihre Frage. Stattdessen sagte er: »Wir sind gleich am Portal.«

»Immerhin«, murmelte Leni beleidigt. Dann kitzelte sie aber doch die Neugier. »Liegt die Haltestelle wirklich hier im Park? Ist das nicht zu auffällig, wenn ihr ständig solche Angst habt, dass euch ein paar uneingeweihte Dessis ein- und aussteigen sehen?«

Niko ließ sich nicht aufziehen. Er lächelte sie verschmitzt an und sagte: »Ein Raganaportal ist keine gewöhnliche Haltestelle. Es kommt keine Bahn, in die man einsteigen muss. Man betritt das Portal und verschwindet. Dann taucht man an anderer Stelle wieder auf.«

Leni staunte. »Wirklich? Man löst sich einfach in Luft auf? Hier sind bestimmt hunderte Leute unterwegs. Die müssen das doch merken.«

Niko lachte leise. »Nein. Das, was vielen Menschen wirklich egal ist, sind ihre Mitmenschen. Deshalb bemerken sie es gar nicht, wenn jemand plötzlich weg ist. Die meisten starren eh nur auf ihr Handy, sogar wenn sie draußen unterwegs sind. Wenn man das wegnehmen würde, würden sie es merken. Aber die Person neben einem? Unwahrscheinlich.«

Unwillkürlich flog Lenis Hand aus dem Jackenärmel zu ihrer Hosentasche, die natürlich leer war. Denn ihre Mutter hatte ihr das Handy am Morgen weggenommen, weil Leni ständig damit getextet hatte. Zu blöd war das.

Inzwischen hatten sie das Ende des Parks erreicht. Am Ufer des Teiches verbreiterte sich der Weg, und Leni verließ mit Niko zusammen die von Bäumen und Büschen abgegrenzte Grünfläche. Direkt hinter einer Gruppe Touristen, die alle gelbe Schirmmützen trugen, liefen sie außen am Park entlang. Dann überquerten sie eine schmale Straße und ließen die Menschentraube weiterziehen.

Auf dem mit Steinplatten gepflasterten Gehweg hielt Niko unvermittelt an. »Hier ist es«, flüsterte er.

Leni schaute ungläubig auf die altmodische Straßenlaterne zu ihrer rechten Seite, dann zum Parkscheinautomaten zur linken. Hinter dem Automaten erstreckte sich ein langes Gebäude. Alles sah unscheinbar und normal aus.

»Wo?«, fragte Leni leise zurück.

Niko deutete auf den Boden direkt vor ihnen. Auf den Gehweg hatte jemand eine weiße Kreidezeichnung gekritzelt. Das Bild erinnerte Leni an eine dieser Himmel-und-Hölle-Hüpfkästen, die kleine Kinder ab und zu auf eine Hofeinfahrt schmierten. Das hier sah größer und verzweigter aus. Manche der Kästchen zierten verschlungene Symbole, die Leni nie zuvor gesehen hatte. Doch alles in allem sah die Zeichnung wie ein Hüpfspiel und nicht wie eine geheime Hexentransportstelle aus.

»Und jetzt?«, fragte Leni.

»Jetzt passt du genau auf und tust das, was ich tue. Sonst bleibst du nämlich hier oder landest wer weiß wo.«

Leni nickte. Sie würde bestimmt aufpassen. Auf keinen Fall wollte sie plötzlich allein in irgendeiner Hexenküche stehen.

Niko zeigte auf das Ende einer Verzweigung. »Hier steigen wir ein. Siehst du? Bei einem Raganaportal muss man den richtigen Eingang nehmen, um zum gewünschten Ort zu gelangen. Das Portal bedient mehrere Ziele, und wir müssen in den Wald auf dem Berghang.«

Niko griff nach dem Laternenmast, während er den linken Fuß auf das erste Viereck der Zeichnung setzte.

Die Luft über den gekritzelten Symbolen flimmerte.

