Die drei Wünsche - Leni Behrendt - E-Book

Die drei Wünsche E-Book

Leni Behrendt

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Beschreibung

Leni Behrendt nimmt längst den Rang eines Klassikers der Gegenwart ein. Mit großem Einfühlungsvermögen charakterisiert sie Land und Leute. Über allem steht die Liebe. Leni Behrendt entwickelt Frauenschicksale, wie sie eindrucksvoller nicht gestaltet werden können. »Zwei Minuten nach zwölf«, sagte der Arzt, damit die Geburtszeit des kleinen Wesens feststellend, das er soeben mit mühevollem Eingriff ans Licht der Welt geholt hatte. »Und dazu noch der dreizehnte November – na, ich weiß nicht…« »Sie sind doch nicht etwa abergläubisch, Herr Doktor?« »Beim Anblick dieses armseligen Würmchens könnte man es beinahe werden. Und die Mutter gefällt mir noch weniger. Nun, versuchen wir zu retten, was sich durch unsere schwachen Menschenkräfte eben retten läßt.« Das geschah denn auch. Zuerst einmal bei dem Neugeborenen, das bei den geradezu verbissenen Bemühungen von Arzt und Schwester endlich quäkende Laute von sich gab. Auch die Mutter erwachte langsam aus der Narkose, blieb jedoch in einem Zustand zwischen Wachen und Traum, der ihr das Bild einer gütigen Fee vorgaukelte, die segnend ihre zarten Hände über das winzige Geschöpfchen breitete, das man in den Arm der Mutter gelegt hatte. Und was der Mund des Märchenwesens sprach, formten die Lippen der Erdgeborenen nach, deren Seele sich bereits anschickte, den müden Körper zu verlassen. Die beiden Menschen, die diesem ungereimten Gestammel lauschten, sahen sich bangen Blickes an. »Hörst du es, meine kleine Hariet?« flüsterten jetzt die blutleeren Lippen beschwörend. »Drei Wünsche gibt dir die gütige Fee für dein Leben frei. Immer am Dreizehnten – merke es dir genau – immer am Dreizehnten – wenn du flehend den Höchsten anrufst – in Angst und Not. Man hat dich da oben lieb, mein süßes Kind…« »Wahrscheinlich so lieb, daß man dich hinaufholen wird«, brummte der Arzt in das direkt unheimlich anmutende Geflüster hinein. »Genauso wie deine Mutter.

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Leni Behrendt Bestseller – 18 –

Die drei Wünsche

Leni Behrendt

»Zwei Minuten nach zwölf«, sagte der Arzt, damit die Geburtszeit des kleinen Wesens feststellend, das er soeben mit mühevollem Eingriff ans Licht der Welt geholt hatte. »Und dazu noch der dreizehnte November – na, ich weiß nicht…«

»Sie sind doch nicht etwa abergläubisch, Herr Doktor?« fragte die assistierende Schwester verwundert, und er brummte:

»Beim Anblick dieses armseligen Würmchens könnte man es beinahe werden. Und die Mutter gefällt mir noch weniger. Nun, versuchen wir zu retten, was sich durch unsere schwachen Menschenkräfte eben retten läßt.«

Das geschah denn auch. Zuerst einmal bei dem Neugeborenen, das bei den geradezu verbissenen Bemühungen von Arzt und Schwester endlich quäkende Laute von sich gab.

Auch die Mutter erwachte langsam aus der Narkose, blieb jedoch in einem Zustand zwischen Wachen und Traum, der ihr das Bild einer gütigen Fee vorgaukelte, die segnend ihre zarten Hände über das winzige Geschöpfchen breitete, das man in den Arm der Mutter gelegt hatte. Und was der Mund des Märchenwesens sprach, formten die Lippen der Erdgeborenen nach, deren Seele sich bereits anschickte, den müden Körper zu verlassen. Die beiden Menschen, die diesem ungereimten Gestammel lauschten, sahen sich bangen Blickes an.

