Die Eifel ist kälter als der Tod - Edgar Noske - E-Book

Die Eifel ist kälter als der Tod E-Book

Edgar Noske

4,7

Beschreibung

Eigentlich hat Kriminalhauptkommissar Roger Lemberg die Leitung der SOKO-Eifel übernommen, um es in Zukunft etwas ruhiger angehen zu lassen. Doch gleich am ersten Tag bekommt er es mit einem mysteriösen Mordfall zu tun: Auf dem Skulpturenweg in Buchet wird eine weibliche Leiche gefunden. Schnell führen ihn seine Ermittlungen in ein Dickicht aus Eifersucht, Habgier, Neid und Hass, in dem es mehr Verdächtige gibt, als ihm lieb ist. Dabei hat der aus Mainz in seine Heimat Zurückgekehrte schon genug mit privaten Problemen zu tun. Ein seit Jahren schwelender Konflikt mit seinem Vater lodert erneut auf, und seine Ehe droht an seinem aufreibenden Job zu zerbrechen. Nur mühsam gelingt es Lemberg, Licht in das Dunkel des Falls zu bringen - da gibt es einen weiteren Toten. Und ehe Lemberg es sich versieht, hängt auch sein Leben an einem seidenen Faden.

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Edgar Noske, Jahrgang 1957, lebte als freier Autor im Rheinland und in der Eifel. Im Emons Verlag erschienen zahlreiche Kriminalromane, darunter die Mittelalter-Trilogie »Der Bastard von Berg«, »Der Fall Hildegard von Bingen« und »Lohengrins Grabgesang« sowie die Kölner Leo-Saalbach-Krimis »Nacht über Nippes«, »Kölsches Roulette« und »Himmel über Köln«. In der Reihe mit Kommissar Lemberg erschienen »Die Eifel ist kälter als der Tod«, »Endstation Eifel« und »Im Dunkel der Eifel«.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.Die Vignette zwischen den Kapiteln zeigt die Skulptur »Motorino Amore Romanza« von Norbert Huppertz.

© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagzeichnung:: Heribert Stragholz Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-336-1 Eifel Krimi Originalausgabe

FürKatrin und Mei-Huei

»Es war kalt, es goss, ein halber Sturm wehte,und vor uns lagen wie eine Mauer die schwarzenForsten der Schnee-Eifel, wo die Drachen hausten.«

Ernest Hemingway, November 1944

»Die Eifel ist die einzige Gegend,in der ich mich nicht nach dem Meer sehne.«

Dreiundzwanzigmal war sie den Weg bereits gegangen. Einmal pro Woche und immer nachts. Heute aber war sie keine zwei Stunden nach Sonnenuntergang aufgebrochen, länger hatte sie es nicht ausgehalten. Dabei war sie erst gestern bei ihm gewesen. Düster war es, aber nicht stockfinster wie die anderen Male. Sie konnte den Waldboden sehen, konnte erkennen, wohin sie ihre Füße setzte.

Trotzdem hatte sie größere Schwierigkeiten als sonst, die Stelle zu finden; sie hatte sich auf ihre Augen verlassen und nicht die Schritte gezählt. Also ging sie zurück zu den vier Buchen und versuchte es erneut. Jetzt maß sie die Strecke ab. Zweiundvierzig Schritte, dreiundvierzig, vierundvierzig. Erst der Ilex, daneben die Hagebutten. Hier musste es sein. Sie lehnte ihr Fahrrad gegen einen Baum und schob sich durch das Gestrüpp.

Der Eingang des Stollens lag vor ihr wie das aufgerissene Maul eines Raubtiers.

Nach wenigen Metern wagte sie es, die Taschenlampe einzuschalten. Die Temperatur fiel mit jedem Schritt. Wasser rann die Wände hinab und sammelte sich in kleinen Pfützen, um dann langsam in den Spalten des felsigen Bodens zu versickern. Von Anfang an hatte sie sich bücken müssen, inzwischen ging sie beinahe in der Hocke. Gleich würde die Stelle kommen, an der sie kriechen musste. Sie klemmte die Taschenlampe zwischen die Zähne, ging auf alle viere und schob sich bäuchlings unter der tief hängenden Felsdecke hindurch. Eisig spürte sie das Wasser an Händen und Knien. Sie hörte, wie der Rucksack am Stein schrammte. Auf der anderen Seite des Engpasses konnte sie endlich aufrecht stehen.

Wenig später teilte sich der Stollen. Der breitere und höhere Gang endete nach knapp dreißig Metern in einem Wasserloch. Der andere, der mit einer halsbrecherisch steil abfallenden Passage begann, führte zu seinem Versteck. Das Stück war nicht sehr lang und der Boden außerdem glatt geschliffen, dennoch kostete sie die Rutschpartie jedes Mal Überwindung. Sie hockte sich auf ihre Fersen, tastete nach den Wänden und schlidderte in die Tiefe. Auf dem Rückweg würde sie sich an dem Seil hochziehen, das er an der Felswand gespannt hatte.

Weiter führte der Stollen, immer weiter in den Berg hinein. Früher war er noch länger gewesen, aber irgendwann war der hintere Teil eingestürzt. Kurz vor der Stelle, an der Geröllmassen den weiteren Weg versperrten, zweigte rechts ein Kriechgang ab. Wieder musste sie auf die Knie. Fünf, vielleicht sechs Meter lang war der Gang, dann erweiterte er sich zu einer Kammer, die drei Meter hoch und annähernd zwanzig Quadratmeter groß war. Hier hielt er sich versteckt.

Er war nicht da.

Mitten im Raum war das Feldbett aufgebaut, darauf lagen der Schlafsack und die Zusatzdecke. Aufgereiht an der Wand standen die beiden Motorradkoffer und das Topcase aus Aluminium, in denen er seine Wäsche und Kleinkram aufbewahrte, etwas weiter die Wasserkanister und die Waschschüssel. Auf dem Campingtisch und dem Klappstuhl lagen einige Bücher und Zeitschriften, obenauf stand die Petroleumlampe. Sein Essen kochte er in der gegenüberliegenden Ecke, der Brenner und die Gaskartuschen markierten den Platz. Oberhalb der Kochstelle war der Abzug. Zu sehen war davon nichts, aber sie spürte den feinen Lufthauch des Durchzugs auf der Wange.

Die Lebensmittelvorräte, hauptsächlich Konserven, lagerten in einer doppelkojengroßen Nische gleich unter der Höhlendecke, die er sein »Schwalbennest« nannte. Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie sie gerade mal mit der Hand erreichen. Um hinaufzukommen, hatte er drei Steigeisen in die Wand geschlagen. Dorthin zog er sich zurück, wenn die Höhle überschwemmt wurde. Das passierte bei jedem Wolkenbruch. Dann lief das Wasserloch im anderen Stollen über, und der tiefer gelegene Teil der ehemaligen Mine wurde überflutet. Bis zu zwei Meter konnte das Wasser steigen. Die Höchststände hatte er mit einem Stift an der Wand markiert. Bis das Wasser durch irgendwelche Ritzen und Spalten im Fels wieder abgelaufen war, konnten Stunden vergehen. Im April hatte er bei Dauerregen einmal drei Tage im »Schwalbennest« ausharren müssen. Allein die Vorstellung jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

Noch nie war ihr aufgefallen, wie kalt und feucht es hier unten war. Aber sie war auch noch nie allein in der Höhle gewesen. Immer war er da gewesen, und meistens hatten sie sich im Arm gehalten. Dann entdeckte sie unter dem Schlafsack sein Gewehr. Es beruhigte sie, obwohl sie nicht hätte sagen können, wieso.

Ein schleifendes Geräusch ließ sie herumfahren. Vor Schreck fiel ihr die Taschenlampe aus der Hand. Als sie sich danach bückte, wurde ihr ein weißer Kunststoffkanister vor die Füße geschoben, und aus dem Dunkel der Röhre fragte seine Stimme: »Was willst du denn hier?«

Behände kroch er aus dem Gang und richtete sich auf. Wie am Vortag perlte trotz der Kälte Schweiß auf seiner Stirn. Sein Bart war inzwischen bleistiftlang. Die Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Mit einem flüchtigen Kuss begrüßte er sie, ging zum Tisch und entzündete die Lampe. Der Lavendelduft des parfümierten Petroleums erfüllte den Raum. Dann löschte er seine Taschenlampe, sie tat dasselbe mit ihrer.