Niko schob den rechten Fuß auf eines der zwei Kästchen hinter dem ersten.

Sofort stiegen dünne Schlieren von der Zeichnung auf, als ob die Steine des Gehweges Hitze ausstrahlten. Im April war das allerdings unwahrscheinlich. Das Flimmern verstärkte sich weiter, und eine Handbreit über den gemalten Kästchen leuchtete und wirbelte die Luft im Kreis. Während Niko bedacht weiterlief, drohte der Wirbel seine Füße zu verschlucken.

Schnell trat Leni auf das Ende der verzweigten Zeichnung. Sie hatte Angst, Niko aus den Augen zu verlieren. Und sie wollte auf keinen Fall mutterseelenallein im Nirgendwo auftauchen. Leni holte Niko ein und griff mit ihrer linken Hand nach ihm, als er ihr seinen Arm entgegenstreckte.

Langsam führte Niko sie mitten in den Luftwirbel hinein. Kurz krabbelten hundert Ameisen über Lenis Waden. Dann wurde sie von einem Sog erfasst und mitgerissen.

Leni verlor sofort die Orientierung. Sie wusste nicht mehr, wo oben und wo unten war. Die Schwerkraft kam ständig aus einer anderen Richtung. Zum Teil fiel Leni ins Dunkel hinein, zum Teil wurde sie hin und her geworfen. Sie dachte, sie sollte ihre eigenen Schreie hören, aber in ihren Ohren war nur Rauschen. Fest presste Leni ihre Augenlider zu, und mit einem Mal war der Spuk vorbei.

Langsam öffnete sie ihre Augen wieder und war erstaunt, dass sie auf beiden Beinen stand. Die zitterten zwar ein bisschen, und ihre Finger umklammerten krampfhaft die von Niko. Aber immerhin: Sie war in diesem Strudel nicht verloren gegangen. Vorsichtig zog Leni ihre Hand zurück und wartete, bis ihre Beine nicht länger wie Gummischnüre wackelten.

»Das nächste Mal nehmen wir den Bus«, sagte sie. »Ich steige nie, nie wieder in so ein Portal.«

»Das erste Mal fühlt sich ein bisschen komisch an. Aber dann gewöhnt man sich dran. So schlimm war’s ja gar nicht, oder?«

Leni starrte Niko sprachlos an. Meinte er das ernst? Doch Niko grinste nur. Also kehrte sie ihm demonstrativ den Rücken zu und musterte ihre Umgebung.

Sie stand auf einer kleinen Waldlichtung, mitten in einem Kreis aus großen, rot schimmernden Fliegenpilzen. Leni wusste so gut wie nichts über Pilze, aber diese giftigen erkannte sie sofort. Mit ein paar schnellen Schritten lief sie aus dem Pilzkreis heraus. Sie würde auf keinen Fall warten, bis das Portal beschloss, sie erneut aufzusaugen.

Niko folgte ihr aus dem magischen Kreis. Während Leni überlegte, ob es im Frühling überhaupt Pilze geben sollte, verschwand er schon zwischen den Bäumen. Notgedrungen lief Leni hinterher.

Bald erreichten sie den Berghang, von dem Niko gesprochen hatte. Leni blieb überrascht stehen, als sie tief unten den Fluss sah. Von Wiesen eingerahmt schlängelte sich die Elbe durch das Tal und verlor sich rechter Hand im Häusermeer von Dresden.

»Die Aussicht ist schön«, sagte Leni. »Wir sind ja wirklich weit gefahren.«

»Eher geflogen«, sagte Niko. Er deutete mit der Hand zu einem kleinen Haus, das halb hinter den Bäumen verborgen lag. »Da vorn liegt Kjellruns Kräuterstube. Lass uns hingehen!«

Zusammen liefen sie auf einem schmalen Pfad bergab in Richtung des Hauses. Je näher sie ihm kamen, desto kühler wurde die Luft um sie herum und desto nebliger wurde der Boden zu ihren Füßen. Als sie ihr Ziel fast erreicht hatten, standen Leni und Niko bereits bis zu den Knöcheln in milchig weißen Nebelschwaden.

