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»Es zog ihn in den Wald. In die Einsamkeit. In die Finsternis. In die Stille, in der es nur dieses kaum hörbare Flüstern gab, aus dem bald eine feste, klare Stimme wurde. Eine Stimme, die ihn antrieb, eine bestimmte Linie zu überschreiten: die dunkle Grenze zwischen Leben und Mord ...«
Eigentlich jagt Kommissar Jack Diehl nur einen Raubmörder. Im LKA gehen alle von einem schnellen Erfolg aus. Doch dann werden Jack Hinweise zugespielt, dass sein neuer Kollege etwas mit den Morden zu tun hat. Wem kann Jack noch trauen? Auch Profilerin Viola Hendrick ist keine große Hilfe - hat sie sich doch in einen mysteriösen Cold Case festgebissen. Jack ermittelt auf eigene Faust und wird so selbst zur Zielscheibe seiner Kollegen. Und dann bricht die Hölle los: Jacks Freundin, die Tatortfotografin Berenice, wird von einem Psychopathen entführt und in einer Hütte im Wald gefangen gehalten ...
Menschliche Abgründe, temporeiche Spannung und ein starkes Ermittler-Duo: der dritte Fall für Jack Diehl und Viola Hendrick.
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Seitenzahl: 330
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Prolog
Teil 1
Der schwarze Vorhang
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Teil 2
Die einzige Stimme
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Teil 3
Die blutige Linie
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Teil 4
Der kalte Nebel
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Epilog
Über den Autor
Impressum
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»Es zog ihn in den Wald. In die Einsamkeit. In die Finsternis. In die Stille, in der es nur dieses kaum hörbare Flüstern gab, aus dem bald eine feste, klare Stimme wurde. Eine Stimme, die ihn antrieb, eine bestimmte Linie zu überschreiten: die dunkle Grenze zwischen Leben und Mord ...«
Eigentlich jagt Kommissar Jack Diehl nur einen Raubmörder. Im LKA gehen alle von einem schnellen Erfolg aus. Doch dann werden Jack Hinweise zugespielt, dass sein neuer Kollege etwas mit den Morden zu tun hat. Wem kann Jack noch trauen? Auch Profilerin Viola Hendrick ist keine große Hilfe – hat sie sich doch in einen mysteriösen Cold Case festgebissen. Jack ermittelt auf eigene Faust und wird so selbst zur Zielscheibe seiner Kollegen. Und dann bricht die Hölle los: Jacks Freundin, die Tatortfotografin Berenice, wird von einem Psychopathen entführt und in einer Hütte im Wald gefangen gehalten ...
Menschliche Abgründe, temporeiche Spannung und ein starkes Ermittler-Duo: der dritte Fall für Jack Diehl und Viola Hendrick.
Leo Born
Die dunkle Grenze
Ein Jack-Diehl-Thriller
18 Jahre zuvor
Der Wald bildete einen Vorhang, und Tanja Schanda hatte das Gefühl, dass man dahinter für immer verschwinden konnte. Nach einer gewissen Zeit wurde dieser Eindruck stärker, beunruhigender: ein Vorhang, der Böses verbarg.
Sie war damals Anfang zwanzig, seit zwei Jahren mit Bernd verheiratet, Mutter eines kleinen Babys namens Leon. Wenig Geld, keine aufregenden Perspektiven, aber sie hatte sich in ihrer kleinen Welt eingefunden.
Was für eine Erleichterung, als sie dann auch noch eine erstaunlich günstige Bleibe zur Miete gefunden hatten. Zwar wäre Tanja gern in eine größere Ortschaft gezogen, etwa nach Fulda, am liebsten sogar nach Frankfurt, aber wer sollte das bezahlen? Sie hatte kein Einkommen, musste sich schließlich den ganzen Tag um Leon kümmern, und Bernd war nur ein einfacher Angestellter in einer Fabrik, die Stahlkegel für Motoren herstellte.
Also waren sie froh gewesen, die Erdgeschosswohnung zu bekommen, auch wenn es hier so abgelegen war. Eine Landstraße, nächtliche Eulenschreie, tagsüber ein marmorner Wolkenhimmel, häufige Regenschauer und ringsum dieser dunkle Wald. Das Rauschen der Wipfel hatte nichts Anheimelndes, sondern etwas Bedrückendes.
Sie waren wie abgeschnitten von der Welt. Anfangs hatte Tanja es gar nicht so wahrgenommen, irgendwann schon.
Im ersten Stock lebten die Eigentümer des Hauses, die Familie Weingarten. Die Eltern waren um die fünfzig, freundlich, aber zurückhaltend. Dann gab es da noch den Sohn, einen vierzehn oder fünfzehn Jahre alten Jungen, bei dem Tanja fast vergaß, dass er existierte. Dabei war er immer zu Hause. Man sah ihn nur nicht, bemerkte ihn nicht. Nie kamen andere Jungs, um Zeit mit ihm zu verbringen, nie ging er zum Fußballspielen. Nach der Schule, zu der er mit dem Bus fuhr, verschwand er still im ersten Stock des Hauses.
Tanja kannte nicht einmal seinen Namen, und sie dachte auch nie über ihn nach.
Ihr Alltag wurde von dem kleinen, putzmunteren Leon ausgefüllt. Sie liebte es, Mutter zu sein und sich stundenlang mit ihm zu beschäftigen. So viel Zeit zu zweit. Denn tagsüber war Bernd in der Fabrik, manchmal auch nachts, um in der Spätschicht ein paar zusätzliche Scheine zu verdienen.
Wenn sich die Sonne endlich einmal herauswagte, schob Tanja den Kinderwagen vor sich her, den Blick auf Leon gerichtet. Frische, klare Luft, ein leichter Wind. Das war die Rhön, eigentlich ein beliebtes Wander- und Freizeitgebiet, doch welchen Spazierpfad Tanja auch nahm, sie landete immer irgendwo in den Wäldern. Die Düsternis bescherte ihr eine Gänsehaut.
Sie hatte es sich hier anders vorgestellt: lieblicher, einladender. Von Zeit zu Zeit fühlte sie sich auf ihren Wegen ohne ersichtlichen Grund unwohl, als würde sie beobachtet werden. Einmal hörte sie Schüsse. Jäger, dachte sie sofort. Doch es war keine Jagdsaison. Ihre Spaziergänge wurden kürzer und seltener.
