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Dies ist die Geschichte eines Mannes, der es sich erlaubt, bewusst nicht unfehlbar zu sein, der dutzende von Leichen im Keller als auch in unauslöschlichen Erinnerungen beherbergt. Dieser Mann, dessen Geschichte hier erzählt wird, fristet sein wenig aufregendes Dasein aufgrund zahlreicher für gewöhnliche Sterbliche schier unaussprechlicher Verbrechen als Insasse einer geschlossenen Anstalt. Eine surreale Textcollage mit einem guten Schuss Expressionismus, durchzogen mit poetischen Prosastücken, grotesken Passagen, einigen recht blutigen Szenen und so mancher Ferkelei.
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Seitenzahl: 460
Veröffentlichungsjahr: 2022
Copyright© 2022 by Marcus Borchel
Umschlaggestaltung, Illustration: Chantal Blüml
Korrektorat/Lektorat: mentorium GmbH
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreihe 40-44, 22359 Hamburg
ISBN-Taschenbuch: 978-3-347-59514-9
ISBN-Hardcover: 978-3-347-59515-6
ISBN e-Book: 978-3-347-59516-3
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Für Karsten, die einzige Person, die außer in diesem Roman auch in der realen Welt existiert.
Dieses Buch ist ein Produkt meiner zuweilen überschäumenden Fantasie. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen sind (bis auf eine einzige Ausnahme, siehe vorherige Seite) rein zufällig. Allerdings spielt sich das Geschehen an tatsächlich existierenden Ortschaften ab. Die Klinik am Oetternbach gibt es allerdings nicht und ich bezweifle stark, dass auf einer forensischen Station tatsächlich jeder Patient in den Genuss eines Einzelzimmers gelangt. Allerdings habe ich meine Schauplätze so gestaltet, wie ich es brauche. Ich hoffe einfach mal, dass die Bewohner des schönen Lipperlandes mir die ein oder andere Umdekoration ihrer Heimat nicht übel nehmen. Die an manchen Stellen merkwürdig anmutenden Zeilenumbrüche dienen übrigens nicht als Absätze, sondern um die Lesbarkeit des Textes zu erhöhen! Einzig Leerzeilen dienen als Trennung zwischen den Abschnitten!
Marcus Borchel
Die dreiäugige Seherin
Roman
Inhalt
Prolog
I: Initium
Die orangefarbenen Straßenlaternen
Am Oetternbach
Zwischen den Stühlen
Dahinter oder daneben
Über Sex
Wilhelm, der Poet
Alfred
Septemberkinder
Noch mehr über Sex
Auf dem Kupferberg
Regenschauer
II: Sequentia
Schuld und Sehnsucht
Das Leid meines Freundes
Die Borstenfresser
In die Welt gesetzt
Die Achterbahnfahrt und der Streich
Wie ich mir das Rauchen abgewöhnte
Scheiße am laufenden Band
Die Schleimspur
Auf dem Kupferberg
Der geniale Einfall
Schenckentöter wider Willen
Der Korb
Melinda
Vom Unruhestifter zum Traumtänzer
Klein aber schrecklich
Blick in die Sterne
Zerplatzt wie eine Seifenblase
Das verlassene Heim
Die Hochzeitsfeier
Überflüssige Menschen
Gevatter Tod schlägt gnadenlos zu
Braune Töne
Der Zorn des Zeus
Sommersonnenwende
Besoffen
III Diarium
IV Actum Finalem
Der Auserwählte
Unter dem Regenbogen
Begleiter
Allerlei Perspektiven
Billy
Auf dem Kupferberg
Die Halle der lebenden Toten
Das letzte Kapitel
Prolog
Die Wühlmaus floh aus dem Kloster. Nichts hielt sie mehr an diesem Ort. Der Geruch nach Weihrauch und Kerzen war ihr unerträglich, wenngleich dies nicht die Begründung für ihre Flucht lieferte. Als sie die großzügig angelegten Gemüsegärten passierte, hielt sie eine Weile inne. Der Kopfsalat stand in voller Pracht, roter und grüner Batavia- sowie kräftiger, wohlgeformter Eisbergsalat versprachen ein üppiges Mahl. Jedoch gab es in dieser Gegend zu der Zeit genügend Bauern, weshalb die Wühlmaus nicht auf die Klostergärten angewiesen war. Sie wollte diesen Ort, so schnell es eben ging, verlassen. Ihren nagenden Zähnen blieb nichts anderes übrig, als sich noch eine Weile zu gedulden. Hinter der Buchsbaumhecke bildete ein dichtes Dornengestrüpp, hauptsächlich aus Schlehen bestehend, für die Wühlmaus kein Hindernis.
Diverse Artgenossen hatten ein weitverzweigtes, unterirdisches Labyrinthsystem angelegt, welches bis zum Krebsteich führte. Hier war die Umgebung sumpfig und feucht, ein modriger Geruch lag in der Luft. Der Fluch zeigte seine verheerende Wirkung. Anstatt aufrecht auf zwei Beinen ihres Weges zu gehen, groß und doch anmutig, dreiäugig und doch wunderschön, war sie dazu verdammt, die folgenden tausend langen Jahre zu fiepen, zu huschen, zu nagen, zu graben, zu wühlen und zu fressen.
Der Erzbischof hatte Milde walten lassen, weil ihre Fähigkeit ihm und seinen Anverwandten von großem Nutzen gewesen war. Andernfalls hätten gnadenlose Flammen ihrer liebreizenden Gestalt all ihren Glanz genommen, sie versengt, verkohlt und bis auf den letzten Knochen niedergebrannt. Als sie aus dem Kloster floh, fragte die Wühlmaus sich bereits, ob es nicht doch besser gewesen wäre, wenn ihr Fleisch in Brand gesetzt worden wäre.
Auch wenn sie entsetzliche Qualen durchgemacht hätte, ihr Geist wäre durch das Feuer nicht vernichtet worden, war sie doch, was von den Adeligen und Kirchenherren niemand wusste, ganz und gar unsterblich. Doch man hätte sie nach ihrer Rückkehr vermutlich für alle Ewigkeiten ins einsamste und finsterste aller Verliese geworfen, wo sie nie wieder die Sonne, den Mond oder die Sterne gesehen hätte. Diese an sich logische Schlussfolgerung beantwortete ihre Frage mit einem eindeutigen Nein.
So schnell sie es vermochte, flitzte sie zwischen den Bäumen entlang. Glattstämmige Buchen bildeten mit vereinzelt stehenden, dicht belaubten Eichen und verschiedenen Nadelbäumen einen abwechslungsreichen Mischwald, der großen wie kleinen Geschöpfen von unterschiedlicher Art einen großzügigen Lebensraum bot. Sie bewegte sich auf das Hochmoor zu, welches in heutigen Tagen als das Hiddeser Bent bekannt ist und noch immer dort liegt.
Die Wühlmaus hatte kein besonderes Ziel vor Augen. Warum auch? Ihr Leben als Nagetier bot ihr immerhin den Vorteil, dass es keine Rolle spielte, ob sie irgendwo sesshaft wurde oder sich als ihrer menschlichen Gestalt beraubten Vagabundin von Ort zu Ort ziehend durchs Leben schlug. Das erste Mal in ihrem Leben ertappte sie sich bei dem Wunsch, eines fernen Tages von Gevatter Tod abgeholt zu werden, um dorthin zu gelangen, wo es weder Hass noch Habgier, weder Leid noch Sorgen gibt.
I Initium
Die orangefarbenen Straßenlaternen
Die Tapeten an den Wänden sind von jenem Weiß, bei dem auf der Stelle tödliche Langeweile aufkommt. Die tapsenden und schlurfenden Schritte meiner Mitinsassen hallen unablässig über den Korridor. Niemand weiß etwas mit sich anzufangen. Sowohl bei Tag als auch bei Nacht zeigen die Neuroleptika ihre Wirkung. Bei mir ist es anders. Im Gegensatz zu vielen anderen Patienten habe ich mich bis zum heutigen Tage nicht in einen schläfrigen sabbernden Pflegefall verwandelt, der wie ein Zombie auf dem Flur auf und ab stakst, seelenlos und leer wie ein ausgehöhlter Kürbis.
Im Gegenteil, ich bin hellwach, voller Tatendrang, sitze aber bedauerlicherweise hier fest. Und das bis zu meinem Lebensende, sofern nicht ein Wunder geschieht. Die Ärzte verstehen nicht, wieso das Zeug bei mir nicht zu wirken scheint. Benperidol, Haloperidol, Flupentixol (sowohl oral verabreicht als auch in Form von Depotspritzen) – was weiß ich, was noch alles ausprobiert wurde – kein Psychopharmakon vermag mir den von Ärzten und Pflegepersonal gewünschten geistigen Knockout zu bescheren. Benzodiazepine jeder Art verursachen kaum etwas anderes als eine mehrstündige vollkommen bescheuerte Albernheit – das war es dann aber auch schon. Zum Zombie machen können sie mich nicht und das ist auch gut so. Denn sonst wäre ich kaum dazu in der Lage, diese Zeilen zu Papier zu bringen. Am liebsten würde ich mit der Hand schreiben, doch leider bleibt mir dies aufgrund strenger Schutzmaßnahmen verwehrt. Bleistifte, Kugelschreiber und sogar scharfkantiges Papier aus Schreibblöcken zählen allesamt zu den Gegenständen, denen eine gewisse Verletzungsgefahr innewohnt.
