Die drei Lichter der kleinen Veronika - Manfred Kyber - E-Book

Die drei Lichter der kleinen Veronika E-Book

Manfred Kyber

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Beschreibung

Dieses eBook: "Die drei Lichter der kleinen Veronika" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Manfred Kyber (1880-1933) war ein deutscher Schriftsteller, Theaterkritiker, Dramatiker, Lyriker und Übersetzer deutschbaltischer Herkunft, der vor allem durch seine ungewöhnlichen Tiergeschichten bekannt geworden ist. Aus dem Buch: "Es war ein Garten der Geister, in dem die kleine Veronika im Sande saß und spielte. Aber ihr müßt nicht denken, daß dieser Garten ein ganz besonderer Garten war. Das war er gar nicht. Es standen viele grüne Bäume darin, wie sie auch sonst überall zu sehen sind, Kartoffeln, Kohlpflanzen und Radieschen saßen ordentlich nebeneinander in langen Reihen, und Rosen und Lilien leuchteten rot und weiß in der Frühsommersonne. Es war ein großer Garten, und er war ganz umfriedet von einer hohen, halbverfallenen und mit Moos bewachsenen Mauer, eine stille Welt für sich, wie es alle alten Gärten sind. An dem einen Ende lag, unter blühenden Sträuchern verborgen, ein kleines Gartenhaus im Barockstil, in dem Onkel Johannes wohnte, und am anderen Ende stand ein großes graues Gebäude aus sehr alter Zeit, und in ihm war die kleine Veronika zu Hause. Es war dies das Haus der Schatten. Aber davon kann ich erst später erzählen, denn heute lebte die kleine Veronika noch gar nicht recht bewußt darin. Heute lebte die kleine Veronika noch ganz und gar im Garten der Geister, und wenn es auch nur ein ganz gewöhnlicher Garten war, wie ich euch sagte - die kleine Veronika sah ihn mit den inneren Augen, die sie noch aus dem Himmel mitgebracht hatte, und für solche Augen ist jeder Garten ein Garten der Geister, und die ganze Welt ist ein Meer von Leben und Licht."

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Manfred Kyber

Die drei Lichter der kleinen Veronika

Roman einer Kinderseele in dieser und jener Welt

e-artnow, 2014
ISBN 978-80-268-1915-8

Inhaltsverzeichnis

1. Im Garten der Geister
2. Das Haus der Schatten
3. Aron Mendels Bürde
4. Marseillaise
5. Irreloh
6. Das Wunder der Kröte
7. Die Toten in der Kirche zu Halmar
8. Karneval
9. Moregen

Motto

Wer mit den Augen der Andacht geschaut, wie die Seele der Erde Kristalle gebaut, Wer die Flamme im keimenden Kern gesehn, im Leben den Tod, Geburt im Vergehn – Wer in Menschen und Tieren den Bruder fand und im Bruder den Bruder und Gott erkannt, der feiert am Tisch des heiligen Gral mit dem Heiland der Liebe das Abendmahl –. Er sucht und findet, wie Gott es verhieß,

1. Im Garten der Geister

Inhaltsverzeichnis

Es war ein Garten der Geister, in dem die kleine Veronika im Sande saß und spielte. Aber ihr müßt nicht denken, daß dieser Garten ein ganz besonderer Garten war. Das war er gar nicht. Es standen viele grüne Bäume darin, wie sie auch sonst überall zu sehen sind, Kartoffeln, Kohlpflanzen und Radieschen saßen ordentlich nebeneinander in langen Reihen, und Rosen und Lilien leuchteten rot und weiß in der Frühsommersonne. Es war ein großer Garten, und er war ganz umfriedet von einer hohen, halbverfallenen und mit Moos bewachsenen Mauer, eine stille Welt für sich, wie es alle alten Gärten sind. An dem einen Ende lag, unter blühenden Sträuchern verborgen, ein kleines Gartenhaus im Barockstil, in dem Onkel Johannes wohnte, und am anderen Ende stand ein großes graues Gebäude aus sehr alter Zeit, und in ihm war die kleine Veronika zu Hause. Es war dies das Haus der Schatten. Aber davon kann ich erst später erzählen, denn heute lebte die kleine Veronika noch gar nicht recht bewußt darin. Heute lebte die kleine Veronika noch ganz und gar im Garten der Geister, und wenn es auch nur ein ganz gewöhnlicher Garten war, wie ich euch sagte – die kleine Veronika sah ihn mit den inneren Augen, die sie noch aus dem Himmel mitgebracht hatte, und für solche Augen ist jeder Garten ein Garten der Geister, und die ganze Welt ist ein Meer von Leben und Licht. Wir alle haben die Erde einmal so gesehen, als wir kleine Kinder waren, aber dann kam die große Dämmerung, die himmlischen Augen schliefen ein, und nun haben wir das alles vergessen. Aber ich will euch an das erinnern, was ihr vergessen habt, wie ich mich selbst erinnert habe aus Dunkel und Dämmerung.