»Wo warst du?«, fragte sie.

»An der Möhnbachquelle«, sagte er. »Das Wasser aus der Höhle taugt nichts. Mir tun die Knochen weh. Du musst dein Fahrrad weiter entfernt abstellen. Am besten lässt du es bei den Buchen oder gleich am Waldrand.«

»Ich habe immer Angst, dass es gestohlen wird.«

»Das wäre das kleinere Problem. Du hast mir noch nicht gesagt, warum du schon wieder hier bist.«

»Es ist etwas passiert«, sagte sie ernst.

Er sah sie an, nahm das Gewehr vom Bett, lehnte es gegen den Tisch und setzte sich. »Ist der Interessent für den Hof abgesprungen?«

»Nein.« Sie entnahm ihrem Rucksack ein Blatt und hielt es ihm hin. Er griff zögernd danach, als fürchtete er, dem Papier könnte Gift anhaften.

»Ein Bild«, sagte er erleichtert. »Hat die Kleine das gemalt?«

»Sieh es dir genau an.«

Das tat er und drehte das Blatt sogar herum. Trotzdem zuckte er mit den Schultern. »Was soll das?«

Sie setzte sich neben ihn. »Das ist ein Traktor, auf dem ein Mann sitzt. Ein anderer Mann liegt unter dem Traktor. Die Person mit den gelben Haaren soll ich sein.«

Am Zittern seiner Hände erkannte sie, dass er begriff.

»Wie kann sie das wissen?«, fragte er mit spröder Stimme.

Sie zeigte auf eine Kugel in der Ecke des Bildes. »Das ist sie selbst. Auf dem Heuboden.«

»Du … du hast doch gesagt, sie hätte in ihrem Bett gelegen und geschlafen.«

»Sie muss aufgewacht sein, und weil niemand im Haus war, wird sie in die Scheune gelaufen sein. So hat sie es mitbekommen. Später ist sie dann zurück ins Haus und hat sich wieder ins Bett gelegt.« Sie nahm ihm das Bild ab. »Das ist der Grund, warum sie nicht mehr spricht. Sie hat alles gesehen. Nicht, weil sie den Tod ihres Vaters nicht verwunden hat, wie wir dachten.«

»Wann hat sie das gemalt?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wie?«

»Das ist nur eine Kopie, eine Farbkopie.« Sie griff nach seiner Hand. »Die hat heute Nachmittag ein Mann gebracht.«

»Ein Mann? Was für ein Mann? Ein Bulle?«

Sie schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Er hat mir keinen Ausweis gezeigt.«

Er riss sich los und sprang auf. »Wer war der Mann, verdammt noch mal? Er muss sich doch irgendwie vorgestellt haben! Was hat er gesagt? Was wollte er?«

»Ich weiß es nicht«, stammelte sie. »Es war alles so seltsam.«

Sekundenlang starrte er sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Dann stieß er hervor: »Wie sah er aus? Groß? Klein? Verflucht noch mal, er muss doch irgendetwas gesagt haben! Der hat dir doch das Bild nicht gebracht, weil er es irgendwo gefunden hat! – Wo hat er es überhaupt her?«

Sie senkte den Kopf, sagte aber nichts. Er packte sie grob an den Schultern und schüttelte sie. »Rede, verdammt! Begreifst du denn nicht, was auf dem Spiel steht? War der Kerl vielleicht von der Versicherungsgesellschaft?«

»Davon hat er nichts gesagt.«

»Also noch einmal: Wie sah er aus?«

»Er war so groß wie du, vielleicht etwas kleiner.«

»Beschreib sein Gesicht.«

»Das … Ich kann das nicht. Er trug einen Hut, tief im Gesicht, und ich war so erschrocken.«

»Das darf nicht wahr sein.«

»Ich kann doch nichts dafür«, schluchzte sie.

Er schäumte vor Wut, und einen Moment sah es aus, als wollte er auf sie losgehen. Dann aber schloss er die Augen und beherrschte sich.

»Ganz ruhig«, sagte er, nicht zuletzt zu sich selbst. »Ganz ruhig. Der Reihe nach. Okay?«

Sie nickte.

»Wann kam er?«

»Um kurz nach drei.«

»Was für einen Wagen fuhr er?«

»Einen roten.«

»Welche Marke? Welches Modell? Einen Geländewagen? Eine Limousine?«

»Eine Limousine. Ich glaube, es war ein Japaner.«

»Konntest du dir das Kennzeichen merken?«

»Nein. Daran habe ich nicht gedacht. Ich war viel zu –«

»Schon gut. Was hatte er an?«

»Einen Mantel, einen beigen Trenchcoat. Und diesen Hut. Er sah aus wie ein Detektiv aus einem schlechten Film.« Zum ersten Mal sah sie ihm wieder direkt in die Augen. »Dunkle Bartstoppeln hatte er. Und behaarte Hände, ziemlich kräftige. Das fällt mir jetzt wieder ein.«

»Sehr gut. Wie hat er sich vorgestellt?«

»Gar nicht. Er kam einfach in die Diele und hat mir das Bild hingehalten mit den Worten: ›Ihre Tochter hat Talent, finden Sie nicht?‹«

»Weiter.«

»Weil ich nicht gleich reagiert habe, hat er gefragt: ›Was sagen Sie zu dem Bild?‹ – ›Nichts‹, habe ich gesagt, ›was soll ich dazu sagen? Ich weiß ja nicht einmal, ob meine Tochter das gemalt hat.‹ Daraufhin hat er gegrinst und meinte, das sollte ich mal seine Sorge sein lassen. Schließlich wollte er wissen, wer die Personen auf dem Bild sind.«

»Was hast du ihm gesagt?«

»Gar nichts. Ich war wie gelähmt. Dann hat er auf den Toten gezeigt und meinte: ›Wenn das Ihr Mann ist, wer ist dann der Typ am Steuer des Traktors, wo doch angeblich Sie Ihren Mann überfahren haben?‹«

»Was ist weiter passiert?«

»Ich habe ihm gesagt, er soll verschwinden, mich würde das nicht interessieren. Daraufhin wollte er wissen, ob die Versicherung schon gezahlt habe.«

»Verdammt, wie kann er von der Versicherung wissen?«

»Keine Ahnung.«

»Wie hast du reagiert?«

»Ich hab ihm gesagt, er soll das Haus verlassen. Weil er wieder keine Anstalten machte, hab ich ihm mit dem Hund gedroht. Da ist er endlich gegangen. Das Bild hat er dagelassen, dazu aber gesagt, es sei nur eine Kopie. Das Original sei in sicherer Verwahrung. Und er hat gesagt, er würde wiederkommen. Das sei nur der Anfang gewesen. Genau so hat er sich ausgedrückt: ›Das ist nur der Anfang gewesen.‹«

Er schluckte. »Hat er irgendeine Forderung gestellt?«

»Nein.«

»Hast du ihn gefragt, woher er das Bild hat?«

»Nein.«

Er lief einige Schritte auf und ab. Das Licht zeichnete einen gespenstischen Schatten auf die Wand. Plötzlich schnipste er mit den Fingern.