Ich bekomme regelmäßig Besuch von meinen Eltern sowie von meiner jüngeren Schwester, deren zwei Jungs allerdings noch zu klein sind, um eine psychiatrische Anstalt wie diese von innen zu Gesicht zu bekommen. Jedoch interessiert sich meine Familie nur mäßig für mein säuberlich in Textdateien auf meinem alten Laptop gespeichertes Geschreibsel. Sie alle wünschen sich einfach nur, ich käme wieder nach Hause. Für sie ist die Familie ohne mich einfach nicht komplett. Zu unverwechselbar, heiter und melancholisch zugleich offenbart sich meine typische Art, deren Fehlen ein auffälliges, kaum zu stopfendes Loch hinterlässt. Alle wünschen sich meine Heimkehr, ich selbst eingeschlossen. Doch leider ist das Leben meilenweit davon entfernt, ein Wunschkonzert zu sein!
Ich hasste das kalte unfreundliche Licht der Straßenbeleuchtung auf LED-Basis beinahe noch mehr, als ich das warme orangefarbene Leuchten der guten alten Natriumdampflampen liebte. Viele von Ihnen mögen nun sagen, der Kerl ist nicht ganz dicht, doch für mich bedeutet diese Art von Fortschritt und Neuentwicklung ein ernsthaftes Problem. Veränderungen zählen zu den Dingen, die ich überhaupt nicht mag.
Meine Umgebung hat gefälligst so zu bleiben, wie ich es gewohnt bin! Bevor die Straßenbeleuchtung zu einem großen Teil auf LED umgestellt wurde, war ich mir der Schönheit der orangefarbenen Laternen nie bewusst gewesen. Deren Licht strahlt einfach ein Gefühl von Ruhe und Geborgenheit aus. Diese furchtbaren LEDs scheinen mir dahingegen viel zu grell und auf eine schwer zu beschreibende Weise unnatürlich. In jeder Nacht, in der ich mit dem Fahrrad allein durch die Gegend radelte, wurden die Straßen vom warmen Licht der Laternen beleuchtet. In der Wilhelm-Raabe-Straße stieg ich häufig für eine Weile vom Rad und schob. Oft schaute ich mir dabei die Bemalungen auf den Garagentoren an. Die Bilder waren zumeist in schlichten Farben gehalten, aber trotzdem schön anzuschauen. Lage war zu dieser Zeit noch ein ruhiger Ort bei Nacht. Selbst in den warmen Sommernächten war auf den Straßen nicht sonderlich viel los.
Es geschah vor ziemlich genau fünf Jahren. Die typischen Natriumdampflampen, entweder orangefarben, seltener auch bläulich-grün, waren zur damaligen Zeit noch allgegenwärtig. Man schrieb den 24. Juli 2011. In dieser Nacht geschah etwas höchst Sonderbares. Die Bezeichnung unerklärliches Phänomen beschreibt das, was geschah, als ich die Moor-Hauptschule in Hardissen hinter mir ließ und kurze Zeit später vom Ricarda-Huch-Weg in die Ina-Seidel-Straße einbog, vermutlich am treffendsten.
Nein, ich bin nicht verrückt! Okay, genau betrachtet bin ich das doch, dennoch versichere ich Ihnen, dass es sich bei dem nachfolgend beschriebenen Ereignis nicht um so etwas wie eine zusammenhalluzinierte Einbildung handelte. Von einem Moment auf den anderen wurde das orangefarbene Licht der Laternen plötzlich immer heller. Genauer gesagt, es wurde so hell, dass ich irgendwann zwanghaft die Augen zukneifen musste.
Als ich diese wieder öffnete, war es mit einem Mal stockdunkel. In keinem der umstehenden Häuser brannte auch nur ein winziger Lichtschein. Hoch oben am Himmel erblickte ich über den Häusern thronend das Sternbild des Schwans, von manchen allgemein auch als das Kreuz des Nordens bezeichnet.
Im nächsten Augenblick flogen sämtliche Sterne samt Deneb, Sadir, Albireo sowie den weniger markanten Sternen dieses Bildes von einem Lidschlag auf den nächsten in südlicher Richtung davon. Ich schaute gen Norden, wo eigentlich die beiden Bären, der Große sowie der Kleine samt Polarstern, dem Himmelsnordpol unverkennbar sein charakteristisches Aussehen verleihen müssten, in gemächlichem Schneckentempo die Position am Himmel ändernd.
Stattdessen sah ich dort die verschiedensten Lichtquellen in allen Farben und Helligkeiten, in dauernder Bewegung, im Sekundentakt neuartige Muster und Formen bildend. Eine Reihe Palmen und Sträucher in unterschiedlicher Form und Größe ging allmählich in ein gigantisches Schloss mit zahlreichen Türmen und Fenstern über, das sich schließlich in eine verfallene Ruine verwandelte, die kurz darauf mit einem heftigen Getöse in sich zusammenfiel.
Die Erde bebte und zitterte unter meinen Füßen. Prächtig anzuschauen war der folgende Meteoritenschauer. Wobei mir der Ausdruck Schauer noch arg untertrieben scheint. Es sah so aus, als ob die Erde an dieser Stelle regelrecht von glühenden Geschossen bombardiert werden würde. Während ich noch dastand und staunend dieses Schauspiel betrachtete, ging nur etwa fünfzig bis hundert Meter weit links von mir die Schule samt mehrerer der umstehenden Einfamilienhäuser vollständig in Flammen auf.
Brandgeruch lag in der Luft, glimmende Funken wurden meterweit in die Höhe geschleudert. Ich bestieg meinen Drahtesel und fuhr in großer Eile davon. Ein Verweilen kam für mich nicht infrage, obgleich ich dem Feuer gern ein wenig länger bei seinem vernichtenden Werk zugeschaut hätte. Der lodernde Schein der gierig züngelnden Flammen besaß eine gewisse Ähnlichkeit mit dem warmen, beruhigenden Licht der orangefarbenen Straßenlaternen.
Jener Straßenbeleuchtung, die in heutigen Tagen zu großen Teilen dem kalten Licht der modernen Technik zu weichen hatte. Allerdings musste ich schnell von hier fort, war ich doch mit tödlicher Sicherheit um diese Zeit allein unterwegs. Wenn irgendwo jemand einsam hinter dem Fenster stand und einen jungen Mann auf dem Fahrrad beobachtete, während sich die Siedlung in ein loderndes Meer aus Flammen und Rauch verwandelte, was würde dieser Jemand wohl den sehr bald eintreffenden Einsatzkräften der Feuerwehr und der Polizei erzählen?
Mächtig trat ich in die Pedale, fuhr über eine Brücke aus Holz, die über einen schmalen, mit Lehm und Feldsteinen gesäumten Bach führte. Der Wind trug deutlich die Stimmen der Jugendlichen zu mir herüber, die so manches Mal des Nachts auf dem Klettergerüst oder der Schaukel des nahe gelegenen Spielplatzes hockten, um dort in aller Ruhe den Joint kreisen zu lassen. Merkwürdig… Der typische Geruch des verglimmenden Hanfkrautes war nicht zu riechen.
Oder aber selbiger vermochte nicht den beißenden Brandgeruch des Feuers, welches sich innerhalb der Siedlung weiter auszubreiten begann, zu überdecken. Jetzt hörte ich hinter mir laute Schreie von Frauen, Männern und Kindern. Ein schrilles Martinshorn kündete vom Herannahen des ersten Einsatzfahrzeuges der Feuerwehr. Ich fuhr schnell weiter. Und stellte mit Erstaunen fest, dass es sich bei den Leuten auf dem Spielplatz definitiv nicht um die übliche Kifferclique handelte.
Zwei von ihnen, ein Mädchen und ein Junge, welcher der kleine Bruder des Mädchens sein konnte, lieferten sich ein Duell mit schwarzen Stäben, aus deren Enden grüne, blaue und rote Funken stiebten, wie bei einem Feuerwerk.
„Achtung, da kommt er!“, sagte ein anderer Junge, der auf einer der beiden Schaukeln saß. „Tja, dann wird unser Duell halt warten müssen“, gab das Mädchen zur Antwort, steckte den Stab in eine Art Seitentasche und sprang mir mit einem Satz vor das Fahrrad. Trotz meiner ziemlich energischen Vollbremsung konnte ich einen recht unsanften Zusammenstoß gerade mal um ein Haar verhindern.