Schau ins Leben und ins Licht, kleine Veronika, ehe die himmlischen Augen eingeschlafen sind. Dann hast du etwas, woran du dich erinnern kannst, wenn die Dämmerung gekommen ist und es dunkel um dich wird. Denn es wird dunkel um jeden, damit er schmerzvoll bewußt wird und sich selber findet in der Dunkelheit – sich selbst und Gott. Aber das ist ein langer Weg, kleine Veronika. Es ist schwer, daß wir alle ihn gehen müssen.

Die Kinderschaufel und der kleine Blecheimer, auf dem ein froher roter Hase gemalt war, lagen untätig vor einem umgegrabenen Beet, in das die kleine Veronika sehr sonderbare Dinge pflanzen wollte. Aber nun saß sie still und staunte mit weiten Augen in den Garten. Noch waren ja ihre Augen die himmlischen Augen, und der ganz gewöhnliche Garten war ein Garten der Geister. Was gab es hier alles zu schauen und zu hören!

»Möchtest du dir nicht mein Landhaus betrachten, Veronika?« fragte ein großer Käfer, der vor ihr saß, und machte eine empfehlende Bewegung mit dem Fühler.

»Siehe, wie weiß unsere Blüten sind«, sagten die Liliengeister, »so rein und weiß ist das himmlische Hemd, das du einmal trugst.«

»Hast du bemerkt, wie geschickt sich schon meine Kinder zusammenrollen können?« fragte die Igelmutter, die mit ihrer Familie in einem behaglichen Loch der moosbewachsenen Mauer saß.

»Schau, wie rot unsere Kelche sind«, sagten die Rosenseelen, »so rein und so rot ist der Kelch des Grales, nach dem du einmal die Arme ausgestreckt hast. Du denkst jetzt nicht mehr daran, aber du wirst wieder daran denken, wenn die Dämmerung über dich gekommen ist, kleine Veronika.«

»Findest du nicht, daß meine Kleinen wunderbar fliegen können?« fragte die Amsel und streckte den gelben Schnabel mit einer gewissen Herausforderung vor, »wie geschickt sie wieder auf dem Nestrand landen! Dabei haben sie noch nicht einmal sehr lange geübt, nein, das kann man eigentlich nicht sagen. Hast du schon jemals eine solche Geschicklichkeit gesehen?«

Die Kohlblätter rauschten und die Falter gaukelten darüber hin.

»Du bist wie wir, kleine Veronika, du bist eine Raupe und wirst ein Falter werden. Du wirst dich verpuppen, wenn die Dämmerung kommt.«

Die Radieschen stießen sich mit den Blättern an und lachten. Sie hatten sich irgendeine Geschichte erzählt, die komisch war. Aber Veronika hatte die Geschichte nicht gehört, und das war auch gut gewesen, denn es war gewiß keine Geschichte für kleine Kinder. Radieschen sind überhaupt sehr vorlaut und etwas bissig.

Man konnte ja auch gar nicht alles hören und sehen im Garten der Geister, es waren viel zu viele Stimmen und Bilder, und alles war in Licht und Leben getaucht, das sich ständig bewegte. Der kleinen Veronika schien es, als drehe sich alles im Kreise um sie herum. Aber es war ein bunter und lustiger Reigen, und es lohnte sich schon, hineinzugucken.

Ach, kleine Veronika, wüßtest du, wie bald die Dämmerung kommt, du würdest dich nicht satt sehen und hören können, und dir wäre, als müßtest du alle Bilder und alle Stimmen im Garten der Geister tief in die Seele atmen, daß sie immer darin bleiben. Nachher ist alles so dunkel, wenn die himmlischen Augen sich schließen.

