Die dritte Stimme - Rolf Börjlind - E-Book
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Rolf Börjlind

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Beschreibung

Der zweite Fall für Olivia Rönning und Tom Stilton

Marseille: In einem Naherholungsgebiet wird die Leiche einer jungen Frau gefunden. Sie wurde brutal ermordet. Man weiß nicht viel über sie - nur dass sie in einem Zirkus ganz in der Nähe gearbeitet hat. Zur selben Zeit in Stockholm: In seinem Haus in Rotebro erhängt sich der Zollbeamte Bengt Sahlmann. Schnell findet die Polizei heraus, dass es sich nicht um einen Selbstmord gehandelt hat - obwohl alles darauf hindeutete.

Zwei Fälle, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Zwei Morde, an deren Aufklärung Polizeianwärterin Olivia Rönning und der ehemalige Kriminalkommissar Tom Stilton ein jeweils ganz privates Interesse haben ...

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Cilla & Rolf Börjlind

Die dritte Stimme

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt

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Die schwedische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »DEN TREDJE RÖSTEN« bei Norstedts, Stockholm.

Copyright © der Originalausgabe 2013

by Cilla & Rolf Börjlind by Agreement with Grand Agency

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München Covermotiv: © Shutterstock/mike_expert; © Shutterstock/Stuart Monk; © Shutterstock/Andrey Yurlov

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-12318-5 V010

www.btb-verlag.de

Marseille: In einem Naherholungsgebiet wird die Leiche einer blinden jungen Frau gefunden. Man weiß nicht viel über sie – nur dass sie in einem Zirkus ganz in der Nähe gearbeitet hat. Zur selben Zeit in Stockholm: In seinem Haus in Rotebro erhängt sich der Zollbeamte Bengt Sahlmann. Schnell findet die Polizei heraus, dass es sich nicht um einen Selbstmord gehandelt hat – obwohl alles darauf hindeutete. Zwei Fälle, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Zwei Morde, an deren Aufklärung Polizeianwärterin Olivia Rönning und der ehemalige Kriminalkommissar Tom Stilton ein jeweils ganz privates Interesse haben …

Cilla und Rolf Börjlind gelten als Schwedens wichtigste und bekannteste Drehbuchschreiber für Kino und Fernsehen. Sie sind unter anderem verantwortlich für zahlreiche Martin- Beck-Folgen sowie für die viel gepriesene Arne-Dahl-Serie. Ihr Markenzeichen sind starke Charaktere und eine stringente Handlung. »Die dritte Stimme« ist der zweite Teil der Serie um die angehende Polizistin Olivia Rönning und den ehemaligen Kriminalkommissar Tom Stilton, die auch verfilmt wurde und auch im deutschen Fernsehen als Serie zu sehen sein wird.

Cilla & Rolf Börjlind bei btb Die Springflut. Kriminalroman (Fall 1) Die dritte Stimme. Kriminalroman (Fall 2) Die Strömung. Kriminalroman (Fall 3) Schlaflied. Kriminalroman (Fall 4) Wundbrand. Kriminalroman (Fall 5) Kaltes Gold. Kriminalroman (Fall 6) Der Gute Samariter. Kriminalroman (Fall 7)

Im Innern der geschlossenen Augen noch einmal die Augen schließen … Dann leben sogar die Steine.

Peter Handke

Ich stehe immer noch am Rand des Daches, barfuß, neun Stockwerke schaue ich hinunter auf die graue Straße. Sie ist leer. Die Stadt schläft. Es ist windstill. Ich gehe ein paar Schritte am Rand entlang und breite die Arme aus, so ist es einfacher, die Balance zu halten. Ein Vogel gleitet herab und lässt sich ein Stück von mir entfernt nieder, ich glaube, es ist eine Krähe, sie schaut über die schweigenden Häuserdächer. Auch sie hat Flügel. Meine sind weiß, ihre sind schwarz.

Bald wird es hell.

Ich gehe ein paar Schritte auf die Krähe zu, vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, sie soll verstehen, warum ich hier bin. Um diese Uhrzeit.

Ich möchte es erklären.

Ich habe meinen Körper letzte Nacht verlassen, flüstere ich der Krähe zu, noch bevor ich tot war. Ich bin ein Stück nach oben geschwebt, als er anfing, mich zu misshandeln, ich habe alles von oben gesehen. Ich habe gesehen, wie die Riemen mir den Hals zuschnürten, er hatte sie viel zu straff gezogen, ich begriff, dass ich gleich erwürgt werden würde. Deshalb schrie ich so schrecklich, es tat so weh, ich habe noch nie auf diese Art geschrien. Das war wohl auch der Grund, warum er anfing, mich zu schlagen, immer und immer wieder, der schwere Aschenbecher zertrümmerte meine Schläfe. Es sah so fürchterlich aus.

Jetzt kann ich den Wind spüren.

Es ist die erste sanfte Brise, die vom Meer heranzieht, die Krähe schaut mich aus einem Auge an, in weiter Ferne sehe ich die riesige Madonna aus Gold. Sie steht auf der Kirchturmspitze, ganz oben, ihr Gesicht ist mir zugewandt. Hat sie auch gesehen, was letzte Nacht passiert ist? War sie mit im Raum? Hätte sie mir dann nicht helfen können?

Ich schaue wieder die Krähe an.

Bevor ich starb, war ich blind, flüstere ich, deshalb war es letzte Nacht so schrecklich. Wir waren nicht allein im Raum, er und ich, andere Stimmen waren zu hören. Ich bekam Angst vor dem, was ich nicht sah, vor den Stimmen der Männer, die ich hörte, sie sprachen in einer fremden Sprache, ich wollte es nicht mehr. Alles stank. Dann starb ich. Da waren nur er und ich in dem Zimmer, er musste all das Blut alleine wegwischen. Das dauerte so lange Zeit.

Die Krähe sitzt immer noch auf derselben Stelle, reglos. Ist es ein Vogelengel? Wurde er in einem Netz gefangen und brach sich das Genick? Oder von einem Fernlaster zerquetscht? Jetzt höre ich Geräusche von der Straße tief dort unten, jemand ist aufgewacht, der Geruch von verbranntem Abfall dringt bis hier nach oben. Bald wird es zwischen den Häusern von Menschen wimmeln.

Ich muss mich beeilen.

Er trug mich in der Dunkelheit hinaus, flüstere ich der Krähe zu, niemand hat uns gesehen. Ich schwebte ein Stück darüber. Er legte mich in einen Kofferraum und schob meine dünnen Beine hinterher, er hatte es eilig. Wir fuhren zu einer Steilküste, ans Wasser. Er legte meinen nackten Körper neben dem Wagen auf den Boden, auf die Kiesel, ich wollte mich hinunterbeugen und mit einer Hand über meine Wange streichen. Ich sah so geschändet aus. Er zog mich an den Armen hinter sich her, weit hinein zwischen Bäume und Felsen. Dort zerstückelte er mich. Zuerst schnitt er den Kopf ab. Ich fragte mich, wie er sich wohl dabei fühlte, er machte es so schnell, mit einem großen Messer. Er vergrub mich an sechs verschiedenen Stellen, jeweils weit voneinander entfernt, er wollte auf keinen Fall, dass ich gefunden werde. Als er von dort wegfuhr, flog ich hierher. Auf das Dach.

Jetzt bin ich bereit.

In weiter Ferne über den nördlichen Bergen sind die ersten Sonnenstrahlen über den Spitzen zu sehen, der Tau funkelt auf den Häuserdächern, ein einsames Fischerboot ist auf dem Weg hinein in den Hafen.

Es wird ein schöner Tag.

Die Krähe neben mir lässt sich mit gestreckten Flügeln in den Wind fallen, ich kippe nach vorn und folge ihr.

Jemand wird mich finden.

Das weiß ich.

Aus dem Bauch meiner ermordeten Mutter geschnitten.«

Olivia quälte sich selbst, Tag und Nacht, schwarze, eklige Gedanken beherrschten ihre Nächte, tagsüber blieb sie für sich.

Das ging eine ganze Weile so.

Das ging so, bis sie mehr oder weniger apathisch wurde.

Bis es nicht mehr ging.

Eines Morgens schlug der Überlebensinstinkt zu und zerrte sie zurück in die Welt.

Da fasste sie einen Entschluss.

Sie wollte das letzte Semester auf der Polizeihochschule beenden, ihren Anwärterdienst ableisten und die Ausbildung zur Polizistin beenden. Anschließend würde sie ins Ausland reisen. Sie würde sich nicht um eine feste Stelle bewerben. Sie würde verschwinden, weit weg, und versuchen, in Kontakt mit der Person zu kommen, die sie gewesen war, bevor sie zur Tochter zweier ermordeter Elternteile geworden war.

Wenn das möglich war.

Sie führte ihre Pläne aus, lieh sich Geld von einem Verwandten und fuhr im Juli los.

Allein.

Zuerst nach Mexiko, ins Heimatland ihrer ermordeten Mutter, an unbekannte Plätze mit unbekannten Menschen und einer fremden Sprache. Sie reiste mit leichtem Gepäck, einem braunen Rucksack und einer Karte, sie hatte keinen Plan und kein Ziel. Alle Orte waren neu, und sie war ein Niemand. So konnte sie sich selbst in ihrem eigenen Takt begegnen. Niemand sah, wenn sie weinte, niemand wusste, warum sie plötzlich an einem Flusslauf niedersank und das lange schwarze Haar eine Weile in der Strömung mitschwimmen ließ.