»Hörst du es, meine kleine Hariet?« flüsterten jetzt die blutleeren Lippen beschwörend. »Drei Wünsche gibt dir die gütige Fee für dein Leben frei. Immer am Dreizehnten – merke es dir genau – immer am Dreizehnten – wenn du flehend den Höchsten anrufst – in Angst und Not. Man hat dich da oben lieb, mein süßes Kind…«

»Wahrscheinlich so lieb, daß man dich hinaufholen wird«, brummte der Arzt in das direkt unheimlich anmutende Geflüster hinein. »Genauso wie deine Mutter. Möchte bloß wissen, wo dieser Hermeran bleibt. Wie seine Tante sagte, wollte er am Spätabend von seiner kurzen Reise zurück sein. Rufen Sie doch mal in seiner Wohnung an, Schwester.«

»Im Hause Hermeran gibt es kein Telefon, Herr Doktor.«

»Auch das noch. Dann schicken Sie sofort einen Boten hin. Die Frau stirbt uns ja unter den Händen weg. Und für das Leben des Neugeborenen gebe ich gleichfalls keinen Heller.«

Der Bote wurde ausgeschickt, brachte doch nur die Tante der jungen Mutter mit. Verstört, als wäre sie an allem schuld, berichtete sie, daß der Neffe immer noch nicht zurückgekehrt sei. Wahrscheinlich hätte er den letzten Zug versäumt.

»Herr Doktor, glauben Sie mir doch, er ist ein guter Mensch«, flehte das dürre ältliche Fräulein den Arzt förmlich an. »Er wäre um alles nicht auch nur für eine Stunde von der Seite seiner Frau gewichen, hätte er die verfrühte Geburt geahnt. Er hat sie doch so lieb, seine zarte, feine Felizitas – und freut sich doch so sehr auf das Kind…«

Sie konnte nicht weitersprechen, weil ein hartes Schluchzen ihr fast das Herz abstieß. Und da legte sich der Groll des Arztes und machte einem erbarmenden Mitleid Platz.

Das Kind war tatsächlich fünf Wochen zu früh geboren, womit man in der Familie natürlich nicht gerechnet hatte. Schon gar nicht, da die Frau noch munter war, als der Gatte die eintägige Reise antrat.

Armer Mann! Dieser harte Schicksalsschlag würde ihn vernichtend treffen. Liebte er doch seine Feli so sehr, daß er ihr am liebsten die Hände unter die zarten Füßchen gebreitet hätte. Zumal dann, als sie sich, die die Dreißig längst überschritt, als Mutter fühlte. Wie ein Wickelkind war sie von Gatten und Tante gehätschelt worden.

Nie hätte letztere damit gerechnet, daß ihr Brotherr, dessen kleinem Haushalt sie schon länger als ein Jahrzehnt vorstand, sich in die Nichte verlieben könnte, als diese die Tante einmal besuchte. Nur auf einige Stunden – und daraus wurden dann Jahre. Zwei Jahre voll Liebe und Eintracht zwischen den drei Menschen in der kleinen Wohnung einer Großstadt.

Immer noch erfüllte es das ältliche Fräulein mit Stolz, daß aus ihrem Brotherrn ihr Neffe geworden war.

Er war aber auch wirklich gut von Herz und Gemüt, der Archäologe Doktor Oskar Hermeran. Ein stiller, schwächlicher Mann mit einem durchgeistigten Gelehrtengesicht und einer scharfen Brille vor den kurzsichtigen Augen. Er lebte in einer alten Welt, der nachzuspüren sein Sinnen und Trachten stand. Er bedauerte es schmerzlich, dieser Welt nicht an Ort und Stelle nachforschen zu können, wie es zum Beispiel seinem Bruder Edwin vergönnt war.

Doch dafür fehlte Oskar das Geld, das dem andern durch eine reiche Heirat zufloß. Dazu noch dessen robuste Gesundheit und der Unternehmungsgeist. Das wurmte diesen fanatischen Gelehrten so sehr, daß er brüsk die Beziehungen zum Bruder abbrach, obwohl dieser ihm nichts getan hatte. Aber Neid macht nun einmal ungerecht.

So blieb Oskar Hermeran denn am Schreibtisch, ging dort förmlich in der Archäologie auf.