»Das kann er doch nur von dieser verdammten Seelenklempnerin haben. Hat er die irgendwie erwähnt?«

»Nein. Ihr Name fiel nicht. Ich hab dir alles gesagt.«

»Dieses Miststück! Die will an der Lebensversicherung mitverdienen, das ist es. – Aber woher weiß sie von der Versicherung? Hast du mit ihr darüber gesprochen?«

»Ich weiß nicht … Schon möglich, dass ich das erwähnt habe, als sie mich gefragt hat, wie es denn mit mir weitergeht.«

»Verflucht, ich war von Anfang an dagegen, dass die Kleine zu ihr geht!«

»Aber sie hat doch nicht mehr gesprochen!«

»Spricht sie etwa jetzt? Nein! Alles für die Katz, und wir haben außerdem diesen Kerl am Hals.«

»Vielleicht kommt er ja nicht wieder.«

»Das ist doch Blödsinn! Natürlich taucht der wieder auf. Der hat nur mal vorgefühlt.« Abrupt blieb er stehen. »Diese Psychotante hat dir das Bild bisher nicht gezeigt, oder?«

»Wir haben den nächsten Termin am Dienstag. Vielleicht will sie dann mit mir darüber sprechen.«

»Worauf du dich verlassen kannst. Ihren Anteil wird sie fordern. So eine Scheiße! Gerade jetzt, wo die Provinzial endlich zahlen will! Wo endlich jemand ernsthaft Interesse an dem verdammten Hof zeigt! Wenn wir Pech haben, war alles umsonst.« Matt sank er auf das Lager an ihrer Seite und bedeckte die Augen mit dem Unterarm. »Oh, dieses Kind! Warum ist sie nicht im Bett geblieben?«

»Sei still! Sie kann doch nichts dafür.«

»Ich weiß, ich weiß. Es ist nur … Seit einem halben Jahr sitze ich in diesem Loch und werde langsam verrückt. Und jetzt auch noch das.«

»Du darfst nicht verrückt werden.« Sie beugte sich zu ihm hinab und küsste ihn. »Ich brauche dich doch. Hörst du?«

Mit einem Ruck richtete er sich auf. »Bei Gott, das werde ich auch nicht. Es steht zu viel auf dem Spiel. Australien, alle unsere Pläne.« Er beugte sich zum Tisch und griff nach dem Gewehr.

»Was hast du vor?«, fragte sie.

»Das wirst du schon sehen«, sagte er und lud die Flinte durch. »Das wirst du schon sehen.«

Der Mann, der an diesem Morgen die kurvenreiche Straße vom Ahrtal hinauf nach Dorsel fuhr, war fünfundvierzig Jahre alt, maß einen Meter fünfundachtzig und wog laut Digitalwaage 87,3 Kilo. Seine eisengrauen Haare waren auf halbe Streichholzlänge gekürzt, das Pflaster am Kinn war die Folge einer unkonzentrierten Nassrasur.

Bekleidet war er mit einer sandfarbenen Cordhose, einem marinefarbenen Polohemd, einem braunen Sakko und Hush Puppies. Der Name des Mannes war Roger Lemberg, wobei der Vorname wegen der wallonischen Abstammung seiner Mutter französisch ausgesprochen wurde. Es war kurz vor neun, und Lemberg war auf dem Weg, seinen Job als Erster Kriminalhauptkommissar der SOKO-Eifel anzutreten.

Die Dorfstraße erwies sich als üble Schlaglochpiste, wurde aber gerade saniert. Vielleicht eine Folge des Einfalls der Behörde in das zweihundert Seelen zählende Dorf.

Das Haus lag am Ende des Ortes, linker Hand, ein gewöhnliches zweieinhalbgeschossiges Wohnhaus. Auffällig waren lediglich der Antennenwald und die überdimensionale Satellitenschüssel auf dem Dach. Gleich neben dem Haus befand sich der Fußballplatz des Dorfes, ein gepflegtes Stück Rasen mit zwei blendend weiß gestrichenen Toren. Lemberg parkte seinen Wagen und stieg aus. Die Sonne wärmte bereits, und der Himmel war nahezu wolkenlos. Die Fernsicht war bestechend. Hinter Lemberg knirschte der Kies.

»Hauptkommissar Lemberg?«

Der Mann war untersetzt, kahlköpfig und hatte eine gespaltene Kartoffelnase. Genau so hatte er auf dem Foto der Personalakte ausgesehen, die Lemberg per Express-Boten erhalten hatte. Als Lemberg nickte, wurde das Lächeln des anderen breiter, und er streckte die Hand aus.

»Henning Klaes. Kriminaloberrat Canisius hat mich beauftragt, Sie zu empfangen. Er ist leider verhindert. Ein Termin in der Zentralstelle für Polizeitechnik. Wegen des Hubschraubers.«

Klaes’ Händedruck war kräftig, aber nicht übertrieben. Geruch und Zahnfärbung entlarvten ihn als Pfeifenraucher. Laut der Unterlagen war Klaes Mitte fünfzig, verwitwet und galt als unschlagbarer Schreibtischermittler.

»Angenehm.« Lemberg ließ den Blick erneut schweifen. »Andere Leute müssen für so eine Aussicht in Urlaub fahren.«

»Wir haben keinen Grund zur Klage. Wenn Sie möchten, mache ich Sie mit den übrigen Mitarbeitern bekannt.«

»Gerne.«

Nach der Begrüßung der Damen der Telefonzentrale und des Schreibbüros ging es in das Besprechungszimmer. Lediglich eine Frau und ein Mann warteten dort. Während Klaes die Honneurs machte, memorierte Lemberg die Daten.

Marie-Louise Berrenrath-Noll, achtunddreißig, geschieden, zwei Kinder. Sie war mittelgroß, stark in den Hüften, ansonsten aber schlank. Ihr braunes Haar trug sie praktisch kurz. Die Lippen waren eine Spur zu schmal, dafür waren ihre Augen abgründig dunkel, schwer zu sagen, ob braun oder schwarz. Zusammen mit Canisius hatte sie die SOKO-Eifel aufgebaut und war bis gestern kommissarisch stellvertretende Leiterin der Behörde gewesen. Die Beurteilung bescheinigte ihr höchste Kompetenz auf allen Fachgebieten.

Der Mann an ihrer Seite war Tobias Schommer, einunddreißig, ledig, ein Kind. Er war nur unwesentlich kleiner als Lemberg, schlaksig, hatte blonde, seitengescheitelte schulterlange Haare und einen Dreitagebart. Mit Kaugummikauen hielt er seine Wangenmuskulatur in Form. In Frankfurt hatte er als Ass im Observieren gegolten.

»Willkommen bei der SOKO«, sagte Berrenrath-Noll. Ihre Hand war wärmer als ihre Stimme. »Für den Augenblick müssen Sie mit uns beiden vorlieb nehmen. Die Kolleginnen Wagner und van de Sande sind dienstlich unterwegs. Und der Kollege Schupp hält sich zu einer Rehamaßnahme im Schwarzwald auf.«

Auch die Daten der Abwesenden hatte Lemberg parat. Helena Wagner, neunundzwanzig, ledig, kinderlos. Sie war vom K1 der Kripo Koblenz zur SOKO gestoßen. Katja van de Sande, achtundzwanzig, verheiratet, kinderlos. Canisius hatte sie in Kleve abgeworben. Dieter Schupp, sechsunddreißig, verheiratet, drei Kinder. Er stammte aus Manderscheid und hatte sich vor zwei Monaten bei einem Autounfall komplizierte Unterschenkelfrakturen zugezogen. Wann er wieder dienstfähig werden würde, war noch nicht absehbar.

Nachdem Lemberg auch Schommers Hand geschüttelt hatte, sagte er in die Runde: »Nett, dass Sie sich für die Begrüßung Zeit genommen haben. Gibt es einen Raum, in dem ich mich einrichten kann?«

»Selbstverständlich«, sagte Berrenrath-Noll. »Ich bringe Sie nach oben.«

Das Zimmer lag nach Nordosten und maß um die zwanzig Quadratmeter. Die Einrichtung war neu und zweckmäßig, der Teppichboden von der Sorte, die einem das Betreten an der Türklinke heimzahlt. Lemberg schnupperte. Dem ledernen Lehnstuhl haftete ein Hauch von Parfüm an.

»Ich habe ausgiebig gelüftet«, sagte Berrenrath-Noll. Bereits im Besprechungszimmer war ihre Stimme Lemberg bekannt vorgekommen. Er wusste nur nicht, an wen sie ihn erinnerte. »Aber der Duft ist hartnäckig. Ich hoffe, es stört Sie nicht. In ein paar Tagen hat er sich verflüchtigt.«

»War das Ihr Büro?«

Sie nickte.