Sie lebte in ihrem eigenen Universum.

Vor der Reise hatte sie vage daran gedacht, ob sie nicht versuchen sollte, die Herkunft ihrer Mutter herauszufinden, vielleicht irgendwelche Verwandten aufspüren, doch bald sah sie ein, dass sie viel zu wenig wusste, um überhaupt irgendwo anzufangen.

Also stieg sie in einem kleinen Ort in den Bus und stieg in einem noch kleineren Ort wieder aus.

Nach gut drei Monaten landete sie in Cuatro Cienegas.

Sie nahm ein Zimmer im Xipe Totec, dem Hotel des gehäuteten Gottes, am Rande der kleinen Stadt. In der Dämmerung ging sie barfuß auf den schönen Markt im Zentrum, es war ihr fünfundzwanzigster Geburtstag, und sie wollte unter Leute. Bunte Lampions hingen in den Platanen, um jeden Baum scharten sich kleine Gruppen von Jugendlichen, junge Mädchen in bunten Kleidern und junge Männer, den Schritt mit Taschentüchern ausgepolstert. Sie lachten. Die Musik aus den Bars vermischte sich mit den Geräuschen des Marktes, die Esel standen ruhig am Springbrunnen, viele sonderbare Düfte zogen durch die Luft.

Sie saß wie eine Fremde auf der Bank und fühlte sich vollkommen sicher.

Nach einer Stunde ging sie zurück ins Hotel.

Der Abend war immer noch warm, als sie sich auf eine Holzveranda setzte, mit Blick auf die weitgestreckte Chihuahuawüste, der schrille Gesang der Zikaden vermengte sich mit klappernden Pferdehufen in der Ferne. Sie hatte sich gerade mit einem kalten Bier selbst zugeprostet und überlegte, ob sie noch eines trinken sollte. Da passierte es. Zum ersten Mal. Sie spürte etwas festen Boden unter den Füßen.

Ich sollte meinen Nachnamen ändern, dachte sie.

Schließlich bin ich Halbmexikanerin. Ich sollte den Namen meiner Mutter annehmen. Sie hieß Adelita Rivera. Ich werde meinen Nachnamen von Rönning in Rivera ändern.

Olivia Rivera.

Sie schaute auf die Wüste hinaus. Natürlich, dachte sie, damit muss ich anfangen. Ganz einfach. Dann drehte sie sich um, hielt ihre leere Bierflasche hoch und warf einen Blick in die Bar. Gleich würde sie eine neue bekommen.

Die sie dann als Olivia Rivera trinken würde.

Wieder schaute sie über die Wüste, sah, wie der leichte Wind ein paar trockene Büsche über den heiß flimmernden Boden rollte, sie sah eine grünschwarze Eidechse auf einen dreiarmigen gezackten Saguarokaktus klettern, sie sah, wie ein paar lautlose Raubvögel dem glühenden Horizont entgegenflogen, und plötzlich fing sie an zu lachen, einfach so, ohne jeden Grund. Zum ersten Mal seit dem Spätsommer des letzten Jahres fühlte sie sich fast glücklich.

So einfach war das!

In der Nacht schlief sie mit Ramón, dem jungen Barkeeper, der ein wenig lispelte, als er sie höflich fragte, ob sie Liebe machen wolle.

Sie war fertig mit Mexiko. Die Reise hatte sie an den Punkt geführt, an den sie hatte kommen müssen. Das nächste Ziel war Costa Rica und dort die Stadt Mal Pais, der Ort, an dem ihr biologischer Vater ein Haus gehabt hatte. Er hatte sich dort Dan Nilsson genannt, obwohl er eigentlich Nils Wendt hieß.

Er hatte ein Doppelleben geführt.

Während der Reise fasste sie ein ganzes Bündel an Beschlüssen, alle dem Namen Olivia Rivera entsprungen. Aus der spürbaren Kraft, die ihr der neue Nachname gab.

Ein Entschluss: die Polizeikarriere wollte sie auf Eis legen und stattdessen Kunstgeschichte studieren. Adelita war Künstlerin gewesen und hatte wunderschöne Teppiche gewebt, vielleicht konnten sie so auf irgendeine Art und Weise in Kontakt kommen.

Ein anderer und noch weitreichenderer Entschluss betraf ihr Verhalten: von dem Augenblick an, in dem sie wieder schwedischen Boden betreten würde, wollte sie ihren eigenen Weg gehen. Sie war von den Menschen, denen sie vertraut hatte, enttäuscht worden. Sie war naiv und offen gewesen und hatte eine Handgranate ins Herz geworfen bekommen. So einer Situation wollte sie sich nicht wieder aussetzen. Ab jetzt wollte sie nur einem einzigen Menschen vertrauen.

Olivia Rivera.

Es war bereits Nachmittag, als sie am Strand der Nicoya-Halbinsel in Costa Rica aus dem Meer kam. Ihr langes schwarzes Haar fiel ihr über die tiefbraunen Schultern, sie war inzwischen seit vier Monaten in der tropischen Sonne gewesen. Sie lief den leeren Strand hinauf und warf sich ein Handtuch über die Schultern, eine grüne Kokosnuss rollte in der Uferbrandung hin und her, sie wandte sich dem Meer zu und wusste, sie musste das Ganze noch einmal durchgehen.

Hier und jetzt.

»Aus dem Bauch meiner ermordeten Mutter geschnitten.«

Das Bild tauchte erneut vor ihrem inneren Auge auf. Der Strand, die Frau, der Mond. Der Mord. Ihre Mutter war von einer Springflut ertränkt worden, eingegraben an einem Strand auf Nordkoster. Bevor ich geboren war, dachte Olivia, sie starb, bevor ich geboren wurde.

Sie hat mich nie sehen können.

Jetzt stand sie selbst an einem ganz anderen Strand und versuchte den Gedanken, nie im Blick der eigenen Mutter gewesen zu sein, zu akzeptieren, und das war schwerer, als es nur zu verstehen.

Ungesehen geboren zu werden.

Sie schaute auf das Meer vor sich, der Ozean erstreckte sich bis zum flammend gelbroten Horizont. Bald würde die Dämmerung einsetzen. Eine leichte Brandung rollte ans Land, weiche, warme Wellen überspülten ihre Füße, weit draußen konnte sie eine Gruppe dunkler Köpfe erkennen, die auf der Wasseroberfläche schaukelten.

Sie zog sich ihr dünnes weißes Kleid über und machte sich auf den Weg.

Kleine grauweiße Krebse verschwanden in ihren Sandlöchern, als sie vorbeiging, das Wasser wischte die Fußspuren hinter ihr aus. Sie war fast eine Stunde den Strand entlanggegangen, langsam, von Santa Teresa bis hierher, zu den Klippen von Mal Pais. Sie wusste, was kommen würde, dass die Bilder und Gedanken wieder aufgerissen werden würden.

Hier und jetzt.

Das war ja Sinn des Spaziergangs gewesen.

Sie wollte sich wieder in den Schmerz fallen lassen, ein letztes Mal, sie wollte bereit sein. In wenigen Minuten würde sie einen Mann treffen, der sie noch näher an ihre geheimnisvolle Vergangenheit heranführen würde.

Der Mann saß auf dem langen Baumstamm am Ufer. Er war 74 Jahre alt und hatte sein ganzes Leben lang hier in der Gegend gelebt. Früher hatte ihm eine Bar in Santa Teresa gehört, jetzt saß er meist auf der Veranda seines sonderbaren Hauses und trank Rum. Er hatte mit fast allem abgeschlossen. Als sein geliebter Freund vor einigen Jahren gestorben war, verschwand damit das Letzte, was die Lebensflamme noch am Leben gehalten hatte, jetzt war nicht mehr viel davon übrig. Einatmen und ausatmen, früher oder später war es zu Ende. Doch er beklagte sich nicht. Er hatte ja seinen Schnaps. Und seine Vergangenheit. Viele Menschen waren im Laufe seines Lebens gekommen und gegangen, einige davon waren in seiner Erinnerung haften geblieben. Zwei davon waren Adelita Rivera und Dan Nilsson.

Und jetzt sollte er ihre Tochter kennenlernen.

Eine Tochter, die ihren Eltern niemals begegnet war.

Er bereute, nicht einen ordentlichen Schluck Rum getrunken zu haben, bevor er zum Strand gegangen war.

Olivia sah ihn bereits von weitem. Sie wusste ungefähr, wie er aussah, das hatte Abbas el Fassi ihr erzählt. Doch ganz sicher konnte sie nicht sein. Sie blieb ein Stück entfernt stehen und wartete darauf, dass der Mann aufschaute.

Doch das tat er nicht.

»Rodriguez Bosques?«

»Bosques Rodriguez. Bosques ist der Vorname. Du bist Olivia?«

»Ja.«

Jetzt schaute Bosques auf. Als seine alten schmalen Augen Olivias Gesicht erreichten, zuckte es in ihnen. Nicht sehr, doch es genügte, dass Olivia einen deutlichen Flashback hatte: Genauso hatte Nils Wendt reagiert, als er sie in einer Hüttentür auf Nordkoster im vergangenen Jahr gesehen hatte, ohne zu ahnen, wer sie war. Und schon gar nicht, dass sie seine Tochter und die von Adelita Rivera war. Auch Olivia hatte keine Ahnung gehabt, wer der Mann in der Tür war, und so waren sie wieder auseinandergegangen, und das war das erste und letzte Mal gewesen, dass sie ihren Vater lebend gesehen hatte.