Wie klar und wie durchsichtig war jetzt alles anzuschauen, als ob die Sonne die Erde durchlichte und als wäre alles aus feinerem Stoffe gewoben. Der ganze Garten war voller Gestalten. In der Luft tanzten sie, und wenn man in die Bäume hineinguckte, dann sah man die Elfen darin stehen und mit den

Händen winken. Es rauschte und raunte aus allen Ecken, und sogar die bunten Kieselsteine bewegten sich, als wären es Murmeln, die mit sich selber spielten. Und mitten in all das leuchtende Leben warf plötzlich mit leisem Lachen die Quellnixe ihre silbernen Wasserkugeln, daß sie in feinem Sprühregen in der zitternden Luft zerstoben. Sie konnte das ganz einfach machen, wenn sie bloß mit der Hand spritzte. Man muß es nur einmal gesehen haben, es sieht wirklich wunderhübsch aus.

»Willst du mit meinen blanken Bällen spielen, Veronika?« rief die Quellnixe, »willst du Diamanten auf deinem Kleid, wie die Königstochter im Märchen? Das kannst du alles haben, das Märchen ist hier, wir sind ja im Garten der Geister!«

Veronika fing einen der blanken Bälle auf, aber er zerging ihr in der Hand. Das kam, weil der Garten der Geister am Haus der Schatten lag, darum müssen hier die silbernen Märchenbälle zerspringen, weil sie zu nah an der Dämmerung sind. Das aber wußte die kleine Veronika noch nicht.

Doch jetzt bemerkte sie, wie es an ihren nackten Beinen juckte. Ein feiner Fühler strich darüber hin, gleichsam, um an etwas zu erinnern.

»Hättest du jetzt nicht Zeit, dir mein Landhaus zu betrachten?« fragte der Käfer, und es war vernehmlich ein Ton von Unwillen in seiner schwachen Stimme. »Ich bin gewiß geduldig, aber so etwas ist mir noch nicht vorgekommen, daß jemand einfach dasitzt und ins Leere starrt, wenn man ihn auffordert, ein Landhaus zu besichtigen. Glaubst du, daß es ein gewöhnliches Landhaus ist? Das wirst du nicht mehr denken, wenn du es erst gesehen hast.«

»Bitte entschuldige«, sagte Veronika, »aber es gibt hier so viel zu hören und zu sehen. Mir ist ganz wirr im Kopf davon, und doch ist das alles wunderschön.«

»Ja, gewiß ist es ganz schön, sagte der Käfer, »aber es kann doch nicht irgendwie mit meinem Landhaus verglichen werden. Komm nur endlich mit, es ist ganz nahe von hier, nur einige hundert Schritte.«

»Einige hundert Schritte ist gar nicht so nahe«, meinte Veronika, »da brauchst du doch sicher eine ganze Weile, um hinzukrabbeln. Ich mache das freilich schneller.«

»Nach meinen Beinen einige hundert Schritte«, sagte der Käfer, »nach meinen Beinen gemessen. Ich messe alles nur nach meinen Beinen, das tut ein jeder, der etwas auf sich hält. Die eigenen Beine sind eben das, worauf man sich am ehesten verlassen kann.«

»Gerade darum dachte ich an meine Beine und nicht an deine«, sagte Veronika, »und ich muß überhaupt erst einmal Mutzeputz fragen, ob ich mir dein Landhaus ansehen darf. Ich tue nichts ohne Mutzeputz.«

Der Kater Mutzeputz war die Vertrauensperson der kleinen Veronika und immer in ihrer Nähe. Er strich auf samtenen Pfoten zwischen Rosen und Lilien umher, begutachtete den Kohl und beaufsichtigte die Radieschen – in jeder Hinsicht sah er nach, ob alles in Ordnung war. Dazwischen spielte er mit Kieselsteinen. Wenn sie sehr rund waren, konnte er nicht daran vorübergehen. Denn das erheiterte ihn.

»Mutzeputz!« rief Veronika, »bitte, komm doch einmal her.«

Der Kater Mutzeputz kam sonst niemals, wenn man ihn rief. Man muß das den Leuten nicht einbilden, dachte er. Nur wenn Veronika nach ihm verlangte, erschien er unverzüglich. Denn sie bat ihn immer höflich, und außerdem war er der Überzeugung, daß sie ihn benötige und ohne seinen Rat nichts unternehmen könne. Er fühlte eine Verantwortung für sie, und das war auch wirklich in vielem zutreffend. Noch nie hat man es zu bereuen gehabt, wenn man sich auf jemand wie den Kater Mutzeputz verließ.