»Wegen mir hätten Sie es nicht zu räumen brauchen.«

»Der Kriminaloberrat wollte es so. Er sitzt übrigens gleich gegenüber. Wenn er da ist.«

»Und Sie?«

»Nebenan. Im Kinderzimmer.« Da Lemberg verdattert guckte, setzte sie hinzu: »Dies hier war das Schlafzimmer der Vorbesitzer.«

Lemberg schob die Gardinen des einzigen Fensters zur Seite. Die Sicht ging weit übers Land. Auf dem gegenüberliegenden Hof jagte ein Kleinkind Hühner.

»Warum ausgerechnet Dorsel?«, fragte er, während er den Lehnstuhl ausprobierte. »War das Ihre Idee?«

»Bewahre!«

»Canisius’?«

»Nein. Der Standort wurde von der Kommission festgelegt, die die beiden Innenministerien zur Gründung der SOKO eingesetzt hatten.«

»Sprechen Sie von Düsseldorf und Mainz? Ich dachte, die SOKO-Eifel sei auf Initiative des Bundes gegründet worden.«

»Mir scheint, man hat Sie nicht über alle Einzelheiten informiert.«

»Der Job wurde mir vergangenen Mittwoch angeboten. Freitag habe ich zugesagt, heute bin ich hier. Da blieb kaum Zeit, mich vorzubereiten. Nehmen Sie doch Platz.«

Etwas geziert ließ Berrenrath-Noll sich auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch nieder. Der blaue Hosenanzug und die gelbe Bluse standen ihr gut, auch wenn sie damit aussah wie eine Lufthansa-Stewardess mit liberaldemokratischem Parteibuch.

»Tatsächlich ist die Einrichtung einer länderübergreifenden Kriminaldirektion ein Lieblingskind des Bundesinnenministers, wobei er anscheinend von Anfang an die Eifel als Pilotregion im Auge gehabt hat«, erläuterte Berrenrath-Noll mit leicht vorgerecktem Kinn. »Die Innenminister von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz haben sich natürlich mit Händen und Füßen gesträubt, mussten dem Druck aus Berlin aber letztendlich nachgeben. Für die Wahl des Standortes gab es zwei Bedingungen: Erstens sollte er möglichst zentral in der Eifel liegen, zweitens in unmittelbarer Nähe der gemeinsamen Landesgrenze. So ist man auf Dorsel gekommen.«

»Wo ist die Grenze?«

»Fünfhundert Meter hinter dem Haus beginnt Nordrhein-Westfalen. Außerdem muss es hier in der Nähe eine Erhebung geben, die Mordhügel genannt wird. Ich war allerdings noch nicht da. Ein Gerücht besagt, dies hätte die Entscheidung nicht unerheblich beeinflusst.«

»Da sage noch einer, in den Ministerien habe man keinen Sinn für Humor.« Lemberg öffnete die Schubladen. Bis auf ein Paar Handschellen waren sie leer. »Wissen Sie, wo mein Ausweis und meine Dienstwaffe sind?«

»Beides will Ihnen der Kriminaloberrat heute Nachmittag persönlich überreichen.«

»Wie er meint. Tja, zentral muss aber nicht verkehrsgünstig heißen.«

»Wenn die Lücke der A1 zwischen Blankenheim und Daun geschlossen wird, führt die Autobahn unmittelbar an Dorsel vorbei.«

»Und unser Amt erhält wegen seiner Bedeutung eine eigene Anschlussstelle. Wie haben denn die Kollegen in Trier, Mayen und Wittlich reagiert?«

»Die SOKO ist so beliebt wie jedes neu gegründete Konkurrenzunternehmen.«

Lemberg seufzte. »Wo haben Sie früher gearbeitet, Frau Berrenrath-Noll? Apropos – könnten wir uns darauf verständigen, dass ich Sie nur mit einem Ihrer Namen anspreche? Mit Doppelnamen habe ich so meine Schwierigkeiten.«

»Welcher Art?«

»Manchmal geht mir dabei die Puste aus.«

»Wenn Ihre Luft nicht mal dafür reicht …« Sie bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick. »Aber meinetwegen. Sagen Sie Noll zu mir, das ist mein Mädchenname. – Um Ihre ursprüngliche Frage zu beantworten: in Düsseldorf, Fachbereich Organisierte Kriminalität. Eigentlich wollte ich von dort auch nicht weg, aber dem Angebot, das Kriminaloberrat Canisius mir gemacht hat, konnte ich nicht widerstehen. Die Chance, beim Aufbau einer Dienststelle mitzuwirken, hat man wahrscheinlich nur einmal im Leben.«

Lemberg merkte, dass Noll noch etwas loswerden wollte, und zog ermunternd die Brauen hoch.

»Wie ich hörte, waren Sie beim BKA«, sagte sie nach kurzem Zögern. »Im Bereich Kriminalprävention.«

»Zuletzt, ja.«

»Kennen Sie den Kriminaloberrat schon länger?«

»Canisius war beim Innenministerium in Mainz.«

»Früher soll er aber auch beim BKA gewesen sein. Außerdem ist es von Mainz nach Wiesbaden ein Katzensprung.«

»Aber dazwischen fließt ein tiefer Fluss. Trotzdem, Sie vermuten richtig. Canisius war einmal mein Vorgesetzter. Allerdings ist das eine kleine Ewigkeit her. Warum fragen Sie?«

»Dann wird mir einiges klar.« Noll atmete vernehmlich durch. »Kollege Lemberg, ich möchte die Gelegenheit nutzen, Sie dennoch meiner uneingeschränkten Loyalität zu versichern.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»Am besten so, wie ich es gesagt habe.«

Lemberg blickte ihr in die Augen. Aber die waren zu dunkel, um etwas zu verraten. Also zählte er zwei und zwei zusammen.

»Es ist nicht nur Ihr Stuhl, auf dem ich sitze, habe ich Recht? Ich habe Ihnen auch den Job weggenommen.«

»Ich hatte mich ebenfalls um den Posten beworben, ja.«

»Sie waren vom ersten Tag an dabei.«

»Länger. Im vergangenen Jahr habe ich zusammen mit dem Kriminaloberrat die Dienststelle geplant und eingerichtet. Ihre Arbeit aufgenommen hat die SOKO zum ersten Ersten.«

»Hatte Canisius Ihnen die Stelle zugesagt?«

»Ich meinte zumindest, eine solche Absicht zwischen seinen Worten herausgehört zu haben.«

»Das tut mir leid«, sagte Lemberg. »Davon habe ich nichts gewusst.«

Noll lächelte spöttisch. »Hätten Sie davon gewusst, hätten Sie Canisius natürlich abgesagt.«

»Nein. Die Alternative für mich hieß Personenschutz in Berlin. Mein Interesse, Ministergattinnen Einkaufstüten hinterher zu tragen, ist jedoch begrenzt. Zudem wohnt meine Familie noch in Mainz. Von Dorsel kann ich zum Wochenende nach Hause fahren.«

»Verständlich.«

Das Telefon unterbrach sie. Lemberg hob ab und meldete sich in eine tote Leitung hinein.

»Sie müssen den blinkenden Knopf drücken«, sagte Noll.

Das tat Lemberg, und diesmal klappte es. Er sagte zweimal ja und einmal danke, dann legte er auf.

»Arbeit«, sagte er und erhob sich. »Eine weibliche Leiche in Buchet. Kommen Sie.«

Im Treppenhaus sagte er: »Danke für Ihre Offenheit.«

»Auch ich weiß gern, woran ich bin«, sagte Noll.

Neben dem Haus, an der Grundlinie des Fußballplatzes, standen aufgereiht drei mitternachtsblaue viertürige VW Golf.

»Geleast«, erklärte Noll und hielt ihm den Autoschlüssel hin. »Alles Diesel mit Automatik. Zwei Wagen haben Navi. Wollen Sie?«

»Ihre Entscheidung.«

Noll fuhr.

Sie stellten den Golf im Tal beim Gemeindehaus ab, von wo aus der Skulpturenweg sich den Hang hinaufzog. Die übrige Fläche nahmen diverse Einsatzfahrzeuge, ein Notarztwagen und ein froschgrüner VW Camper mit Düsseldorfer Kennzeichen ein.