Trockene Kälte kroch durch Lenis Sneaker und ließ sie frösteln. Wie ein Storch stakste sie über den Boden, um weniger vom Nebel abzubekommen.

Direkt vor dem kleinen Haus stand eine Reihe gebogener Kiefern, deren Baumkronen sich an das Dach anschmiegten. Dadurch bildeten die Bäume einen Gang, der eine Seite des Hauses vor neugierigen Blicken schützte.

Leni trat hinter Niko in den Baumtunnel hinein und sah sofort, dass der Nebel aus den Ritzen der geschlossenen Haustür quoll.

»Ist das immer so?«, fragte sie zögerlich. Sie war sich nicht sicher, was sie erwarten sollte, da Kjellrun und Holger angeblich mit magischen Utensilien handelten. Trotzdem hatte sie ein ungutes Gefühl im Bauch. Eine Tür, aus der Unmengen an Nebel waberten, war bestimmt keine freundliche Einladung, in das Haus einzutreten.

»Nein, das ist merkwürdig. Da drinnen muss etwas passiert sein. Sieht wie ein magischer Unfall aus.« Niko ergriff die Klinke und rüttelte an der Tür. Doch diese gab nicht nach. »Verschlossen«, sagte er. »Komisch.«

Leni kam alles komisch vor, was sie in den letzten Stunden erlebt hatte, und schwieg. Sie fühlte sich fehl an diesem Ort und wünschte, sie wäre zu Hause in ihrem Zimmer. Am liebsten würde sie sich mit ihrem Handy in die weichen Kissen auf ihrem Bett einkuscheln und nachsehen, was Kati und Emilia gerade machten. Oh, sie vermisste ihr Handy! Ohne Smartphone war sie von der richtigen Welt abgeschnitten. Garantiert fragten sich ihre Freundinnen schon, wo sie herumgeisterte. Bei Hexen und Kämmerlingen. Toll. Aber sie würde alles tun, um das Heilmittel für ihre Eltern aufzutreiben.

Niko musterte indes abschätzend den Weg, den sie gekommen waren, dann die Tür direkt vor ihnen. Er neigte nachdenklich den Kopf, während er in der Seitentasche seines Pullovers herumkramte. Als er die Hand wieder aus der Tasche zog, lag darin etwas, das aussah wie eine breite, behaarte Lakritzschnecke. Das aufgewickelte Ding blieb jedoch nicht leblos in Nikos Handfläche liegen. Im Handumdrehen entrollte es sich zu einem langen Tausendfüßer und zappelte hin und her.

»Das ist ein Haarborstler«, sagte Niko stolz und zeigte Leni das Tier. »Er ist unglaublich biegsam und kann sich mit seinen festen Haaren so gut an Ecken und Kanten anpassen, dass er ein toller Schlüssel ist.«

»Bitte sag mir, dass wir nicht in dieses Haus einbrechen«, bat Leni, ohne auf das Tier einzugehen.

»Das ist doch kein richtiger Einbruch. Irgendwas ist da drin vorgefallen, das ist ja wohl klar. Ich will nur nachsehen, ob alles in Ordnung ist. Holger ist schließlich ein Kunde von Onkel Bukko. Außerdem brauchst du seine Hilfe. Oder die von Kjellrun. Also müssen wir da rein und mit ihnen reden.«

Leni widersprach ihm nicht, denn Niko hatte recht. Sie hoffte, dass die Kräuterhändler ein Heilmittel gegen das Zwistergift auftreiben konnten. Vielleicht freuten die beiden sich, wenn sie und Niko ihnen aus der Klemme halfen, oder würden es zumindest verstehen, wenn sie plötzlich in dem abgeschlossenen Laden auftauchten?