Hinter dem Haus der Weingartens erstreckte sich eine Wiese. Dort hielt Tanja sich gelegentlich auf, sie und Leon in vertrauter Zweisamkeit auf einer Picknickdecke. Einmal brachte ihnen Inge Weingarten Apfelsaft nach draußen, es entstand eine Plauderei, aber das war es auch schon an Zwischenmenschlichem. Man blieb für sich. Das Gebäude strahlte eine merkwürdige Stille aus. Keine Unterhaltungen, kein Telefonklingeln, keine Radiomusik. Als stünde es leer.
Manchmal ertappte Tanja sich dabei, wie sie mit unauffälligem Blick die schwarzen Fenster absuchte. Der Wald machte ihr Angst, das gestand sie sich ein, aber galt das inzwischen auch für das Haus? Sie war sich nicht sicher.
An einem halbwegs sonnigen Nachmittag glaubte sie ein Gesicht an einem der Fenster zu entdecken. Ganz kurz nur, für einen verwirrenden Wimpernschlag. Inge Weingarten? Ihr Mann Arno? Oder der Sohn, wie hieß er denn gleich?
Oder war es doch nur Einbildung gewesen? Hervorgerufen durch die Abgeschiedenheit und das immer gleiche Einerlei der vorüberziehenden Tage?
Schließlich mied Tanja auch die Wiese hinter dem Haus, das sich mit seinen schwarzen Ziegeln und dem ockerfarbenen Anstrich regelrecht zu verstecken schien. Eine Woche verging, eine weitere. Es war ein früher Morgen, Bernd befand sich noch in der Fabrik oder auch schon auf der Autofahrt nach Hause. Vor dem Schlafzimmerfenster war alles grau, der Schlitz zwischen den Vorhängen zeigte es. Stille. Bis auf ein leises Glucksen vom schlafenden Leon im zwei Meter entfernten Kinderbett.
Was hatte Tanja aufschrecken lassen? Ihre Lider flatterten, ihr Atem ging schneller. Dann entspannte sie sich. Alles war gut, alles war wie immer. Sie wollte die Augen wieder schließen und sich noch einmal umdrehen – da erstarrte sie.
Eine Gestalt.
Fassungslos blickte Tanja auf die reglose Silhouette und die dunkle Kleidung, die sich kaum vom Hintergrund abhob. Sie war erschrocken, sie war wie gelähmt. Alles, was sie bewegen konnte, waren ihre Lippen, die sich öffneten, über die jedoch kein Ton kam.
Plötzlich trat die Gestalt nahe an das Bett heran.
Noch immer war Tanja wie gelähmt. Hilflos starrte sie in die Augen, die sie betrachteten.
Nie hatte sie einen solchen Blick wahrgenommen.
Die Gestalt beugte sich herab und streckte die Arme aus. Die Haut der fremden Hände, die sich um Tanjas Hals legten, war eiskalt.
Sie schluckte.
Die Hände drückten zu.
Der Tod war noch da. Man spürte ihn, fühlte seine Anwesenheit, als wäre er ein unsichtbares Wesen, das in Stille alles beobachtete. Ein kaltes, in sich ruhendes Wesen, das sich seiner Macht, seiner Unbesiegbarkeit stets bewusst war.
Der Tod war so gewöhnlich, überall auf der Welt trat er Tag für Tag in Erscheinung, und doch würde er genau das niemals sein: alltäglich. Keine Routine, keine Abgebrühtheit, keine Coolness kam gegen ihn an.
Der Tod war stärker.
So war es Jack Diehl, Ermittler beim LKA in Wiesbaden, jedenfalls immer vorgekommen. Der Tod war nicht nur einschüchternd, sondern auch ein Gegner, der jedes Mal einen Schritt voraus zu sein schien.
Jacks Tony-Lama-Cowboystiefel waren mit Kunststoffschutzhüllen überzogen. Außerdem trug er Wegwerfhandschuhe, aber er fasste ohnehin nichts an, er sah sich lediglich in dem Chaos um, das in diesem Wohnzimmer entstanden war, und lauschte dabei den präzisen, knapp gehaltenen Dialogen der Spezialisten von der Spurensicherung.
Dem Tod begegnete man nicht mit Geschwätzigkeit und nur in seltenen Fällen mit zynischem Witz, man begegnete ihm schweigsam.
Nicht nur dieser Raum, sondern die gesamte Wohnung war auf rücksichtslose Weise auf den Kopf gestellt worden. Der Boden war übersät mit den Besitztümern des einzigen Mieters. Jede Schublade stand offen, alles war durchwühlt, sogar die Seiten abgegriffener Taschenbuch-Krimis waren herausgerissen worden. Eine Kommode war umgekippt worden, mehrere Läufer umgedreht, wohl, um zu überprüfen, ob unter ihnen etwas versteckt sein könnte.
»Du müsstest eigentlich ein Ganzkörperkondom tragen, Jack«, sagte einer der Kollegen im Vorbeigehen und meinte damit einen von Kopf bis Fuß reichenden Schutzanzug, der die Kontamination eines Tatorts mit fremder DNA vermeiden sollte.
»Keine Sorge, ich bin schon wieder weg«, erwiderte Jack. Er hatte genug gesehen. Dennoch warf er noch einen letzten Blick auf den Mann, der mit eingeschlagenem Schädel mitten im Wohnzimmer lag.
Neben der Leiche befanden sich Scherben mehrerer zersprungener Bierflaschen und eine aufgerissene, aber fast noch volle Tüte Kartoffelchips mit Hot-Chili-Flavour. Dieser Mann würde nie wieder trinken und essen. Nie wieder einen Gedanken fassen, nie wieder atmen. Er befand sich noch hier, aber war doch eigentlich schon weit weg.
Nur der Tod war noch da.
Wie immer einen Schritt voraus.
Es war Zeit für die übliche Frühbesprechung im LKA Wiesbaden, Abteilung 4 für schwere und organisierte Kriminalität. Doch diesmal waren nicht nur die ermittelnden Beamten, sondern sämtliche Mitarbeiter hinzugebeten worden.
Vor ihnen allen nahm Philipp Söring Aufstellung. Anzug, Krawatte, Brille mit feinem Goldrand. Fast sechzig Lebens- und viele Dienstjahre. Der Vizepräsident des LKA strahlte Autorität aus.