Den Anfang der Ausstellung machte eine doppelt mannshohe, leuchtend rote Frauengestalt mit nur einem Auge, aber drei Brüsten. So fremd, als käme sie geradewegs aus dem Weltall. Weitere Objekte aus Pappmaché, Holz und Metall säumten den Weg. Lembergs Blick fiel auf eine Installation mit blauen Mülltonnen im oberen Teil der Anlage. Einige der Tonnen lagen mit geöffneten Deckeln da wie Gefallene mit aufgerissenen Mündern. Alle Skulpturen standen im Kontrast zu der sie umgebenden Natur und wirkten gleichzeitig, als seien sie in ihr verwurzelt.

»Da sind ja unsere Superbullen.« Der Mann, der ihnen entgegenkam, hatte säbelkrumme Beine. »Krammer, Kripo Prüm.«

»Lemberg, SOKO-Eifel. Das ist die Kollegin –«

»Wir kennen uns bereits«, sagte Noll. »Hallo.«

»Hallo«, sagte Krammer. »Ich dachte, ihr kommt mit eurem Hubschrauber. Wisst ihr, wie lange wir schon hier sind?«

»Flugverbot«, sagte Lemberg. »Die Fallschirme sind noch nicht geliefert. Wo liegt die Tote?«

»Weiter oben, hinter dem Motorroller.«

»Ist das eine permanente Ausstellung?«, fragte Lemberg, während sie weitergingen.

»Nein, nein. Nur im Sommer und auch nur noch diese Woche. Aber schon im dritten Jahr. Wir sind da.«

Auf einem Sockel war eine Vespa aufgebockt, die nicht mehr durch den TÜV kommen würde, besetzt mit einem Fahrer und einer Sozia aus Stahlrohren. Die Köpfe waren vorschriftsmäßig behelmt. Sein Geschlechtsteil war ein Mopedkolben mit Pleuel, ihre Entsprechung ein verrippter Zylinder. In dem Gestrüpp dahinter hatte man die Leiche gefunden.

Das Opfer war hellblond und mit verwaschenen Jeans und einer weißen Bluse bekleidet. Ihre Füße waren nackt. Sie lag inmitten von purpurn blühenden Heckenrosen. Links und rechts stand welker Ginster wie zur Trauerwache angetreten. Ein Mann in einem weißen Overall kniete neben der Toten und beugte und streckte ihre Finger.

»Der Doc versucht die Leichenstarre zu lösen, damit er die Fingerabdrücke nehmen kann«, sagte Krammer.

»Was Sie nicht sagen«, sagte Lemberg. »Wer hat die Tote wann gefunden?«

»Ein Rentner aus Düsseldorf. Um kurz vor neun.«

»Wo ist er jetzt?«

»Da unten, in dem Notarztwagen.«

»Ist er kollabiert?«

»Nein, aber seine Frau. Er hält ihre Hand.«

»Ein Düsseldorfer, das ist doch ein Heimspiel für Sie«, sagte Lemberg zu Noll.

»Ich möchte erst noch einen Blick auf die Tote werfen, wenn es recht ist.«

»Treten Sie näher, sie beißt nicht mehr«, rief der Doc und erhob sich.

Lemberg stellte Noll und sich vor. Der Doc hieß Steckel und kam aus Trier. Büschelweise sprossen ihm Haare aus den Ohren.

»Wissen Sie schon, woran sie gestorben ist?«, fragte Lemberg.

»Das Genick ist gebrochen«, sagte Steckel und warf seinen Kopf nach hinten. Auch seine Nasenlöcher waren stark bewachsen. »Ob das alles ist, wird sich zeigen. Außerdem wurde sie geschlagen. Die Unterlippe ist aufgeplatzt und ein Schneidezahn abgebrochen.«

»Anzeichen einer Vergewaltigung?«

»Nein.«

»Warum sind dann Bluse und Hose aufgeknöpft?«, fragte Noll.

»Vielleicht hat der Täter es versucht und ist gestört worden.«

»Ist dies auch der Tatort?«

»Ich schätze, sie ist hier nur entsorgt worden.«

»Und der Todeszeitpunkt?«, fragte Lemberg.

»Flächenhafte Leichenflecken, die noch wegdrückbar sind, sich aber nicht mehr verlagern, Rigor Mortis bereits voll ausgeprägt, die Nacht war nicht sehr kalt, mittelmäßiger Insektenbefall – ich sag mal zehn bis vierzehn Stunden. Reicht Ihnen das für den Einstieg?«

»Perfekt.« Lemberg notierte die Angaben auf einem karierten Spiralblock DIN-A6 und wandte sich an Krammer.

»Wissen Sie, wer sie ist?«

»Nichts weiß ich. Es gibt keine Handtasche, keine Papiere, gar nichts.«

»Haben Sie im Ort gefragt, ob jemand sie kennt?«

»Nein.«

»Ich denke, Sie sind schon wer weiß wie lange hier?«

»Ich musste den Tatort sichern.«

»Haben Sie wenigstens eine Polaroid?«

»Haben wir selbst im Auto«, sagte Noll. »Ich hol sie.«

»Dann kann ich ja gehen«, sagte Krammer.

Da ihm niemand widersprach, sichelte er davon.

»In Prüm ist Basilikafest«, sagte Steckel. »Den zieht es an die Bierbude.«

»Wie alt ist sie?«, fragte Lemberg und nickte zu der Toten hin.

»Anfang, Mitte dreißig. Klasse Figur. Ich freu mich schon auf die Obduktion.«

Lemberg musterte ihn schräg.

»Nun gucken Sie nicht so«, sagte Steckel. »Ich muss genug alte Schachteln aufschneiden, da ist man für ‘ne attraktive Abwechslung dankbar.«

Noll kam mit der Polaroid. »Was soll ich aufnehmen? Nur das Gesicht?«

»Genau«, sagte Lemberg. »Zweimal. Aber klauben Sie ihr vorher den Käfer von der Stirn.«

»Das mach ich schon«, sagte Steckel. »Das ist übrigens eine Faule Grete, eine Stinkwanze. Palomena Prasina. Wenn die reden könnte, hätten Sie vielleicht einen Zeugen.«

»Was ist mit diesen Kameras?«, fragte Lemberg. Zwei standen auf Pfosten montiert am Weg, eine dritte am Hang zu dem Gebäude oberhalb. »Die müssen doch was aufgezeichnet haben.«

»Mit denen werden die Skulpturen überwacht. Darum hat Krammer sich gekümmert.«

»Mit welchem Ergebnis?«

»Die Kassetten stecken in der Plastiktüte auf dem Sockel der Vespa. Aber Sie werden nicht viel Freude daran haben. Letzte Nacht gab es hier einen Stromausfall.«

»Wie das?«

»Ein Marder hat in einem Trafokasten ein Kabel durchgebissen.«

»Und?«

»Der Marder ist tot.«

»Ich dachte eher an die Dauer des Stromausfalls.«

»Nach Aussage des Bürgermeisters sind die Lichter um zehn nach elf ausgegangen. Repariert worden ist die Leitung erst heute Morgen.«

»Na, wunderbar. Wo steckt der Bürgermeister?«

Steckel zeigte hangabwärts in Richtung des Gemeindehauses. »Da, wo es blitzt. Er stellt sich gerade der Weltpresse. Seit vor zwei Jahren irgendwelche Idioten einen Kanaldeckel geklaut haben, ist hier nämlich nichts mehr passiert.«

»Sie kennen sich ja gut aus.«

»Wir haben Verwandtschaft in Halenfeld.«

Noll reichte Lemberg eines der Polaroids. Die Tote sah zwar tot aus, war aber gut zu erkennen.

»Nehmen Sie sich mal des Ortsvorstehers an, ich kümmere mich um den Düsseldorfer«, sagte Lemberg.

»Ich dachte, ich soll –«

»Ich habe schon lange keinen Großstädter mehr vernommen.«

»Dann können wir zusammenpacken?«, fragte Steckel.