„Zurück! Der Spielplatz und alles, was dahinter liegt, ist für hässliche Hurensöhne wie dich gesperrtes Gebiet!“ Die Stimme des Mädchens klang hoch und schrill. Ihr Gesicht hatte etwas verdammt Merkwürdiges. Es wirkte glatt und auf eine unbeschreibliche Weise künstlich. Eher wie aus Plastik oder Gummi als aus lebendem Fleisch. Aber irgendwie auch wieder nicht. Wie gezeichnet? Ein Haufen leuchtender Pixel geformt zu einem koboldartigen Wesen? Hmmm…
„Und was wollt ihr tun, wenn ich einfach an euch vorbeiradle? Mich am Weiterfahren hindern?“ Normalerweise hätte ich auf so eine Situation vermutlich gar nicht reagiert und wäre einfach davongefahren. Aber möglicherweise löste die Tatsache, dass man mich als einen hässlichen Hurensohn bezeichnet hatte, eher eine Reaktion in mir aus. Der kleine Junge richtete seinen Stab auf mich. „Du kommst erst an uns vorbei, wenn du uns alle im Duell besiegt hast. Ich fange an!“ Bevor ich auch nur zu einem Protest in der Lage war, schoss das Kind, welches ebenso wie das Mädchen vollkommen irreal aussah, eine Serie hellblauer Funken mit dem Stab in meine Richtung. Ich versuchte auszuweichen, doch in der nächsten Sekunde riss es mich bereits vom Fahrrad und ich landete unsanft auf dem Boden.
Der Junge auf der Schaukel stand auf und lief auf mich und das Geschehen zu. Seine Haare waren zerzaust und standen in allen Richtungen von seinem Kopf ab. Allerdings war es etwas anderes, was mir das Gefühl gab, mich in einem vollkommen verrückten Traum zu befinden, aus dem ich vermutlich bald mit großer Erleichterung erwachen würde. Seine Augen maßen mindestens das Dreifache eines gewöhnlichen Sehorgans und leuchteten in einem völlig grotesken Gelbton, der gleichsam einer hellen Flamme eine riesige, rabenschwarze Pupille umrandete. Mit einem einzigen Sprung war er bei mir, in seiner Hand materialisierte sich aus dem Nichts ein Stab derselben Machart, wie ihn der kleinere Junge und das Mädchen benutzt hatten, während er zugleich abrupt mitten in der Bewegung erstarrte.
„Scheiße, das ist ja gar nicht Joe! Es ist nur dasselbe Fahrrad! Nichts wie weg!“ Währenddessen wagte ich einen Versuch, mich aufzurichten, musste jedoch feststellen, dass weder meine Beine noch sämtliche übrige Gliedmaßen meinem Willen gehorchten. „Oh, Verzeihung. Du scheinst nicht besonders stark zu sein.“ Das Kind ließ einen Regen vielfarbiger Funken auf mich hernieder prasseln. Knisternde Stromstöße, entsetzliche Muskelkrämpfe.
Langsames Weichen der unerbittlichen Paralyse. Majestätische Blitze überzogen den Himmel in Form weit verzweigter Muster. Donner grollte. Die Luft roch nach Ozon. „Zeus ist auf dem Weg! Ab durch die Mitte!“, schrie das Mädchen. Und schon war die sonderbare Clique verschwunden, als wäre sie nie da gewesen. Während ich in gemächlichem Tempo in Richtung Heimat radelte, zeichneten sich für einen Augenblick die scharfen Umrisse eines gewaltigen bärtigen Mannes an des Äthers Gewölbe ab. Zwischen seinen zu Fäusten geschlossenen Händen zuckten ungeduldig knisternde, mehrfach gezackte Lichtblitze im bläulichen Schein. Zeus schleuderte mit aller Kraft sein gewittriges Inferno gen Erde.
Ein ohrenbetäubender Knall.
Frisch auflebender Wind, der allmählich die Bezeichnung Sturm verdiente. Pechschwarze Wolken, die ihre schwere Last gnadenlos in Form von sintflutartigem Platzregen entluden. Die Fontanestraße verwandelte sich rasch in einen murmelnden, glucksenden Bach. Ein gutes Stück vor mir auf der Hardisser Straße verursachten die passierenden Autos Wasserfontänen von gigantischem Ausmaß.
Noch immer hörte ich aus der Ferne die Fanfaren von Feuerwehr und Rettungsdienst. Die Straßenlaternen nahmen ihren Dienst wieder auf, als sei nichts gewesen. Eine nach der anderen begann zunächst matt und trüb zu glimmen, um wenig später die vom Unwetter durchnässten Straßen wie eh und je in ihr warmes orangefarbenes Licht zu tauchen. Die Löscharbeiten der Feuerwehr dauerten an. Die Moor-Hauptschule war abgebrannt, ebenso wie zwei Reihenhäuser im Ricarda-Huch-Weg. Gewitter und Sturm wüteten. Der Schein der orangefarbenen Straßenlaternen beleuchtete die Szenerie.
Am Oetternbach
So ziemlich jeder, der schon einmal im Kreis Lippe gewesen ist, hat bereits von der Stadt Detmold gehört, handelt es sich doch um die Hauptstadt dieses idyllisch gelegenen Landkreises. Demgegenüber dürfte das beschauliche Dörfchen Barkhausen vermutlich nur wenigen ortsunkundigen ein Begriff sein. Bis zum Ende des Jahres 1969 waren an ebendiesen geografischen Koordinaten Biesen, Obernhausen und Barkhausen positioniert gewesen.
Am 01. Januar 1970 hatte man sich im Zuge einer Reform darauf geeinigt, die drei Ortschaften zusammenzuführen. Somit hatten Biesen und Obernhausen ihre Namen einbüßen müssen, mit der Folge, dass ein größeres Dorf entstanden war, das fortan schlicht Barkhausen genannt wurde. Vor noch viel längerer Zeit, während des Mittelalters im 14. Jahrhundert, hatte man Biesen noch Biezenhausen genannt, wohingegen Obernhausen der Name einer Ritterfamilie gewesen war. Irgendwann im Jahre 1709 war die Ortmühle erbaut worden – eine Wassermühle, die sich noch heute dort befindet und als Gaststätte genutzt wird.
Diese Mühle liegt, man mag es kaum glauben, ziemlich genau in der Mitte des Landkreises. Die umliegende Landschaft überblickend ragt der Mönkeberg, an dessen Fuße der Oetternbach entspringt, zweihundertsechzig Meter in die Höhe. Hätte der still vor sich hin plätschernde Lauf nicht an dieser Quelle seinen Ursprung, dann wären die vorhergehenden Zeilen nimmer niedergeschrieben worden.
Barkhausen und die dort gelegene Ortmühle zählen zwar mit zu den schönsten Fleckchen im Kreis Lippe, spielen jedoch in unserer Geschichte gleichwohl nicht die geringste Rolle. Ganz im Gegensatz zum Oetternbach, welcher sich durch zahlreiche mehr oder weniger spärlich bewachsene Landschaften, Naturschutzgebiete und kleinere Ortschaften schlängelt. Jerxen-Orbke, Oettern-Bremke, Heiden, Hardissen und das Hardisser Moor sind nur ein paar wenige davon. Jerxen-Orbke und Oettern-Bremke sind zu Detmold zugehörig, Heiden und Hardissen sind beide Teil der Stadt Lage.
Eine der Straßen in Lage wird mittels eines Schildes mit weißen Lettern auf blauem Grund als Mühlenbrinkweg ausgewiesen. Die Schienen der Bahnstrecke nach Lemgo trennen diesen mäßig befahrenen Asphaltweg von der parallel verlaufenden Industriestraße. An dessen Ende liegt ein kleiner Parkplatz, auf dem, wenn es hochkommt, etwa zwanzig bis dreißig Fahrzeuge der Mitarbeiter der Klinik am Oetternbach ihren Platz haben.
Diese Klinik ist kurz nach der Jahrtausendwende dort erbaut worden, nachdem festgestellt worden war, dass die Zahl der psychischen Erkrankungen im Kreis Lippe, genau wie auch andernorts, mehr und mehr in die Höhe schnellt. Die Klinik am Oetternbach beherbergt fünf Stationen. Bei Station 1 handelt es sich um die offene Station für psychisch Kranke. Patienten mit Psychosen, Depressionen, bipolaren Störungen, BPS (Borderline-Persönlichkeitsstörung), Angststörungen und sonstigen mentalen Erkrankungen werden dort stationär behandelt. Die Erfahrungsberichte von Patienten im Netz sind fast ausschließlich positiver Natur.
Der größte Applaus, von Mitarbeitern und Patienten gleichermaßen, gilt wohl Doktor Reinhard Flake, dem Chefarzt, der zuvor seine Erfahrungen in Oerlinghausen gesammelt hatte, als Stationsarzt in einer Fachklinik für Menschen mit Suchterkrankung. Station 2 ist die psychosomatische Station. Station 3 bezeichnet man als die gerontopsychiatrische Station, dort steht ein Bett für diejenigen bereit, die sich bereits im fortgeschrittenen Alter befinden.
Die vierte ist die geschlossene Station. Als akuter Notfall wird man so lange dort verwahrt, bis eine Aufnahme auf der offenen Station in Betracht gezogen werden kann.