»Turbulente Tage liegen hinter uns allen«, begann er sonor wie ein Nachrichtensprecher. »Wie die meisten von Ihnen bereits wissen, wird Kommissariatsleiterin Oreana Massoudi nicht wieder zu uns stoßen.«
Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Niemand vermisste Massoudi, und ihr rascher Abgang hatte zu vielen Spekulationen Anlass gegeben.
»Ich arbeite fieberhaft daran, diese wichtige Stelle neu zu besetzen«, fuhr Söring fort. »Und ich bin zuversichtlich, bereits in Kürze Vollzug vermelden zu können.«
Wiederum herrschte Stille, nur vereinzelt wurden Blicke gewechselt. Denn auch hier waren bereits Gerüchte von Büro zu Büro weitergetragen worden.
»Was ich allerdings endlich persönlich verkünden kann, ist die Nachfolge von unserem Kollegen Dirk Heller, den wir nach wie vor in unserer Mitte vermissen. Ich muss niemanden an gewisse tragische Umstände erinnern.« Söring räusperte sich. »Umso mehr ist es mir eine Freude, Kommissar Vincent Gabor im Team zu begrüßen. Er ist ja schon seit zwei Wochen bei uns im Einsatz, die meisten von Ihnen kennen ihn bereits. Deshalb auch von mir an dieser Stelle ein herzliches Willkommen an den Kollegen.«
Es wurde geklatscht und auf die beiden Besprechungstische geklopft. Die Blicke hefteten sich auf den Angesprochenen, der den Lärm mit einem Lächeln zur Kenntnis nahm. Weiße Sneakers, lässige Chinos, unter dem Longsleeve-Shirt wurde sichtbar, dass Gabor so manche Stunde im Fitnessstudio verbrachte.
Noch immer wurde geklopft und geklatscht. Nur Hauptkommissar Jack Diehl blieb unbeweglich. Solchen Ritualen hatte er nie etwas abgewinnen können.
***
Kurze Zeit später saß Jack in seinem Büro, ein enger, kleiner Schuhkarton, doch es gab kaum einen Ort, der ihm so vertraut und ihm derart in Fleisch und Blut übergegangen war, nicht einmal seine Wohnung in Frankfurt.
Aus den knarzigen Boxen eines hoffnungslos veralteten CD-Players erklang Johnny Cash, der mit tiefer Stimme etwas von einem hinterrücks auftauchenden Feind sang.
Mit den Gedanken beim Vorabend, der Tote auf dem Boden noch vor seinem inneren Auge, ordnete Jack erste Berichte, die er per E-Mail erhalten und ausgedruckt hatte. Sein Schreibtisch war ein ähnliches Durcheinander wie der Tatort von gestern, aber für ihn war es immer schon wichtiger gewesen, im Kopf aufgeräumt zu bleiben.
Beiläufig erinnerte er sich daran, dass seine Mutter Rita ihn zum Kaffee eigenladen hatte und er die Verabredung nicht versäumen durfte. Wegen seines Vaters hatte es Ärger gegeben, und es wurde Zeit, wieder für eine etwas entspanntere Stimmung zu sorgen.
Dann konzentrierte er sich erneut vollkommen auf den neuen Fall. Er streckte mit den Blättern in Händen die Beine aus und war so sehr in seine Überlegungen vertieft, dass er den Mann, der in der offenen Tür stand und leise an den Rahmen klopfte, erst gar nicht wahrnahm.
Ein Räuspern. »Sorry, wenn ich störe.«
Jacks Blick fiel auf Vincent Gabor. »Komm rein.«
Gabor schloss die Tür und nahm auf dem einzigen Besucherstuhl Platz. »Danke für deine Zeit«, sagte er. »Wir haben uns noch nicht in Ruhe unterhalten können, und ich wollte unbedingt mal ...«
»Hast du was auf dem Herzen? Dann reden wir besser später, ich muss in ein paar Minuten in ein Team-Meeting.«
»Der Fall in Frankfurt, oder? Einbruch mit Todesfolge. Ich habe es mitbekommen.« Gabor fuhr sich durch seine gewellten blonden Haare. Blaue Augen, volles Gesicht, glattrasiert. Ein gutaussehender Kollege. Jemand, der bei Befragungen vertrauenerweckend und nicht einschüchternd wirken musste, dachte Jack. Und dass er Gabor bei einem Gespräch mit Berenice Silva Benevides gesehen hatte, blendete er bei diesen Gedanken lieber aus.
»Ich habe natürlich auch mitbekommen ...«, fuhr Gabor fort, zögerte dann aber kurz. »Na ja, das mit meinem Vorgänger. Er ist in Ausübung seiner Pflichten gestorben, ich weiß das.«
Jack musterte ihn, ohne etwas zu äußern.
»Ich wollte das unbedingt ansprechen. Es passierte bei einem Einsatz, zu dem der verstorbene Kollege allein aufgebrochen war, richtig? Ohne Absprache, ohne Rückendeckung. Und ich habe gehört, du schätzt Sololäufe nicht besonders.«
»Schon gar nicht, seit ich selbst keine mehr mache. Wir sind ein Team.«
Das war es, was der frühere Kommissariatsleiter Robert Kornfeld Jack immer mit auf den Weg gegeben hatte. Es war für Jack nicht leicht gewesen, sich diese simple Tatsache wirklich bewusst zu machen. Sein Ego, sein Misstrauen gegenüber anderen, irgendetwas in seinem Wesen hatte sich dagegen aufgelehnt. Aber Robert war geduldig gewesen, und sie waren zu Freunden geworden. Ohne Robert wäre Jack vielleicht längst nicht mehr im Dienst, das war ihm klar.
»Ich möchte nur betonen, dass ich ein Teamplayer bin«, ergriff Gabor wieder das Wort.
Erneut sagte Jack nichts.
»Ehrlich. Bei mir wird es keine Alleingänge geben.«
Die Musik verstummte, und eine Stille baute sich auf.
»Sonst noch was?«, meinte Jack.
»Noch mal zu der Sache in Frankfurt. Ich habe bisher kein einziges Mal bei einer Mordermittlung mitgewirkt.«
»Mal sehen, ob es Mord war«, meinte Jack nur.