Wie Niko es zuvor getan hatte, schaute Leni nervös zurück zum dichten Wald. Dieser lag still und verlassen da. Niemand trat heraus. Niemand würde es bemerken, wenn Niko die Tür aufschloss. Dennoch hatte Leni das Gefühl, dass sich tausend unsichtbare Augen auf sie hefteten.

Leni überlegte, ob Niko öfter in fremde Häuser einstieg. Immerhin hatte sie ihn heute erst kennengelernt. Sie wusste nichts über ihn, außer dass sein Onkel ein Fliegenhaus an einer Brücke besaß und dass er ein paar Hexen kannte. Leider brauchte Leni eine Art Zaubertrank. Wenn sie Niko jetzt stehen ließ, würde es wer weiß wie lang dauern, bis sie zurück in der Stadt war. Selbst wenn sie zur Polizei fand, könnte die ihr gar nicht helfen. Normale Polizisten hatten garantiert noch nie von einem Zwister gehört und von einem Mittel gegen sein Gift schon gar nicht.

Leni beschloss, die Sache mit dem Haarborstler auszusitzen. Aber sie würde wachsam bleiben. Falls dieser Holger Nieswurz ihr ein Heilmittel gab, würde sie damit sofort nach Hause aufbrechen. Sie hoffte, dass ihre Eltern dort auf sie warteten. Denn wenn nicht … Darüber dachte sie besser nicht nach.

Der Haarborstler erfüllte seinen Dienst lautlos. Er krabbelte behände in das Schlüsselloch, bis lediglich ein kleines Stück vom Hinterleib herausragte. Vorsichtig umfasste Niko dieses Ende mit zwei Fingern und drehte es sanft zur Seite. Sofort drückte er die Türklinke nach unten. Die Tür ließ sich öffnen. Niko hielt kurz inne, und der Haarborstler kroch aus dem Schlüsselloch heraus, bevor er sich wie eine Raupe zusammenrollte. Niko steckte das Tier zurück in die Tasche und grinste zufrieden. Dann öffnete er die Tür der Kräuterstube langsam immer weiter.

Ein eiskalter Nebelschwall rauschte aus dem Haus und umspülte die Beine von Leni und Niko. Sie wichen gleichzeitig einen Schritt zurück und warteten, bis sich das wabernde Weiß gleichmäßig um sie herum verteilt hatte. Mit Unbehagen stellte Leni fest, dass sie ihren Körper von den Füßen bis zu den Knien nicht sehen konnte. Sie sagte sich im Stillen, dass sie auf einem gepflasterten Weg stand, der in ein Geschäft führte.

»Ich schicke lieber erst mal eine Fliege hinein«, sagte Niko. Er zog ein zappelndes Tier aus seiner Tasche, das sofort im Inneren des Hauses verschwand.

Leni trat von einem Bein auf das andere, während sie wartete. Sie rätselte, wie die Fliege in dem wabernden Nebel überhaupt etwas erkennen sollte und ob sie es wieder herausschaffen würde. Leni spähte durch das Fenster in der Hauswand ins Innere, sah aber rein gar nichts.

Nach ein paar endlosen Minuten kam das Insekt schließlich angeschwirrt und landete auf Nikos Hand. Die Fliege summte lautstark und rieb ihre Vorderfüße aneinander. Während Leni keine Ahnung hatte, was das Tier erzählte, hörte Niko aus dem Gesumme offenbar etwas heraus.

»Drinnen herrscht Chaos«, berichtete er. »Zwei Regale sind umgekippt, und der Inhalt liegt auf dem Boden. Viel ist zu Bruch gegangen. Es wurden Dinge vermischt, die wohl besser getrennt geblieben wären. Daher kommt vermutlich der Nebel. Krips meint, wir müssen aufpassen, wohin wir treten, falls wir rein wollen. Oh, und weder Kjellrun noch Holger sind da drin.«

Leni brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass Krips die Fliege war, die Niko hineingeschickt hatte. Zum Glück hatte sie das Haus nicht selbst betreten. »Wo können die denn sein?«, fragte Leni seufzend.