Wann immer bei jemandem die Gefahr besteht, er könne sich selbst oder auch andere gefährden, landet dieser zunächst auf Station 4. Suizidversuche sind in dieser Gegend häufiger, als von der Allgemeinbevölkerung angenommen wird. Sie alle landen so gut wie immer auf Station 4. Von Wahnvorstellungen geplagte Psychotiker, die durch ihr unberechenbares Verhalten möglicherweise zu einer Gefahr für ihre Mitmenschen werden können… Station 4. Dann haben wir noch die forensische Station.
In der Klinik am Oetternbach wird diese durch die fünfte Station repräsentiert. Auf Station 4 dürfen sie wenigstens hinaus, wenn auch unter entsprechenden Auflagen und ausschließlich unter Begleitung. Doch wir von der Station 5 dürfen diese Mauern überhaupt nicht verlassen! Gefangene, das ist es, was wir sind, psychisch kranke Straftäter, die eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen. Jawohl, ich selbst bin ein Patient auf der Station 5.
Und dies werde ich aller Wahrscheinlichkeit nach bis zu meinem Tode bleiben, falls ich nicht eines schönen Tages das Pech habe, von irgendeinem Richter als gesundet eingestuft zu werden, mit der Folge, dass ich den Rest meiner Strafe in einer gewöhnlichen Justizvollzugsanstalt absitzen muss, mit anschließender Sicherungsverwahrung.
Doktor Jan Radler ist bei uns der Stationsarzt, ein nervöser, kahlköpfiger, stets ängstlich wirkender Typ von kleinem Wuchs, den man, wenn man mal von der standardmäßig durchgeführten täglichen Visite absieht, praktisch nie zu Gesicht bekommt. Nächtlicher Schlaf, körperliche Befindlichkeit, medikamentöse Einstellung und die Frage, wieso der ganze Scheiß bei mir nicht wirkt, sind die einzigen Punkte, die bei der Arztvisite thematisiert werden. Keinerlei Eingehen auf persönliche Wünsche. Ebenso kein Interesse an meinem mentalen Wohlergehen. Karin Hemmer, die gestrenge wortkarge Oberschwester, die permanent darauf besteht, von ihren Patienten mit verehrte Frau und Titel angeredet zu werden – also nicht Frau Hemmer, Schwester Hemmer, Schwester Karin, schon gar nicht Karin, sondern ausschließlich und immerzu verehrte Frau Oberschwester Hemmer – ist während der Visite stets zugegen. Die bei uns allen beliebte Maria Kramer wiederum verlangt nicht einmal, dass man sie als Schwester bezeichnet und erlaubt ganz selbstverständlich die Nennung beim Vornamen.
Trotz des Ernstes unserer Lage hat sie immer ein Lächeln für uns übrig. Maria wirkt ein wenig burschikos, aber dennoch niedlich, mit ihrer dunklen Kurzhaarfrisur und den Sommersprossen auf der Nase. Noch vor wenigen Monaten hat sie im Frauentrakt ihren Dienst verrichtet, der zur selben Station gehört und eine Etage unter uns liegt.
Ich weiß nicht, was dort vorgefallen ist, warum und weshalb sie dort das Handtuch geschmissen hat und zu uns gewechselt ist, aber ich bin dankbar dafür. Zuletzt wäre noch Tobias zu nennen. Wir alle kennen ihn nur als Pfleger Tobias. So manches Mal spiele ich mit dem Gedanken, ihn einfach mal Tobi zu nennen, nur um zu sehen, wie er reagiert. Gestik, Mimik, Auftreten, alles was zu diesem Pfleger gehört, inklusive dem femininen Klang seiner Stimme, die typische Haartracht, dass dick aufgetragene Make-up, die knallroten Lippen, dies alles macht mehr als deutlich, dass er der ganzen Gesellschaft zu zeigen gedenkt, wer und was er ist.
So mancher reißt hinter seinem Rücken eindeutig homophobe Sprüche, ich allerdings zähle nicht dazu. Ich mag Menschen nicht, die andere danach bewerten, was sie sind, wie sie sind oder wer sie sind. Wir haben einen Typen hier auf der Station, der heißt Marcel und hat einen Brandanschlag auf eine türkische Teestube verübt. Ich kann mich erinnern, damals über diesen Fall in der Zeitung gelesen zu haben.
Ein psychiatrischer Gutachter hatte dem Kerl eine schizophrene Psychose attestiert. Stimmen sollen ihm befohlen haben, das Gebäude in Brand zu setzen. Ob ich seiner Geschichte glauben schenke, kann ich beim besten Willen nicht sagen. Die Polizei hat jedenfalls in seiner Wohnung eine Menge rechtsextremes Propagandamaterial sichergestellt. Jeder Patient auf Station 5 hat ein Einzelzimmer. Das ist auch gut so, denn mit so jemandem das Zimmer zu teilen, wäre eindeutig eine Strafe zu viel. Wenn schon die Aussicht besteht, dass man nie wieder in die Freiheit entlassen wird, sollte einem auch zumindest das Recht auf ein Einzelzimmer gewährt werden, meinen Sie nicht auch? Nein?!
Sprechen Sie mal mit einem Häftling in der geschlossenen Psychiatrie, sofern sich Ihnen diese Gelegenheit bieten sollte. Um was wetten wir, dass dieser Ihnen etwas anderes erzählt? Die meiste Zeit geht es uns hier alles andere als gut. Bedenken Sie, dass man uns genauso gefangen hält wie in einem gewöhnlichen Gefängnis. Auch wenn wir hier keine Angst davor haben müssen, uns nach der Seife zu bücken, wir unseren Nachttisch nicht an irgendwelche pickeligen Fußballhooligans abtreten müssen, es keine Prügel setzt, hier nicht das Recht des Stärkeren herrscht und wir hier niemanden haben, der uns grinsend und zugleich die Nase rümpfend beim Kacken zuschaut, heißt das nicht, dass wir uns hier auf der geschlossenen Station des Lebens freuen. Es ist mehr als bedrückend, nicht hingehen zu können, wohin man zu gehen wünscht, ein Gefangener zu sein, der nicht ohne Weiteres vor die Tür darf.
Freiheit ist ein verdammt kostbares Gut, das habe ich hier gelernt. Vor allem die Änderung des Zeitgefühls ist etwas, das ich mir in dem Ausmaß, wie ich es hier erlebe, nie hätte träumen lassen. Die Tage hier können wahrlich endlos erscheinen. Vor allem dann, wenn man weiß, dass man vermutlich bis in alle Ewigkeit hier an diesem Ort bleiben wird. Ich sitze gerade mal seit fünf Monaten hier fest, doch diese Zeit fühlt sich bereits jetzt wie ein ganzes Menschenleben an. Unvorstellbar, wie langsam die nächsten fünf Jahre vergehen mögen.
Oder gar die nächsten zehn Jahre! Ich habe bereits vollkommen vergessen, wie es ist, ein freier Mensch zu sein, und das innerhalb so kurzer Zeit. Wie lange ist es her, dass ich mir im Kino den letzten Teil von Der Herr der Ringe angeschaut habe? Ich kann es mir gar nicht mehr vorstellen. Ich weiß, dass ich diesen Film im Kino gesehen habe, aber eine zeitliche Einordnung ist mir beim besten Willen nicht möglich. Ganz so, als hätte sich das alles bloß im Traum abgespielt. Genau wie auch mein Leben vor der Anstalt. Ein anderes Leben, ein deutlich schöneres Leben! Ein anderes Leben, aus dem ich Ihnen noch eine Menge Geschichten erzählen werde. Traurige Geschichten. Witzige Geschichten. Nachdenkliche Geschichten. Alle Arten von Geschichten. Ich habe schließlich alle Zeit der Welt, um das zu schreiben, was hinaus will. Vermutlich fragen Sie sich schon eine ganze Weile, warum ich dort bin wo ich bin. Schließlich sitzt niemand umsonst in einer geschlossenen Anstalt und darf nicht hinaus. Ein Insasse der forensischen Station muss doch bestimmt etwas ganz und gar Entsetzliches getan haben, oder etwa nicht?
Lassen Sie es mich mal so ausdrücken, irgendwie gehen meine Meinung und die der Gesellschaft bezüglich dessen, was entsetzlich ist und was nicht, offenbar gehörig auseinander. Dabei ist es nicht einmal wirklich schlimm, was ich getan habe. Ich habe die Welt lediglich von einigen überflüssigen Menschen befreit.