»Jedenfalls lag mir die Versetzung zu euch sehr am Herzen. Um solche Fälle zu bearbeiten. Kapitalverbrechen. Ganz offen: Ich wäre gern Teil des Ermittlungsteams.«
»Die Stelle des Kommissariatsleiters ist nicht besetzt, und normalerweise wäre er für die Einteilung verantwortlich.«
»Ich weiß.«
»Ich bin nicht als Stellvertreter eingesetzt. Keiner ist das. Deshalb übernimmt Söring zurzeit die Teamzusammenstellung. Du musst mit ihm reden.«
Gabor machte eine zerknirschte Miene. »Das habe ich bereits.«
»Ohne Erfolg? Dann nützt es auch nichts, bei mir vorzusprechen.«
»Ich dachte, du könntest vielleicht ...«
»Nein, kann ich nicht. Und ich muss jetzt auch gleich ins Meeting.«
»Okay. Trotzdem danke.« Gabor erhob sich und verließ das Büro. Schweigend sah Jack ihm hinterher.
Ein Mord, der die Gelegenheit zum Raub eröffnete?
Oder eher ein Raub, der in einen Mord ausartete?
Viola Hendrick, Fallanalytikerin des LKA Wiesbaden, stand allein in dem Wohnzimmer, in dem ein Mann getötet worden war. Der Tatort war freigegeben worden, die Spurensicherung hatte ihre Arbeit beendet, verschiedene potenzielle Beweismittel waren bereits für spezifische Untersuchungen ins Labor gebracht worden.
Sie schätzte diese Momente, wenn sie ungestört ihren Gedanken freien Lauf lassen konnte. Es ging niemals nur darum, was geschehen war, sondern auch darum, wie es dazu kommen konnte. Das war für Viola der Knackpunkt einer Verbrechensaufklärung. Ihre Aufgabe sah sie nicht darin, sich in Ermittlungen zu stürzen, sondern die ermittelnden Kollegen mit dem richtigen Rat zum richtigen Zeitpunkt zu unterstützen – und ihnen oft genug einen Schubs in die entscheidende Richtung zu geben. Ihnen vor allem das abzunehmen, wofür ihnen keine Zeit blieb: einen Fall auf den Prüfstand zu stellen, jedes Detail zu analysieren, alles zu hinterfragen, das Verständnis zu vertiefen.
Eines der wichtigsten Werkzeuge dabei war die Tatrekonstruktion, und dafür war Ruhe wichtig. Selbst wenn das Alleinsein in einem Raum mit unzähligen Blutspritzern etwas zutiefst Beklemmendes besaß. Viola betrachtete die von der Tatortfotografin Berenice Silva Benevides erstellten Aufnahmen, die sie vergrößert in den Händen hielt, dann wieder das Wohnzimmer mit dem darin herrschenden Chaos und die Stelle, wo vor Kurzem noch der Leichnam gelegen hatte.
Sie schloss die Augen und sah zwei Männer vor sich, die miteinander kämpften. Zwei? Opfer und Täter? Oder hatte es mehrere Täter gegeben? Von den vielen zertrümmerten Bierflaschen hatten nur zwei Flaschenhälse keine Kronkorken. Eines dieser Details. Ein wichtiges.
Violas Augen blieben geschlossen, sie stellte sich die Auseinandersetzung vor, die Schläge, die einer der Kontrahenten auf den Kopf erhielt, die jähe Stille, nachdem er zusammengebrochen war.
Was konnte im Allgemeinen einen Kampf auslösen?, fragte sie sich. Was hatte diesen Kampf ausgelöst?
Sie öffnete die Augen. Schaute sich um. Ging zurück zur Wohnungstür. Auf der Klinke war noch das Pulver zur Entnahme möglicher Fingerabdrücke zu sehen. Sie kehrte zurück ins Wohnzimmer.
Erneut versuchte sie, sich alles vorzustellen und Einblicke zu erhalten. Geduldig und bedachtsam zu sein machte ihr nichts aus, im Gegenteil, sie mochte es, die Zeit fast stillstehen zu lassen, während Jack Diehl darauf versessen war, eine Ermittlung zu beschleunigen und immer mehr Fahrt aufzunehmen, sodass man aus der nächsten Kurve geschleudert werden konnte. Aber Viola war eben keine Ermittlerin.
Sie trug einen Hosenanzug, hohe Schuhe, eine helle Bluse, viel zu schick und ein wenig zu unpraktisch für ihren Job, aber sie war nun mal nicht der Jeans- und Sneakers-Typ. Beiläufig band sie sich ihre glatten roten Haare zu einem Pferdeschwanz, um dann rasch die Uhrzeit zu überprüfen. Das Meeting nachher durfte sie nicht verpassen. Es kam nicht häufig vor, dass Fallanalytiker gleich von Anfang an hinzugezogen wurden, umso mehr freute sie sich, dass Söring sie dabeihaben wollte.
Von Neuem versuchte sie in Gedanken den wahrscheinlichen Ablauf des Verbrechens durchzugehen. Sequenzanalyse lautete der Fachbegriff dafür, entlehnt aus der Sozialwissenschaft. Die Tat wurde in einzelne Abschnitte zerlegt, analog zu den Entscheidungen, die der Täter getroffen haben musste. So gelangte man zu Hypothesen zum Ablauf, der wiederum auf Motive schließen ließ. Die Hypothesen, die am unwahrscheinlichsten erschienen, schloss man aus, und diejenigen, die übrigblieben, nahm man sich aufs Neue vor.
Viola dachte nach und betrachtete dabei die Splitter der Bierflaschen, die nicht von der Spurensicherung sichergestellt worden waren. Die Obduktion würde am heutigen Vormittag durchgeführt werden, vielleicht hatte man sogar schon damit begonnen, und sie war gespannt auf die Ergebnisse.
Ein Kampf, einer oder mehrere Schläge auf den Schädel. Im Grunde kein kompliziertes Geschehen, aber die Erfahrung zeigte, dass es oft alles andere als simpel war, den exakten Hergang zu bestimmen.
Mehrere Dinge waren Viola aufgefallen, die die Rädchen in ihrem Kopf auf Trab hielten.
Ihr Handy ertönte, es war das Signal für eine eingegangene E-Mail. Sie öffnete sie und las. Es war die Einladung zu einem weiteren Interview mit ihr. »Du bist aber hartnäckig«, sagte sie leise, als könnte der Absender sie hören.
Die Nachricht enthielt einen Anhang: das Foto einer kleinen Maus.