»Keine Ahnung. Kjellrun ist öfter unterwegs. Aber dass Holger nicht da ist, ist merkwürdig. Ich lasse Krips nach Fährten suchen.«

Die Fliege summte davon, und plötzlich war es vor der offenen Tür unnatürlich still.

Abschätzend lugte Niko ins Innere der Kräuterstube. »Ich würd mich echt gern da drin umsehen.«

»Wozu? Du kennst das doch alles. Im Moment ist es bestimmt gefährlich, da reinzugehen.«

»Schon. Aber was man nicht selbst sieht, hat man verpasst. Ich frage mich, was da drinnen passiert ist. Außerdem war ich erst zweimal hier und konnte nicht ungestört rumstöbern. Schade, dass ich nicht zaubern kann.«

Leni fragte sich, was er damit meinte. »Du kannst mit Fliegen sprechen. Ist das nichts Magisches?«

»Das ist eine Fähigkeit, die ein Kämmerling einfach erlernt. Ich hab noch nie von einem von uns gehört, der einen echten Zauberspruch hingekriegt hat.«

»Was würdest du denn zaubern? Den Nebel wegwünschen und alles aufräumen?«

»Um Ordnung in das Chaos dort zu bringen, bräuchte man ganz schön viele Zaubersprüche. Das geht nicht mit einem Wisch vom Zauberstab. Aber ich könnte es regnen lassen. Regen vertreibt doch Nebel.«

Leni überlegte, ob das auch für Hexennebel in einem Haus galt. Sie blickte auf die abziehenden weißen Schwaden und nahm zum ersten Mal, seit sie an der Kräuterstube angekommen waren, die metallene Gießkanne wahr, die unter dem Fenster an der Wand stand. Mit ihrem Ärmel deutete Leni auf die Kanne und sagte: »Guck mal, was da steht. Vielleicht ist ja Wasser drin.«

Niko sah sie merkwürdig an. Doch Leni verschränkte ihre Arme vor dem Körper und starrte zurück. Was erwartete er? Dass sie selbst die Gießkanne schnappte und den Nebel wegspülte? Sie würde mit ihrem verkrüppelten Arm nichts direkt vor seinen Augen hochheben.

Nach einem kurzen Moment lief Niko zur Gießkanne hinüber und lugte hinein. Sofort erhellte sich sein Gesicht. »Bingo.«

Er hob die Kanne vorsichtig hoch und trug sie zum Eingang der Kräuterstube. Die Gießkanne schien gefüllt zu sein. Zumindest war sie schwer, denn Niko schwankte ein wenig unter seiner Last. Direkt an der geöffneten Tür blieb er stehen.

»Mal sehen, ob das jetzt klappt«, sagte Niko mit einem hoffnungsvollen Lächeln. Dann goss er ein wenig Wasser auf den Boden unmittelbar vor der Haustür.

Der Nebel zerstob in blitzende Funken, und Lenis pinke Sneaker tauchten auf.

Dennoch fragte Leni sich, ob ihre Idee die beste war. »Ich weiß ja nicht, was diese Kjellrun dazu sagt, wenn du jetzt den Boden ihres Ladens gießt. Vielleicht ist sie darüber nicht so begeistert«, wandte sie ein.

Leni hatte echte Zweifel, ob Niko das Recht hatte, den Nebel wegzuwaschen, nur damit er ein bisschen herumschnüffeln konnte. Zumindest tat sie selbst nichts Unrechtes. Niko hielt ja die Gießkanne. Und er hatte die Tür aufgeschlossen.

»Kjellrun müsste den Nebel doch auch entfernen, bevor sie reingehen könnte«, sagte Niko. »Also, los geht’s!«

»Vielleicht löst er sich bald von allein auf«, sagte Leni.