Mit seinen schönen gleitenden Bewegungen strich Mutzeputz an den Füßen der kleinen Veronika, und die Sonne warf blitzende Lichter über sein weiches Fell. Er war grau getigert, und dazu hatte er eine feierliche weiße Weste und weiße Handschuhe an den Vorderpfoten. Immer wieder aufs neue wurde Veronika davon durchdrungen, welch ein außergewöhnlicher und großartiger Herr der Kater Mutzeputz war, und ihre Hände streichelten ihn zärtlich.

»Du hast ja nette Bekanntschaften, Veronika«, schrie die Amsel aus ihrem Nest und klappte aufgeregt mit dem Schnabel, »pfui – das hätte ich nicht von dir gedacht, daß du solch eine Person bist!«

»Halte den Schnabel!« sagte Mutzeputz.

»Mutzeputz«, sagte Veronika, »der Käfer hier möchte mir gerne sein Landhaus zeigen. Glaubst du, daß ich es mir ansehen darf?«

Mutzeputz blickte geringschätzig auf den Käfer herab.

»Es ist ein harmloses und ganz belangloses Geschöpf«, meinte er, »ich glaube zwar nicht, daß es sich lohnt, sein Landhaus zu besichtigen. Aber wenn es dich zerstreut, so magst du es ruhig tun. Ich habe eben auch keine Zeit, dich zu beschäftigen, denn ich muß sehen, ob alles in Ordnung ist.«

Der Kater Mutzeputz verschwand unter den Radieschen. Er hob eines mit der Kralle heraus und beschnupperte es, um zu prüfen, ob sich alles hier richtig entwickle.

Der Käfer war etwas zur Seite gegangen, als Mutzeputz erschien. Jetzt näherte er sich wieder.

»Ich hatte mich ein wenig zurückgezogen«, erklärte er, »ich liebe es nicht besonders, Mutzeputz zu begegnen.«

»Mutzeputz tut dir nichts«, sagte Veronika beleidigt.

»Nein, nein, gewiß nicht«, meinte der Käfer, »ich will auch nichts gegen Mutzeputz sagen, weil er dir nahesteht und deine Vertrauensperson ist. Aber er hat so leicht einmal etwas Spielerisches an sich, und ich schätze es nicht, auch nur zum Spaß hin und her geschoben zu werden. Wer liebt das übrigens? Außerdem habe ich sehr gebrechliche Beine.«

»Ja, sie sind gebrechlich«, sagte Veronika, »ich verstehe das.«

»Möchtest du dir nun mein Landhaus betrachten?« fragte der Käfer.

»Ja«, sagte Veronika, »Mutzeputz erlaubt es.«

»Hier unten an diesem Baumstamm ist es«, erklärte der Käfer, »es ist ein sehr schönes Landhaus. Ein wenig leicht gebaut ist es allerdings, aber es ist ja auch nur für den Sommer. Nicht wahr, es ist dir nicht zu weit gewesen? Ich sagte es schon, der Weg ist nicht sehr anstrengend.«

Die kleine Veronika brauchte nur einen Schritt zu gehen, dann war sie schon da. »Aber da ist doch gar kein Weg«, lachte sie, »das ist ja bloß nebenan.«

»Tu nicht so großartig«, sagte der Käfer, »ich bin einige hundert Schritte gewandert, du brauchst also nicht zu übertreiben. Hier ist der Eingang«, erläuterte er, »dann kommt ein kleiner Vorraum, bloß so, dann mein Speisezimmer, in dem ich auch meine Vorräte verwahre, und hier an der Seite liegt mein Schlafgemach. Dieses ist besonders sorgfältig gebaut, und das Bett darin ist aus dem allerbesten Moos hergestellt, du wirst so leicht nicht etwas Ähnliches sehen. Dies kunstreiche Loch in der Decke ist dazu da, um die Sonne hindurchzulassen. Ich pflege mich nachmittags gerne auszuruhen, und ich liebe es überaus, wenn mir die Sonne dabei auf den Rücken scheint. Das erfolgt durch dieses Loch, ohne daß mich irgend jemand dabei sehen oder stören kann. Es ist eine außergewöhnliche Einrichtung, und soviel ich weiß, ist es das erste Mal, daß ein Landhaus damit ausgestattet wurde. Du hast so etwas gewiß nicht zu Hause?«

»Nein«, sagte Veronika, »wenn ich im Bett liege, kann mir die Sonne nicht auf den Rücken scheinen. Aber das ist einerlei, denn ich liege auch nicht auf dem Magen.«