Viola verdrehte schmunzelnd die Augen und las den Text mit der Anfrage zu einem zweiten Interview zu Ende: »Beigefügt finden Sie übrigens einen weiteren Bewohner der schönen Gegend, in der ich lebe. Bei dem Tierchen handelt es sich um die Sumpfspitzmaus. Genau wie ich ist sie sehr nett, manchmal ein wenig schüchtern, aber hat sie erst einmal Vertrauen gefasst, ist sie unheimlich zutraulich. Und genau wie ich wäre sie bestimmt sehr erfreut, wenn es wieder zu einem Gesprächstermin mit Ihnen kommen würde.«
Viola schloss die Nachricht und schüttelte immer noch schmunzelnd den Kopf. Verrückte Typen gab es.
Zu den Teilnehmern des Meetings gehörte auch Vizepräsident Philipp Söring. Normalerweise war seine Anwesenheit nicht nötig, aber da die Position der Kommissariatsleitung unbesetzt war, wollte er sich wohl einen direkten Überblick verschaffen, erst recht, da es um ein schweres Verbrechen ging.
Er nahm nicht Platz, sondern postierte sich mit dem Rücken zum Fenster.
Mehrere Ermittler saßen am Tisch, darunter Karen Pawlowski, eine erfahrene und für ihre Zuverlässigkeit geschätzte Kollegin, aber auch Viola Hendrick hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft. Die leichten roten Flecken auf ihren Wangen verrieten, dass sie in Eile gewesen war. Gewissenhaft wie eh und je ordnete sie ihre Notizen, die sie nach wie vor von Hand schrieb und nicht in irgendein Programm eintippte oder mündlich aufzeichnete.
Ganz kurz nur bedachte sie Jack Diehl mit einem unauffälligen Blick.
Dass ausgerechnet sie beide einmal ein Paar gebildet hatten, versetzte das Kollegium selbst jetzt noch in Erstaunen, über ein Jahr nach der Trennung. Zwei wie Feuer und Wasser. Beide versuchten die private Vergangenheit mit Professionalität zu überspielen, aber das gelang nicht immer.
Jack begann das Meeting, indem er alle knapp begrüßte und mit einem Filzstift einige Stichworte an ein Whiteboard kritzelte. Auf einer Magnetwand hingen die Tatortfotos.
»Bei dem Getöteten handelt es sich, wie wir inzwischen wissen, um Darius Winkler«, erläuterte er und unterstrich den Namen auf dem Board. »Kein Unbekannter für uns. Vor Jahren wurde er immer wieder auffällig. Drogenhandel im kleinen Stil, Gewaltdelikte. Dann aber scheint er die Kurve gekriegt zu haben. Keine Straftaten mehr, nicht mal ein Strafzettel. Bisschen Geld vom Staat, ein paar Nebenjobs, zuletzt aber ohne feste Anstellung. Vor zwei Wochen wurde er vierunddreißig, er lebte seit drei Jahren in der Wohnung. Allein, unverheiratet, keine feste Freundin. Beide Eltern verstorben, keine Geschwister.« Jack schaute in die Runde. »Das sind die Ergebnisse aus den Akten und den ersten Befragungen von Nachbarn, die ich gestern Abend noch durchgeführt habe. Jetzt wird es darauf ankommen, alles darüber in Erfahrung zu bringen, wie er die letzten Tage, vor allem den gestrigen, verbracht hat. Wen hat er getroffen? Mit wem hatte er regelmäßig Kontakt? War er doch noch, ohne unser Wissen, in kriminelle Machenschaften verstrickt?«
»Wer hat ihn gefunden?«, erkundigte sich Viola.
»Eine Nachbarin. Sie hatte am frühen Abend Lärm bei ihm gehört, sich aber nichts dabei gedacht. Später hat sie bei ihm geklingelt, um sich für einen Gang in die Kneipe ein wenig Geld bei ihm zu leihen. Sie hatten ein – Zitat – vertrautes Verhältnis. Doch er hat nicht aufgemacht. Da die Wohnung im Erdgeschoss liegt, hat sie durch das Fenster geschaut, das sich neben dem Hauseingang befindet, und einen Blick auf das Chaos werfen können. Das kam ihr – wieder ein Zitat – echt komisch vor, und sie hat unsere Kollegen verständigt.«
»Wenn ich etwas einwerfen darf«, kam es von Söring. »Eigentlich wäre das ein Fall für die Frankfurter Kollegen vor Ort. Doch man ist überlastet, offenbar geht es um eine Mordserie im Zusammenhang mit internationaler Wirtschaftskriminalität.«
»Die berühmte Krähe ist überlastet. Sieh mal einer an.« Karen Pawlowski musste schmunzeln. »Dabei hört man doch immer Wunderdinge über diese Kommissarin Billinsky.«
»Jedenfalls hab ich nicht gezögert und unsere Unterstützung signalisiert«, erwiderte Söring rasch, um das Thema zu beenden.
»Unseren bisherigen Erkenntnissen zufolge wurden dem Opfer Bank- und Kreditkarte, Smartphone und Laptop gestohlen«, fuhr Jack fort. »Der Geldbeutel war leer, also bestimmt auch Bargeld. Und darüber hinaus eine Armbanduhr, wie Spuren in der Haut an seinem rechten Handgelenk zeigen, die auf einen dauerhaften Uhrenträger schließen lassen.«
»Demnach gehen wir von einem Raubmord aus«, stellte Söring fest.
»Was hat die Obduktion gebracht?« Erneut war es Viola, die die Frage stellte.
»Dr. Rubio und seine Jungs haben Gas gegeben.« Jack nickte anerkennend. »Schon kurz vor unserem Meeting hab ich die ersten Informationen erhalten. Darius Winkler hat mehrere Schläge auf den Kopf erhalten. Splitter, die in seinen Kopfhaaren gefunden wurden, geben Aufschluss darüber, dass diese Schläge mit einer beziehungsweise mehreren Bierflaschen erfolgt sind.«
»Das war also die Todesursache«, kommentierte Söring.
»Davon bin ich gestern auch ausgegangen. Doch die Obduktion hat ergeben, dass die Schläge auf den Kopf nicht tödlich waren. Das Zungenbein ist gebrochen. Es gibt Würgemale am Hals, außerdem punktförmige rötliche Gewebseinblutungen, vor allem in der Augenbindehaut der Lider.«
»Das sind Merkmale bei Opfern, die erwürgt worden sind«, bemerkte Viola.