Was um ihn herum geschah, war dem weltfremden Gelehrten gleichgültig. Er aß und trank nur, um seinen knurrenden Magen zu beruhigen, egal, ob es nun Gesottenes und Gebratenes oder nur ein Stück trocken Brot war.

Allein, daß sein ohnehin schwächlicher Körper dabei nicht verkam, dafür sorgte das bejahrte, ehrsame Fräulein Berta Okleid, die diesen »sonderbaren Heiligen«, wie sie ihn bei sich nannte, nun schon elf Jahre betreute. Sie brachte stets ein schmackhaftes Essen auf den Tisch und ärgerte sich immer wieder, daß der von ihr so rührend Betreute es wie geistesabwesend zu sich nahm.

Bis dann die liebliche Felizitas in das stille Leben des bereits Fünfundvierzigjährigen trat. Da wurde er sich mit Erstaunen bewußt, daß er wie jeder andere Mann Anspruch auf ein Familienleben hatte. Und da Felizitas Okleid sozusagen aus der Branche war, da sie schon jahrelang als Sekretärin bei einem Altertumsforscher gearbeitet hatte, so kam ein Paar zusammen, das gut zueinander paßte. Feli wurde des Gatten Famulus, seine Mitarbeiterin und seine geliebte Frau, unter deren Herzen nach zweijähriger Ehe ein kleines Wesen dem Leben entgegenwuchs.

Als der weltfremde Mann davon erfuhr, war er zuerst betroffen. Doch dann brach langsam die Freude bei ihm durch. Mitte Dezember sollte das für den Mann kaum faßbare Wunder geschehen. Also konnte er am zwölften November beruhigt auf einen Tag verreisen, um einen für ihn sehr wichtigen Vertrag abzuschließen. Kam er zustande, konnte er sich doppelt auf sein Kind freuen, das seiner glücklichen Ehe die Krönung bringen sollte.

Aber ach, das Schicksal bestimmte es anders. Kaum war der Mann fort, setzten bei der Gattin Schmerzen ein, welchen sie sowie auch die Tante zuerst keine Bedeutung beimaßen. Denn bis zur Geburt waren es immerhin noch fünf Wochen, und eine kleine Unpäßlichkeit konnte in dem Zustand schon einmal vorkommen.

Als jedoch die Schmerzen nicht nachließen, sondern an Heftigkeit zunahmen, holte Berta einen Arzt, der die junge Frau schleunigst ins Krankenhaus schaffen ließ, wo der Chefarzt sich in der Nacht zu einem komplizierten Eingriff entschließen mußte.

Und als der junge Vater am nächsten Morgen endlich vor dem Chefarzt stand, sprach dieser mit gemachter Sachlichkeit: »Ja, mein lieber Herr Doktor Hermeran, damit müssen Sie sich schon abfinden.«

Die schmächtige Gestalt schien förmlich in sich zusammenzusinken. In den Augen hinter den scharfen Brillengläsern brütete ein Ausdruck des Nichtbegreifens…

Und dann die Stimme, diese dünne, zittrige Stimme, die allein schon eine Welt von Tragik in sich barg: »Das kann doch aber nicht möglich sein, Herr Doktor. Das Kind sollte doch erst Mitte Dezember geboren werden.«

»Stimmt«, gab der Arzt sich Mühe, den sachlichen Ton beizubehalten, »aber die Natur geht nun einmal eigensinnige Wege.«

»So ist meine Frau – wirklich – tot…?«

»Leider. Obwohl wir bestimmt alles taten, um sie am Leben zu erhalten.«

»Und das Kind?«

»Noch lebt es. Wie lange, das steht allerdings in Gottes Hand.«

»Welchen Geschlechts ist das Kleine?«

»Ein Mädchen.«

»Also Hariet«, sprach der verstörte Mann nun geistesabwesend vor sich hin. »So sollte auf ihren Wunsch eine Tochter heißen. Was soll ich nun wohl mit ihr anfangen – ohne meine Feli?«

Darauf wußte der Arzt keine Antwort. Ihm war erbärmlich zumute, als er Tante und Neffen davongehen sah – unendlich müde, wie zerbrochen.