»Du wirst mir doch nicht weismachen wollen, daß du auf dem Rücken liegst? Wenn man das tut, zappelt man mit den Beinen und kann nicht mehr aufstehen. Besieh dir lieber einmal das Schlafzimmer genauer und gehe richtig hinein. Aber sei vorsichtig und wirf mir die hohle Eichel nicht um, die darin steht. Ich fange den Tau in ihr auf und wasche mir damit des Morgens Gesicht und Fühler.«

»Ich kann ganz gut mit meinen Augen hineingucken«, sagte Veronika, »aber durch den Eingang kann ich nicht kriechen, das ist doch alles viel zu klein für mich.«

»Tu nicht so dick«, meinte der Käfer, »man sollte meinen, dir wäre die Welt viel zu klein, aber die Welt ist recht groß, kleine Veronika.«

»Ja, gewiß, das ist sie«, sagte Veronika.

»Sie geht sogar bis an die große Mauer, wo so viel Moos daran ist«, erklärte der Käfer, »aber so weit bist du wohl noch niemals gewesen?«

»Ich bin schon viel weiter gewesen«, sagte Veronika, »und es gibt auch hinter der Mauer noch eine ganze Menge von Dingen – das ist wieder eine andere Welt.«

»Das sind Vermutungen«, sagte der Käfer, »man kann sich nur auf das verlassen, was man sicher weiß. Die Baumelfen erzählen freilich davon, daß es hier im Garten eine große Brücke gäbe, die in eine andere Welt führt. Ich habe jedoch eine solche Brücke nicht gesehen. Ich nehme an, daß sie bei der Quelle sein wird, die durch den Garten fließt. Aber ich vermeide das Wasser und lebe überhaupt vorsichtig und zurückgezogen. Es gibt Gefahren und allerlei Käferkummer in dieser Welt.«

Der Käfer seufzte und strich sich sorgenvoll mit dem Fühler über den Kopf.

»Ich kann mir das denken«, meinte Veronika voller Teilnahme, denn der Käfer kam ihr trotz seiner etwas großartigen Sprechweise ziemlich hilflos vor, »du denkst, daß dich, zum Beispiel, die Amsel fressen könnte, die mich eben erst angeredet hat?«

»Ja, an solche schrecklichen Dinge dachte ich dabei«, sagte der Käfer, »aber sprich nicht von der Amsel. Sie ist ein scheußliches Geschöpf. Ich wußte nicht, daß du solche üblen Bekanntschaften hast. Ich glaube kaum, daß ich dir sonst mein Landhaus gezeigt hätte.«

»Ich kenne die Amsel nur ganz flüchtig«, entschuldigte sich Veronika, »sie hat mich auch bloß geschimpft, weil ich mit Mutzeputz befreundet bin, und jetzt schimpfst du mich, weil ich die Amsel kenne. Was denkt ihr euch eigentlich alle dabei?«

»Ich sage nichts gegen Mutzeputz«, meinte der Käfer, »aber die Amsel ist eine ganz gefährliche Person. Frage nur einmal die Regenwürmer danach, sie sind ganz der gleichen Meinung, und das sind doch gewiß Leute, die Erfahrung haben.«

»Regenwürmer gibt es hier auch?« fragte Veronika und sah sich um. »Regenwürmer sind mir ein bißchen eklig, sie sind so lang und nackt. Ich glaube, sie haben überhaupt gar nichts an.«

»Es sind angenehme und stille Nachbarn«, sagte der Käfer, »ich wollte, es wären alle so. Leider ist das nicht der Fall. Man sollte es nicht glauben, man hat kaum in seinem eigenen Landhaus die nötige Ruhe. Über die Geister, die das Wachsen der Pflanzen besorgen, will ich nichts Abfälliges äußern. Sie sind zwar sehr unruhig und stets in geschäftiger Tätigkeit – übertrieben meiner Ansicht nach –-, aber man muß anerkennen, daß sie lautlos und mit vieler Rücksicht auf die anderen arbeiten. Nur einmal ist mir eine Wurzel gerade durch meinen Vorraum gewachsen, und wir haben uns schließlich dahin geeinigt, daß sie sich ein bißchen erweiterte und ich sie als Hängematte benutzte. Wenn man aber tiefer in die Erde hinabschaut, kann man sich wirklich sehr ärgern. Ich vertrage Ärger gar nicht, ich bekomme gleich Kopfschmerzen davon. Da unten sitzen die eigentlichen Ruhestörer. Es sind schwarze und weiße Männchen, so ähnlich gestaltet wie du, nur sehr viel häßlicher. Du glaubst nicht, wie diese Männchen sich zanken, ich höre es des Nachts oft bis in mein Schlafzimmer hinauf. Es ist eine abscheuliche Gesellschaft, du solltest das bloß einmal sehen!«

