Himmel über Köln - Edgar Noske - E-Book

Himmel über Köln E-Book

Edgar Noske

4,4

Beschreibung

Köln, Mai 1968. Leo Saalbach ist völlig abgebrannt. Da kommt ihm das Angebot seines väterlichen Freundes gelegen, die mit ihrem Freund durchgebrannte minderjährige Tochter eines Kölner Bankiers aus Frankreich zurückzuholen. Ein scheinbar einfacher Job und leicht verdientes Geld. Zunächst geht auch alles glatt – bis Leo in einer Villa an der Côte d'Azur neben einer Leiche aus tiefer Bewusstlosigkeit erwacht. Der neue Noske: spannend, humorvoll, souverän.

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Edgar Noske, Jahrgang 1957, lebte als freier Autor im Rheinland und in der Eifel. Im Emons Verlag erschienen zahlreiche Kriminalromane, darunter die Mittelalter-Trilogie »Der Bastard von Berg«, »Der Fall Hildegard von Bingen« und »Lohengrins Grabgesang« sowie die Kölner Leo-Saalbach-Krimis »Nacht über Nippes«, »Kölsches Roulette« und »Himmel über Köln«. In der Reihe mit Kommissar Lemberg erschienen »Die Eifel ist kälter als der Tod«, »Endstation Eifel« und »Im Dunkel der Eifel«.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlung und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig. Bezüge zu und Anspielungen auf Ereignisse des seinerzeitig aktuellen Zeitgeschehens sind jedoch ebenso gewollt wie unverzichtbar.

© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagzeichnung:: Heribert Stragholz Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-359-0 Köln Krimi Classic Originalausgabe

In Erinnerung an Ruth,deren Lachen ich vermisse

ROUTE NATIONALE 7

De toutes les routes de France d’Europe

Celle que j’préfère est celle qui conduit

En auto ou en auto-stop

Vers les rivages du Midi

Nationale Sept

Il faut la prendre qu’on aille à Rome à Sète

Que l’on soit deux trois quatre cinq six ou sept

C’est une route qui fait recette

Route des vacances

Qui traverse la Bourgogne et la Provence

Qui fait d’Paris un p’tit faubourg d’Valence

Et la banlieu d’Saint-Paul de Vence

Le ciel d’été

Remplit nos cœur de sa lucidité

Chasse les aigreurs et les acidités

Qiu font l’malheur des grandes cités

Tout excitées

On chante, on fete

Les oliviers sont bleus ma p’tite Lisette

L’amour joyeux est là qui fait risette

On est heureux Nationale 7.

Text und Musik: Charles Trenet, 1955

Mittwoch, 8.Mai 1968

Es war kurz nach zehn, und graue Wolken hingen über Köln. Seit Montagabend regnete es ohne Unterbrechung. Nicht wenige Autos waren mit eingeschalteten Scheinwerfern unterwegs. Als ich von der Neusser in die Weißenburgstraße abbog und dabei in Schräglage ging, lief mir der Regen ins linke Auge. Langsam begann ich die Sache persönlich zu nehmen. Verdammtes Sauwetter!

Dabei war der Vormonat laut Express der sonnigste und wärmste April seit siebzehn Jahren gewesen. Den hatte ich ausgiebig genossen, täglich im Garten gesessen und über den Sinn des Lebens nachgedacht, wenn ich auch nicht zu grundlegend neuen Erkenntnissen gelangt war. An den beiden ersten Lebensregeln »Et is, wie et is« und »Et kütt, wie et kütt« war nun mal nicht zu rütteln. Ob allerdings Regel Nummer drei »Es hätt noch immer jot jejange« wirklich zutreffend war, daran hegte ich im Rückblick auf die letzten Monate nicht unerhebliche Zweifel.

Dem Mai war gleich zu Beginn die Puste ausgegangen. Die Temperatur war über Nacht um mehr als zehn Grad gefallen, sodass ich gezwungen gewesen war, die Laube auf dem Gelände des Kleingartenvereins Flora e.V. einzuheizen. Überlassen hatte sie mir ein Bekannter, der auf Montage in Saudi-Arabien war. Normalerweise hätten mich die Wetterunbilden nicht groß gejuckt, aber vor drei Wochen hatte ich meine geliebte Badewanne, einen rot-weißen Ford P3, beim Versuch, meinen persönlichen Theodor-Heuss-Ring-Rundenrekord zu brechen, aufs Dach gelegt. Seitdem war ich auf eine rostbeulige 125er Lambretta angewiesen, die ich in einem Verschlag hinter der Laube entdeckt hatte.

Ich bockte den Roller auf dem Bürgersteig an der Ecke Hülchrather Straße vor dem Haus Weißenburg auf und machte, dass ich reinkam. Die Gaststätte hatte mir bis Ende letzten Jahres gehört, nunmehr betrieb sie mein Freund Toni.