Und zwar ohne das Kind. Das sollte so lange im Krankenhaus unter fachmännischer Betreuung bleiben, bis es richtig lebensfähig war – oder seiner Mutter nachfolgen würde.

Vier Monate später hielt diese Hariet dann Einzug in ihr Vaterhaus. Sie war wohl noch zart, aber so gut entwickelt, daß sie den Kindern ihres Alters kaum nachstand. Man hatte sich im Krankenhaus die erdenklichste Mühe mit dem Säugling gegeben und war ordentlich stolz darauf, ihn bestens gepflegt dem Vater übergeben zu können.

Allein, dieser war keineswegs erfreut, weil er mit seiner winzigen Tochter nichts anzufangen wußte. Er übergab sie der Tante, die das kleine Wesen als unnütze Belastung betrachtete.

Klein-Hariet wurde in das Hinterstübchen verbannt, das Tante Berta bewohnte. So ein »Quarkzeug« wie Babybettchen wurde erst gar nicht angeschafft. Das waren nur unnütze Ausgaben, wo man doch mit jeder Mark rechnen mußte. Der Wäschekorb tat’s auch.

Nun, zuerst tat der Korb auch wirklich seine Dienste. Doch als die Kleine, die sich langsam aufzurichten begann, aus der primitiven Bettstatt fiel, kaufte Berta notgedrungen ein gebrauchtes Kinderbettchen. Und schließlich gar einen schäbigen Wagen, in dem ein Schulmädchen das Kind am Nachmittag eine Stunde ausfuhr. Dann konnte es getrost schreien. Doch in der Wohnung unterband die mürrische Tante das energisch.

So wurde dann aus dem zuerst so lebhaften Baby langsam ein sehr ruhiges, ängstliches Kind, das sich mit Vorliebe in einen Winkel verkroch, sich stundenlang mit der einzigen Puppe, welche die geizig zu nennende Tante sich sozusagen von der Seele gerungen hatte, beschäftigte oder still am Däumchen lutschte. Der Vater bekam sein Kind erst richtig zu sehen, als Berta es an den gemeinsamen Mahlzeiten teilnehmen ließ.

Dann saß es verschüchtert da, das kleine Dinglein wagte sich kaum zu rühren, geschweige denn zu sprechen, duckte sich scheu, wenn der Vater es auch nur ansah. Wie hilfesuchend ging dann der Blick der großen Träumeraugen zur Tante hin, die trotz ihres mürrischen Wesens dem Kind vertraut war, weil es ja nichts anderes kannte.

Und doch konnte, trotz aller ängstlichen Fürsorge, die gute Berta es nicht verhindern, daß der Vater langsam aufmerksam auf seine Tochter wurde. Aber nicht, weil sie eine kleine Schönheit war, sondern weil sie ein helles Köpfchen zu haben schien. Immer wieder konnte das der Gelehrte feststellen – und allmählich zog er die Tochter zu sich heran, so daß diese schon mit sechzehn Jahren sein kleiner Famulus wurde. Die Schule erledigte das gescheite Mädchen ganz nebenbei und es war eine Selbstverständlichkeit, daß es spielend sein Abitur machte.

Was nicht möglich gewesen wäre, hätte Hariet nicht Freischule gehabt. Denn die engstirnige und geizige Berta hätte sie bestimmt nicht auf die höhere Schule geschickt. Wäre es nach ihr gegangen, hätte die Nichte schon mit vierzehn Jahren abgehen müssen, damit sie endlich in die Lehre kam und Geld verdiente, nicht nur kostete.

Aber da griff der Vater zum erstenmal in die Erziehung seiner Tochter ein. Erklärte ruhig aber fest, daß dieses äußerst begabte Mädchen zur Schule gehen sollte, solange es ihm selbst gefiel. Also mußte Berta sich fügen – und Hariet lernte selbstverständlich weiter.

Außerdem war es für sie noch selbstverständlich, daß sie der Tante, die zu kränkeln begann, mehr und mehr die Hausarbeit abnahm. Und als die dann immer mürrischer gewordene Berta eines Tages einem Herzschlag erlag, stand die junge Hariet nicht hilflos da, sondern übernahm, ohne viel Worte zu machen, den Haushalt – bis dann auch der Vater starb. So still wie der gelebt, war er auch dahingegangen.