»Das möchte ich gerne sehen«, meinte Veronika, »ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mir das zeigen wolltest. Es sieht gewiß sehr possierlich aus, wenn die kleinen Männchen sich zanken. Und warum zanken sie sich denn? Man kann sich doch nicht fortwährend zanken! Ich zanke mich auch einmal mit dem kleinen Peter, wenn wir spielen, aber wir versöhnen uns dann gleich wieder. Peter ist der Sohn vom Gärtner, du weißt das doch, sein Vater macht ja den ganzen Garten hier fertig.«

»Das ist Unsinn«, sagte der Käfer, »diesen Garten macht niemand fertig. Hier wächst alles ganz von selbst und war überhaupt immer da.«

»Du weißt also nicht, warum die Männchen sich zanken?« fragte Veronika. Es erschien ihr zwecklos, dem Käfer zu erklären, wer der Gärtner war.

»Ich habe das einmal gehört, aber ich habe es wieder vergessen«, sagte der Käfer, "ich bekomme immer Kopfschmerzen, wenn ich daran denke. Du wirst auch bloß Kopfschmerzen bekommen, also laß es lieber bleiben und kümmere dich nicht darum.«

»Ich kriege niemals Kopfschmerzen«, meinte Veronika, »Kopfschmerzen kriegen nur die Großen, und dann sind sie eklig und man darf sie nichts fragen. Mir macht das auch gar nichts aus, wenn die Männchen sich zanken. Was geht das mich an? Mir ist es einerlei. Ich will es bloß einmal sehen, weil es ulkig sein muß.«

»Du wirst schon Kopfschmerzen bekommen, wenn du größer wirst«, sagte der Käfer, »und es geht uns alle an, wenn sich die Männchen so zanken, das hat mir die Baumelfe gesagt, denn die weiß es ganz genau. Von ihrer Wohnung kannst du nämlich an den Wurzeln vorbei gerade zu den Männchen hinuntergucken.«

»Das ist fein«, meinte Veronika, »dann will ich die Baumelfe bitten, daß ich mir die Geschichte einmal ordentlich ansehen darf. Glaubst du, daß die Elfe im Baum es mir erlauben wird? Es ist doch gewiß eine gute Bekannte von dir, wenn ihr so nahe Nachbarn seid?«

»Wir sind nicht eigentlich gute Bekannte«, sagte der Käfer, »es wäre dies gegen die schuldige Achtung, wenn ich mich so ausdrücken wollte. Ich stehe sozusagen unter dem Schutze der Baumelfe, mußt du wissen. Sie erlaubt es nicht, daß die Amsel kommt und mich auffrißt, und sie gibt überhaupt acht, daß mir keine Kümmernisse zustoßen. Darum bleibe ich auch stets in der Nähe meines Landhauses, es gibt so viele Gefahren und allerlei Käferkummer auf dieser Welt. Aber ich glaube wohl, daß du zur Baumelfe hineingehen könntest, sie ist wirklich sehr gefällig. Du brauchst nur einfach durch die Rinde hindurchzurutschen. Da drinnen sitzt sie – siehst du?«

»Komm, kleine Veronika«, rief die Elfe und guckte aus ihrem Baum hinaus. Sie war ein wunderhübsches Geschöpf und sah aus wie ein junges, sehr feingliedriges Mädchen, das ein wenig klein geblieben ist.

»Da kann ich doch nicht hinein«, meinte Veronika.

»Ich will mich nun in meinem Schlafzimmer auf den Magen legen und mich etwas ausruhen«, sagte der Käfer, »und zwar so, daß mir die Sonne durch das kunstvolle Loch auf den Rücken scheint. Es ist eine außergewöhnliche Einrichtung, du kannst sie dir ja später noch einmal betrachten. Guten Tag und auf Wiedersehen!«

»Du kannst schon in den Baum zu mir hereinkommen, kleine Veronika«, meinte die Baumelfe, »bloß nicht ganz so, wie du jetzt bist. Du mußt dich noch ein bißchen verändern und aus deinem Körper hinausschlüpfen.«