Außer dem üblichen Frühsäufertrio, das am Tresenende nur einen Sprung von der Klotür entfernt Aufstellung genommen hatte, war der Laden noch leer. Der neue Wirt höchstpersönlich stand hinter der Theke und polierte Gläser. Kurz und bullig, hatte er sich in den zwanzig Jahren, die wir uns kannten, kaum verändert. Das eine oder andere Kilo war dazugekommen, und sein Stoppelhaar war nunmehr grau, aber das ging mir ja auch nicht anders.

»Morgen, Toni«, sagte ich, nahm den Express vom Garderobenhaken und steuerte den Ecktisch an, wo ich auf der Bank Platz nahm. »Wie üblich.«

»Morgen«, rief Toni und klang, als sei seine Großmutter gestorben. Die Dame war dreiundneunzig, wie ich wusste. Donnerstag hatte ich sie zuletzt beim Metzger getroffen, da hatte sie noch einen quietschfidelen Eindruck gemacht.

»Ist was?«

Er legte das Geschirrtuch zur Seite und nahm einen Stapel Deckel aus dem Regal hinter sich. Damit kam er an meinen Tisch.

»Hier«, sagte er und baute den Stapel vor mir auf. Fünfzehn oder zwanzig mochten es sein.

»Was soll ich damit? Ein Haus bauen?«

»Deine Deckel.« Er setzte sich mir gegenüber. »Erika und ich haben gestern mal zusammengerechnet. Was glaubst du, auf welchen Betrag wir gekommen sind?«

»Keine Ahnung«, sagte ich. »Ist aber auch egal. Ausgemacht war, dass ich Kredit auf Lebzeit hab.«

Toni seufzte. »Aber nicht jenseits von dreihundert Mark.«

»So viel?«

»Dreihundertsiebzehn Mark und fünfundachtzig Pfennig, um genau zu sein.«

»Mein lieber Scholli. Trotzdem wäre mir neu, dass wir uns auf eine Grenze verständigt hatten.«

»Ich bin Geschäftsmann. Irgendwo ist Schluss.«

»Bei mir ist augenblicklich Ebbe in der Kasse, das weißt du doch.«

»Dann geh arbeiten.«

Ich blickte ihm geradewegs in die Augen. »Toni, du bist mein Freund.«

Er hielt meinem Blick mühelos stand. »Mag sein. Aber ich bin auch verheiratet.«

»Also daher weht der Wind.«

»Ist doch scheißegal, woher der Wind weht!«, fuhr er auf. »Ich kann mir dich als Freund nicht mehr leisten. So einfach ist das. Du musst dir eine Stelle suchen. Arbeiten wie jedermann.«

»Was glaubst du, was ich seit Monaten versuche?«

»Komm, hör auf, mir was vorzumachen«, sagte er und winkte ab. »Ich hab dir schon ein paarmal angeboten, dich für drei, vier Abende die Woche einzustellen. Aber du willst ja nicht.«

»Du kannst doch nicht erwarten, dass ich in meiner eigenen Kneipe als Köbes rumlaufe.«

»Deine eigene Kneipe! Wann kapierst du endlich, dass dir das Haus Weißenburg nicht mehr gehört? Du hast es verzockt! Aus Geldgier, aus Dummheit, aus Leichtsinn, was weiß ich. Jedenfalls bist du nicht mehr Eigentümer dieser Lokalität. Und ich hab dir einen anständigen Abstand dafür bezahlt. Du kannst doch nicht allen Ernstes erwarten, dass Erika und ich dich dein Lebtag lang auf unsere Kosten durchfüttern. Wir haben zwei Kinder, die wir durchbringen müssen. Hast du eine Ahnung, was Kinder heutzutage kosten?«

»Willst auch du mich jetzt im Stich lassen?«

»Komm mir bloß nicht mit der Mitleidstour! Wer soll dich denn im Stich gelassen haben? Niemand. Charlie hat dich rausgeworfen, weil sie die Nase voll hatte von deinen ewigen Eskapaden. Du hattest ihr hoch und heilig versprochen, nie mehr auf Pferde zu wetten. Und wie lange hast du dein Versprechen gehalten, he? Wenn es hochkommt, ein halbes Jahr.«

Ich hatte es keine drei Monate geschafft, aber das ging ihn nichts an.

»Wie kann man nur wegen eines angeblich todsicheren Tipps seine Existenz aufs Spiel setzen?«, fuhr er kopfschüttelnd fort. »Genauso todsicher wie seinerzeit das Aktienpaket, das du dir hattest andrehen lassen und das dich dein Hotel gekostet hat. Du lernst einfach nichts dazu. Du bist und bleibst ein Zocker, Leo. Und dann fährst du zu allem Überfluss auch noch im Suff deinen Wagen zu Schrott und handelst dir eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt ein. War das nötig?«

»Ich war an dem Abend in einem emotionalen Ausnahmezustand«, sagte ich.