»Du bist eine Kopie von Adelita«, sagte Bosques mit seiner rauen Stimme.

»Ich bin ihre Tochter.«

»Setz dich.«

Olivia ließ sich auf dem Baumstamm nieder, ein gutes Stück von Bosques entfernt, was er registrierte.

»Du bist sehr schön«, sagte er. »Wie sie.«

»Du hast meine Mutter gekannt.«

»Ja. Und deinen Vater. Den großen Schweden.«

»Wurde er so genannt?«

»Ja, von mir. Und jetzt sind sie beide tot.«

»Ja. Du hast geschrieben, du hättest ein Foto von meiner Mutter?«

»Ein Foto und ein paar andere Dinge.«

Olivia hatte Bosques’ Mailadresse von Abbas el Fassi bekommen. Irgendwo in Mexiko war sie in ein Internetcafé gegangen, hatte an Bosques gemailt, ihm erklärt, wer sie war und dass sie plane, nach Costa Rica zu fahren und ihn dort zu treffen. Bosques hatte sehr schnell geantwortet – eine persönliche Mail bekam er nur alle Jubeljahre – und berichtet, dass er einige persönliche Dinge ihrer Eltern besaß.

Jetzt nahm er eine kleine längliche Metalldose hoch, rot und gelb, ursprünglich gedacht für recht exklusive kubanische Zigarren, öffnete sie und holte ein Foto heraus. Seine Hand zitterte ein wenig.

»Das ist deine Mutter. Adelita Rivera.«

Olivia beugte sich zu Bosques und nahm das Foto. Sie konnte einen leichten Zigarrengeruch wahrnehmen. Es war ein Farbfoto. Sie hatte schon ein Foto ihrer Mutter gesehen, Abbas hatte es im letzten Jahr aus Santa Teresa mitgebracht, doch dieses hier war viel schärfer und schöner. Sie betrachtete es und sah, dass ihre Mutter leicht auf einem Auge schielte.

Genau wie Olivia.

»Adelita ist nach einer mexikanischen Freiheitsheldin benannt worden«, erzählte Bosques. »Adelita Velarde. Sie war Soldatin während der mexikanischen Revolution. Ihr Name ist zu einem Symbol für Frauen voller Stärke und Mut geworden. Es gibt auch ein Lied über sie. La Adelita.«

Plötzlich fing Bosques an zu singen, leise, eine weiche spanische Melodie, das Lied über eine starke, mutige Frau, in die alle Rebellen verliebt waren. Olivia schaute ihn an, dann wieder das Foto ihrer Mutter, der vibrierende Gesang des alten Mannes drang bis in ihr Innerstes. Sie hob den Blick und schaute über den Ozean, die ganze Situation war absurd, magisch, so weit entfernt von der Anwärterschaft bei der Stockholmer Polizei, wie es nur ging.

Bosques verstummte und senkte seinen Blick. Olivia sah ihn an und erkannte, dass auch Bosques trauerte. Ihre Eltern waren enge Freunde von ihm gewesen. Olivia rutschte näher, dichter an ihn heran. Vorsichtig nahm er ihre Hand. Sie ließ ihn gewähren. Bosques räusperte sich ein wenig.

»Deine Mutter war eine sehr begabte Künstlerin.«

»Abbas hat es mir erzählt. Ich soll von ihm grüßen.«

»Er ist sehr geschickt mit den Messern.«

»Ja.«

»Sollen wir zum Haus deines Vaters gehen?«

»Gleich.«

Olivia wandte sich wieder dem Wasser zu und sah, wie eine riesige Welle aus dem Meer heranrollte, alle dunklen Köpfe, die sie vorher gesehen hatte, schwangen sich nun auf weiße Surfbretter, fingen mit ihren gebeugten Körpern die Welle ein und wurden mit rasender Geschwindigkeit vom brennenden Horizont weggezogen.

Sie stand auf.

Sandra Sahlmann freute sich. Sie brauste auf ihrer neuen weißen Vespa durch die Novemberdämmerung und einen Wolkenbruch und freute sich trotzdem. Wunderbare Gedanken tanzten durch ihren Kopf, es gab so viele tolle Sachen, die gerade im Augenblick passierten. Der Volleyballtrainer hatte gesagt, sie sollte in der nächsten Saison in der A-Mannschaft spielen, und für ihre Religionsarbeit hatte sie eine Eins bekommen, etwas unerwartet, sie hatte gedacht, sie wäre so lala. Schnell fuhr sie am Golfplatz entlang, zu der Siedlung hinauf und gab noch ein wenig mehr Gas.

Plötzlich erstarb der Motor.

Sie drehte und drehte, musste aber nach ein paar Sekunden einsehen, dass sie keinen Sprit mehr hatte. Sie hielt am Straßenrand an und stieg ab. Es war nicht mehr so weit, ein paar hundert Meter, aber die Vespa bei diesem Wetter zu schieben, das war nicht gerade der Hit, also holte sie ihr Handy heraus und rief zu Hause an. Papa sollte ihr entgegenkommen und möglichst einen Regenschirm mitbringen.

Doch er ging nicht ran.

Wenn er Fernsehen sah, schaltete er sein Handy meistens auf lautlos, wegen der Konzentration, wie er behauptete. Vielleicht war er ja auch unterwegs, einkaufen, und hörte das Klingeln nicht. Er hatte versprochen, Tacos zu besorgen, ihr Lieblingsessen, als Belohnung für ihre Eins. Also musste sie allein zurechtkommen. Ich stelle die Vespa hier ab, dann können wir sie später holen, dachte sie. Sie schob die Vespa unter einen Baum und schloss sie ab. Den Helm behielt sie auf. Sie versuchte noch einmal anzurufen, vielleicht hatte er den Ton wieder eingeschaltet? Oder war nach Hause gekommen?

Nein.

Also machte sie sich auf den Weg.

Glücklicherweise war das Licht im Fußgängertunnel nicht kaputt, das konnte sie schon von weitem sehen. Nicht immer funktionierte es. Nicht, dass sie Angst im Dunkeln hatte, aber wenn man dort jemandem begegnete, konnte man im Finstern nicht erkennen, wer es war, und das mochte sie nicht.

Jetzt war sie fast am Tunnel angekommen und sah, dass aus der anderen Richtung ein Mann auf sie zukam. Niemand, den sie kannte. Und sie kannte die meisten Nachbarn in der Gegend, dieser Mann wohnte hier nicht. Sie ging etwas schneller, als sie sich begegneten, rannte schließlich fast aus dem Tunnel hinaus und drehte sich um.

Der Mann war weg.

War er wie sie aus dem Tunnel gelaufen?

Aber es war ja auch gleich.

Jetzt musste sie nur noch den schmalen Weg hinaufgehen und durch den Waldhain die Abkürzung nehmen, dann war sie fast zu Hause.

Der raue Wind riss feuchte Blätter von den Bäumen, der nasse Nebel hüllte das kleine Waldstück in ein diffuses, trübes Licht. Aber sie fühlte sich zwischen den Bäumen sicher, auch wenn es bereits ziemlich dunkel war. Fast hatte sie den Hain erreicht, als ihr die Tasche einfiel. Mit dem Haustürschlüssel. Die Tasche lag im Hinterfach der Vespa. Wenn ihr Vater noch einkaufen war, würde sie nicht hineinkommen. Sie kehrte um und eilte zurück zur Vespa. Ihre Laune war deutlich abgekühlt. Außerdem war das Licht im Tunnel jetzt ausgegangen. Aber sie war so wütend auf sich selbst, dass sie ohne weiter darüber nachzudenken hindurchlief, zur Vespa, das Schloss aufriss, die Tasche herausholte und wieder durch den Regen zurückstapfte. Als sie den dunklen Tunnel erneut vor sich sah, fiel ihr der Mann ein, der so plötzlich verschwunden war.

Wohin war er gegangen?

Sie blieb kurz vor dem Tunnel stehen und versuchte bis zur anderen Seite zu sehen. Es war nicht so weit, und alles sah leer aus. Sie holte tief Luft und lief durch den Tunnel. Lächerlich, dachte sie, als sie es geschafft hatte.

Wovor habe ich eigentlich Angst?

Schon von weitem konnte sie Licht in einem Nachbarhaus sehen. Aus irgendwelchen Gründen fühlte sie sich dadurch sicher. Es gab zumindest Leute in der Nähe. Sie überquerte ein nasses Rasenstück und näherte sich erneut dem kleinen Waldstück, versuchte wieder bessere Laune zu bekommen. Es fehlte nur noch ein kleines Stück, und nachher würden sie zusammen die Vespa holen und Tacos essen.

Jetzt war sie unter den Bäumen angekommen.

Das nasse Laub klebte an den Schuhen.

Es gab einen kleinen Trampelpfad durch den Hain, schon hundert Mal war sie ihn gegangen, er mündete kurz vor der Hecke zu ihrem Grundstück. Ihn ging sie gerade entlang, als sie ein Geräusch hörte. Als wäre etwas zerbrochen. Direkt hinter ihr. Sie drehte sich um, durch den Hain hatte sie nicht das volle Blickfeld.

Was war das für ein Geräusch?

Sie spähte zwischen den Bäumen hindurch, überall nur dunkle Stämme und regenschwere Äste.

Ein Reh?

Hier, so nah an den Häusern?

Sie drehte sich wieder um und ging schneller. Den Weg kannte sie genau, trotzdem lief sie direkt gegen einen Baumstamm. Sie kam ins Schwanken und riss sich den Helm herunter. Da hörte sie ein anderes Geräusch. Ganz nahe.