»Das scheint mir unbequem zu sein, ich habe das auch noch niemals versucht. Mein Körper ist doch nicht nur ein Kleid, das ich einfach wegtun kann. Worin soll ich denn dann spazierengehen? Genügt es nicht, daß ich in deine Wurzeln und zu den Männchen hinuntergucke, so wie ich mir das Landhaus des Käfers angeschaut habe? Das ging doch auch sehr fein, und ich hätte auch noch viel mehr gesehen, wenn der Käfer nicht so viel geschwatzt hätte. Und dabei sagte er doch, daß er Kopfschmerzen habe.«

»Der Käfer ist etwas umständlich«, sagte die Elfe im Baum und lachte, »kleine Leute mit vielen Beinen sind das meistens. Aber so wie du in die Wohnung des Käfers geguckt hast, kannst du hier bei mir nicht hineinsehen. Du hast zwar noch die himmlischen Augen, kleine Veronika, und kannst vieles damit erkennen, was in der Höhe und auf der Erde ist. Aber um in die Tiefen zu schauen, muß man wieder andere Augen bekommen, und das dauert lange und es tut sehr weh. Schlüpfe schon lieber herein zu mir, denn das kannst du noch ganz gut machen. Die Dämmerung ist ja noch nicht über dich gekommen, kleine Veronika. Du brauchst auch gar keine Angst zu haben. Dein Erdenleib ist doch nichts weiter als ein Kleid, und darin steckt ein feineres Kleid, und in dem feineren Kleid steckst du selbst. Das grobe Erdenkleid kannst du ruhig ein bißchen für sich allein sitzenlassen, wo es eben ist, und im feineren Kleide bist du wie ich und alle die Elfen und Nixen im Wasser, in der Luft und im Feuer. Du mußt dir nur einen Ruck geben, so ähnlich wie vor dem Einschlafen, denn das ist ja beinahe das gleiche, und dann geht es ganz von selbst.«

Da gab sich Veronika einen Ruck, und mit einem Male war sie draußen und war so leicht wie eine Feder, wenn der Wind mit ihr spielt, und so durchsichtig, daß sie durch sich selbst hindurchgucken konnte. Ihr Erdenleib aber saß daneben und sah ein bißchen dumm aus, wie es ihr selber vorkam. Im nächsten Augenblick war sie schon mittendrin im Baum, und die Elfe hatte sie bei den Händen gefaßt und zeigte ihr alle die Wunder, die darin waren.

Es gab hier eine ganze Menge zu sehen, viel mehr als in dem Landhaus des Käfers, und Veronika kam aus dem Staunen nicht heraus. In tausend feinen Adern stiegen und sanken die Säfte, von den Wurzeln bis hoch hinauf in die Krone und weit in die Äste und Blätter, die sich leise im Winde bewegten. Und das Schöne dabei war, daß man selber gleichsam darin war, man sank und stieg wie in einer lebendigen Schaukel.

»Ich kann das alles eigentlich jetzt viel besser verstehen, wo ich drin bin, als vorher, wo ich nur von außen mit den Augen hineingucken konnte«, sagte Veronika. »Mir kommt es überhaupt vor, als wenn ich klüger geworden wäre, seit ich nicht mehr in meinem Erdenleib stecke. Ich glaube, man wird ein bißchen dumm durch ihn und jedenfalls sehr viel schwerer, denn es ist wirklich fein, wie leicht ich jetzt geworden bin.«

»Ja«, meinte die Elfe, »ihr werdet schon ziemlich dumm durch eure Erdenleiber. Es sind ja auch gar zu unbequeme Kleider, und ich könnte mich nicht darin bewegen. Das Schlimme dabei ist, daß ihr immer dümmer werdet, je größer der Erdenleib wird und je mehr ihr mit ihm zusammenwächst. Ich kann es euch ja nur nachempfinden, denn selber durchgemacht habe ich es nicht.«

»Kommen wir denn auf die Erde, um dumm zu werden?« fragte Veronika, »das erscheint mir doch etwas komisch, weißt du.«

»Das ist es nicht«, sagte die Elfe, »ihr werdet bloß dumm, weil es dunkel wird, und dann sollt ihr das Licht suchen, um wieder klug zu werden. Denn wenn ihr das Licht aus dem Dunkel gefunden habt, dann seid ihr ein ganzes Stück klüger geworden. Das Licht zu suchen, ist eben die Aufgabe der Menschen, die Gott ihnen gegeben, und sie müssen es suchen und finden für sich, für die Tiere, Pflanzen und Steine, für die Elfen und Männchen und für alles, was mit ihnen lebt. Das ist aber eine recht schwierige Geschichte, ich kann es dir auch nicht so erklären.«