»Um Ausreden warst du noch nie verlegen.«

»Ich hatte an dem Tag versucht, mich mit Charlie zu versöhnen, was gründlich danebengegangen ist.«

»Die Frau hast du auch nicht verdient. Sie hat mehr Grips im kleinen Finger als du in der ganzen Birne.«

»Da wir gerade von Charlie sprechen – wie geht es ihr? Ich hab länger nichts von ihr gehört.«

Wenn einer über Charlotte, die ich, seit wir uns kannten, Charlie nannte, auf dem Laufenden war, dann Toni. Schließlich lebte sie noch immer in der Wohnung, die über der Kneipe lag und die auch mal mein Zuhause gewesen war.

»Seit sie dich los ist, gewiss prächtig, auch wenn sie darüber nicht spricht. Jedenfalls ist sie am Wochenende nach Paris gefahren.«

»Paris? Was will sie denn da?«

»Der Dümong hat sie wegen der Studentenunruhen als Sonderberichterstatterin nach Frankreich geschickt.«

Damals, als ich wegen der faulen Aktien unser gesamtes Hab und Gut verloren hatte, hatte Charlie beim Stadt-Anzeiger angefangen. Zunächst hatte sie in der Lokalredaktion über das Kölner Vereinsleben in seiner ganzen Bandbreite von den Karnickelzüchtern aus den Vororten bis zu den Häkelhexen aus der Südstadt berichtet, aber schnell hatten die Zeitungsfritzen gemerkt, dass sie erheblich mehr draufhatte. Inzwischen war sie im Ressort Politik eine feste Größe. Zeitgleich hatte ich als privater Ermittler für einen renommierten Kölner Anwalt gearbeitet, bis wir unsere Schulden abgetragen hatten. Es waren harte Jahre gewesen, aber trotzdem eine schöne Zeit. Lange war das her. Verdammt lange. Blieb die Frage, wer sich während Charlies Abwesenheit um Christina, ihre inzwischen fünfzehnjährige Tochter, die sie mit in die Beziehung gebracht hatte, kümmerte. Ich fragte Toni danach.

»Charlies Tante hat sich oben einquartiert und sorgt für sie.«

»Tante Hedwig?«

»Genau.«

Tante Hedwig war ein erzkatholischer und militant abstinenter Drachen, der sofort sämtliche Fenster aufriss, wenn man nach der Zigarettenpackung griff, und mich schon mehrfach das Fürchten gelehrt hatte. Sollte man dereinst nach ihrem Ableben feststellen, dass die alte Schachtel ein Herz aus Gusseisen hatte, würde mich das nicht überraschen.

»Das arme Kind«, sagte ich.

»Meinst du, mit dir als Vorbild wäre die Kleine besser dran? Nebenbei gefragt, weiß Horst eigentlich, dass du in seiner Laube logierst?«

»Er hat mir schließlich den Schlüssel gegeben.«

»Damit du ab und zu nach dem Rechten siehst, ein bisschen umgräbst, wässerst und den Rasen mähst, soweit ich ihn verstanden habe.«

»Das mach ich doch.«

Toni musterte mich mit schräg gelegtem Kopf, was ihn seltsam anmutig wirken ließ. »Ich möchte gar nicht wissen, wie der Garten inzwischen aussieht. Du hast doch überhaupt keine Ahnung von Gartenarbeit.«

»Ich hab mir in der Bücherei einen Ratgeber ausgeliehen. Ich komm schon zurecht, mach dir mal keine Sorgen.«

»Wann kommt Horst denn aus Saudi zurück?«

»Voraussichtlich im September.«

»Dann sitzt du endgültig auf der Straße. Ich seh dich schon unter der Deutzer Brücke campieren.«

»So weit wird es nicht kommen.«

»Das haben alle mal gesagt, die da ihr Lager haben.« Toni schüttelte schon wieder den Kopf. »Ich bin wirklich bereit, dir zu helfen, Leo, aber du musst dir auch helfen lassen. So geht es jedenfalls nicht weiter. Zahl mir wenigstens fünfzig Mark auf die Deckel an, dann wirst du auch wieder bedient.«

»Ich hab nicht mal einen Heiermann in der Tasche. Ich muss mir erst was leihen.«

»Was leihen!« Toni lachte auf, aber es klang unfroh. »Glaubst du Narr wirklich, du fändest in dieser Stadt noch einen einzigen Menschen, der dir einen Groschen pumpt? Mensch, wach endlich auf, Leo! Es wird höchste Eisenbahn, dass du den Tatsachen ins Auge siehst.«

Damit ließ er mich sitzen. Ganz abgesehen davon, dass ich nichts zu verzehren hatte, war mir der Appetit vergangen. Ich ging zur Toilette und wusch mir am Waschbecken Hände und Gesicht. Als ich mich abtrocknete, blickte mich aus dem Spiegel ein Fremder an, der nur noch eine vage Ähnlichkeit mit dem Mann hatte, der ich einmal gewesen war.