Jemand ist hier im Wald!

Sie warf den Helm von sich und rannte los, es fehlte nicht mehr viel, dann würde sie herauskommen und die Hecke ums Haus erreichen, und da würde sie sicher sein. Aber eigentlich erst, wenn sie an der Pforte angekommen war. Die Hecke bestand aus ansehnlichen alten Hainbuchen, und sie musste ganz herumlaufen, um die Pforte zu erreichen. Sie lief so schnell sie konnte, fiel aber plötzlich zu Boden. Ein Erdhügel vom Kompost des letzten Jahres hatte sie stolpern lassen. Direkt neben der Hecke. Ein paar Sekunden blieb sie ganz still auf dem Boden liegen, das Gesicht in feuchten Lehm gedrückt. Sie wagte es nicht, hinter sich zu sehen, und spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen.

»Papa! PAPA!«

Sie schrie hemmungslos. Wenn ihr Vater zu Hause war, musste er sie doch hören! Sie lag ja nur auf der anderen Seite der Hecke! Sie zog die Arme an den Körper und drückte sich von der Erde hoch, lief erneut los. Auf die Pforte zu. Die stand offen. Sie lief hindurch, ins schützende Innere der Hecke, zur Tür hoch, riss sich die Tasche herunter und wollte sie öffnen. Der Reißverschluss hakte. Zum Schluss bekam sie ihre Tasche auf, fand den Schlüssel und schob ihn ins Schloss, drehte ihn um, drückte die Tür auf, rannte hinein und warf die Tür hinter sich zu, drehte den Schlüssel zweimal um, holte tief Luft und drehte sich zum Flur um – wo ihr Vater fünf Meter vor ihr an einem blauen Abschleppseil von der Decke des Wohnzimmers baumelte, die Zunge hatte sich zwischen den Lippen hervorgeschoben, seine weit geöffneten Augen starrten Sandra direkt an.

*

Das Essen war fantastisch gewesen, von der mit Madeira gewürzten Pfifferlingssuppe übers Kalbsfilet bis zur leckeren Panna cotta.

»Hast du die Panna cotta auch selbst gemacht?«

»Das ist gar nicht so schwer.«

Olivia musste lächeln. Wenn es das Essen betraf, gab es nicht viel, was schwierig war für Maria Rönning, ihre Adoptivmutter, die aus Spanien stammende Juristin mit den langen schwarzen Haaren. Sie saßen an Marias Küchentisch im Reihenhaus in Rotebro. Maria hatte Olivia vom Flughafen abgeholt und darauf bestanden, sie zum Essen einzuladen. Olivia war nicht schwer zu überreden gewesen. Diverse Flugstunden über dem Atlantik mit schlechtem Essen und trockenen Keksen zu lauwarmem Kaffee hatten Marias Einladung nur umso verlockender gemacht. Eigentlich hatte sie zuerst in ihre Zweizimmerwohnung in Söder fahren wollen, um auszuschlafen und neue Energie zu tanken, bevor sie Maria einige heftige Neuigkeiten verkünden wollte.

Zum richtigen Zeitpunkt.

Und ein Essen mit ihr in ihrer Küche, mit allem, was dazugehörte an gutem Wein und Restmüdigkeit, würde Platz für eine Intimität schaffen, die Olivia möglichst vermeiden wollte.

Aber nun war es anders gekommen.

Deshalb beschloss sie, das Schlimmste bereits im Auto auf dem Weg von Arlanda preiszugeben.

»Den Namen ändern?«, fragte Maria hinterm Lenkrad.

»Ja. In Rivera.«

»Wann hast du dich dazu entschlossen?«

»In Mexiko.«

»Olivia Rivera?«

»Ja.«

»Das ist ein schöner Name.«

Maria hielt ihren Blick auf die Straße gerichtet. Olivia musterte sie von der Seite. Meinte sie das, was sie sagte? War sie wirklich der Meinung, dass es ein schöner Name war, oder steckte mehr dahinter?

»Der passt zu dir«, sagte Maria.

Olivia war verblüfft. Sie hatte eine ganz andere Reaktion erwartet und bereits eine ziemlich schlüssige Argumentationskette vorbereitet, warum sie den Namen ihrer toten Mutter annehmen wollte. »Der passt zu dir.« Was sollte sie darauf sagen?

»Danke. Außerdem habe ich beschlossen, nicht weiter bei der Polizei zu arbeiten. Zumindest erst einmal nicht.«

»Gut.«

»Gut?«

»Warum solltest du Polizistin werden? Das ist nichts für dich, das habe ich doch die ganze Zeit gesagt.«

Was stimmte. Maria war nie von Olivias Entscheidung, zur Polizei zu gehen, begeistert gewesen. Sie hatte die Wahl unterstützt, aber ohne größere Begeisterung. Trotzdem fühlte Olivia sich fast provoziert. Warum sollte sie keine Polizistin werden? Aber das wollte sie doch gar nicht mehr, oder? Sie hatte plötzlich das Gefühl, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Zwei ihrer wichtigsten Entscheidungen hatte Maria pariert, als handelte es sich um Bagatellen. Oder als wären sie zumindest nicht so umwälzend, wie sie für Olivia doch waren. Die restliche Autofahrt verging damit, dass Olivia verschiedene Orte beschrieb, die sie besucht hatte, und eine gegenseitige Bestätigung, wie erleichtert doch beide über Obamas Sieg bei der Präsidentenwahl waren.

»Und was willst du stattdessen tun?«

Maria schenkte Wein nach, während sie Olivia betrachtete.

»Statt was?«

»Statt Polizistin zu werden.«

»Ich will Kunstgeschichte studieren.«

Sag jetzt bitte nicht »gut«, dachte Olivia.

»Das ist schlau. Das hat ja auch eine gewisse Beziehung zu Adelita.«

»Ja.«

Maria lächelte kurz und betrachtete Olivia.

»Was ist?«

»Du bist so braun.«

»Ich bin halbe Mexikanerin.«

»Aber nun reg dich nicht auf, meine Liebe, das war ein Kompliment.«

»Danke.«

Olivia brauchte frische Luft. Sie hatte sich vor der ersten Begegnung mit Maria gewappnet und spürte eine Art störrischen Wunsch, sie mit ihrem Namenswechsel und anderen Entscheidungen zu provozieren, und jetzt schien all ihre Wut und Kraft ins Leere zu laufen.

»Wollen wir einen kleinen Spaziergang machen?«

Es war Maria, die mit diesem Vorschlag kam.

Es hatte aufgehört zu regnen. Dennoch war es ein leichter Schock für Olivia, als sie ins Freie trat. Sie hatte geraume Zeit in tropischen Temperaturen verbracht, hier in Schweden herrschten um die null Grad und ein rauer Novemberwind. Maria hatte ihr eine alte Daunenjacke und eine schrecklich hässliche Mütze in die Hand gedrückt.

Wofür sie bald dankbar war.

Seite an Seite gingen sie die kleine Straße zwischen den Reihenhäusern entlang. Hier hatte Olivia den größten Teil ihrer Kindheit verbracht. Maria zeigte auf die einzelnen Häuser und berichtete, wer noch dort wohnte, wer gestorben war, wer von den Nachbarn frisch verheiratet war und so weiter, und Olivia nickte ab und zu, damit es so aussah, als wäre sie daran interessiert. Doch ihre Gedanken waren ganz woanders. Bei Arne, ihrem Adoptivvater, Marias Ehemann, der an Krebs gestorben war, als Olivia neunzehn Jahre alt gewesen war. Olivia hatte Arne sehr geliebt. Er war ihr sicherer Halt in den schwierigen Teenagerjahren gewesen, er war immer zur Stelle gewesen, wenn sie Hilfe gebraucht hatte, nicht mehr weiterwusste, sterben wollte, weglaufen oder einfach nur sich bei jemandem anschmiegen, der sie tröstete, ohne moralische Standpauken zu halten.

Maria musste immer ihren Kommentar abgeben.

Was Olivia hasste.

Dann starb Arne und hinterließ ihr einen großen Schmerz und einen weißen Ford Mustang. Den Mustang hatte sie noch immer, der Schmerz hatte seine Form geändert.

Radikal.

In dem Moment, als sie erfuhr, dass Arne gar nicht ihr leiblicher Vater war. Was er und Maria ihr verschwiegen hatten. Und noch dazu hatte er auch Maria Olivias schrecklichen Hintergrund verschwiegen, und das so radikal, dass Olivia es nicht verstand und wohl auch nie verstehen würde. Oder eine Erklärung dafür bekäme. Denn er war ja tot. Es war eine Enttäuschung, die den so geliebten Adoptivvater in eine Schlangengrube chaotischer Gefühle zog, und das für lange Zeit. Erst langsam hatte sie akzeptiert, wie alles gekommen war. Warum seine Wut an einem Menschen verschwenden, der begraben war? Und schließlich hatte sie sich mit dem versöhnt, was geschehen war.

Sie hatte Arne geliebt, und er hatte sie geliebt. Tief und von ganzem Herzen, solange er lebte. Es gab keinen Grund, diese Gefühle in den Dreck zu ziehen.

»Woran denkst du?«, fragte Maria.

Sie waren gerade auf den Holmbodavägen eingebogen.