Doch da hatte Niko bereits einen Fuß in den Laden gesetzt und goss Wasser auf den Boden. Im Handumdrehen verwandelte sich der Nebel in kleine, grelle Lichtblitze.

Leni trat dicht an den Eingang heran, um besser zu sehen. Sie schaute zu, wie Niko Schritt für Schritt in die dunkle Kräuterstube hineinlief. Dabei schüttete er immer wieder etwas Wasser direkt vor seinen Füßen aus. Sobald die Flüssigkeit auf den Boden traf, gab sie die Sicht auf ein weiteres Stück der Fläche frei.

Probeweise schob Leni einen Fuß in den Laden. Auch sie hatte die Neugier gepackt. Außerdem hatte sie keine Lust, allein vor der Tür zu warten. Zumindest war diese Kräuterstube spannend. Wer weiß, was es da drin alles gab?

Leni warf ihr schlechtes Gewissen gänzlich über Bord und trat weiter in den Raum hinein. Augenblicklich umhüllte sie eine wilde Duftmischung aus abgebrannten Räucherstäbchen, Leder und Früchtetee. Zu ihren Füßen lagen schwarze Kerzen, zerbrochene Glasständer, aus denen bunter Sand gerieselt war, und ehemals getrocknete Blüten. Die waren jetzt logischerweise durch das Gießwasser eingeweicht.

Leni schubste mit dem Fuß eine Kerze beiseite und stakste weiter. Dabei achtete sie darauf, hinter Niko zu bleiben. Denn genügend Ecken konnte sie weiterhin nicht einsehen.

Niko lief langsam durch den Raum. Bei jeder Nebelbank goss er etwas Wasser aus und wartete, bis der Dunst verpufft war. Dann ging er weiter.

Leni tapste vorsichtig hinterher. Dabei schaute sie sich sorgfältig um und passte auf, dass sie auf so wenig Dinge wie möglich trat. Ganz konnte sie es nicht vermeiden. Der Boden war mit Pflanzenteilen und Scherben übersät. Auch Ketten und Ringe, kleine Holzfiguren und lederne Beutel lagen herum. Einmal stieß Leni an ein umgekipptes Regal, das soweit im Nebel verborgen lag, dass sie es nicht gesehen hatte. Aber um den blauen Schleimhaufen und die Dornenranke machte sie einen großen Bogen.

Als Niko einen Wasserschwall neben eines der Regale goss, zischte es plötzlich laut. Leni sprang erschrocken zur Seite und wäre fast auf dem glitschigen Boden ausgerutscht. Sie ruderte mit den Armen und fing sich gerade rechtzeitig. Als Leni erkannte, auf was sie beinahe gefallen wäre, erstarrte sie. Ein giftgelber Schaum bildete Blasen, die aussahen, als würden sie gleich platzen.

»Was ist das bloß?«, fragte Leni entgeistert. Schnell lief sie ein paar Schritte zurück.

Niko musterte den Schaum gelassen. »Ist ja nichts passiert. Warte ruhig dort drüben. Ich begieße noch den restlichen Nebel. Es ist nicht mehr viel davon übrig.« Er schleppte die Kanne zu den letzten Nebelschwaden und löste sie auf.

Schließlich lag der Raum klar und deutlich da. Es war ein nasses, furchtbares Durcheinander. Als hätte jemand die Waren eines Blumenladens, eines Schmuckgeschäftes und eines Geschenkeladens auf den Boden gekippt – und begossen. Wer immer für den ersten Teil des Chaos verantwortlich war, hatte ganze Arbeit geleistet.

Niko durchquerte leichtfüßig den Raum. Ab und zu bückte er sich und betrachtete etwas näher. Einen der vielen kleinen Halbedelsteine hob er auf und ließ ihn in der Tasche seines Pullovers verschwinden.

»Hast du gar kein schlechtes Gewissen dabei, dir den einzustecken?«, fragte Leni verwundert.