»Was ist nur aus dir geworden, Leo Saalbach?«, fragte der Fremde. »Du warst einmal mit einer der schönsten Frauen der Stadt liiert, weißt du noch? Der einzigen Schwarzhaarigen mit blauen Augen, die du kennst. Ein Prachtweib, das gerade in Paris ist und von dir nichts mehr wissen will. Schämen solltest du dich für das, was du ihr angetan hast. Du warst dereinst wohlhabend, hattest sogar mal einen Porsche, auf jeden Fall ein gesichertes Einkommen. Was ist dir davon geblieben? Nicht ein einziger Heller. Verzockt für nichts und wieder nichts. Warum reitet dich eigentlich jedes Mal der Teufel, sobald es dir halbwegs gut geht? Kannst du mir das mal erklären?«

Ich verneinte wortlos. Möglich, dass ein Psychologe mir eine Antwort aus der Seele gequetscht hätte, aber ich selbst konnte keine geben. Wahrscheinlich hatte ich es im Blut, immer alles zu versauen. Es gibt so Typen. Traurig, aber wahr.

Mein Blick fiel in die Kabine zur Linken. An einer Spülkastenkette ähnlich der dort hatte sich 1940 in der Marineschule in Kiel ein junger Kerl aufgehängt, weil er eine Höllenangst vor dem Absaufen gehabt hatte. Selbstmord aus Angst vor dem Tod. So schlimm stand es um mich Gott sei Dank nicht. Aber ich war auf einem Weg, an dessen Ende ein ähnliches Schicksal auf mich warten mochte. Toni hatte recht – es war höchste Zeit, etwas zu ändern. Vielleicht sollte ich es mal auf dem Großmarkt versuchen, da gab es immer Arbeit.

Ich kehrte zurück in den Gastraum, rief: »Tschö, Toni!«, und bewegte mich in Richtung Ausgang.

»Warte, Leo«, sagte er. »Setz dich. Ich bring dir gleich dein Frühstück.«

»Was hat dich denn geläutert?«

»Nichts«, sagte Toni. »Der Herr dort drüben hat dich eingeladen.«

Erst jetzt entdeckte ich das vertraute Gesicht des Mannes, der am Ecktisch Platz genommen hatte. Der Gönner war kein anderer als Franz-Josef Hackländer, mein väterlicher Freund und der Anwalt, für den ich früher als Ermittler tätig gewesen war. Er winkte mich zu sich.

Der Maître, wie er sich selbst gern nannte, wenn er eine seiner frankophilen Anwandlungen hatte, sah wie immer wie aus dem Ei gepellt aus. In einem gedeckten grauen Anzug, einem blütenweißen, auf Maß geschneiderten Hemd, einer überaus dezent gestreiften Krawatte und mit einer schwarzen Hornbrille strahlte er die Seriosität eines Nachrichtensprechers aus. Die einzige ernsthafte Konkurrenz für Karl-Heinz Köpcke. Als einzige Extravaganz seiner Aufmachung hatte FJ sich an diesem Tag ein blutrotes seidenes Einstecktuch gegönnt, das, wie wahrscheinlich in irgendeiner Klamottennorm festgelegt, exakt zwei Zentimeter aus der Tasche lugte. Dass er acht Jahre älter war als ich, sah man ihm nicht an. Woran auch immer das liegen mochte.

»Lange nicht gesehen«, sagte ich, während wir uns die Hände reichten. Seine waren selbstverständlich manikürt. »Gut siehst du aus. Warst du in Kur?«

Der Anflug eines säuerlichen Lächelns zupfte an seinen Mundwinkeln, machte sich aber gleich wieder davon.

»Ich wollte, ich könnte Gleiches von dir sagen, Leo. Aber du machst augenblicklich einen – wie soll ich mich ausdrücken – leicht verwahrlosten Eindruck.«

»Ich hab zurzeit einen etwas unrunden Lauf«, sagte ich und ließ mich auf einem der Stühle nieder.

»Das ist mir zu Ohren gekommen«, sagte er. »Darf ich dich zum Frühstück einladen?«

»Nur zu. Wer hat dir gesteckt, wie das Schicksal mit mir umspringt?«

»Wenn man in der Rechtspflege tätig ist, wird einem so manches zugetragen. Die Flure des Amtsgerichts sind eine regelrechte Nachrichtenbörse.« Ansatzlos schaltete er von verbindlich auf ernst um. »Wie konntest du dich nur dazu hinreißen lassen, zwei Polizeibeamte tätlich anzugreifen?«

»Das mit der Rechtspflege hast du schön gesagt. Das hört sich irgendwie nach Heilbehandlung an, nach Massagen mit wohlriechenden Ölen und so. Aber tätlicher Angriff ist natürlich ausgemachter Blödsinn. Erstens bin ich nur einen der beiden angegangen, und dem hab ich auch nur mit der flachen Hand die Mütze vom Kopf gewischt und ihm ein paar deutliche Worte gesagt.«

»Du sollst den Beamten als« – ich sah förmlich, wie das Wort wie ein behaartes Insekt über seine Zunge krabbelte und ihm unbeschreiblichen Ekel verursachte – »›Kellerwichser‹ tituliert haben.«

»Mag sein. So genau weiß ich nicht mehr, was ich gesagt hab.«

»War das nötig?«

Die gleiche Frage hatte mir heute schon mal jemand gestellt. Es gibt so Tage, da wird man dauernd dasselbe gefragt.