»Ich frage mich, wie Papa wohl auf meinen neuen Namen reagiert hätte.«

»Na, genau wie ich.«

»Woher weißt du das?«

»Weil er … was ist das denn?«

Maria blieb stehen. Am Ende der Straße standen ein Streifen- und ein Krankenwagen vor einem Haus. Ein paar Polizeibeamte in Uniform kamen gerade durch die Pforte heraus. Maria fasste Olivias Arm.

»Das ist doch bei den Sahlmanns?«

»Ja und?«

Olivia wusste, wer die Sahlmanns waren. Als sie noch bei ihren Eltern wohnte, hatte sie häufiger bei der Tochter Sandra den Babysitter gespielt. Und als Sandras Mutter Therese vor acht Jahren beim Tsunami umgekommen war, war Maria eine der Personen in der Nachbarschaft gewesen, die ihren Vater Bengt unterstützt und ihm bei einigen juristischen Formalitäten geholfen hatte.

»Was ist denn da passiert?«, fragte Maria.

Sie gingen zum Krankenwagen. Olivia registrierte, dass einige Nachbarn halb verborgen hinter den Gardinen standen und hinüberschauten. Als sie fast am Wagen angekommen waren, blieb sie stehen. Einer der Polizisten an der Pforte war ihr gut bekannt. Es war Ulf Molin, einer ihrer Klassenkameraden auf der Polizeihochschule. Der aufdringlichste Junge, den sie in den letzten Jahren kennengelernt hatte. Olivia nahm schnell die hässliche Wollmütze ab.

»Hallo, Ulf.«

Ulf Molin drehte sich um.

»Olivia? Ja, hallo! Was machst du denn hier?«

»Ich besuche meine Mutter, sie wohnt hier in der Nähe.«

»Wie geht es dir? Meine Güte, bist du braun! Ich habe gehört, dass du …«

»Ich habe mir eine Auszeit genommen. Was ist denn hier passiert? Ach, übrigens, das ist Maria, meine Mutter.«

Ulf begrüßte Maria. Ein wenig zu kriecherisch, wie Olivia fand. Hatte er es immer noch nicht aufgegeben?

»Wir kennen Bengt Sahlmann und seine Tochter Sandra«, sagte Maria und wiederholte Olivias Frage: »Was ist denn hier passiert?«

Ulf trat einen Schritt zur Seite, und Olivia und Maria folgten ihm. Bewusst oder unbewusst senkte er seine Stimme ein wenig.

»Sahlmann hat sich das Leben genommen. Hat sich erhängt. Seine Tochter ist vor kurzem nach Hause gekommen und hat ihn gefunden.«

Maria und Olivia schauten einander an. Sich erhängt?

»Das arme Mädchen!«, rief Maria aus.

»Wo ist sie jetzt?«, fragte Olivia.

»Im Krankenwagen. Sie haben ihr ein Beruhigungsmittel gegeben. Wir haben sie gefragt, wo ihre Mutter ist, aber sie hat uns keine Antwort darauf gegeben.«

»Ihre Mutter ist tot«, informierte Maria ihn.

»Oh je! Ich verstehe.«

»Habt ihr schon irgendwelche Verwandte erreichen können?«

»Wir haben versucht, eine Tante von ihr zu benachrichtigen, aber anscheinend ist sie in Kopenhagen auf einer Konferenz, bis jetzt haben wir sie nicht erreicht.«

»Und sonst niemand?«

»Sie hat keine anderen Namen genannt.«

»Darf ich mit ihr sprechen?«, fragte Olivia.

Ulf nickte, ging zum Krankenwagen und öffnete die Hecktür. Olivia trat neben ihn und schaute hinein. An einer Wand saß eine Sanitäterin. Auf einer schmalen Pritsche ihr gegenüber hockte ein schmales Teenagermädchen, zusammengesunken, mit schmutziger Kleidung, eine rote Decke über den Schultern. Ihr blondes Haar hing ihr über die Augen, sie hatte die Faust auf den Mund gepresst. Es dauerte einige Sekunden, bevor Olivia sie wiedererkannte, aber es brauchte keine Sekunde, bis sie selbst einen Kloß im Hals spürte.

Sie schluckte schwer.

»Hallo, Sandra, erinnerst du dich noch an mich?«, fragte Olivia.

Sandra wandte ihr verweintes Gesicht Olivia zu.

»Als du noch klein warst, war ich häufiger deine Babysitterin. Erinnerst du dich?«

Ein paar Sekunden lang betrachtete Sandra Olivia, nickte dann fast unmerklich. Olivia beugte sich ein wenig vor.

»Ich habe gerade gehört, was passiert ist, und …«

»Ich will nicht wieder in das Haus.«

Sandras Stimme war brüchig und kaum zu verstehen. Sie zog sich die Decke über die Augen und senkte den Kopf auf die Brust.

»Das brauchst du auch nicht«, sagte Olivia.

»Ich will hier nicht mehr bleiben.«

»Das verstehe ich … wenn du willst, kannst du gern mit uns kommen.«

»Ich will zu Charlotte.«

Die Stimme kam unter der Decke hervor.

»Wer ist das?«

»Meine Tante.«

»Die ist anscheinend in Kopenhagen. Sie kommt bestimmt sofort nach Hause, sobald die Polizei sie benachrichtigt hat, aber das kann bis morgen dauern. Willst du nicht lieber solange zu uns kommen?«

Sandra wiegte sich vor und zurück. Olivia drehte sich halb um. Ulf und Maria standen ein Stück hinter ihr. Olivia sah Ulf an und flüsterte, so leise sie konnte:

»Wohin bringt ihr sie, wenn sie nicht will …«

Plötzlich stand Sandra von der Trage auf. Olivia streckte ihr sofort eine Hand hin und half ihr hinunter auf die Straße. Maria trat näher.

»Hallo, Sandra.«

Sie legte einen Arm um Sandras Schultern und ging mit ihr ein paar Schritte vom Krankenwagen weg. Olivia wandte sich Ulf zu.

»Ist es in Ordnung, wenn wir sie mitnehmen?«

»Auf jeden Fall, kein Problem, wenn sie es so will. Übrigens, hast du noch deine alte Handynummer?«

Worauf will er denn jetzt hinaus?, fragte Olivia sich. Hier?

»Warum?«

»Wenn wir ihre Tante erreicht haben, wäre es doch gut, wenn ihr das so schnell wie möglich erfahrt, nicht wahr?«

»Ja, sicher. Natürlich. Ja, ich habe noch dieselbe Nummer.«

»Gut. Wir lassen von uns hören. Hübsche Mütze.«

Ulf nickte zu der Wollmütze in Olivias Hand.

Eine halbe Stunde später rief Ulf an. Er hatte Sandras Tante in Kopenhagen erreicht, ihr mitgeteilt, was passiert war und dass Sandra bei Maria Rönning untergebracht war. Charlotte hatte Olivias Handynummer bekommen und angerufen. Das Gespräch mit Sandra war nur kurz und ziemlich einsilbig gewesen. Beide weinten. Zum Schluss reichte Sandra Olivia das Handy, und Charlotte erklärte, dass sie die erste Maschine am nächsten Morgen nehmen würde.

»Kann Sandra bei euch bleiben, bis ich komme?«

»Selbstverständlich«, sagte Olivia.

Dann legte sie auf.

Alle drei saßen in Marias Küche. Maria hatte ein paar Kerzen auf dem Tisch angezündet und Tee aus ihrer Spezialmischung gekocht, eine Art Universalkur, die gegen so ziemlich alles half. In erster Linie war es beruhigend. Was besonders gut für Maria und Olivia war, denn Sandra stand bereits sichtbar unter der Wirkung der Medikamente, die sie von den Sanitätern bekommen hatte, und war kaum ansprechbar. Unter Schock stehend, müde und mit Drogen vollgepumpt. Sie sagte nichts. Maria und Olivia tranken ihren Tee und waren sich nicht sicher, wie sie die Situation meistern sollten, als die dünne Stimme sich meldete.

»Ich hatte kein Benzin mehr …«

Sandra schaute in ihre Tasse, als sie es sagte, so leise, dass Olivia und Maria sich zu ihr beugen mussten.

»…ich habe zu Hause angerufen, aber Papa ist nicht drangegangen, ich dachte, er ist vielleicht einkaufen, er wollte Tacos kaufen, das ist mein Leibgericht, wir wollten feiern …«

Sandra verstummte. Dicke Tränen liefen ihr über die Wangen und tropften in die Tasse.

»Was wolltet ihr feiern?«

»Ich will nicht wieder nach Hause.«

»Das verstehe ich gut«, sagte Olivia. »Kannst du erst einmal bei Charlotte wohnen?«

»Wann kommt sie?«

»Morgen früh. Sie kommt direkt hierher.«

»Muss ich hier schlafen?«

»Willst du das nicht?«

Sandra antwortete nicht. Maria legte ihr eine Hand auf den Arm.

»Du kannst in Olivias altem Kinderzimmer schlafen.«

Sandra nickte verhalten. Sie schob die Teetasse von sich und schaute Olivia an. Ihr Blick war abwesend, die Augen glänzten.

»Ich will meinen Laptop haben.«

»Wo ist der denn?«

»In Papas Arbeitszimmer. Wir teilen uns den, er liegt in einem karierten Futteral, so einer Korktasche.«

»Dann hole ich ihn dir.«

Olivia stand auf. Maria schaute sie an, Olivia zuckte leicht mit den Schultern. Wollte Sandra ihren Laptop haben, dann sollte sie ihn bekommen. Das war trotz allem ein erster kleiner Schritt in die Zukunft.