»Es kommt mir sehr umständlich vor«, meinte Veronika, »konnte der liebe Gott das nicht ein bißchen bequemer und einfacher einrichten? Ihm kann es doch einerlei sein. Er kann doch alles machen, wie er will. Ich will ihn einmal danach fragen, wenn ich ihm begegne. Aber es ist wohl nicht leicht, ihn zu sprechen? Man kann sich ja denken, daß er viel zu tun hat.«

»Ach, kleine Veronika«, sagte die Elfe und seufzte, »wenn du Gott suchst, wirst du viele schwere Wege wandern müssen, und wenn du ihn endlich gefunden hast, wirst du ihn nicht mehr fragen, was du heute fragst. Gott suchen und Gott finden ist mehr als eine Kinderfrage. Wäre es das nicht, wir wären vielleicht schon alle erlöst.«

»Bist du denn verzaubert?« fragte Veronika, »das ist ja wie im Märchen bei Schneewittchen.«

»Im Märchen ist alles so wirklich, wie sonst auf der Erde«, sagte die Elfe, »oh, wenn die Menschen das doch endlich begreifen wollten!«

»Schneewittchen schläft im gläsernen Sarge«, sagte Veronika leise, und ihre Augen wurden ernst und tief.

Die Elfe faßte Veronikas Hand.

»Wir alle schlafen im gläsernen Sarge«, sagte sie, »denke daran, denke immer daran, wenn du einmal größer wirst, kleine Veronika. Ja, hilf uns erlösen, dich und uns alle. Aber das ist so sehr schwer, kleine Veronika. Du kannst das heute noch nicht verstehen.«

»Warum nicht?« fragte Veronika, »bin ich nicht klüger geworden, seit ich aus meinem Erdenleibe herausgerutscht bin?«

»Vielleicht«, meinte die Elfe, »aber noch nicht klug genug. Um zu erlösen, mußt du ja selbst in den gläsernen Sarg hinein und tief ins Dunkel, bis du das Licht findest. Aber es müssen alle Menschen das tun – die anderen Geschöpfe warten so sehr darauf.«

»Ich hätte das einfacher eingerichtet, wenn ich der liebe Gott wäre«, meinte Veronika nachdenklich.

»Glaubst du, daß es dann ebenso gut geworden wäre?« fragte die Elfe.

»Das läßt sich natürlich nicht sagen«, meinte Veronika, »ich kann das alles überhaupt noch nicht so recht übersehen. Bloß daß wir und Schneewittchen aus dem gläsernen Sarge hinaus müssen, scheint mir sehr nötig. Ich werde später mehr darüber nachdenken. Eben kommt es mir ein wenig schwierig vor. Aber willst du mir nicht die Männchen zeigen, die sich zanken? Es würde mir großen Spaß machen.«

»Komm«, sagte die Elfe, »du mußt einmal hier durch die Wurzeln hindurchgucken. Die kleinen Männchen sitzen tief unter den Wurzeln in der Erde. Kannst du sie sehen? Es sind bloß ein Paar. Man kann ja von hier aus nicht alles überschauen, was unten in der Erde vor sich geht.«

»Richtig, da sind sie! Ach, sehen die komisch aus!« rief Veronika und beugte sich tief hinab, »das eine ist schwarz und das andre ist weiß, und beide sind sie so klein wie Mäuse. Jetzt fährt das schwarze Männchen auf das weiße los und will ihm einen Stein entreißen. Das ist ein hübscher Stein – und, guck, das weiße Männchen hat einen Hammer in der Hand, von dem sprühen Funken. Ach, das sieht fein aus! Aber das schwarze Männchen ärgert sich schrecklich, und nun zanken sie sich. Sage einmal, was wollen denn die mit dem Stein machen?«

»Ja, siehst du, Veronika«, sagte die Elfe, »das weiße Männchen behaut die Steine und macht, daß sie eine schöne Form bekommen, und die Funken will es gern in den Stein hinein haben, damit er durchlichtet wird. Es gibt doch auch klare Steine, weißt du, und so soll die ganze Erde durchlichtet werden. Aber die schwarzen Männchen mögen das nicht leiden.« »Warum denn nicht?« fragte Veronika, »das würde doch wunderhübsch aussehen.«

»Gewiß«, sagte die Elfe, »und alle würden dann ganz licht und durchsichtig werden, die Menschen, die Tiere, die Pflanzen, und nicht nur die Steine.«

»Das sollte man aber doch machen«, meinte Veronika, »ich denke mir das reizend, wenn man in jeden hineingucken kann, was drin ist.«