Und erst mit diesem Moment stand die zwanzigjährige Hariet Hermeran schutzlos und verlassen da – reich an Wissen, aber arm an Lebenserfahrung. Da gab es niemand, der ihr hätte mit Rat und Tat zur Seite stehen können, weil man sich ja von allen Menschen zurückgehalten und weder Freundschaft noch Nachbarschaft gesucht hatte. Ergo hieß es für Hariet: Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!

So verkaufte sie erst einmal die schlichte Einrichtung der Wohnung, veräußerte die teuren archäologischen Dinge, bis auf die Aufzeichnungen des Vaters, für einen Spottpreis und bezog dann ein möbliertes Zimmer, das zwar sehr primitiv war, ihrer einfachen Gewöhnung jedoch durchaus entsprach.

Und was nun? Zwar besaß sie ein kleines Kapital, das aber höchstens für ein Jahr reichen würde. Also mußte sie sich eine Stellung suchen.

Aber was für eine? Zwar hatte sie ihr Abitur mit Auszeichnung bestanden, verstand auch von der Archäologie eine ganze Menge, wußte auch in der Haushaltführung einigermaßen Bescheid, aber ob das genügte, sich in fremden Diensten behaupten zu können? Nun, der Versuch mußte jedenfalls gemacht werden.

Also kaufte Hariet vielgelesene Zeitungen, meldete sich auf mehrere Inserate, um entweder abschlägigen oder gar keinen Bescheid zu bekommen.

Rasend schnell vergingen die Wochen, und das Geld schrumpfte zusammen, obwohl das Mädchen sich kaum noch sattzuessen wagte.

Wenn sie doch jemand um Rat fragen könne. Aber sie besaß ja noch nicht einmal einen Vormund. Wozu auch? Sie wurde sowieso bald einundzwanzig Jahre und somit mündig.

Zehn Tage vorher entdeckte Hariet in der Zeitung ein Inserat, auf das sie aufs neue ihre Hoffnung setzte. Denn was da verlangt wurde, dafür müßte sie doch eigentlich geradestehen können, nämlich: Beaufsichtigung der Schularbeiten eines fünfzehnjährigen Mädchens und kleine Hilfeleistungen in einem groß geführten Hause. Unterschrieben war das Inserat mit dem Namen: Baronin von Eggeroth-Herrnhagen.

Schon eine Stunde später warf Hariet die Bewerbung in den Briefkasten – und wartete dann fieberhaft auf Antwort. Aber fast schien es, als würde sich für sie auch diese Hoffnung zerschlagen. Doch der Mensch denkt – und Gott lenkt.

Es war um die zwölfte Stunde, als Hariet sich im Mietzimmer auf ihrem schmalen harten Lager ruhelos herumwarf – hoffnungslos und wie zerschlagen. Woran lag das nur, daß sie niemand haben wollte? Sie war doch der guten Vorsätze voll.

»Lieber Gott, gib mir Lohn und Brot. Ich komme ja sonst um in all dem Namenlosen, das für mich Leben heißt. Hilf mir doch, Vater im Himmel droben – hilf mir doch – bitte…!«

Als sich die zitternden Mädchenlippen schlossen, war es genau zwei Minuten nach zwölf – und der dreizehnte November…

Zwei müdegeweinte Augen schlossen sich zu tröstendem Schlaf, der dem ratlosen jungen Menschenkind einen wundersamen Traum vorgaukelte. Eine wunderschöne Fee stand vor der Träumenden, breitete segnend die Hände über das gleißende Köpfchen und sprach gütig: »Dein erster Wunsch sei dir gewährt, kleine Hariet, du wirst in Lohn und Brot kommen. Aber noch stehen dir zwei Wünsche im Leben frei – hüte sie gut.«

Als Hariet dann aus diesem seltsamen Traum erwachte, tat sie ihn lächelnd ab – und vergaß ihn dann rasch.