»Hast du einen Haustürschlüssel bei dir?«

Sandra schob die Hand in die Tasche und zog einen Schlüssel heraus. Olivia nahm ihn entgegen.

»Ich bin gleich zurück.«

Olivia eilte durch Marias Vorgarten. Vermutlich war Ulf nicht mehr bei den Sahlmanns. Vielleicht sollte ich das mit ihm abstimmen, dachte sie, zog ihr Handy heraus und drückte auf die zweitletzte gewählte Nummer.

»Molin.«

»Hallo, hier ist Olivia.«

»Oh, hallo! Wie läuft es bei euch? Wie geht es ihr?«

»Beschissen. Du, sie hat mich gebeten, ihren Laptop aus dem Haus zu holen, ist das in Ordnung? Ich habe den Haustürschlüssel von ihr bekommen.«

»Kein Problem, wir sind dort fertig. Aber du kannst ja etwas vorsichtig zu Werke gehen.«

»Ich weiß. Wir haben dieselbe Ausbildung hinter uns.«

»Ach, tatsächlich?«

»Hör schon auf.«

Olivia drückte ihn weg. »Etwas vorsichtig zu Werke gehen.« Wo schnappten sie diese idiotischen Ausdrücke auf? In der Sauna? Doch sie verstand, was er meinte, und stellte fest, dass sie Handschuhe hätte mitnehmen sollen. Sie suchte in den Taschen der dicken Daunenjacke und zog ein Paar abgenutzte Fausthandschuhe hervor. Fausthandschuhe? Sie schob die Handschuhe wieder in die Tasche und bog in die Straße ein, in der die Sahlmanns wohnten. Es hatte wieder angefangen zu regnen, der Wind peitschte zwischen den Häusern hindurch. Sie blinzelte mit den Augen und wurde langsamer. An Sahlmanns Pforte stand eine dunkle Gestalt. Oder war das nur der Schatten eines Baums? Sie ging weiter auf das Haus zu. Krankenwagen und Polizeiauto waren fort, aber die Nachbarn hingen noch hinter den Gardinen. Sie konnte förmlich spüren, wie aufmerksame Augen ihr auf der dunklen Straße folgten.

Sie erreichte die Pforte.

Es war niemand dort. Wahrscheinlich ein Schatten, dachte sie und ging zur Haustür, die sie mit Sandras Schlüssel öffnete und dann eintrat. Plötzlich wurde die Tür mit einem lauten Knall zugeweht.

Es war stockfinster im Eingangsbereich.

Im ganzen Haus.

Und totenstill.

Ein toter Mann hatte hier vor einer Weile gehangen. Direkt vor ihr. An einem Seil von der Decke herab. Olivia verdrängte diese Gedanken und begann nach einem Lichtschalter zu suchen. Da schlug der Berufsreflex durch. Der saß trotz allem. Schnell holte sie die Fausthandschuhe heraus und zog sie an. Wenige Sekunden später musste sie einsehen, welch sensibles Instrument doch die menschliche Hand war. Im Stockfinsteren nach einem Lichtschalter zu suchen, von dem man nicht weiß, wo er sich befindet, und das mit einem Paar dicker Fausthandschuhe, das war kein Kinderspiel. Doch zum Schluss fand sie den Schalter. Das Flurlicht führte sie in das Wohnzimmer, und dort fand sie den nächsten Lichtschalter. Das Zimmer erhellte sich. Olivia schaute sich um. Ein ganz normales Wohnzimmer, mit Sitzecke, Fernseher, Bücherregalen, einer Stehlampe, einem Lesesessel, kleinen Bildern an den Wänden. Eine Sammlung Fotos auf einem Regal fiel ihr ins Auge. Auf einem ziemlich großen Foto sah sie eine jüngere Sandra und einen jüngeren Bengt Sahlmann, zusammen mit einer dunkelblonden Frau in Bengts Alter. Therese, Sandras Mutter. Olivia konnte sich nur schwach an sie erinnern.

Eine Familie.

Und jetzt gab es nur noch Sandra. Olivia spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Sie ging weiter in den angrenzenden Raum und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. An einer Wand stand ein großer Schreibtisch mit verschiedenen technischen Geräten, einem Modem, einem Drucker, einem Router und jeder Menge Kabeln.

Doch kein Laptop.

Und keine karierte Laptoptasche aus Kork.

Sie schaute sich gründlich um. Auf Regalen, Stühlen, auf dem Schreibtisch – nichts. Sie war nicht hier. Vielleicht in einem der anderen Zimmer? Obwohl Sandra doch sehr sicher geklungen hatte: »In Papas Arbeitszimmer.« Aber sie konnte sich ja trotz allem irren. Ihr Vater konnte ihn woanders hingelegt haben.

Olivia löschte das Licht und ging zurück ins Wohnzimmer. Ein leichter Schauer lief ihr über den Rücken. Sie schaute zur Decke hoch, zu dem Lampenhaken, an dem sich Sahlmann vermutlich erhängt hatte, da Sandra ihn ja direkt gesehen hatte, als sie das Haus betrat. Olivia merkte, dass sie ganz flach atmete. Warum tat sie das? Schließlich war hier drinnen kein Mord begangen worden, oder? Ein unglücklicher Mensch, der seinem Leben mit einem Seil ein Ende gesetzt hatte. Das einzig Unangenehme hier drinnen könnte seine tote Seele sein, und da Olivia die Letzte war, die sich mit so einem Hokuspokus beschäftigte, ging sie in die Küche.

Die Deckenlampe dort warf ein bleiches Licht über den Raum. Olivia schaute sich um. Kein Laptop. Nur eine ganz gewöhnliche Küche. Weiße Vitrinenschränke, Magneten an der Geschirrspülmaschine, eine Obstschale, eine Anrichte mit einigen Flaschen, ein Tisch in der Mitte mit einer grünen Plastikdecke, ein zur Hälfte mit Wasser gefülltes Glas neben dem Herd. Vor nur wenigen Stunden ein vollkommen undramatisches Alltagsbild.

Jetzt war es etwas ganz anderes.

Olivia spürte wieder dieses brennende Gefühl im Bauch, dass ein ganzes Leben plötzlich zerstört werden konnte, von sicherer Normalität in Schock und Trauer umkippte. Sie schaute auf die Anrichte. An die Wand lehnte eine Tacopackung, daneben standen eine Dose mit Tacosauce, eine mit Mais und eine Tüte mit Tortillachips. Sandras Lieblingsgericht, für das ihr Vater eingekauft hatte, um irgendetwas mit ihr zu feiern. Olivia öffnete den Kühlschrank. Ein noch verschlossenes Paket Hackfleisch lag auf dem obersten Regal.

Alle Zutaten für das Lieblingsgericht.

Und dann nimmt er sich das Leben.

Olivia löschte das Licht in der Küche und ging zurück ins Wohnzimmer. Sie war verwirrt. Warum, das konnte sie nicht genau sagen, aber irgendetwas stimmte hier nicht. Sie setzte sich aufs Sofa und schaute auf ihre Fausthandschuhe. Die Stille im Raum hüllte sie ein. Was ist hier passiert?, überlegte sie. Langsam drehte sie den Kopf und schaute zum Flur hin, durch den Sandra hereingekommen war, an die Decke, an der Sandras Vater gehangen hatte, auf den Boden, wo die Reste eines großen Flecks zeigten, was die Polizei weggewischt hatte, und dann schaute sie zu dem dunklen Flur, der zum Schlafzimmer führte.

Soll ich dort auch nachsehen?

Sie rieb die Fausthandschuhe aneinander und fasste einen Entschluss. Vom Sofa bis zu dem dunklen Flur waren es nur wenige Schritte. Sie legte sie zurück und blieb wieder stehen. Sie hatte ein Geräusch gehört. Ein Kratzen.

Waren das Zweige am Schlafzimmerfenster?

Sie machte einen weiteren Schritt und blieb vor der halb geöffneten Tür stehen. Das Kratzen war nicht mehr zu hören. Es war totenstill. Sie griff zur Türklinke. Gerade als sie die Tür aufschieben wollte, schrillte ein grelles Geräusch durch das Haus. Ein Telefon. Ein plötzliches Signal, das sie dazu brachte, zurück in den Flur zu springen. Mit schnellen Schritten war sie wieder im Wohnzimmer. Das Telefon stand auf dem Regal neben dem Sofa. Es klingelte erneut. Sie trat ans Regal. Nach dem dritten Signal hob sie den Hörer ab und hätte ihn fast auf den Boden fallen lassen – wegen der Fausthandschuhe.

Sie meldete sich.

»Ja?«

»Hallo, hier ist Alex Popovic, ich wollte Bengt sprechen. Bist du es, Sandra?«

»Nein.«

»Ist Bengt da?«

»Nein. Sind Sie ein Bekannter der Familie?«

»… mit wem rede ich?«

»Olivia Rivera. Bengt Sahlmann hat sich das Leben genommen. Wenn Sie weitere Informationen haben möchten, wenden Sie sich bitte an die Polizei.«

Olivia legte auf und ging zur Haustür.

Sie hatte getan, worum Sandra sie gebeten hatte.

Fast.

Einen Laptop hatte sie nicht gefunden.