Zwischen den Stühlen
Der Himmel ist überzogen mit dichten, stahlblauen Wolken, die genau über dem Haus thronen, ohne sich fortzubewegen. Auf dem Dach flattert eine Fahne im Wind, schwarzweiß gestreift, einem Zebra gleichkommend. Der Dekan empfängt mich in der Eingangshalle. „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“
Die Stimme des Dekans klingt ruhig und angenehm, sodass es wie eine große Wohltat erscheint, mit diesen Worten begrüßt zu werden. Ich nicke zustimmend. „Fürwahr, Kant war ein großer Denker! Ein Jammer, dass sein edles Ansinnen über die Französische Revolution hinaus weltweit keine tiefgreifenden Veränderungen bewirkt hat! Zwar leben wir hier in einer parlamentarischen Demokratie, doch andernorts geschieht nach wie vor viel Unrecht!“
Der Blick des Dekans ist freudestrahlend und gütig, zugleich jedoch allwissend und streng. „Aufklärung allein genügt nicht. Hass, Neid, Missgunst und Gier sind Wurzeln des Übels, die durch Mündigkeit allein nicht zu beseitigen sind. Unterschiedliche Strickmuster, mündig wie unmündig, stören sich, sind sich allzeit überall im Weg. Jedes Muster strebt nach Dominanz. Die Unterworfenen werden von Rachegelüsten geplagt.“ Ein schier unendlicher Korridor führt vom anderen Ende der Halle aus durch das Gebäude. Rechts wie links gibt es weitere Flure und Treppen, die sowohl nach oben als auch nach unten führen.
„Nur diejenigen, die sich zwischen den Stühlen befinden, haben das besondere Privileg, in unserem Hause zu studieren. Denn nur, wer von der Gesellschaft ausgegrenzt wird, eignet sich dafür, das zu tun, was getan werden muss! Ein Angehöriger der breiten Masse, der keinerlei Ausgrenzung am eigenen Leibe erfahren durfte, hat ganz andere Werte und Normen verinnerlicht. Wer beharrlich mit dem Strom schwimmt, kann nur unter Schwierigkeit von den Wurzeln des Übels befreit werden.“ Auf der linken Seite des Flures wirft mir eine schneeweiße Tür einen abweisenden Blick zu. Ihre smaragdgrünen Augen mustern mich kritisch, ehe sie mit einer hellen, etwas klagenden Stimme zu sprechen beginnt: „Waffenvernichtungslager! Betreten für Unbefugte streng verboten!“
Ich frage den Dekan, was es damit auf sich hat. Er antwortet mir, dass in diesen Hallen alles zerstört werde, was Leben nimmt, zerstückelt, zerfetzt und ganze Nationen in todbringende Flammen hüllt, Dinge, die ohne Hass nicht mehr gebraucht werden. Schon bald beginne ein neues Zeitalter, in dem die Welt nicht mit Macht, sondern mit Liebe regiert werde. „Aus dem Homo erectus wurde, während weitere Entwicklungsstufen wie der Homo ergaster oder der Homo neanderthalensis durchlaufen wurden, irgendwann der Homo sapiens. Aus dem Homo sapiens entwickelt sich hier, in der Universität der Außenseiter, die letzte Stufe der Evolution – der Homo amans.“
Auch gänzlich ohne höheren Schulabschluss war für mich klar, dass ich zu etwas Höherem berufen war. Ich betrachtete es praktisch als meine Mission, freischaffender Künstler zu werden. Solch hochtrabende Ziele sind nicht ungewöhnlich, wenn man von der Gesellschaft ausgegrenzt wird, weil man anders ist. Wer mehr oder weniger deutlich aus der Art schlägt, sich nicht in die engen Normen der allgemeinen Zivilisation quetschen lässt, dem bleibt die Möglichkeit verwehrt, eine normale Schule zu besuchen. In Schulen gibt es Regeln.
Regeln, die ich mit meinem kindlichen Unwissen nicht zu akzeptieren bereit war. Private Schulen, in denen Wunderkinder meiner Art individuell gefördert werden, gab es meines Wissens nach schon während meiner Kindheit inmitten der quietschbunten Achtziger, als die Wälder noch dicht standen und schnurlose Mobiltelefone allenfalls in unserer Vorstellung existierten.
Ein Schüler, der sich nicht langweilt, weil er entsprechend seiner Fähigkeiten gefordert wird, dürfte viel eher Bereitschaft zeigen, sich an entsprechende Konventionen zu halten, als ein aus der Art geschlagenes Kind, das an einer gewöhnlichen Sonderschule dauernd gemaßregelt, gegängelt und anderweitig eingeschränkt wird. Doch welcher Normalsterbliche kann es sich leisten, seinen Nachwuchs auf eine private, vom Staat nicht geförderte Spezialschule zu schicken?
Meine Eltern waren nicht dazu imstande und ich kann ihnen deshalb keinen Vorwurf machen. In Anbetracht dieser Umstände bin ich auf der Eichendorff-Schule gelandet, obgleich eine Schule für Menschen mit Lernbehinderung nicht die beste Wahl für mich war. Stets von einem großen Teil des Lehrstoffes unterfordert, zugleich mit der Vielzahl von Verhaltensregeln überfordert, konnte dort nichts aus mir werden.
Regelrecht erbärmlich war ich jedoch in sämtlichen Fächern, die eine gute Feinmotorik oder handwerkliches Geschick erforderten. Ich hasste Kunst, Textilgestaltung und Werken beinahe genauso wie den Sportunterricht, in dem sich natürlich jeder Schüler mit schlechter Koordination und Treffsicherheit, infolgedessen schlecht geeignet für angesagte Spiele wie Fußball oder auch Volleyball, eindeutig bloßgestellt sah. Ich verstehe bis heute nicht wirklich den Sinn einer Notwendigkeit des Schulsportes, zumal Sportlehrer an Schulen häufig eine lausige Kompetenz an den Tag legen.
Da wird dann gerne mal ein körperlich forderndes Spiel wie Fußball eine ganze Schulstunde lang durchgepowert – selbstverständlich ohne jedes Aufwärmtraining – mit der Folge, dass es zusätzlich dazu, dass man sich als schlechter Spieler sowohl zum Affen macht als auch den Zorn so manch fußballfanatischer, cholerischer Mitschüler auf sich zieht, obendrein noch zu Zerrungen, Dehnungen und sonstigen Scheußlichkeiten kommt.
Dann ist da noch die Tatsache, dass sich eine schlechte Note in Sport negativ auf die Versetzung auswirkt. Ich weiß nicht, ob dies in der heutigen Zeit noch immer zutrifft, aber zu meiner Schulzeit war Sport relevant für den Gesamtnotenschnitt und ich war nicht der einzige Schüler, der sich an dieser Ungerechtigkeit störte. Wieso sollte Unsportlichkeit einen Einfluss auf die weitere Laufbahn haben?
Ich habe damals wiederholt aus Protest beim Sportunterricht nicht mitgemacht, einfach die Sportklamotten zu Hause gelassen. Bei den Bundesjugendspielen habe ich mehr als einmal die Teilnahme verweigert. Nicht bloß, weil ich einer der Schlechtesten in Sport war, sondern auch, oder sogar vor allem deshalb, weil es unsere Pflicht war, dort mitzumachen. Auf einem der Halbjahreszeugnisse hatte ich sogar mal eine Sechs in Sport und mache gleichwohl kein Geheimnis daraus, dass ich damals mächtig stolz darauf war. Ernst Wimmer, in den letzten beiden Schuljahren unser Sportlehrer, war aufgrund meiner dauerhaften Aufsässigkeit ganz schön ins Toben geraten.
Von diesem Lehrer, den man mit gutem Gewissen als Arschkriecher der Direktorin bezeichnen konnte, wird schon bald noch mehrfach die Rede sein, genau wie auch von unserer überstrengen, bei fast allen Schülern unbeliebten Schulleiterin Herbertina Mommsen. „Dieser Junge bekommt an unserer Lehranstalt keinen Schulabschluss!“ So oder so ähnlich (ich erinnere mich nicht mehr an den genauen Wortlaut) sprachen Wimmer und die olle Mommsen gegenüber meiner Mutter auf einem der letzten Elternsprechtage.
Von Fächern wie Kunst, Sport oder Hauswirtschaft (ein Fach, in dem sich eine ziemlich lustige Geschichte zugetragen hat, doch davon später) mal abgesehen, lernte ich an dieser Schule weit unter meinem Niveau. Zudem begriff ich ziemlich schnell, dass ich ein besonderes Kind war, die Lehrer jedoch keineswegs gewillt waren, auf meine speziellen Eigenheiten einzugehen.
Schon als Kind besaß ich eine Menge Wissen und war in jederlei Hinsicht vielseitig am Weltgeschehen interessiert, konnte aber an dieser Schule, mit ihren starren, vom Schulministerium vorgegebenen Lehrplänen, so gut wie nichts davon umsetzen. Das Bildungssystem hierzulande stand der freien Entfaltung meiner Persönlichkeit gehörig im Weg. Um meine Spezialgebiete, wie etwa die Literatur und das Schreiben, zu einem Beruf machen zu können, wäre jedoch eine akademische Laufbahn unabdingbar gewesen. Germanistik oder Kunstgeschichte sind wundervolle Gebiete, die es zu studieren lohnt. Doch dies blieb mir verwehrt – ohne Abitur kein Studium. Auf der Eichendorff-Schule war der höchste Abschluss, den man erlangen konnte, der Hauptschulabschluss, allerdings ohne Englisch. Damit konnte man selbst in den Neunzigerjahren allenfalls eine Ausbildung in einem Handwerksberuf erlangen. Tischler, Metallbauer, Maurer, was auch immer… Berufe, für die ich mit meinen zwei linken Händen und meinem miserablen Augenmaß nicht geeignet war.