Und nur deshalb, weil sie ein Schreiben im Briefkasten fand, das sie nach Herrnhagen beorderte. Da hatte sie wahrlich anderes zu tun, als über einen Traum nachzugrübeln.

Es fiel Hariet Hermeran bestimmt nicht schwer, ihr primitives Zimmer aufzugeben. Freudig packte sie die beiden mäßig großen Koffer, die ihre gesamte Habe bargen.

Voller Zuversicht trat sie ihren Weg in das neue Leben an.

Ach, wie war für die Unverwöhnte doch alles so neu und interessant! Schon die Reise allein war ein Erlebnis – auch wenn sie ein dreimaliges Umsteigen verlangte. Zuerst einmal Omnibus bis zur Bahn, dann D-Zug, dann Bummelzug, dann Kleinbahn.

Nun was, lachte die glückliche Hariet in sich hinein, leicht ist mein Gepäck und leicht mein Sinn.

Es machte ihr auch gar nichts aus, daß manch verwunderter oder auch spöttischer Blick sie wegen ihrer altmodischen Kleidung traf. Auch das Mädchen nicht, das in hypermoderner Aufmachung neben ihr saß und sie höhnisch musterte.

Dergleichen tat ein Geck, der zu dem kleinen »Chamäleon« wunderbar paßte. Und da gleich und gleich sich ja gern gesellt, geschah es hier auch. Ganz ungeniert flirtete man miteinander, tat ebenso ungeniert seine Meinung über die »altklunkerige Mamsell« kund.

Der Ansicht schien jedoch ein Mann mit angegrauten Schläfen nicht zu sein. Auch nicht seine Ehehälfte, die mit unauffälliger Eleganz gekleidet war. Sie schienen noch Macht über ihr im Backfischalter stehendes Töchterlein zu besitzen, denn es zeigte keinerlei Symptome der hypermodernen Jugend, sondern bot in seinem reizenden Habit einen herzerfreuenden Anblick.

Und diesem bildhübschen Mägdlein tat die verhöhnte Mitreisende leid. Die dunklen Augen in dem zarten Gesichtchen blitzten, der rote Mund sprach leise vor sich hin: »Es gibt auch Gänse federles, es gibt auch Ochsen hörnerlos…«

»Dietlind!« rief die Mutter lachend dazwischen, »das müssen ja ganz komische Gebilde sein. Wo hast du die denn gesehen? »

»Im Panoptikum«, erklärte das Töchterlein mit dem unschuldigsten Gesicht – und der Herr Papa schmunzelte.

Und dieses Schmunzeln ging dem albernen Pärchen so auf die Nerven, daß sie mit einem Blick des Einverständnisses und mit einem verächtlich gemurmelten »Banausen« das Abteil verließen. Und dabei hatte sie doch niemand angegriffen.

»Na, Gott sei Dank«, lachte die reizende Kleine unbekümmert. »Die sind wir los, diese gräßlichen Typen.«

»Dietlind, ich muß schon sagen, daß du doch eigentlich recht frech bist«, begann die Mutter, und der arge Schelm tat erstaunt: »Ich und frech? Ja, warum denn, meine geliebte Mutz? Finden Sie das etwa auch, Fräulein…?«

»Hariet Hermeran heiße ich«, war die lachende Erwiderung, und das Ehepaar horchte auf. Dann sagte der Mann zögernd: »Warring heißen wir, gnädiges Fräulein. Und nun eine Frage: Sind Sie mit dem berühmten Forscher Hermeran verwandt?«

»Ich weiß nicht, wen Sie meinen«, entgegnete Hariet bescheiden. »Ein Forscher war mein Vater schon – aber kein berühmter.«

»Wie heißt er mit Vornamen?«

»Oskar.«

»Hm, den ich meine, der heißt Edwin.«

»Dann ist das mein Onkel«, wurde das Mädel nun lebhaft. »Doch leider weiß ich so gar nichts von ihm. Kennen Sie ihn etwa, Herr Warring?«

»Allerdings, wenn auch wendig. Er heiratete eine Base von mir, sehr zum Entsetzen ihrer Verwandtschaft. Denn ein so schönes, reiches Mädchen wie Regina hätte bestimmt noch einen anderen Mann gekriegt, als den mittellosen Forscher, der von seiner Arbeit besessen war. Aber komm’ einer gegen sein Herz an. Es verlangt da sein Recht, wo es liebt.«

Dabei umfaßte sein zärtlicher Blick die Gattin, die ihn aus Liebe erwählt hatte, obgleich er fünfzehn Jahre mehr zählte als sie.