»Ich hatte meinen Wagen mit der Hilfe einiger Passanten schon wieder auf die Räder gestellt«, sagte ich und benutzte meine Hände, um das Gesagte zu unterstreichen. »Die Sache war so gut wie bereinigt. Ich hab sogar die Scherben der Seitenfenster in den Rinnstein gekehrt, was im Nachhinein natürlich ein Fehler war, weil mich das die entscheidenden Minuten gekostet hat, in denen die Schmiere eingetroffen ist. Sonst wär ich längst weg gewesen, der Wagen lief nämlich noch. Alles in allem eine Angelegenheit, um die man keinerlei Aufhebens hätte machen müssen. Niemand war zu Schaden gekommen. Aber davon wollten die beiden Streifenhörnchen ja nichts wissen. Die sind gleich amtlich geworden.«

»Du warst betrunken, als der Unfall passiert ist.«

»Was du nicht alles weißt.«

»Da wird einiges auf dich zukommen, Leo. Wenn du möchtest, vertrete ich dich vor Gericht.«

»Deine Honorarsätze sind mir ein bisschen zu üppig, Effjott. Trotzdem, danke für das Angebot.«

»Vielleicht finden wir ja eine andere Lösung.«

Was er damit meinte, blieb vorerst unklar, weil Toni mit unserer Bestellung anrückte. Ein Kännchen Kaffee für FJ; ein halbes Mettbrötchen mit Zwiebeln, ein hartgekochtes Ei und ein Kölsch für mich. Ich klopfte das Ei auf der Tischplatte auf.

»Was meinst du mit einer anderen Lösung?«, fragte ich.

FJ nahm einen Schluck, der nicht einmal einen Kanarienvogel zufriedengestellt hätte. Dabei ergriff er den Henkel der Tasse nur mit Daumen und Zeigefinger, während er die drei restlichen Finger fächerförmig abspreizte. Das war neu. Wenn das mal kein Indiz für eine beginnende Desorientierung war.

»Ich habe einen Auftrag für dich, Leo«, sagte er. »Deswegen bin ich hier.«

»Und ich hätte deinen Aufenthalt in diesem Reservat der Arbeiterklasse beinahe für einen Freundschaftsbesuch gehalten«, sagte ich und machte ein gespielt enttäuschtes Gesicht. »Die Art von Aufträgen, die du zu vergeben hast, Effjott, kenn ich zur Genüge. Nein danke. Eine Tracht Prügel ist immer inbegriffen, und wenn man Pech hat, kommen noch ein Messer zwischen die Rippen und ein paar Kugeln um die Ohren dazu. Kein Bedarf. Nicht in meinem Alter.«

»Genau um diese Art von Auftrag handelt es sich diesmal nicht.«

»Ach?«, fragte ich mit eivollem Mund. »Sondern?«

»Es handelt sich lediglich um die Begleitung einer weiblichen Person.«

»Hat eine deiner Klientinnen Angst, allein ins Kino zu gehen?«

FJ grinste so verzerrt und künstlich, als hätte er ein Problem mit einem Weisheitszahn. »Es handelt sich darum, eine junge, noch minderjährige Dame, die ihr Elternhaus ohne die Einwilligung ihrer Erziehungsberechtigten verlassen hat, in den Schoß der Familie zurückzuführen.«

Ich nickte anerkennend. »Das hast du aber fein gesagt. Wo lernt man so etwas?«

Nun wurde er doch ungehalten. »So etwas kann man nicht lernen, Leo. So etwas hat man, oder man hat es nicht.«

Das hätte er nicht sagen dürfen. Snobs konnte ich nicht ausstehen. Ich beschloss daher, Interesse zu heucheln und ihn zum Schluss vor die Wand laufen zu lassen.

»Hm«, machte ich daher. »Warum eigentlich nicht? Es gibt nur ein Problem: Wie du weißt, bin ich derzeit nicht im Besitz einer Fahrerlaubnis, was meine Mobilität erheblich einschränkt. Mit anderen Worten – ich kann nicht durch die Gegend sausen und die Göre suchen.«

»Das ist auch nicht nötig. Der Aufenthaltsort der jungen Dame ist bekannt.«

»Dann versteh ich nicht, warum die Eltern ihr Kind nicht selbst zurückholen«, sagte ich, trank aus und bedeutete Toni durch Erheben meiner leeren Kölschstange, Nachschub zu liefern.

FJ atmete einmal tief durch und verschränkte die Hände, wobei er peinlich darauf achtete, dass die Umschlagmanschetten seines Bialk-Hemdes die Platte nicht berührten.