»Können Sie«, sagte Lemberg und gab ihm die Hand. »Ihren Bericht schicken Sie bitte ohne Umweg nach Dorsel.«

»Ohne Umweg. Gehorsamst.«

Als sie den Weg hangabwärts schritten, fragte Lemberg: »Was hat es eigentlich mit diesem Hubschrauber auf sich? Klaes sagte, Canisius sei deswegen unterwegs, und jetzt fängt dieser Krammer auch davon an.«

»Uns wurde ein Helikopter versprochen, von den Innenministern persönlich«, sagte Noll. »Damit wir nicht immer eine Stunde nach den lokalen Kräften am Einsatzort sind.«

»Und?«

»Vielleicht bringt der Kriminaloberrat heute einen mit. Obwohl ich diesbezüglich wenig Hoffnung habe.«

»Wenn die Minister es doch versprochen haben.«

»Ich fürchte, im Ernstfall finden sich dafür keine Zeugen.«

Der Notarzt sah aus wie eine Sportskanone und war verdammt jung für die Verantwortung. Der Sanitäter hinter dem Lenkrad hingegen stand kurz vor der Rente und hatte trübe Augen, die schon alles gesehen hatten.

»Was ist mit der Frau?«, fragte Lemberg.

»Nur der Kreislauf«, sagte der Arzt. »In zehn Minuten scheuche ich sie von der Trage.«

»Schicken Sie mir erst mal den Mann raus.«

Der Rentner war schlank, tief in den Sechzigern, hatte aber volles Haar. Bekleidet war er mit Kniebundhosen, Wanderschuhen und einem karierten Hemd. Unaufgefordert hielt er Lemberg seinen Personalausweis hin.

»Wertebach, Detlev Clemens«, las Lemberg laut.

»Oberstudienrat a.D.«, ergänzte Wertebach. »Griechisch und Latein.«

»Stehen Sie bequem«, sagte Lemberg. »Sie haben die Tote gefunden, Herr Wertebach?«

»Ja.«

»Wie kam es dazu?«

»Nun ja, ich bin den Weg entlanggegangen, und da habe ich sie entdeckt. Ein entsetzlicher Anblick. Ich habe gleich erkannt, dass da nichts mehr zu machen ist. Ich bin dann zurück zum Wagen geeilt und habe über das Handy die Polizei verständigt.«

»Sie interessieren sich für Kunst?«

»Nein. Ja, doch. Es kommt darauf an.«

Lembergs Stirn warf Falten. »Aber nicht für Skulpturen?«

»Eher weniger.« Wertebach druckste herum. »Seit meiner Pensionierung ist die Ornithologie meine Passion.«

»Dann hat sie also ein Vogel auf den Skulpturenweg gelockt.«

»Auch nicht. Um ehrlich zu sein …«

»Ja?«

»Ich musste mich erleichtern.«

»Gegen eine der Skulpturen?«

»Natürlich nicht! Ich habe ein geeignetes Gebüsch gesucht.«

»Davon gibt es hier reichlich. Da hätten Sie gar nicht so weit laufen müssen.«

»Das schon, aber dann habe ich die Kameras entdeckt. Ich habe versucht, eine Stelle zu finden, die sozusagen im toten Winkel liegt. Meine Güte, hört sich das angesichts der Umstände jetzt makaber an. Ich meine natürlich –«

»Ich habe Sie schon verstanden. Um welche Zeit war das?«

Wertebach machte seine Angabe, und Lemberg notierte.

»Haben Sie die Tote angefasst?«, fragte Lemberg.

»Warum sollte ich?«

»Routinefrage. Also?«

»Ich bin nicht einmal an sie herangetreten, sondern auf dem Weg geblieben. Lediglich Finchen –«

»Finchen?«

»Josefine, meine Frau. Während ich telefoniert habe, ist sie zu der Stelle gelaufen, obwohl ich ihr davon abgeraten hatte. Dort schwanden ihr dann die Sinne. Sie ist ins Gebüsch neben der Motorroller-Skulptur gesunken. Deswegen hat der Mann von der Spurensicherung auch Proben ihrer Kleidung genommen.«

Der Notarztwagen begann zu schaukeln, und die Hecktüren wurden aufgestoßen. Der Arzt half Josefine Wertebach beim Hinausklettern. Sie war hoch aufgeschossen und knochig, trug gesundes Schuhwerk und ähnelte einer Lesbe mit calvinistischem Hintergrund, die Lemberg vor Jahren des Giftmordes an ihrem Gatten überführt hatte.

»Ich muss zu meiner Frau«, sagte Wertebach.

»Natürlich«, sagte Lemberg. »Ich notiere mir nur noch Ihre Anschrift.«

Lemberg gab dem Oberstudienrat a.D. den Ausweis zurück und verabschiedete sich. Wertebach führte Finchen zum Camper, als sei sie aus Porzellan. Marie-Louise Noll wartete bereits am Golf.

»Was sagt der Bürgermeister?«, fragte Lemberg.

»Er hat eine Fahne, sieht verkatert aus und redet dummes Zeug. So schrecklich dieses Ereignis auch sei, man müsse das Beste daraus machen, zum Wohl der Gemeinde und so weiter. Ich glaube, er hat vor, mit dem Mord Werbung zu machen.«

»›Wenn Sie schon sterben müssen, dann tun Sie’s in Buchet. Hier stirbt es sich besonders idyllisch.‹ Kennt er die Tote?«

»Er meinte, die Frau käme ihm irgendwie bekannt vor, wollte das aber nicht beschwören. Er wohnt übrigens in der ehemaligen Schule oberhalb des Skulpturenwegs und war die ganze Nacht zu Hause. Gesehen und gehört hat er aber nichts.«

»Kein Wunder, wenn er in die Flasche geguckt hat. Also klappern wir die Häuser ab.«

Sie fuhren zurück in den Ort und parkten an der Kirche. Sie war modern und hatte ein Dach in Form eines Buchenblattes. Riesige Fenster bescherten einen Panoramablick. War die Predigt lausig, konnte man wenigstens die Aussicht genießen. Aus dem benachbarten Gebäude trat eine ältere Frau in Kittel und Kopftuch. Lemberg sprach sie an und zeigte ihr das Foto.

»Ach, du liebe Güte«, sagte sie und schlug die Hand vor den Mund.

»Sie kennen die Frau?«

»Gehen Sie mal in die Trift zur Thea Schettgen.« Die Frau beschrieb Lemberg den Weg. »Die kann Ihnen Genaueres sagen.«

»Sie nicht?«

»Gehen Sie zur Thea.« Die Frau floh förmlich.

Die Beschreibung führte sie zu einem Einfamilienhaus mit Satteldach. Loggia und Giebel waren holzverkleidet, was dem Haus einen Hauch von Schwarzwald verlieh. Oberbetten hingen über dem Geländer im Obergeschoss. Aus dem gekippten Küchenfenster im Erdgeschoss drang Radiogedudel. Lemberg klingelte.

Eine Frau in einem Trainingsanzug mit Bayern-München-Emblem öffnete, und Lemberg traf beinahe der Schlag. Die Frau war molliger und älter als die Tote, sah ihr aber ansonsten zum Verwechseln ähnlich.

»Lemberg, SOKO-Eifel. Das ist meine Kollegin Noll. Sind Sie Thea Schettgen?«

»Ja. Warum?«

»Kennen Sie die Frau auf diesem Foto?«

Eine Antwort blieb Thea Schettgen schuldig, da sie ansatzlos in Ohnmacht fiel. Lemberg konnte sie gerade noch unter den Achseln packen, bevor sie auf die Fliesen schlug.

Die Wand zur Rechten wurde komplett von einem schwarzen Anbauschrank mit Rauchglastüren und verchromten Scharnieren eingenommen, der den Charme einer aufziehenden Gewitterfront hatte. Die Fächer beherbergten CDs – ausnahmslos Country und Western –, Fotoalben, Videokassetten und stapelweise fit for fun und Auto Bild. Die Abteilung Geistiges bestand aus Eierlikör, Baileys und diversen Whiskeys, wobei die Füllstände höchst unterschiedlich waren. Klarer Favorit des Hauses war Jim Beam. Bücher entdeckte Lemberg keine.