*

Die Asche seines Zigarillos war nur noch einen Zentimeter von seinen gelben Fingerspitzen entfernt, gleich würde sie vor seine nackten Füße fallen. Wobei er kaum geraucht hatte, er hatte den Zigarillo angezündet, einen tiefen Lungenzug genommen und war dann verschwunden. In der Musik. In Scheherazade. Dort war er immer noch. Er hatte die Lautsprecher so platziert, dass die Musik sich genau an dem Punkt traf, an dem er jetzt stand, nackt, mit geschlossenen Augen, mitten in dem großen Raum. Das Licht einiger Alabasterlampen ergoss sich über die schönen Bodenplanken, der Schatten seines mageren Körpers kletterte an der Wand zu der schweigenden Figur hoch. Die große kahle Nordwand, die er liebte. Die Wand gegenüber war vom Boden bis zur Decke mit Büchern mit dunklen Rücken bedeckt, dicken, stummen Büchern, die er nie gelesen hatte und die er auch nie würde lesen wollen. Sie waren bereits hier gewesen, als er eingezogen war. Er drehte seinen nackten Körper ein wenig, als gäbe es einen Strang der Musik, den er nicht auffangen konnte. Doch dem war nicht so. Alle Töne und Klänge hatten sich hier drinnen gesammelt, im Kopf, am selben Punkt wie die Frau. Die Frau, die blutete, schrie und starb, immer und immer wieder, vor seinen hilflosen Augen, bis sie endlich aus seinem geschlossenen Blick herausfiel und nur noch die Musik zurückblieb. Diese laute, schöne Musik, die wieder ihre Funktion erfüllt hatte. Ihn gereinigt hatte. Ihn ausgelöscht hatte. Das Schreckliche aus seinem Gehirn ausradiert hatte.

Für dieses Mal.

Es senkte seinen Kopf ein wenig und öffnete die Augen. Ein neues Geräusch hatte sich dazwischengedrängt. Ein Geräusch aus der Welt, der er nicht angehören wollte. Er trat einen Schritt zur Seite und stellte die Musik ab. Das Handy lag auf dem Verstärker. Er konnte sehen, wer anrief, und nahm das Gespräch an, die bekannte Stimme erreichte sein Bewusstsein.

»Bengt Sahlmann hat sich erhängt.«

Die Asche fiel zu Boden.

*

Sandras Augen fielen augenblicklich zu. Maria deckte sie zu. Das Mädchen schlief schon, bevor sie richtig zugedeckt war. Maria betrachtete das junge Mädchen einen Moment, dann schaltete sie die Nachttischlampe aus. Unbewusst vermied sie, an Olivias Schicksal zu denken. Es gab Parallelen, doch die wollte sie an diesem Abend nicht ziehen müssen.

»Es war kein Laptop dort.«

Olivia warf die Daunenjacke über einen Küchenstuhl und setzte sich an den Tisch. Maria schenkte ihr Tee ein.

»Sandra ist eingeschlafen.«

»Gut. Ich habe fast im ganzen Haus gesucht, aber er war nicht da.«

»Mehr kannst du nicht machen.«

»Ich werde sehen, ob er vielleicht auf Bengts Arbeitsstelle ist.«

»Ja. Aber das kann ihre Tante doch auch tun.«

»Sie hat mich gefragt.«

Maria nickte. Sie erkannte die Parallelen, die sie hatte verdrängen wollen, sah, dass sie in Olivia bereits Fuß gefasst hatten. Ihre Adoptivtochter hatte Sandra mit offenen Armen aufgenommen.

»Wo hat Bengt denn gearbeitet?«, wollte Olivia wissen.

»Er war beim Zollwesen angestellt. Schläfst du hier?«

»Ja.«

Was hat sie denn gedacht?, empörte sich Olivia insgeheim. Dass ich mitten in der Nacht nach Söder fahre und Sandra alleinlasse? Nicht, dass sie Marias Fürsorge misstraute oder ihrer Fähigkeit, Sandra ein ausgezeichnetes, nahrhaftes Frühstück zu bereiten. Aber schließlich war es Olivia, die den Kontakt zu Sandra hergestellt hatte.

Der Meinung war sie jedenfalls.

»Du kannst im Gästezimmer schlafen, das Bett dort ist frisch bezogen. Ich glaube, ich werde mich jetzt auch schlafen legen«, sagte Maria.

»Ja, mach das, ich werde abdecken.«

Maria stand auf, zögerte einen Moment, ob sie sich hinunterbeugen und Olivia einen Kuss auf die Wange geben sollte. Olivia Rivera. Doch sie hielt sich zurück, strich ihr stattdessen mit der Hand über die Wange.

»Te amo.«

»Schlaf gut.«

Maria ging aus der Küche, drehte sich auf halbem Weg um und schaute Olivia an.

»Du kannst dich gut in ihre Situation hineinversetzen, nicht wahr?«

Olivia gab keine Antwort.

»Gute Nacht.«

Maria verschwand. Olivia schaute ihr nach. Sie hatte ja recht. Olivia hatte sich in Sandras Situation hineinversetzt, seit dem Moment, als sie das unter Schock stehende Mädchen im Krankenwagen gesehen hatte, kurz nachdem sie ihren Vater verloren hatte. Und vor ein paar Jahren hatte sie schon ihre Mutter beim Tsunami verloren. Beide Elternteile waren unter dramatischen Umständen gestorben. Wie ihre eigenen. Sie hatte kein Problem damit, sich in Sandras Situation hineinzuversetzen.

Ganz im Gegenteil.

Auch wenn ihre Schockmomente Schlag auf Schlag gekommen waren, auf ganz andere Art und Weise. Doch das Mädchen, das oben in Olivias altem Kinderzimmer schlief, würde in ein elternloses Dasein erwachen und gezwungen sein, ihr Leben allein zu gestalten.

Jetzt bist du aber gegenüber Arne und Maria ungerecht, dachte Olivia. Schließlich bist du selbst mit zwei Elternteilen aufgewachsen, von denen einer immer noch am Leben ist. Und als die Nachricht wie ein Schock in dir einschlug, da standst du nicht mit leeren Händen da. Deine biologischen Eltern wurden nicht aus deinem Leben gerissen. Du wusstest ja nicht einmal, dass es sie gab.

Olivia spürte, wie sie in sich zusammensank, sowohl physisch als auch mental. Der lange Flug holte sie ein, die Müdigkeit, die Anspannung und dazu noch die Tragödie, in die sie geraten war. Gerade als sie dachte, tausend Stunden schlafen zu können und dann frisch und erholt wieder in die Welt zu treten.

Stark. Bereit.

So einfach sollte es offenbar nicht laufen.

Sie zog ihren Rucksack zu sich heran und öffnete ihn. Bosques schöne Zigarrenschachtel hatte sie in ein paar schmutzige Hemden gewickelt. Vorsichtig holte sie sie heraus und stellte sie auf den Küchentisch. Schaute verstohlen zur Küchentür und lauschte.

Stille.

Sie wollte Maria die Schachtel nicht zeigen. Und schon gar nicht deren Inhalt. Es war ein ganz privates Erbe, das sie mit niemandem zu teilen gedachte. Sie öffnete den Deckel, sofort kam ihr dieser ganz besondere Duft nach alten Zigarren entgegen. Vorsichtig holte sie Adelitas Foto heraus. Unter dem Foto lag eine schwarze Haarlocke, mit einer dünnen, durchsichtigen Schnur zusammengebunden. Wer hatte sie aufgehoben? Nils Wendt? Wann hatte er sie bekommen? Als Adelita nach Schweden gereist und dort ermordet worden war? Sie legte die Locke zum Foto. Unten in der Schachtel befanden sich ein paar handgeschriebene Briefe. Olivia hatte sie bereits im Flugzeug angesehen und feststellen müssen, dass ihr Spanisch nicht ausreichte, um zu verstehen, was dort stand. Eines Tages würde sie sich diese Briefe von jemandem übersetzen lassen. Nicht von Maria, aber vielleicht von Abbas? Er sprach gut Spanisch. Einige Male während der langen Reise war ihr der Gedanke an Abbas gekommen. Sie mochte ihn, sehr sogar, ohne ihn eigentlich zu kennen.

Bosques hatte Abbas auch gemocht.

»Er ist ein Mann«, hatte Bosques gesagt.

Und Olivia fand diese Äußerung überhaupt nicht albern. Sie verstand genau, was Bosques damit meinte. Morgen werde ich Abbas anrufen, dachte Olivia und schaute versonnen in die Schachtel. Dort lag nur noch ein Gegenstand. Eine Brosche. Vergoldet. Olivia nahm sie heraus und sah, dass man sie öffnen konnte. Das war ihr im Flugzeug gar nicht aufgefallen. Vorsichtig öffnete sie den Deckel, in der Brosche kam ein kleines Foto zum Vorschein. Das Foto eines dunkelhäutigen Mannes. Wer war das? Sein Aussehen erinnerte weder an Adelitas noch an ihr eigenes. Ein wenig Ähnlichkeit konnte es mit Bosques haben, doch darüber dachte sie nicht weiter nach.

Sie klappte die Brosche wieder zu und legte sie zurück.

Dachte stattdessen an Sandra.

Das elternlose Teenagermädchen, das in ihrem Kinderzimmer schlief.

Der hellgraue Pullover saß elegant auf Abbas el Fassis dünnem, geschmeidigem Körper. Er war frisch geduscht und trug dazu braune Chinos. Langsam ging er die Treppe hinunter. Versteinerte Zeit, dachte er. Ein paar der sanft gerundeten Steinstufen waren mit schönen Fossilien von Millionen Jahre alten Oktopussen verziert. Orthoceren. Das faszinierte ihn immer wieder. Er ging weiter hinunter, jetzt etwas schneller. Er wollte seinen Briefkasten im Eingang leeren. Eine erwartungsvolle Anspannung lag in den Schritten, wenn er Glück hatte, würde ein dünnes Büchlein mit Sufi-Gedichten im Kasten liegen. Der Antiquar Ronny Redlös hatte es gestern losgeschickt, also sollte es eigentlich heute ankommen.