»Bei meinen Klienten handelt es sich um Menschen, die ausgesprochen zurückgezogen leben und denen an äußerster Diskretion gelegen ist. Selbst in Erscheinung zu treten ist für sie unvorstellbar.«

»Wenigstens handelt es sich um Menschen. Haben sie denn auch einen Namen?«

»Der tut nichts zur Sache.«

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich für anonyme Kunden arbeite.«

»Betrachte einfach mich als deinen Auftraggeber. Man hat mir sämtliche Vollmachten zur Abwicklung der Angelegenheit übertragen.«

»Die Sache stinkt doch. Und zwar gewaltig. Das riech ich trotz deines aufdringlichen Aftershaves.«

FJs Hand fuhr kurz an seine Wange, als hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst. »Ich verbürge mich mit meinem Namen für die Seriosität meiner Klienten und damit die Rechtmäßigkeit des Auftrags.«

Das hätte der Bundespräsident nicht schöner formulieren können. Ich musterte FJ so intensiv es mir zu dieser frühen Stunde möglich war, aber an seiner durch tausend Prozesse gestählten Fassade glitt mein Blick immer wieder ab.

»Wie viel würde denn dabei herausspringen?«, fragte ich leichthin.

»Viertausend«, sagte er. »Die eine Hälfte als Vorschuss, die andere nach Rückführung der betreffenden Person.«

Damit hatte er mich, auch wenn er es nicht wusste. Viertausend Mark. Meine Güte, wann hatte ich zuletzt so viel Geld auf einem Haufen gesehen?

»Soll das heißen, dass du zweitausend Mark in deiner Brieftasche spazieren trägst?«

»So ist es.«

»Zeig sie mir.«

»Traust du mir etwa nicht?«

»Ich überprüfe immer die Bonität meiner Klienten. Das hab ich von dir gelernt.«

Ich glaubte, einen Anflug von väterlichem Stolz auf seiner Miene lesen zu können. Wie auch immer, jedenfalls nahm er seine Krokobrieftasche aus der Innentasche seines Jacketts und klappte sie auf. Auf der einen Seite schlummerte ein dicker Packen Hunderter, auf der anderen entdeckte ich das Farbfoto eines braunhaarigen, leicht pausbäckigen Mädchens, das zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht älter als fünfzehn oder sechzehn gewesen sein konnte.

»Ist sie das?«, fragte ich.

FJ beließ es bei einem Nicken und reichte mir das Foto. Die Augen und die Mundpartie kamen mir irgendwie bekannt vor, dabei war ich mir sicher, das Mädchen noch nie gesehen zu haben.

»Hat sie, wenn sie schon keinen Familiennamen hat, wenigstens einen Vornamen?«

»Miranda.«

Ich wiederholte den Namen stumm für mich. Unwillkürlich assoziierte ich ihn mit gelber Limo. »Bliebe die Frage, wo ich sie abholen soll und wie ich dahin komme.«

»Man wird dich fliegen und chauffieren, so einfach ist das.«

»Fliegen und chauffieren? Wohin ist sie getürmt? Nach Afrika?«

»Ans Cap d’Antibes. Das liegt an der Côte d’Azur.«

»Ich weiß, wo Antibes liegt«, sagte ich. »Erzähl mir alles, was du mir sagen darfst. Gerne auch mehr.«

FJ beließ es selbstverständlich bei dem, was er rauslassen durfte. Eine halbe Stunde und drei Kölsch später war ich mir sicher, dass die Heimführung der verlorenen Tochter ein Kinderspiel werden würde. Trotzdem zögerte ich, den Auftrag anzunehmen.

»Was willst du denn noch?«, stöhnte FJ, als er meine bedenkenschwere Miene gewahrte. »Möchtest du, dass ich vor dir auf die Knie gehe?«

Ich stülpte die Unterlippe vor. »Ich hab bei Toni noch ein paar Deckel offen. Würdest du die übernehmen? Gewissermaßen als zusätzlichen Anreiz.«

»Wenn ich deine Entscheidungsfindung damit beschleunigen kann, soll es mir darauf nicht ankommen.«

Wir besiegelten das Geschäft mit einem kräftigen Händedruck, und zweitausend Mark und ein Foto wechselten in meine nicht manikürten Hände. Dann machte ich, dass ich rauskam, bevor Toni die Rechnung bringen konnte.

Nachmittags um drei hörte es von einer Minute auf die andere auf zu regnen, und die Wolkendecke riss auf. Kurz darauf tasteten sich erste vorwitzige Sonnenstrahlen durch die Kleingartenkolonie, und die Gärten fingen an zu dampfen. Ich setzte mich mit Kaffee, einer Zigarre und dem Buch, das ich gerade las, auf die kleine Terrasse unter das Vordach der Holzbaracke und legte die Füße auf den zweiten Gartenstuhl. Auf Bier oder Stärkeres wollte ich für den Rest des Tages verzichten, um für den morgigen Auftrag einen klaren Kopf zu behalten. So harmlos sich die Sache auch angehört hatte, meine Erfahrungen hatten mich gelehrt, mit allem zu rechnen.