»Stimmt. Und das finde ich eigenartig.« Jack nickte und wandte sich einem der Tatortfotos zu, die die Leiche zeigten.
»Inwiefern?«, fragte Söring.
»Sieht man sich den Tatort an, scheint es zu einem Kampf gekommen zu sein. Vermutlich zwei Personen, die heftig miteinander ringen. Gegenstände gehen zu Bruch. Die Nachbarin hat Geräusche wahrgenommen, die sich allerdings keineswegs nach einem Kampf angehört haben, das behauptet sie steif und fest. Einem der Kontrahenten gelingt es, den Gegner mit einer Bierflasche bewusstlos zu schlagen. Ich habe mich bei Dr. Rubio erkundigt, und er bestätigte vorhin am Telefon, dass die Kopfverletzungen höchstwahrscheinlich eine Ohnmacht zur Folge hatten.«
»Mir kommt das auch alles eigenartig vor«, sagte Viola.
»Wir beide einer Meinung?« Jack zwinkerte ihr zu. »Dann muss was dran sein.«
»Ich habe versucht, den Tathergang zu rekonstruieren«, erklärte sie in ihrer förmlichen, fast strengen Art.
»Der Kampf ...«, wollte Jack einhaken, doch rasch rief sie: »Moment! Das Ganze fängt doch nicht mit einem Kampf an. Was war denn vorher?«
»Sag's uns, liebe Viola.« Jack verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie an, genau wie alle anderen.
»Sie meinen, bevor der Kampf einsetzte, Frau Hendrick«, sagte Söring, nach wie vor mit allen per Sie. Nur bei Jack benutzte er gelegentlich den Vornamen. »Sie fragen sich, was der Auslöser für die Auseinandersetzung war.«
»Ich meine, noch früher«, erwiderte Viola. »Unsere Spezialisten haben keine Hinweise auf ein erzwungenes oder gar gewaltsames Eindringen gefunden. Der Täter wurde von Darius Winkler also wahrscheinlich freiwillig in die Wohnung gelassen. Was wir uns fragen müssen, ist Folgendes: War es eine geplante Tat? Oder ergab sie sich eher situativ? Kam es zwischen den beiden zum Streit, der sich steigerte? Es konnten keine Spuren festgestellt werden, die eindeutig dem Täter zuzuordnen sind. Es ist möglich, dass Opfer und Täter zusammen ein Bier getrunken haben, jeder eine Flasche, aber auch, dass beide geöffneten Flaschen vom Opfer ausgetrunken wurden. Ich bin alles gedanklich mehrfach durchgegangen, und für mich sieht es so aus, als hätte das Opfer keinen Besuch erwartet, sondern hat den Abend vielleicht vor dem Fernseher verbracht mit Bier und Chips. Der Besuch traf ein, eine Unterhaltung wuchs zu einem Streit aus – oder wurde schon von Anfang an feindselig geführt.«
»Also keine geplante Tat«, warf Söring ein.
»Mal ehrlich, wer plant denn schon, Kreditkarten und den restlichen Kram von Darius Winkler zu rauben.« Viola schüttelte den Kopf. »Sein Kontostand ist überschaubar, seine Wertgegenstände scheinen nicht so bemerkenswert zu sein, dass man dafür ein derartiges Verbrechen auf sich nehmen würde.«
»Also ist Winklers Tod Ihrer Ansicht nach ungeplant eingetreten«, schloss Söring. »Dann hat der Täter offenbar die Gelegenheit genutzt und sich mit allem, was ihm sinnvoll erschien, die Taschen gefüllt. Was meinen Sie, Jack?«
»Dass mich nach wie vor eine Sache stutzig macht. Nämlich die Todesursache. Erwürgen. Echt jetzt?«
»Das hat die Obduktion ergeben«, kommentierte Viola kategorisch.
»Okay.« Jack nickte. »Stellen wir uns mal die Situation vor. Da liegt der Mann vor dir auf dem Boden. Du hast mit ihm gestritten, es wurde handgreiflich, du hast ihn bewusstlos geschlagen. Du denkst, na gut, jetzt schnappe ich mir das bisschen Tafelsilber. Und dann kniest du dich hin und erwürgst ihn. Du könntest doch auch einfach so verschwinden, das Opfer ist nicht mehr in der Lage, dich aufzuhalten. Warum tust du das?«
Viola rollte mit den Augen. »Die Antwort ist einfach. Weil das Opfer dich identifizieren kann. Deshalb tust du das.«
»Wegen der recht überschaubaren Beute wirst du zum Mörder?«, fragte Jack unverändert skeptisch. Er stellte sich erneut dicht vor die Fotos. »Schaut mal. Zwei der drei durch Schläge hervorgerufenen Verletzungen sind an der hinteren Kopfpartie zu verorten.«
Zustimmendes Gemurmel kam auf.
»Das spricht für mich gegen Verletzungen, die aus einem hart geführten Kampf resultieren.« Jack drehte sich zu den anderen um. »Sondern eher dafür, dass heimtückisch zugeschlagen wurde. Von hinten oder von einer seitlichen Position zum Opfer. Leute, es gab gar keinen Kampf. Die Unordnung im Wohnzimmer, zum Beispiel durch die umgekippte Kommode, wurde nachträglich herbeigeführt, um uns ein falsches Szenario vorzugaukeln. Und das löste die Geräusche aus, die die Nachbarin gehört und die sie als nicht auffällig eingestuft hat. Ein Kampf wäre lauter gewesen.«
Niemand äußerte etwas. Man konnte sehen, wie hinter Violas Stirn die Rädchen in Höchstgeschwindigkeit rotierten. »Vielleicht wurde etwas gestohlen, von dem wir noch nicht wissen, dass es existiert«, meinte sie nach einer Weile, für sie untypisch zusammenhanglos.
»Vielleicht«, sagte Jack mit einem Achselzucken. »Und vielleicht gibt es bei dieser Tat sogar noch viel mehr, worüber wir bislang nicht im Bilde sind. Ich werde mich dranmachen, das Kontaktumfeld des Opfers genau unter die Lupe zu nehmen.«
»Ich unterstütze dich gern«, bot Karen Pawlowski an. Grübelnd spielte sie mit einer Ponysträhne ihres Pagenschnitts.