Entweder sich als Handwerker Blasen an die ungeschickten Hände schuften und dabei ständig vom Meister angepöbelt und von den Gesellen herumgeschubst zu werden oder dem Volk der Arbeitslosen einen weiteren Genossen stellen – eine andere Wahl schien mir nicht zu bleiben. An der Schule setzte es einen Tadel nach dem anderen, diese Zeit zählt auf jeden Fall nicht gerade zu den erfreulichsten Kapiteln meines Lebens.
Wer anders ist, wird nicht bloß von den meisten seiner Mitschüler gehänselt und ausgeschlossen, sondern entwickelt sich auch gleichwohl zum Staatsfeind Nummer eins für die konservativ eingestellten Lehrer. Ich war sicher einer der auffälligsten Schüler der Eichendorff-Schule, es hat sich eine Menge ereignet, von dem sich noch zu berichten lohnt. Da mir an dieser Schule jedoch selbst der Sonderschulabschluss verwehrt blieb, gab es ein Problem. Man wusste natürlich, dass ich keineswegs dumm war.
Sämtliche Lehrer wussten das und meine Eltern, die mich schließlich großgezogen hatten, mich demzufolge am besten kannten, glaubten erst recht daran, dass ihr Sohnemann erheblich mehr auf dem Kasten hatte, als die Schule ohne Abschluss zu verlassen. Das miserable Abgangszeugnis aus der Abschlussklasse bei Herrn Wimmer schien wie der reinste Hohn.
Somit gab es ein abschließendes Beratungsgespräch, an dem überflüssigerweise eine äußerst inkompetente Berufsberaterin vom Arbeitsamt teilnahm, die seit Jahren mit der Mommsen zusammenarbeitete. Meinen Eltern wurde dringend dazu geraten, sich mit dem Jugendamt in Verbindung zu setzen.
„Hören Sie, Frau Landau, Markus wird hier keinen Blumentopf gewinnen! Das Jugendamt hat jedoch ganz andere Möglichkeiten, wenn es darum geht, störrischen Schülern andere Wege zu ebnen!“ So lauteten die Worte der Berufsberaterin. Von einer Unterbringung im Sauerland war die Rede. Ich müsse weg von meiner Familie und ich bin noch immer davon überzeugt, dass die ganze Sklavenbande des staatlichen Bildungssystems meinen Eltern die Schuld daran gab, dass ich so war, wie ich nun einmal war. Während des Gespräches war ich mir noch nicht wirklich darüber im Klaren, dass man meine Eltern dazu drängte, mich in ein Heim zu stecken.
Dort sollte ich die zehnte Klasse besuchen und meinen Hauptschulabschluss machen und, wenn möglich, eine Ausbildung beginnen, fern von meiner Familie. Niemand verstand, dass ich handwerklich vollkommen unbegabt war, der angestrebte Abschluss mir demzufolge keinerlei Pforten zu öffnen vermochte. Individuelle Förderung meiner Fähigkeiten, das war es, was ich brauchte!
Stattdessen landete ich im Sauerland in einem Heim, wo ich zumindest einen recht guten Hauptschulabschluss (ohne Englisch) erlangte, was mich aber gleichwohl in keinerlei Hinsicht weiterbrachte. Die Zeit dort zählt zu den unerfreulichsten Abschnitten meines Lebens. Obgleich ich noch immer nicht weiß, wo ich anfangen soll, werde ich schreiben, was zu schreiben ist, werde ich rauslassen, was raus will!
Meine schulische Laufbahn wird schon allein deshalb nicht unerwähnt bleiben, weil dieser Zeitabschnitt die Weichen für mein Handeln unverrückbar gestellt hat. Wer wundert sich nicht darüber, dass jemand, der seine Zeit immerzu zwischen den Stühlen verbringt, dem von der Gesellschaft, weil er anders ist, in einem fort Steine in den Weg gelegt werden, in seinem späteren Leben buchstäblich zur Bestie wird? Viel mehr hätte aus mir werden können, wäre ich mit meiner Hochbegabung staatlich gefördert worden.
Doch der Staat kümmert sich nicht ausreichend um Menschen, die anders sind. Stattdessen schiebt man uns in Schulen ab, in denen wir weit unter unseren Möglichkeiten bleiben! Individuelle Förderung nur für die stinkreiche Elite! Über die Eichendorff-Schule, das Heim im Sauerland sowie über den unzureichenden Lehrstoff und die ebenso unzureichenden Lehrkräfte wird noch eine Menge erzählt werden! Noch ist es jedoch nicht an der Zeit dafür. Zunächst werde ich davon erzählen, wie ich Alfred kennenlernte. Der Junge mit dem gelben Blumentopf spielt, genau wie auch mein alter Schulfreund Alexander Kötter, in dieser Geschichte eine äußerst wichtige Rolle.
Dahinter oder daneben
Wer zwischen den Stühlen weilt, steht manchmal neben sich. Von Ärzten und Psychologen wird dieses Phänomen häufig als Depersonalisation bezeichnet. Bei mir tritt es bisweilen auf, wenn auch nicht allzu oft oder gar täglich. Ich bin du. Du bist ich. Dennoch sind wir getrennt. Du schlägst dich tapfer durchs Leben, während ich dir dabei zusehe. Ich stehe hinter dir oder neben dir. Ich sehe dich. Du siehst mich nicht. Ich weiß nicht, ob du fühlst und empfindest.
Ich fühle und empfinde nicht. Du bist der Akteur, der Handelnde, der Hauptdarsteller. Ich bin der Zuschauer in der ersten Reihe. Du entscheidest, ob du weinst, lachst, singst, tanzt oder in der Nase bohrst. Du bestimmst, ob du redest oder schweigst. Ich stehe neben dir und beobachte dein Tun. Ich bin du. Du bist ich. Doktor Flake, der Chefarzt, ist heute bei der Visite dabei, was im Monat mindestens einmal vorkommt. Du verziehst das Gesicht, als du die Tablette mit einem Glas Wasser hinunterspülst.
Danach misst Jan Radler, der Stationsarzt, deinen Blutdruck. Das Ergebnis befindet sich im absoluten Normalbereich, stellt somit jeden zufrieden. Pfleger Tobias hat knallrote Lippen, mit denen er dich verführerisch anlächelt. Wenn wir nicht an diesem Ort wären, würde er dich vermutlich auf ein paar Drinks einladen. Die Hemmer herrscht ihn an, er solle gefälligst aufhören, so zu lächeln.
Die Mundwinkel des stets feminin auftretenden Pflegers verziehen sich abrupt nach unten. Vor der dominanten Oberschwester hat er großen Respekt. Reinhardt Flake tut das Geschehen im Gegensatz dazu sichtlich mit Lässigkeit ab und erkundigt sich nach deiner Befindlichkeit. Du antwortest ihm, dass die Station 5 auf einer Rangliste der weltweit langweiligsten Orte einen der vordersten Plätze belegen würde.
Doktor Flake sagt, das könne er verstehen, im Gegensatz zu der Tatsache, dass selbst die stärksten Neuroleptika weder bei dir, noch bei Alex oder Alfred eine Wirkung zeigen. Er sei sehr verwundert darüber und teilt dir mit, dass er so etwas noch nie erlebt habe. Bei Jessica Lange im Frauentrakt sei es genau dasselbe und er wisse, dass du und Jessica befreundet seien. Man sieht dir an, dass auch du es höchst sonderbar findest, dass offenbar alle deine Freunde gegen die pharmazeutischen Zwangsjacken immun sind. Kurz darauf verlassen der Chefarzt, Doktor Radler, die Oberschwester und Pfleger Tobias das Zimmer. Die Visite ist beendet. Du setzt dich an den Tisch und fährst deinen Laptop hoch. Sobald du mit dem Schreiben beginnst, werden wir wieder Eins sein. Du tippst die ersten Worte. Ich schreibe meine Gedanken nieder. Der Zustand, außerhalb zu sein, ist aufgehoben. Ich fühle mich lebendig, fest mit der Realität verankert. Das Schreiben gibt mir Kraft!
Über Sex
Das Gefühl, welches ich seit jeher beim Eindringen empfinde, lässt sich nur schwer in Worte fassen. Marias Öffnung ist eng und schlüpfrig. Das mächtige, wie von elektrisierter Magie erschaffene Kribbeln, geht mir von Kopf bis Fuß. Mein Penis weiß, was er will. Mein Verstand sagt etwas anderes. Warmes lebendes Fleisch, triefend von Feuchtigkeit, der typische Geruch von Mann und Frau. Sie stöhnt lauter.
Ich muss ihr den Mund zuhalten, schließlich darf uns niemand hören. Wenn Alfred nicht neben der Lokustür Wache stehen würde, könnten wir es nicht machen, müssten zusehen, wohin mit unserer Lust. Ich muss selber achtgeben, nicht zu laut zu werden. Ich dringe noch ein wenig tiefer ein, rascher und zügelloser folgt Stoß auf Stoß.