Neben der Tür war die Unterhaltungselektronik aufgebaut, eine Bonsai-Stereoanlage und ein Flachbildschirm-Fernseher vom Format einer Dorfkinoleinwand. Der einzige Wandschmuck hing darüber: ein tischtuchgroßes Foto der New Yorker Skyline bei Nacht, aufgenommen vor dem 11. September 2001. Den Rest des Raums dominierte ein L-förmiges senffarbenes Ledersofa, auf dessen einer Achse die Hausherrin lag, einen feuchten Waschlappen auf der Stirn. Auf der anderen Achse saß Noll mit einem Diktiergerät in der Hand und spulte zurück.

Lemberg setzte Thea Schettgen kurz über die Umstände des Todes ihrer Schwester in Kenntnis. Dann sagte er: »Sie haben uns noch nicht den Namen Ihrer Schwester genannt.«

»Bea«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Eigentlich Beate. Beate Zenses.«

»Wie alt war sie?«

»Fünf Jahre jünger als ich. Dreiunddreißig.«

»War sie verheiratet?«

»Nein, Zenses ist unser Mädchenname.«

»Wo wohnte sie?«

»In Winterspelt. Dort hat sie auch ihre Praxis.«

»War Ihre Schwester Ärztin?«

Thea Schettgen schüttelte den Kopf. »Psychologin.«

Lemberg schrieb mit, obwohl das Diktiergerät lief.

»Wann haben Sie Ihre Schwester zum letzten Mal gesehen, Frau Schettgen?«

»Am Samstag. Wir haben hier Kaffee getrunken und uns dann die Skulpturenausstellung angesehen. Gemeinsam mit meinem Mann.«

»Haben Sie danach noch einmal mit ihr gesprochen?«

»Nein.«

»Wissen Sie, ob Ihre Schwester Feinde hatte?«

»Nur abgelegte Liebhaber.«

»Kannten Sie die Männer?«

»Nein.« Thea Schettgen nahm den Lappen von der Stirn, setzte sich auf und fädelte ihre Füße in die Filzpantoffeln ein. An beiden Füßen hatte sie Hammerzehen. »Manchmal fiel ein Name. Wenn ich von jedem Dritten weiß, ist es viel.«

»Ihre Schwester hatte also häufig wechselnde Partnerschaften?«

»Sie drücken das sehr vornehm aus. Vielleicht sollten Sie sich mal unter ihren Patienten umsehen. Da war so mancher Psychopath dabei.«

»Davon hat sie Ihnen erzählt?«

»Ohne Namen zu nennen natürlich.«

»Haben Sie sich regelmäßig getroffen?«

»Nicht so oft. Fünf-, sechsmal im Jahr. Ich arbeite fast immer nachts. Da hat man einen anderen Lebensrhythmus, wissen Sie. Aber wir haben häufig telefoniert.«

»Was machen Sie beruflich?«

»Ich bin examinierte Krankenschwester.«

Das Garagentor fiel mit einem blechernen Schlag zu. Die Haustür wurde aufgeschlossen, und Schritte durchmaßen den Flur.

»Was ist denn hier los?«

Der Mann im Türrahmen war Anfang vierzig, mittelgroß, hatte keinen Hals, dafür aber satte Schultern. Die hochgerollten Ärmel seines T-Shirts betonten die muskelbepackten Oberarme. Die Haarfarbe und die am Zeigefinger über der Schulter hängende Lederjacke waren künstlich. Auf prollige Art sah er gut aus.

Marie-Louise Noll zückte ihren Ausweis und stellte Lemberg und sich vor.

»Und Sie sind?«, fragte sie.

»Harry Schettgen«, sagte der Mann. »Das ist mein Haus. Ist was passiert?«

»Bea ist tot«, sagte Thea Schettgen tonlos, und ihre Augen liefen erneut voll. »Jemand hat ihr letzte Nacht das Genick gebrochen.«

Hilfe suchend streckte sie die Arme aus, aber ihr Mann übersah sie, ließ die Jacke fallen und griff gezielt ins Barfach.

»Auf den Schreck brauche ich erst mal einen.«

»Du brauchst immer einen«, sagte Thea.

Schettgen kippte einen Doppelten und schenkte sich umgehend nach. »Haben Sie schon eine Spur?«, fragte er. »Die ersten zwölf Stunden sind die wichtigsten.«

»Sie scheinen regelmäßig ›Tatort‹ zu gucken«, sagte Lemberg.

»Von wegen. Ich war früher selber bei eurem Verein.«

»Und was machen Sie heute?«

»Sicherheitsbranche. Geld- und Werttransporte, Objekt- und Personenschutz.«

»Für welche Firma?«

»Protectas, Niederlassung Trier. Da verdiene ich mit Überstunden glatt das Doppelte wie früher. Kann ich nur empfehlen. Ich komme gerade von der Schicht.«

Lemberg notierte die Uhrzeit. Es war bereits halb eins. Wie auf Kommando knurrte sein Magen.

»Kannten Sie einen der Bekannten Ihrer Schwägerin?«

Schettgen schüttelte den Kopf. Plötzlich stellte er sein Glas mit einem lauten Knall ab.

»Natürlich!«, bellte er. »Dieser verdammte Iraker! Diese El-Kaida-Type. Den solltet ihr euch mal vorknöpfen. Der hat sie doch bedroht.«

»Wie heißt der Mann?«

»Mohammed Al-Asari«, sagte Thea Schettgen. »An den habe ich eben überhaupt nicht gedacht. Aber es stimmt, was Harry sagt. Al-Asari konnte die Trennung von Bea nicht verwinden und hat mehrfach gedroht, ihr etwas anzutun.«

»Abstechen wollte er sie«, sagte Harry.

»Woher wissen Sie das?«, fragte Lemberg.

»Von Bea«, sagte Thea. »Sie war normalerweise nicht furchtsam, aber vor Al-Asari hatte sie eine Heidenangst.«

»Einmal war er sogar hier und hat große Töne gespuckt«, sagte Schettgen. »Wollte, dass wir zwischen ihm und Bea vermitteln, der Spinner. Den habe ich aber eins, zwei, drei an die Luft gesetzt, kann ich euch sagen.« Jim Beams Neige musste daran glauben. »Verdammter Kaffer!«

»Die Kaffern sind ein afrikanischer Volksstamm«, sagte Noll. »Kein vorderasiatischer.«

»Hä?«

»Afrika«, sagte Lemberg. »Davon haben Sie doch sicher schon gehört. Wann hat sich dieser Vorfall ereignet?«

»Ende Juli. Wir waren gerade von Mallorca zurück, oder?«

Thea Schettgen nickte.

»Wie lange dauerte die Verbindung zwischen Ihrer Schwester und Al-Asari, Frau Schettgen?«, fragte Lemberg.

»Warten Sie mal …« Ihre Stirn legte sich in Falten. »Kennen gelernt hat sie ihn so um Pfingsten. Ein entfernter Verwandter von Al-Asari war bei Bea in Therapie, und da hat er den Dolmetscher gemacht. Aber wann war Schluss? So vor sieben Wochen. Das war für Beas Verhältnisse rekordverdächtig.«

»Haben Al-Asari und Ihre Schwägerin während der Zeit zusammen gewohnt?«

»Bea hat nie einen bei sich wohnen lassen. Die meisten Kerle durften nicht mal zum Frühstück bleiben.«

»Woher willst du das wissen?«, fragte Harry.

»Das war eine ihrer eisernen Regeln. Dummerweise habe ich so etwas nie beherzigt.«

»Wenn er nicht mit Ihrer Schwester zusammengelebt hat, wissen Sie, wo er dann gewohnt hat?«

»In Koblenz. Ob er da noch immer ist – keine Ahnung.« Unvermittelt begann Thea wieder zu heulen. Nachdem sie sich geschnäuzt hatte, fragte sie in den Raum: »Wer sagt es bloß der Mutter? Sie weiß doch noch gar nichts davon.«

»Wollen Sie es ihr nicht selbst sagen?«, fragte Noll.

»Sie lässt mich seit fünf Jahren nicht mehr ins Haus, wegen Harry. Er war schon mal verheiratet.«

»Zweimal«, sagte Schettgen und stieß auf. Ein Wölkchen Kantinenkohl waberte durch den Raum.

»Wo wohnt Ihre Mutter?«

»Auch in Winterspelt. Allerdings in Hemmeres. Beas Haus steht in Heckhalenfeld.«

»Meinen Sie, wir könnten …?«, wandte Marie-Louise Noll sich an Lemberg.