»Eigentlich sind wir doch mit Fräulein Hermeran verwandt«, meinte Dietlind eifrig, und die Mutter hob lachend die Hände.

»Kind, hör auf. Diese Verwandtschaft geht bestimmt um sieben Ecken. Lassen wir also davon ab, sie ergründen zu wollen.«

»Warum denn, Mutz, das ist doch ganz einfach. Die Base von Paps…«

»Mädchen, erbarm dich«, flehte nun auch der Vater in komischem Entsetzen dazwischen. »Staunen wir lieber über den Zufall, der uns ausgerechnet in diesem Abteil mit der jungen Dame zusammenbrachte, die eine Nichte des bekannten Forschers ist. Darf man fragen, gnädiges Fräulein, wohin die Reise gehen soll?«

»Nach Herrnhagen, Herr Warring, falls Ihnen das ein Begriff ist.«

»Natürlich ist Herrnhagen uns ein Begriff, gnädiges Fräulein. Es grenzt nämlich an unser Gut Prahlen.«

»Oh, wie schön! Dann steigen wir auf derselben Station aus?«

»Will ich meinen. Aber bis dahin hat es noch gute Weile. Denn nach diesem Zug kommt erst der Bummelzug und dann die Kleinbahn.«

»Das weiß ich«, lachte Hariet. »Und ich freue mich auf die Fahrt. Ist es doch die erste in meinem Leben.«

Betroffen sahen sich die drei Menschen an, und dann fragte Frau Alice vorsichtig: »So sind Sie immer im Auto gefahren?«

»Aber keineswegs, gnädige Frau, wir hatten ja gar kein Auto. Dafür waren wir ja viel zu arm. Ich bin noch nie aus meiner Heimat herausgekommen, fahre mit der Eisenbahn zum ersten Mal.«

Ja, wo gibt’s denn so was? hätte der verblüffte Herr am liebsten gefragt, was er natürlich unterließ. Statt dessen streckte er gewissermaßen seine Fühler aus.

»Sicherlich werden Sie in Herrnhagen schon ungeduldig erwartet…?«

»Das weiß ich nicht«, wurde das Mädchen nun kleinlaut. »Ich erscheine dort nicht als Gast, sondern als Angestellte. Ich soll der Tochter des Hauses bei den Schularbeiten helfen und mich außerdem im Haushalt etwas betätigen.«

»Hm«, meinte Herr Warring mit undefinierbarem Lächeln. »Ein dehnbarer Begriff. So sind Sie Lehrerin, gnädiges Fräulein?«

»Nein, das nicht, ich habe nur das Abitur. Aber ich hoffe, daß mein Wissen bei einer fünfzehnjährigen Schülerin genügen wird.«

»Das ganz bestimmt«, bestätigte Frau Warring freundlich, dabei ihrer Tochter, die schon den Mund öffnete, unauffällig auf den Fuß tretend. »Wenn meine Menschenkenntnis nicht trügt, scheinen Sie ein gescheites Köpfchen zu haben.«

»Das sagte mein Vater auch«, lächelte Hariet verlegen.

»Und die Mutter?«

»Die starb bei meiner Geburt.«

»Wer erzog Sie?«

»Meine Großtante, die vordem Haushälterin bei meinem Vater gewesen war, der dann ihre Nichte heiratete.«

Darauf sagte das Ehepaar zuerst einmal gar nichts, und auch die sonst so lebhafte Tochter schwieg betreten.

»Hm«, brummelte der Mann dann, dabei die Augen senkend, damit der mitleidige Blick das Mädchen nicht traf. Zwar wußte er aus dessen Leben nichts Genaues, konnte jedoch die Tragik im Leben dieser Gelehrtentochter ahnen.