Durch die verschlossene Tür gedämpft höre ich Alfred leise summen, ein Zeichen, dass die Luft nach wie vor rein ist, Maria sich infolgedessen nicht hinter dem zugezogenen Duschvorhang zu verstecken braucht. Langsam aber sicher nähere ich mich meinem persönlichen sowie fleischlichen Orgasmus. Chinesische Drachen in hoher Zahl, den Flugverkehr ins Chaos stürzend, tosende Flammen aus gewaltigen Mäulern speiend.
Zum Stamm der Wölfe geritten auf einem weißen Tiger. Animus und Anima. Oder doch Anima und Animus? Eros gibt sich wild, stürmisch und unersättlich. Ein Gewittersturm auf hoher See, der die größten Schiffe bis weit über den Kosmos hinausschleudert. Zuvor in Ketten gelegt, alsdann von gefiederter Schlange befreit. Gleißendes Licht, gebrochen in abertausende schillernde Farben. Gestürzt in den Abgrund grenzenloser Glückseligkeit. Meine Ejakulation entlädt sich in Form einer schier unendlichen Spermafontäne in den Weiten des Allerinnersten.
Dass der Versuch, unser Liebesspiel so lautlos wie möglich über die Bühne zu bringen, am Ende kläglich in die Hose geht, braucht wohl nicht gesondert erwähnt zu werden. Alfred summt noch immer in mehr oder minder merkwürdigen Tönen. Niemand bemerkt etwas. Maria und ich ziehen uns schweigend an. Gemeinsam säubern wir, was zu säubern ist.
Mein anschließender Stuhlgang übertönt mit seiner penetranten Note etwaige Gerüche nach dem Sex, die uns möglicherweise verraten könnten. Als wir den leider nicht von innen verschließbaren Toilettenraum verlassen, steht Alfred nach wie vor summend neben der Tür und drückt sich seinen kleinen gelben Blumentopf gegen die Wange. Seine Gabe gestattet es ihm, eine herannahende Gefahr rechtzeitig zu bemerken.
Jedermann nannte sie Cassandra, obgleich ihre Eltern ihr den Namen Jessica gegeben hatten. Sie lebte in einem Apartment, das fünfzig Quadratmeter maß. In dem Haus wohnten nur zwei Parteien: sie selbst und ihre schwerhörige Vermieterin Luisa Struck, deren Sohn Bernhard Hauptkommissar bei der Kripo Lage war.
Fast am Ende der Wilhem-Raabe-Straße, kurz vor dem Hudeweg. Eine Türklingel und eine dürre Hand, die mir selbst zugehörig war und ebendiese betätigte. Markantes Läuten veranlasste den Langhaardackel von Luisa Struck hysterisch loszukläffen. Mithilfe des von Jessica Lange betätigten Türsummers betrat ich das muffig riechende Treppenhaus. Jessica arbeitete in einem Bordell in Detmold.
Freiwillig. Wassergasse 8. Die anderen Freudendamen, die Bedienung an der Theke und die Freier kannten sie unter dem Namen Cassandra. Mir waren beide Namen geläufig, schließlich waren wir schon seit der gemeinsamen Zeit im Kindergarten befreundet. Hinter der Wohnungstür im Erdgeschoss fuhr der Köter mit seinem nervtötenden Gebell fort.
Frau Struck konnte sich bei so einem Vieh vermutlich glücklich schätzen, dass sie nicht allzu weit von völliger Taubheit entfernt war. Ein Lichtstrahl, der aus der halb geöffneten Tür von Jessicas Wohnung ins Treppenhaus fiel und einladend wirkte. Meine Sandkastenfreundin, die im Türrahmen stand, ungeschminkt, aber nichtsdestotrotz wunderschön. „Hab dich schon vermisst, mein Süßer“, sagte sie zu mir, wobei sie mir ein verführerisches Lächeln schenkte. „Ich dich ebenso.“
Wir machten es uns auf der Couch im Wohnzimmer gemütlich, wo wir mit einem Glas Orangensaft auf gute Gesundheit tranken.
„Hast du von dem großen Brand gehört? Die Schule ist komplett zerstört. Bei Einsteins Klöten, wenn das keine Brandstiftung war!“ „Du wirst es nicht glauben, aber ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen!“
Verblüffung sowie Ungläubigkeit seitens Jessica. Geplauder über dieses und jenes. Etliche Minuten waren verstrichen. Die Zeit hangelte sich von Augenblick zu Augenblick. Kausalität gab ihren Senf dazu. Mäßig hart die Matratze, sowohl Decke als auch Kopfkissen flauschig wärmend, Träumen mit allerlei obszönem Inhalt den Weg ebnend. Ein Schlafgemach, in welchem sich bereits innerhalb weniger Jahre die wildesten Abenteuer zugetragen hatten. Vorspiel? Überflüssig! Rhythmisches Knarren und Quietschen im steten Takt.
Ich weiß beim besten Willen nicht, warum und weshalb, aber nach dem Liebesspiel, bei dem mehrmals die Stellung gewechselt wurde – von vorne, von hinten, Neunundsechziger, zu guter Letzt mit brachialer Härte in die Rosette – erzählte ich ihr, während wir zärtlich miteinander kuschelten und uns gegenseitig unsere Körperwärme spüren ließen, vom plötzlichen Spiel der Sterne und dem sonderbaren Erlebnis mit den Kindern auf dem Spielplatz, welches nachfolgend im Zorn Zeuss gegipfelt hatte.
„Das ist ja mal geil. Und ich dachte schon, meine Augen spielen mir einen Streich. Es muss vor etwa zwei Wochen gewesen sein, ich stand draußen vor der Tür und rauchte eine Zigarette, als die Sterne am Himmel zu tanzen begannen. Ein Elefant und ein Nashorn, das war es, was aus den Himmelskörpern geformt wurde. Da später am Himmel jedoch alles wieder an seinem gewohnten Platz zu sein schien, glaubte ich, das alles wäre eine Folge meines ständigen Schlafmangels.“
Ich unterdrückte einen Seufzer. Doch sie wusste genau, was ich in dem Moment dachte. Jessica mochte es nicht, wenn ich schlecht von ihren geheiligten Amphetaminen sprach. Wir waren schon mehrmals in Streit geraten, wenn dieses Thema aufkam. Meine Lust, ausschweifende Diskussionen zu diesem Thema zu führen, war deshalb verebbt. Dies war nicht meine Aufgabe, doch wäre ich gleichwohl ein schlechter Freund, wenn ich Jessicas Sucht gutheißen oder auch bloß rechtfertigen würde. So gut wie alle Huren, die ich kannte, nahmen irgendwelche Aufputschmittel. Die meisten Kokain. Ach, lassen wir das. Bevor meine Laune in den sprichwörtlichen Keller hinabstieg, schoben wir die nächste Nummer. Sie war unersättlich. Ihr Hobby hatte sie als Cassandra zum Beruf gemacht, war stets mit Leib und Seele dabei. Ich durfte jederzeit, ohne auch nur einen Cent zu zahlen. Es war bereits später Abend, als ich mich verabschiedete. Auf dem Heimweg kam mir auf seinem Fahrrad mal wieder der Junge entgegen, der in dieser Siedlung schon zum festen Inventar gehörte. Ich schätzte sein Alter auf etwa sechzehn Jahre, wenn er sich auch wie ein Kleinkind gab.
Sein Verhalten war reichlich sonderbar. Oft summte er monoton vor sich hin, während er sich stets einen gelben Blumentopf gegen die rechte Wange drückte. Freudestrahlend nickte er mir zu, den Gegenstand weiterhin im Gesicht, was wirkte, als würde er mit einem Handy telefonieren. Wie es schien, hatte der Junge immer gute Laune.
Ich schaue auf samentragendes Gewächs. Ich schaue auf Bäume, in denen samentragende Früchte sind. Es grünt so grün! Alles, was wächst und gedeiht, hat vielerlei hervorgebracht, blühend, Blätter und Knospen bildend, sich ineinander und miteinander auf vielfältige Weise umschlingend.
Alles, was kriecht und fliegt, alles, was auf mehreren Beinen durch die Gegend läuft, vergnügt sich miteinander, ist fruchtbar und mehrt sich. Ich bin kein Pharao. Niemand deutet mir. Dennoch liege ich in Morpheus‘ Armen und lasse geschehen, was geschieht. Hinter dem Baum der Erkenntnis halte ich mich verborgen.
Und beobachte die Frau und den Mann beim Koitus. Ist dies der Akt, der Kain und Abel zeugt? Möglicherweise. Ich esse die erste Frucht vom Baum. Köstlich im Geschmack. Süß wie die Sünde. Alexander Kötter, mein alter Schulfreund, kostet ebenfalls. „Wirklich lecker. Aber die Frau und der Mann… Ich würde gern mitmachen.“
Ein Blick in seinen Schritt verrät mir, dass er das, was er da sagt, vollkommen ernst meint. Was mich betrifft, gebe ich zu, dass ich genauso spitz bin. Jedoch gibt es Wichtigeres zu tun. „Wir können uns später noch vergnügen. Diese Mission hat oberste Priorität! Wenn wir es nicht rechtzeitig schaffen, sämtliche Früchte von diesem Baum zu essen, wird die gesamte Welt ins Unglück gestürzt. Ohne deine Hilfe kann ich das unmöglich schaffen.“ So beginnen wir zu essen. Bis hoch in die Wipfel des Baumes klettern wir und verspeisen Frucht um Frucht.