Lemberg zuckte die Schulter. »Wir müssen uns sowieso das Haus ansehen. Ich hätte nur gern, dass einer von Ihnen mitfährt. Vielleicht finden wir ein Foto von Al-Asari.«

»Fährst du mit?«, fragte Thea.

»Du siehst doch, dass ich getrunken habe«, sagte Schettgen.

»Wer könnte das übersehen«, sagte sie, erhob sich schwerfällig und ging zur Tür. Zu Lemberg sagte sie: »Ich bin gleich zurück.«

Lemberg gab Noll ein Zeichen, ihr zu folgen.

»Trauen Sie meiner Frau nicht?«, fragte Schettgen.

Lemberg ging nicht darauf ein. »Von wann bis wann haben Sie heute gearbeitet?«

»Warum fragen Sie danach?«

»Waren Sie nun in unserem Verein oder nicht?«

Harry ließ auch noch den letzten Tropfen aus der Flasche. Ohne Umweg über das Glas. »Von vier bis zwölf.«

»In Trier?«

»Quatsch. Im Augenblick bin ich in Bitburg im Einsatz. Werkschutz. Ich passe auf, dass kein Bier geklaut wird.« Er fand das komisch und lachte.

»Ich brauche eine Telefonnummer, um das zu überprüfen.«

Schettgen leierte eine 06561er-Nummer runter.

»Und davor? Im Bett?«

Harry schüttelte den Kopf. »Ich hab durchgemacht. Mach ich ab und zu. Aber ohne Alkohol. Ich kann ja schlecht besoffen zum Dienst erscheinen. Ich war Schach spielen.«

»Ich hoffe, nicht mit einem Computer.«

»Er ist besser. Klaus Kettel heißt er. Wohnt in Neuenstein.« Straße und Hausnummer gab Harry Schettgen unaufgefordert dazu.

»Was macht er beruflich?«, fragte Lemberg.

»Er ist Frührentner. Kann jeden Morgen ausschlafen. Wenn seine Alte ihn lässt.«

Lemberg steckte den Block weg. Dann fiel ihm noch etwas ein.

»Hatte Ihre Schwägerin ein Auto?«

Harry nickte. »Ein 3er Cabrio. Das neueste Modell. Ein geiler Schlitten.«

»Sie kennen nicht zufällig das Kennzeichen?«

»Nee.«

Im Flur wurden Schuhe angezogen. Noll steckte den Kopf in den Raum. »Wir sind so weit.«

»Letzte Frage«, sagte Lemberg zu Harry. »Warum trägt Ihre Frau einen Bayern-München-Trainingsanzug?«

»Das ist meiner.«

»Das dachte ich mir. Aber wieso die Bayern?«

»Ich kicke ab und zu in einer Thekenmannschaft. Da ist keiner dabei, der die Bayern nicht hasst.«

»Sie provozieren gern.«

»Sagen wir mal: Ich lasse es gern drauf ankommen. Spricht was dagegen?«

»Das weiß man anfangs nie«, sagte Lemberg. »Ich finde allein hinaus.«

Thea Schettgen fuhr mit ihrem gelben Mitsubishi vorneweg und legte ein scharfes Tempo vor. Noll blieb dran, konzentriert, aber nicht verkrampft. Lembergs Magen knurrte schon wieder.

»Im Handschuhfach liegt ein Müsliriegel«, sagte Noll. »Bedienen Sie sich.«

»Das ist doch bestimmt Ihr Mittagessen.«

»Ich bin auf Diät.«

Der Riegel war ein Ökoprodukt. Eine undefinierbare braune Masse zwischen zwei Lagen Esspapier, die jede Süße vermissen ließ. Dazu so zäh, dass das Kauen Schwerstarbeit war.

»Nett wäre gewesen, Sie hätten gesagt: ›Das haben Sie doch nicht nötig, Kollegin‹«, sagte Noll.

»Hundert zu eins, dass Sie in einer Tanzschule waren.«

»Wie soll ich das jetzt verstehen?«

»Ich spiele auf den Anstandsunterricht an.«

»Soll ich in der Umkehr daraus schließen, dass Sie keinen Tanzkurs besucht haben?«

»Harte Männer tanzen nicht.«

»Meine Güte, ein John-Wayne-Spruch.«

»Irrtum. Werner Enke.«

»Muss man den kennen?«

»Sie müssen gar nichts, werte Kollegin. Sie müssen gar nichts.«

Die Ortsdurchfahrt Großlangenfeld verlief schweigend.

»Sie stehen vermutlich mehr auf Fußball«, sagte Noll, als sie das Ortsausgangsschild passierten.

»Weil ich Schettgen auf den Trainingsanzug angesprochen habe?«

Noll nickte.

»Sie haben gute Ohren. Ich habe tatsächlich mal gespielt. Während der Lehre in Österreich. Allerdings nur im Tor.«

Der Wagen machte einen überflüssigen Schlenker. »Haben Sie unseren Beruf in Österreich erlernt?«

»Nicht Bulle, Steinmetz. In Hallein, im Salzburger Land.«

»Kann man das nicht auch in Deutschland?«

»In Mayen gibt es eine Fachschule. Aber die war ausgerechnet in der Zeit geschlossen.«

»Dann hätten Sie die Eifel schon damals kennen gelernt und nicht erst jetzt.«

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«

»Wie sind Sie auf den Beruf gekommen?«

»Mein Vater war Steinmetz.«

»Und wie lange haben Sie in der Sparte gearbeitet?«

»Gar nicht. Ich hab es nur gelernt.«

Kaum in Winterspelt angekommen, ging es links ab nach Heckhalenfeld. Die Straße war eine derjenigen, bei denen man sich wünscht, es möge einem kein Trecker mit angehängtem Mähwerk entgegenkommen. Schmal, schlechter Belag und enge Kurven. Ein Stück weiter wurde es schlagartig düster und kühl, als sie durch ein Waldstück fuhren. Ausgangs des Waldes überquerten sie einen Bachlauf, und kurz darauf waren sie am Ziel.

Beate Zenses’ Haus war ein moderner, verklinkerter Bungalow mit Doppelgarage, der zwischen den anderen Häusern des Ortes auffiel wie ein Lippizaner unter Rückepferden. Thea Schettgen entriegelte das Tor zur Zufahrt und fuhr auf das Grundstück. Noll stellte den Wagen auf der Straße ab. Marmorstufen führten zum Hauseingang. Neben der Tür hing ein Messingschild: »Dipl.-Psych. Beate Zenses – Psychologische Psychotherapeutin – Kinder, Jugendliche und Erwachsene – Termin nach Vereinbarung«. Thea Schettgen kämpfte mit den Schlüsseln. Erst im dritten Anlauf fand sie den passenden.

»Ich bin nicht oft hier, wissen Sie«, sagte sie. Und dann: »Es ist gar nicht abgeschlossen. Merkwürdig.«

Noll verteilte Plastiküberschuhe und Latexfingerlinge. »Lassen Sie uns vorangehen. Und fassen Sie bitte nichts an.«

»Das ist ja wie im OP«, sagte Thea Schettgen.

Lemberg lag ein Spruch über geglückte Operationen und tote Patienten auf der Zunge, den er aber für sich behielt.

Die Diele war schwarz-weiß im Schachbrettmuster gefliest. Möbliert war sie mit einem uralten brikettschwarzen Eichenschrank, der als Garderobe fungierte, und einer ebensolchen Schiffstruhe mit mächtigen Messingbeschlägen. Über der Truhe hing ein Spiegel mit Goldrahmen, für Lembergs Geschmack einen halben Kopf zu tief. Daneben stand ein einsamer Stuhl für den Fall, dass einer mal zu früh kam.

Lemberg schnupperte. »Hat Ihre Schwester geraucht?«

»Nein.«

»Aber irgendwer hat hier geraucht. Qualmen Sie?«

»Ich hab früher mal in einer Lungenklinik gearbeitet. Da kommt man nicht auf die Idee.«

»Was ist mit einer Sprechstundenhilfe oder Zugehfrau?«