Die Zigarre zog gut. Vor über einem Jahr war ich von filterlosen amerikanischen Zigaretten auf Fehlfarbene umgestiegen. Hatte ich in der ersten Zeit nur nach den Mahlzeiten geraucht, qualmte ich inzwischen ordentlich was weg. Allerdings nie mehr als Ludwig Erhard, von dem bekannt war, dass er sechzehn Zigarren pro Tag rauchte. Als der Stumpen richtig brannte, nahm ich »Haie und kleine Fische« von Wolfgang Ott zur Hand und suchte nach dem Eselsohr, mit dem ich die zuletzt gelesene Seite markiert hatte. Endlich mal ein Seekriegsroman, der das Leben auf einem U-Boot schilderte, wie es wirklich gewesen war. Den Film mit Hansjörg Felmy hatte ich schon vor Jahren gesehen, aber das Buch war um Längen besser.

Keine zehn Minuten später signalisierte Schutzblechklappern, dass Werner Plankert im Anmarsch war. Werner ging stramm auf die achtzig zu, was man ihm allerdings aufgrund seiner Drahtigkeit und Beweglichkeit nicht ansah. Gemeinsam mit seiner Frau Trudi bewirtschaftete er den Garten nebenan, wir waren sozusagen Nachbarn. Die Eheleute Plankert waren berühmt für ihre Zuchterfolge. Regelmäßig heimsten sie Preise für das größte Gemüse des Vereins ein.

Nachdem Werner sich die Klammern von den Hosenbeinen gezogen hatte, kam er an den Zaun und winkte mich heran. Ich legte das Buch zur Seite und gesellte mich zu ihm.

»Ich hab mit Brochhagen, unserem Vorsitzenden, gesprochen, Leo«, sagte er. »Er hat nichts dagegen, dass du dich hier einquartiert hast. Horst hatte wohl nur vergessen, deswegen Bescheid zu sagen. Brochhagen ist sogar froh, dass nachts jemand hier ist. Wird verdammt viel geklaut in der letzten Zeit. Fünf Aufbrüche allein in diesem Jahr.«

»So etwas werde ich nicht verhindern können«, sagte ich. »Ich hab einen gesegneten Schlaf.«

»Keiner verlangt von dir, dass du hier den Wachmann machst.« Werner schnupperte nach dem Zigarrenqualm, der über den Zaun zog. »Aber falls dir zufällig einer der Brüder über den Weg laufen sollte, zieh ihm mit dem Spaten einen ordentlichen Scheitel.«

»Sicher doch. Was ist mit dem Strom?«

»Der wird morgen wieder angeklemmt.«

»Morgen bin ich nicht da.«

»Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich darum. Ich hab ja einen Schlüssel.«

»Das ist nett.«

Werner sog erneut den sich kräuselnden Rauch ein. »Hast du noch eine für mich?«

Ich zog eine Zigarre aus der Brusttasche meines Hemdes und reichte sie über den Zaun. Sein Arzt hatte ihm das Rauchen verboten, und seine Frau wachte darüber, dass er sich daran hielt.

»Aber kein Wort zu Trudi.«

»Ist doch Ehrensache.«

Werner stiefelte davon, und ich widmete mich wieder meiner Lektüre. Die Tommies suchten mit ihrem ASDIC-Ortungssystem nach dem getauchten deutschen U-Boot. »Pingpingping« machte es, als die Schallwellen vom Bootskörper reflektiert wurden. Ein Geräusch, das ich nur zu gut noch im Ohr hatte. Das war der Zeigefinger des Todes, der anklopfte und einem das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Fahrradklingeln riss mich aus der Geschichte. Winkend kam Christina den Weg entlanggeradelt, stieg ab und schob ihr Rad über den Plattenweg bis zum Gartenhaus. Sie war mit Blue Jeans und einer karierten Bluse bekleidet und hatte ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Lediglich den Mund und die Nase hatte sie von Charlie geerbt, ansonsten kam sie wohl eher auf ihren mir unbekannten Erzeuger. Je nach Laune und Stundenplan schaute sie alle paar Tage vorbei, ob ich noch unter den Lebenden weilte, zuletzt allerdings vor über einer Woche. Charlies und meine Trennung hatte sie allem Anschein nach gut verkraftet. Es entsprach ihrem Naturell, die Dinge leicht zu nehmen, worum ich sie beneidete. Als sie den Drahtesel gegen die Regentonne lehnte, fiel mir siedend heiß ein, dass dieser Tage ihr sechzehnter Geburtstag anstand; ich wusste aber nicht mehr, wann genau. Hoffentlich nicht heute.

Ich nahm die Füße vom Stuhl und sagte: »Lange nicht gesehen, Chris.«

»Ich hatte höllisch viel zu tun«, sagte sie, setzte sich und schlug die Beine übereinander. »Wir schreiben zurzeit eine Arbeit nach der anderen.«

»Möchtest du einen Kaffee? Ist noch heiß.«

»Lieber nicht, der ist doch bestimmt mit Weinbrand gewürzt.«

»So was kann ich mir gar nicht leisten.«

»Na gut. Aber nur, wenn du Milch hast.«

»Die ist sauer.«

»Dann nehm ich eine Cola.«

»Die ist warm.«

»Egal.«

»Im Kühlschrank.«

Sie verschwand und kam mit einer bauchigen Glasflasche brauner Brause zurück. Ich schlug den Kronkorken an der Tischkante ab.