Versehentlich nimmt Alex dabei der Schlange das Leben, indem er beim Klettern ihren Kopf zu Brei zerquetscht. Der Baum wird bald neue Früchte tragen. Meine Befürchtung, dass wir den Baum der Erkenntnis nach diesem üppigen Mahl weiterhin bewachen müssen, hat sich dadurch glücklicherweise nicht bewahrheitet. Die Schlange ist tot, nun kann sie ihr Werk nicht wie geplant verrichten. Bald beschert Alex der Weltgeschichte den ersten flotten Dreier, indem er gemeinsame Sache mit der Frau und dem Mann treibt. Ich selbst bin nicht interessiert.
Ich mache mich zum Aufbruch bereit. Washington D.C. Ein prächtiges Gebäude ganz in Weiß. Doch mein Sprung lässt mich, trotz meiner Absicht, mit Nichten auf dem Dach landen. Schade! Das was dort oben umherflattert, vermag meinem Vorhaben leider nicht zu dienen. Inmitten roter Pelargonien schweift mein Blick nach oben. Eindeutig zu hoch! Eine kurze Zeit lang spiele ich mit dem Gedanken, mir unter der großen Ulme das Laub vom Baum zu schütteln. Keine gute Idee. Wer kann schon sagen, wie lange der Nordrasen so menschenleer bleibt?
Stattdessen entlockt mir das hölzerne Herzhäuschen neben dem Baum einen erstaunten Blick. Im Inneren desselben ist es sogar recht behaglich. Direkt neben dem Donnerbalken liegt ein Stapel grauer Tücher bereit, für denjenigen, der hier, unverhofft oder geplant, sein Geschäft verrichtet. Auf einer papierähnlichen Fläche grinst mir mein eigenes Gesicht entgegen. Ich lasse eines der Tücher mitgehen. Das, was ich eigentlich erbeuten wollte, hat die Ehre, die aus meiner Tat erwächst, gar nicht verdient! Alfred ist auf meinem Zimmer. Er summt wie eh und je, den gelben Blumentopf hält er in der Hand. „Hi, Alfred. Bin wieder da! Könntest du kurz Schmiere stehen?“ „Hmmm, klar. Aber, wo ist Maria?“ Ich zeige ihm das Stück Stoff in meiner Hand und weise zugleich mit dem Daumen und einer reichlich obszönen Geste zwischen meine Beine. Alfred grinst. Er hat verstanden, was ich im Sinne habe. Ich öffne die Klotür, lege das Tuch feierlich auf den geschlossenen Deckel der Toilette und lasse die Hose herunter.
An wen soll ich denken? Maria oder Jessica? Die dreiäugige Seherin?
Es gibt tatsächlich nur diese drei Frauen, die ich für sexuell anziehend befinde. Pornos geschaut habe ich in meinem Leben schon viele, nie hat sich auch nur eine Kleinigkeit geregt. Die Seherin scheidet aus. Ich will meine große Liebe nicht für so etwas Banales missbrauchen. Wenn Maria nackt vor mir steht, reicht es vollkommen aus, nur ihren übergroßen aber dennoch strammen Arsch einen kurzen Moment lang zu sehen, schon verwandelt sich mein hängender Schnibbeldillerich gleich eines schlaffen, wurmartigen Schlauches in ein kolossales knüppelhartes Prachtstück, beinahe das Doppelte an Raum einnehmend.
Bei Jessica sind meine Reaktionen abhängig von der Tagesform. Manchmal reicht es aus, lediglich in meiner Imagination ihre flachen nackten Brüste zu berühren, schon löst sich unkontrolliert der Schuss und landet je nach Begebenheit entweder auf dem Boden oder in warmer und glibberiger Form irgendwo in meinem Schlüpfer. In anderen Fällen wiederum brauche ich deutlich länger, muss erst noch minutenlang an einer mickrigen und schlappen Nudel nach mannigfaltiger Art herumspielen, bis sich eine Reaktion zeigt.
Und das, obgleich ich meine Sandkastenfreundin samt ihrer langen blonden Mähne in voller Gänze und in sämtlichen Details vor meinem geistigen Auge sehe, als würde sie wahrhaftig vor mir stehen.
Da wir uns seit Kindertagen kennen, gestaltet es sich vermutlich manchmal als deutlich schwieriger, eine zufriedenstellende Erektion zu bekommen. Zumindest, wenn sie nicht selbst an Ort und Stelle ist. Ich gehe auf Nummer sicher und entscheide mich für Maria, die theoretisch sogar unverhofft hereingeplatzt kommen könnte, weil sie es mal wieder braucht.
In meiner Vorstellung erlebe ich mit ihr erotische Abenteuer, die sowohl dermaßen wild als auch unvorstellbar sind, dass simple Worte in der unsrigen Sprache das Geschehen nicht zu beschreiben vermögen. Mein steifer Prügel bereitet mir fast schon Schmerzen. Der Samenerguss ist gewaltig und will einfach nicht verebben. Oh, du mordlustige Bestie, besudelt mit dem eigenen Safte! Anstatt zu trocknen, beginnt das Ejakulat in sämtlichen Farben zu leuchten und mein Abbild auf dem Tuch zu strahlendem Glanz zu verhelfen. Ob es zu fleischlichem Leben erwacht? Ich weiß es nicht.
„Ihr seid wahrlich wunderschön.“ Zeitlos wirkt ihr Gesicht, als hätte es schon unzählige harte Winter überdauert. Lang und glatt das Haar, silbrig und bläulich zugleich, auf der Stirn ein wachsames Auge, das, obgleich zu viel, weder überflüssig noch unansehnlich sieht, was gesehen werden muss.
Völlig makellos und glatt die elfengleiche Haut, die Stimme könnte, wie ihr Lachen, glockenhell und klar klingen, jedoch tönt die Antwort aus ihrem schmallippigen Mund gewaltig und tief, gleich einem mächtigen Sturm.
„Das, was Ihr seht, ist mein Antlitz im Hier. Doch im Jetzt bin ich von anderer Gestalt. Tierisch mümmelnd und wühlend, immerzu Gemüse und Kartoffeln fressend, des Gärtners Feind. Überdrüssig bin ich dem, was ich bin. Tausend Jahre lang. Halbzeit ist bald um. Noch weitere fünfhundert Jahre? Das hält mein altes gebrochenes Herz nicht aus! Ich flehe Euch an, helft mir!“
Der Wind lässt das Laub geheimnisvoll in den Pappeln rauschen. Ihr nackter Körper beugt sich zu mir herab. Als ich den seichten Luftzug auf meiner Haut spüre und an mir herunter sehe, wird mir gewahr, dass ich ebenfalls keine Kleidung trage. Sternförmiges Moos kitzelt meine Oberschenkel. Im Liegen richtet sich meine Rute zwischen dürftig gestutztem Buschwerk gen Himmel. Wenn es dunkel wird, steht genau dort der Polarstern. Mein Schwanz zeigt nach Norden! Stehend wie eine Eins bekommt mein Ständerpilz ohne großes Vorspiel, was er braucht. Ihr enges schlüpfriges Loch erzählt mir die erregende Mär der Geschlechter. Dopamin und Endorphine geben sich ein wildes Stelldichein. „Ihr seid einer der Auserwählten… Ich sehe… Ich sehe… ICH SEHE…“ Dies sind ihre Worte, anstelle des üblichen Lustgestöhnes, während der große Höhepunkt näher und näher rückt. Ein Glücksrausch, der jeden irdischen Geschlechtsakt unter flammender Begierde in den Schatten stellt. Eine Schlacht von heroischem Ausmaß tobt in meinem Blut. Mit leidenschaftlicher Gewalt prallen unsere Säfte aufeinander. In den höchsten Sphären des Himmels wird mit brünstigen Lauten Geschichte geschrieben. „Wahrhaftig Ihr seid ein Auserwählter… Ich sehe… Ich sehe… ICH SEHE… ICH SEEEHE…“
Dies geschah vor etwa fünf Jahren. Alexander Kötter, mein damaliger Klassenkamerad, der mein bester Freund war und der sich, genau wie ich, in den Kopf gesetzt hatte, irgendwann einmal ein berühmter Schriftsteller zu werden, hatte in jener Nacht beinahe haargenau dasselbe erlebt. Was Alfred betrifft, konnten und können wir nur ahnen, denn er verliert kein Wort über die dreiäugige Seherin.
Wir nehmen an, dass er der sehenden Maid schon viel früher begegnet ist. Von Alexander, meinem langjährigen Gefährten, und Alfred mit seiner Gabe sowie von meiner unstillbaren Sehnsucht nach der Seherin, genau eine Woche später entfacht durch ein romantisches nächtliches Wiedersehen, soll an späterer Stelle noch ausführlich erzählt werden.