Sollte.

Doch da die Zuverlässigkeit der Post jener von Zugfahrplänen entsprach, konnte es sich gut um einen Tag verzögern. Was schade wäre. Er sehnte sich so sehr nach ein wenig geistiger Reinigung vor seiner abendlichen Arbeit im Kasino und sprang drei Treppenstufen auf einmal hinunter.

»Abbas!«

Der Angesprochene blieb stehen. Er wusste, wem die Stimme gehörte. Als er sich umdrehte, stand Agnes Ekholm in ihrer halb geöffneten Wohnungstür. Ihre silbergraue Perücke saß ein wenig schief, der abgetragene Morgenmantel war falsch zugeknöpft.

»Willst du nach der Post sehen?«

»Ja. Soll ich deine mitbringen?«

»Das wäre nett.«

Abbas ging wieder ein paar Stufen hinauf und nahm den kleinen Schlüssel in Empfang, den ihm Agnes entgegenstreckte.

»Ich warte hier«, sagte sie.

Abbas nickte und ging wieder hinunter. Er dachte über die Tatsache nach, dass ältere Menschen mit gebrechlichen Knochen und unzuverlässigem Gleichgewichtssinn nunmehr gezwungen waren, die harten Steintreppen hinunter- und wieder hochzugehen, um ihre Post zu bekommen. Und da niemand wusste, wann die Post genau kam, das sogar mehrere Male am Tag. Und das nur, damit der Briefträger nicht die Treppen steigen musste. Das war einer der Gründe, warum er es nicht gut fand, dass sich die Briefkästen unten am Eingang befanden. Ein anderer war, dass Individuen, die darauf aus waren, in aller Ruhe in den Kästen im Eingangsbereich fischen und sich so verschiedenste Informationen über die Bewohner beschaffen konnten.

Der Briefträger hatte seine Runde gedreht.

Abbas öffnete Agnes’ Kasten zuerst: ein dünner Briefumschlag von der Schwedischen Kirche und eine Ansichtskarte, die für ihren Nachbarn bestimmt war. Seine eigene Box war besser gefüllt. Ein paar Briefe, der hässliche Prospekt einer Versicherungsgesellschaft und eine dicke Zeitung. Die er abonniert hatte.

Aber kein Buch.

Ein Glück, dass wenigstens die Zeitung gekommen ist, dachte er und ging schnell hinauf zu Agnes. Erwartungsvoll schaute sie ihm entgegen.

»Das war leider heute nicht so viel«, sagte er.

Agnes nahm den dünnen Umschlag der Schwedischen Kirche entgegen und versuchte ihre Enttäuschung zu verbergen.

»Vielleicht kommt ja morgen mehr?«, meinte sie.

»Ja.«

»Hier, bitte!«

Agnes überreichte ihm ein kleines Stück Rüblitorte, in eine weiße Papierserviette gewickelt.

»Aber sie ist nicht mehr so frisch.«

Abbas nahm das Kuchenstück entgegen. Das war ein Ritual. Jedes Mal, wenn er die Post für Agnes holte, bekam er ein Stück ihrer Rüblitorte. Als er das zweite Mal davon kostete, musste er feststellen, dass es sich vermutlich um denselben Kuchen handelte wie eine Woche zuvor. Beim dritten Mal legte er das Stück in einen Fressnapf eine Treppe höher im Treppenhaus.

»Danke«, sagte er.

»Lass es dir schmecken!«

Abbas nickte erneut und ging weiter nach oben. Der Kuchen landete in demselben Hundenapf wie die vorherigen. Er erreichte seine Tür und öffnete sie, während er einen Blick auf die Briefe warf. Zwei Rechnungen und eine Lohnabrechnung vom Casino Cosmopol. Er zog die Tür hinter sich zu, legte die Umschläge auf den kleinen Flurtisch und öffnete das Journal.

Eine Sondernummer seines Abonnements.

Bevor er die Titelseite ganz entfaltet hatte, war er bereits ein paar Schritte ins Wohnzimmer getreten. Dann blieb er stehen. Sekundenschnell las er die Überschrift, während sich das große Schwarzweißfoto auf seine Netzhaut brannte. In den folgenden Minuten las er den Artikel. In der Viertelstunde danach hielt er die Zeitung in derselben Position vor sich, stand unverwandt auf demselben Fleck, der einzige Unterschied: seine Hände zitterten, und die Augen hatten aufgehört zu lesen. Er hielt einfach nur ein Papier in der Hand.

Jenseits aller Eindrücke.

Plötzlich löste er sich aus der Starre. Vorsichtig faltete er die Zeitung zusammen und legte sie auf den schmalen Glastisch vor dem Sofa. Er achtete darauf, dass sie mit dem Glasrand des Tisches abschloss. Dann trat er zwei Schritte auf das Fenster zu und ergriff die dünne schwarze Stange, die seine Holzjalousie regelte. Sein Blick fiel durch die Scheibe hinaus auf die Matteuskirche auf der anderen Straßenseite. Lange schaute er sie an, wenn er sie denn überhaupt sah, dann verschloss er die Jalousien und schaute weiter in dieselbe Richtung.

Der Staubsauger?

Wo habe ich den?

Er verließ das Fenster und holte den Staubsauger heraus. Der stand dort, wo er immer stand. Er steckte den Stecker in die Steckdose und begann zu saugen. Zuerst methodisch, den ganzen Wohnzimmerboden entlang, unter dem Sofa und dem Glastisch, dann wieder den freien Raum. Mit der Zeit blieb er an einer Stelle haften. Er schob das Staubsaugerrohr immer wieder über denselben Fleck, hin und zurück, bis der Krampf einsetzte.

Zuerst in der Brust, dann im Bauch.

Er ließ den Staubsauger los und ging in die Küche. Vielleicht sollte ich neu streichen?, konnte er noch denken, bevor er sich ins Waschbecken erbrach, immer und immer wieder, bis nur noch grüne Galle hochkam. Dann nur noch Krämpfe. Er ließ sich niedersinken, den Kopf gegen die Spüle gelehnt, die Hände, die die Arbeitsplatte umklammert hatten, öffneten sich, langsam rutschte er auf den Boden und fiel auf den Küchenteppich. Der Körper wurde in Fötusstellung zusammengezogen. Die Augenlider fielen zu.

Als Letztes sah er verwundert eine merkwürdige Maschine, die mitten im Wohnzimmer stand und brummte.

Stilton hatte zugenommen. Hauptsächlich lag es an den Muskeln. Sein Körper war während seiner Jahre als Obdachloser ziemlich verkümmert, das Schlüsselbein hatte nur noch als knochiger Bügel für einen Hautsack gedient. Jetzt hatte sich das geändert. Sukzessive und zielbewusst hatte er seinen malträtierten Körper wiederhergestellt, trainiert, sich gepflegt, alles Eingesunkene war wieder ausgefüllt worden. Jetzt war er fast wieder auf dem gleichen Niveau wie früher.

Physisch.

Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Sein langes, fettiges Haar war abgeschnitten und von einem dunkelblonden Kurzhaarschnitt mit grauen Einsprengseln ersetzt worden. Die weiße Narbe am Mundwinkel leuchtete zwischen dünnen Bartstoppeln hervor und erinnerte an den, der er einst gewesen war, kurz vor seinem zwanzigsten Geburtstag. Ein junger, wortkarger Schwede auf einer norwegischen Ölplattform, die plötzlich explodierte, worauf alle in Panik ausbrachen, alle, bis auf ihn. Den Schweden. Der mit stummer Todesverachtung einige seiner Kollegen aus dem zertrümmerten Stahlinferno herausgezogen und ihr Leben gerettet hatte. Ein Jahr später hatte er sich bei der Polizeihochschule in Stockholm beworben.

Er trug eine blaue Adidastasche in der Hand und bog von der Hornsgatan Richtung Långholmen ab. Er ging schnell, um warm zu bleiben, es war die Zeit des Jahres, in der die Farbskala der Haut aufgrund der Gänsehaut von mottengrau bis aschgrau reichte. Er knöpfte die braune Lederjacke bis zum Hals zu, sie war zwar immer noch etwas zu groß, aber bei dem eisigen Wind leistete sie gute Dienste. Er hatte sie von seinem Großvater geerbt, einem alten, wetterfesten Robbenjäger von Rödlöga, der deutlich breitere Schultern gehabt hatte.

Ganz würde er die nie ausfüllen.

Aber der Großvater war tot, und die Jacke gehörte ihm, und er trug sie, so gut er konnte.

Er schob eine Hand in die Innentasche, holte sein Handy heraus und tippte eine Nummer ein. Die Antwort kam sofort.

»Luna.«

»Ich bin es noch mal, Tom Stilton.«

»Ja?«

»Ich wollte nur wissen, ob ich vorbeikommen könnte.«

»Jetzt?«

»Ja.«

»Okay.«

»Dann bin ich in zehn Minuten da.«

Stilton drückte das Gespräch weg und holte den Zettel heraus. Der hatte an einer alten Eiche am Rand des Långholmparks gehangen, mit einer Heftpistole direkt an den Stamm geheftet. Er las den Text noch einmal durch.

»Sara la Kali«.

Warum nicht, dachte er.