»Ich bleibe dabei«, meinte Jack nach einer kurzen Stille. »Das Erwürgen in genau dieser Situation ... Es kommt mir eigenartig vor.«
Im Anschluss an die Besprechung kehrte Jack in sein Büro zurück, um sich den Spurensicherungsbericht der Beamten des Erkennungsdienstes noch einmal Punkt für Punkt vorzunehmen und auf dessen Basis seinen eigenen Tatortbefundbericht zu erstellen. Eine Arbeit, die er früher nur widerwillig in Angriff genommen hatte, deren Wert er aber längst für die weiteren Ermittlungen als immens wichtig anerkannte.
Einige Punkte fügten sich zusammen, bei anderen blieb ein Fragezeichen. Was war mit dem Motiv? Raub? Tatsächlich?
Kopien der Tatortfotos lagen neben ihm, und während er sie immer wieder prüfend betrachtete, musste er automatisch an die Frau denken, die sie angefertigt hatte.
Er griff zum Handy und spielte damit herum. Berenice. War es nicht an der Zeit, dass er sich bei ihr meldete? Vor ihrer ersten gemeinsamen Nacht und bei nahezu allen anderen Malen danach war die Initiative von ihr ausgegangen. Hatte sie genug von ihrer gemeinsamen ... Was war es? Eine Affäre? Ein Verhältnis? Eine On-off-Beziehung?
Berenice war so ganz anders als Viola. Spontaner, lässiger, sie war ... Denk nicht an sie, ruf sie lieber an, sagte er sich. Was er allerdings nicht tat. Er schickte ihr nur eine Nachricht, die typisch für ihn war und nur aus einem ironisch gemeinten Wort bestand: Meeting?
Sofort rief sie ihn an, direkt wie immer: »Na, Jack, wie läuft's?«
»Recht viel los zurzeit. Das weißt du ja selbst. Na ja, ein deutsch-brasilianischer Abend würde mir helfen.« Eine Anspielung darauf, dass sie Halbbrasilianerin war.
»Heute?«, fragte sie ohne eine Spur von Euphorie.
»Zum Beispiel.«
»Hm, sieht schlecht aus«, meinte sie nach kurzem Zögern. »Bin schon verplant.«
»Dann, äh, morgen.«
»Lass uns einfach noch mal kurz telefonieren, irgendwann die Tage. Okay?« Kurz und bündig verabschiedete sie sich von ihm, die Leitung war tot. Irgendwann die Tage? Nein, nicht verabschiedet, sie hatte ihn abserviert.
Hatte er tatsächlich zu lange damit gewartet, sich bei ihr zu melden? Als er das Handy beiseitelegte, kam die Erinnerung an den Moment zurück, als er Berenice bei einem Gespräch mit Vincent Gabor gesehen hatte.
Wende dich lieber wieder deinem verdammten Bericht zu, riet er sich stumm, drückte aber noch die CD-Taste, um Johnny Cashs tiefe Stimme ertönen zu lassen.
Es vergingen nur ein paar Sekunden, bis wieder jemand in der offenen Bürotür auftauchte.
Jack blickte auf. »Immer hereinspaziert.«
***
Viola Hendrick betrat Jacks Büro und setzte sich. Sie deutete ein Augenrollen an und zeigte auf den CD-Player: »Wird es nicht mal Zeit für eine neue Musik in deinem Leben?«
Er drehte ein bisschen lauter. »Ich finde, das passt schon, das mit Johnny und mir.«
»Wie sieht es beim Winkler-Mord aus? Passt da auch alles für dich?«
»Du nennst es Mord? Nicht Raubmord oder Tötungsfall?«
»Freud'scher Versprecher.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem knappen Lächeln. Sie beobachtete, wie er in typischer Jack-Manier bequem die Beine ausstreckte, als säße er zu Hause auf dem Sofa mit dem scheußlichen Kuhfell-Muster, das sie früher am liebsten aus seiner Wohnung verbannt hätte. Beiläufig betrachtete sie die geplatzte Naht seines verwaschenen Karohemds, und er bekam es natürlich mit.
»Müsste mal wieder Nadel und Faden in die Hand nehmen«, meinte er.
»Als wenn du damit etwas anfangen könntest.« Um rasch das Thema zu wechseln, fügte sie an: »Auf jeden Fall finde ich, dass wir durch das Meeting einen Schritt weitergekommen sind.«
»Sind wir?«
»Jedenfalls punktuell. Auch wenn mich die Frage des Motivs nach wie vor umtreibt.«
»Darüber hab ich vorhin auch nachgegrübelt.« Er wühlte in Blättern mit Notizen. »Bei der Überprüfung von Winklers Umfeld stehe ich zwar erst am Anfang, aber bisher würde ich nicht sagen, dass es jemand gibt, der für eine solche Tat infrage kommt. Klar, da findet sich der eine oder andere Kleingauner, nach meinen Erkenntnissen allerdings kein einziger dicker Fisch. Zumal auch Winkler selbst in den letzten Jahren mit Straftaten sehr zahm gewesen ist.«
»Zu welchem Ergebnis haben dich deine Grübeleien in Sachen Motiv denn gebracht?«
»Dass ich einen Whiskey trinken sollte.« Er stand auf, öffnete einen Aktenschrank und deutete auf eine Flasche Maker's Mark. »Auch einen?«
»Jetzt?« Sie schüttelte konsterniert den Kopf. »Früher hast du mit Robert angestoßen, nachdem ein Fall aufgeklärt worden ist.«
Er drückte die Schranktür zu und nahm wieder Platz. Sein Grinsen verriet, dass er sie nur ein wenig aus der Reserve hatte locken wollen.
»Du spielst immer noch gern deine Spielchen. Stimmt's, Jack?«
»Stimmt.«
»Übrigens, was hältst du von unserem neuen Kollegen Vincent?«
Sein Grinsen löste sich auf. »Wieso?«
»Es hat sich rumgesprochen, dass er unbedingt beim Winkler-Fall unterstützen will.«
»Na und?«
»Du willst nicht darüber reden, schon gut.«
»Nein, will ich nicht«, murmelte er mit einem jähen bissigen Unterton, der ebenfalls typisch war für ihn. Überhaupt wirkte er wie damals, als sie ihn kennengelernt hatte und nie für möglich gehalten hätte, dass sie beide einmal mehr verbinden würde als der Job. Das nachlässig zurückgekämmte Haar, das kantige Kinn mit den Bartstoppeln und der freche Blick, der ihm etwas Verwegenes, Unberechenbares gab. Seine Stiefel, seine Jeans. Eindeutig aus der Zeit gefallen. Nicht aus meiner Zeit, hätte er darauf geantwortet.