Es kam zu keiner weiteren Unterhaltung, weil der D-Zug auf der Station hielt, wo man umsteigen mußte. Da man nur wenige Minuten Zeit hatte, mußte der Wechsel rasch vor sich gehen. Und das Abteil in dem Bummelzug war so besetzt, daß man kein vertrauliches Wort miteinander sprechen konnte, ebensowenig wie später im Kleinbahnwagen.

Als man den verließ, wartete auf der kleinen Station, die eine Blechbude bezeichnete, ein eleganter Mercedes, neben dem ein Chauffeur stand und nun seiner Herrschaft entgegeneilte, um ihr die kleinen Koffer abzunehmen.

»Nun, bockt er nicht mehr?« fragte Warring lachend. »Scheint ja wie eine Primadonna zu sein, die gerade dann ihre Launen hat, wenn man sie am nötigsten braucht. Verstehen Sie das, gnädiges Fräulein?«

»Nein«, lachte Hariet. »Mit Autos habe ich absolut keine Erfahrung.«

»Wohl Ihnen«, seufzte der Mann. »Doch wie ist es nun mit Ihnen – man erwartet Sie doch wohl in Herrnhagen?«

»Das schon…«

»Dann wundere ich mich, daß kein Gefährt hier ist.«

»Das traf ich unterwegs«, schaltete sich der Chauffeur ein. »Es wird wohl noch eine gute Weile dauern, bis der alte August mit seiner ›Staatskarosse‹ hier ist. Wartet das Fräulein etwa darauf?«

Leider – wäre es Warring beinahe entschlüpft. Doch er sagte ermunternd: »Machen Sie sich keine Sorge, gnädiges Fräulein, das Fuhrwerk ist bereits unterwegs. Alles Gute wünsche ich Ihnen.«

»Danke, Herr Warring. Ich glaube schon, daß es mir gutgehen wird.«

Na, wenn man – verschluckte der Mann die gebührende Antwort wieder, während die Gattin sich freundlich an das junge Mädchen wandte: »Ich sage: Auf Wiedersehen, Fräulein Hermeran. Wir würden uns freuen, Sie auf Prahlen, das ja nur fünf Kilometer von Herrnhagen entfernt liegt, begrüßen zu können.«

»O ja, kommen Sie recht bald«, schloß sich das Töchterlein der Einladung an. »Wir müssen doch unbedingt unsere Verwandtschaft ausknobeln.«

Lachend nahm man Abschied. Und als man in den weichen Polstern saß, sagte Frau Warring mitleidig: »Armes Ding! In seiner Haut möchte ich nicht stecken.«

Nun, arm kam sich Hariet Hermeran gewiß nicht vor. Warum auch? Etwa, daß sie auf das Gefährt warten mußte, das sie nach Herrnhagen bringen sollte? Sie war ja in Geduld geübt.

Auch daß sie bei dem unwirtlichen Wetter in dem dünnen Mäntelchen fror, nahm sie als selbstverständlich hin. Es machte ihr auch gar nichts aus, daß es regnete. Dafür bot die Blechbude Schutz, auf deren Bank sie sich niederließ.

Geduldig saß sie dann wohl zehn Minuten lang, dann kam das Fuhrwerk. Altersschwach war der Wagen, altersschwach das Pferd – und altersschwach der Kutscher, der steifbeinig von dem harten Sitz kletterte. Und schon stand das Mädchen neben ihm.

»Sie wollen mich doch sicherlich abholen, nicht wahr? Ich heiße Hariet Hermeran.«

»Da soll das wohl richtig sein«, bestätigte der Alte bedächtig. »Aber es regnet wie auf den tollen Hund, Fräuleinchen. Haben Sie denn nicht so ein Dings von Wettermantel? Wir haben immerhin eine Stunde zu fahren. Bei dem miesen Wetter sogar noch länger.«

»Nein, einen Wettermantel besitze ich leider nicht.«

»Schon faul – sogar oberfaul.« Der Biedere zog seine verwitterte Mütze fester auf den Schädel. »Aber lassen Sie man, das kriegen wir schon hin. Ich habe eine Decke im Wagenkasten, darin packe ich Sie hübsch warm ein.«

Was dann auch geschah.