Aber er war sich immer treu geblieben, das musste sie ihm lassen, er hatte sich nie um Trends und Moden geschert, war immer unzweifelhaft und zu 100 Prozent Jack. Lässig, spöttisch und sofort zugeknöpft, wenn es um Persönliches ging.
Viola hatte Jahre gebraucht, um herauszufinden, dass es eine bestimmte Sache gab, die er mit sich herumschleppte. Sein Vater war ein Krimineller, vor allem in früheren Jahren, und hatte auf Jacks Seele einen dunklen Fleck hinterlassen. Es waren keine Komplexe, vielleicht nicht einmal Scham, aber es belastete Jack, auch wenn er es nie zugegeben hätte.
»Vincent Gabor scheint ein guter Cop zu sein.« Nein, manchmal konnte sie einfach nicht lockerlassen. »Das denken jedenfalls alle.«
»Schön für ihn.«
Viola hatte Berenice schon zweimal bei einer angeregten Unterhaltung mit Vincent gesehen. Jack etwa auch? War er deshalb so schmallippig wegen Gabor? Gönnte sie ihm schadenfroh die Portion Eifersucht?
»Sonst noch was, Viola? Ich muss gleich losfahren, um in Winklers Freundeskreis herumzuwühlen.«
»Ich hätte tatsächlich noch was anderes auf dem Herzen. Es geht um einen lange zurückliegenden Fall.«
Er runzelte die Stirn. »Die aktuellen Sachen haben Vorrang und ...«
»Es gibt immer etwas Aktuelles, das Vorrang hat«, unterbrach Viola ihn. »Wirklich, mir ist das wichtig. Ich hab da gleich mehrere alte Fälle auf dem Tisch liegen.«
»Ach?« Er schmunzelte. »Wie sind die denn dahin gekommen?«
»Jack, ich weiß auch, dass es eine Abteilung für Cold Cases gibt. Aber da sind es die großen Fälle, die Priorität haben. Mir geht es um kleinere Delikte, bei denen kaum jemals die Chance besteht, dass sie wieder aufgegriffen werden. Dabei ist die Nachverfolgung aller Vergehen von großer Bedeutung.« Sie holte Luft. »Mit ist eine Reihe von merkwürdigen Taten aufgefallen, die mir keine Ruhe lassen. Es geht zum Beispiel um eine Vierundsechzigjährige, die auf einem Waldweg überfallen worden ist. Unter irgendwie merkwürdigen Umständen. Jedenfalls in meinen Augen.«
»Weiter«, forderte er, jetzt offenbar doch interessiert.
»Für die Frau war es ein absolut traumatisches Erlebnis. Sie sagte aus, es sei ihr vorgekommen, als hätte ihr ein Geist aufgelauert.«
»Ein Geist«, wiederholte er, verzichtete aber auf ein Grinsen. »Und nun?«
»Ich möchte sie befragen. Wir wissen, mit größerem zeitlichem Abstand kehren oft Erinnerungen zurück, die ...«
»Schon klar, Viola, aber was willst du von mir?«
Sie breitete genervt die Arme aus. »Mein Gott, ich würde mich einfach mal gern mit einem Kollegen austauschen und bestimmte Aspekte ...« Abrupt verstummte sie. »Vergiss es, Jack. Ich hätte nicht herkommen sollen.«
»Sorry, aber ...«
Ein Signal von Violas Handy stoppte ihn. Sie zog es aus der Seitentasche ihrer Jacke. Es war eine E-Mail. »Schon wieder«, murmelte sie mit einem Schmunzeln, als sie den Absender las. Neues zur Spitzmaulmaus?
»Du lächelst ja so vergnügt«, kommentierte Jack. »Eine Nachricht von deinem Verehrer?«
»Verehrer? Wer soll das sein?«
Er zwinkerte. »Es spricht sich rum. Das LKA ist ein kleines, kuscheliges Dorf.«
»Was spricht sich rum?«
»Die Gerüchteküche brodelt. Viola Hendrick trifft sich mit jemand. Hat ein abendliches Meeting schlagartig wegen einer privaten Verabredung verlassen. Sowas hat's schon lange nicht mehr gegeben.«
»Seit wann reagiert denn ausgerechnet Jack, der Cowboy, auf Flurfunk? Da steht er doch sonst meilenweit drüber.«
»Wenn es dabei um dich geht ...«
»Erst recht, wenn es um mich geht, sollte es dir an deinem Hinterteil vorbeigehen.« Sie winkte ab, dabei wurde ihr in diesem Moment bewusst, dass es ihr auf verrückte Weise doch ein wenig schmeichelte, einmal Teil der Gerüchteküche zu sein.
»Also, ist was dran oder nicht?« Frech grinste er sie an.
»Die Nachricht kommt keineswegs von einem Verehrer, sondern von einem verrückten, aber doch liebenswerten Kerl, der mich einmal interviewt hat. Und jetzt noch ein weiteres Interview möchte.«
Jacks Grinsen blieb unverändert. »Fürs Fernsehen?«
»Nein, kein roter Teppich und so. Böse gesagt, geht es eher um so etwas wie eine Dorfzeitung. Er will eine Reihe über moderne Polizeiermittlungsmethoden schreiben, und da hat er mich als Fallanalytikerin angefragt. Wir haben einmal online über Teams gesprochen, er hat mitgeschrieben, würde aber gern noch weitere Interviewsitzungen durchführen.«
»Also ist er nicht der Verehrer, von dem alle sprechen?«
Das wüsstest du wirklich gern, was Jack? Viola lächelte ihn an. »Ich muss unbedingt mit ihr reden«, sagte sie übergangslos.
»Mit wem?«
»Mit der damals Vierundsechzigjährigen, die auf einem Waldweg überfallen worden ist.«
Versonnen dachte er an jene Tage, als er das erste Mal in die Wälder gelaufen war, zunächst noch eingeschüchtert von deren finsterer Allmacht, dann aber von einer Sicherheit erfasst, die er sonst nicht kannte.
Die Bäume schienen ihn zu mögen, zumindest mehr, als die Menschen ihn mochten. Er lief oft stundenlang herum, erst noch mit dem Kopfverband, dann mit offenen Haaren, die schnell nachwuchsen.