»Wieso stellst du Sachen in den Kühlschrank, wenn er kaputt ist?«, fragte sie.

»Wo soll ich sie denn sonst hinstellen? Ist doch nirgendwo Platz. Wie geht’s denn so?«

»So lala«, sagte sie und trank einen Schluck.

»Wegen Tante Hedwig?«

»Das weißt du schon?«

»Toni hat es mir erzählt.«

»Sie ist echt eine Zumutung.« Dann grinste sie. »Aber man kann sie austricksen.«

»Wohl wegen des Kerls, mit dem ich dich letzte Woche auf den Niehler Rheinwiesen gesehen habe.«

Chris erstarrte. »Spionierst du mir etwa nach?«

»War reiner Zufall. Wer war das?«

»Nur ein Bekannter«, sagte sie leichthin, senkte aber den Blick.

»Nur ein Bekannter, so, so. Dafür habt ihr aber ganz schön heftig rumgeknutscht.«

»Das hast du also auch gesehen?«

»Wenn ihr das in aller Öffentlichkeit tut, brauchst du dich nicht zu wundern.«

»Erzähl bloß Charlie nichts davon, versprich mir das. Sie kann Arno nicht leiden.«

»Was hat sie gegen ihn? Der Kerl sah doch ganz manierlich aus.«

»Sie findet ihn zu alt für mich«, sagte Chris und klemmte ihre Hände zwischen den Oberschenkeln ein. »Ich hätte nie gedacht, dass sie so spießig ist.«

»Wie alt ist er denn?«

»Zweiundzwanzig.«

»Na ja. Hauptsache deine Mutter hat dich aufgeklärt.«

»Darüber mach dir mal keine Sorgen. Arno ist nicht so einer.«

»Dein Wort in Gottes Ohr. Was treibt er denn so?«

»Er studiert Soziologie.«

»Ach du liebe Güte! Ein Weltverbesserer.«

»Wie meinst du das?«, fragte sie und guckte kämpferisch.

»Der geht doch bestimmt in seiner Freizeit demonstrieren und klebt ›Treibt Bonn den Notstand aus‹-Aufkleber an jeden Laternenpfahl.«

»Arno nimmt nur seine Rechte wahr. Er sagt, das sei angesichts dessen, was die Regierung derzeit an neuen Unterdrückungsgesetzen plant, sogar seine Pflicht.«

»Dann will er bestimmt auch am Samstag nach Bonn, um gegen die Notstandsgesetze zu protestieren.«

»Klar.«

»Und du würdest am liebsten mitmarschieren.«

»Daraus wird nichts. Charlie hat’s mir verboten. Deswegen hat sie ja Tante Hedwig als Wachhund engagiert.«

»Ich gebe Charlie nicht gerne recht, aber in dem Fall muss ich es. Solch eine Demo ist nichts für Fünfzehnjährige.«

»Nächsten Montag werde ich sechzehn.«

Damit war das geklärt, wunderbar. Jetzt fiel mir der Zahlendreher auch wieder ein: Charlie hatte am 31. Mai Geburtstag, Chris am 13. Eigentlich ganz leicht zu merken.

»Trotzdem«, sagte ich. »Wer weiß, was da passieren wird. Da braucht nur einer der Obermacker durchzudrehen, und schon schwingen die Bullen ihre Knüppel. Denk daran, was letztes Jahr in Berlin passiert ist. Da wurden die Jungs scharfgemacht, indem ihnen der Polizeipräsident die Lüge aufgetischt hat, einer der ihren sei von Demonstranten ermordet worden. Nur Stunden später lag dann der arme Benno Ohnesorg tot in einem Hinterhof.«

»Ich weiß. Arno hat mir davon erzählt. Auch von dem Attentat auf Rudi Dutschke. Arno meint, dieser Maurer, der auf Dutschke geschossen hat, sei von irgendwem gekauft worden. Glaubst du das auch?«

»Vieles ist denkbar.«

»Warum kommst du nicht einfach mit nach Bonn und passt auf mich auf? Aus einiger Entfernung natürlich. Ich hätte nichts dagegen.«

»Massenproteste sind nichts für mich, Chris. Ich regele meine Angelegenheiten lieber allein.«

»Man sieht ja, wohin dich das gebracht hat.«

»Das hat doch damit nichts zu tun. Außerdem ist das nur vorübergehend. Erzähl mir lieber, was Charlie so treibt.«

»Dass sie in Paris ist, weißt du bestimmt schon von Toni.«

Ich nickte.

Chris zog die Stirn kraus und machte ein überaus ernstes Gesicht. »Weißt du was, Leo? Ich glaube, sie hat einen neuen Freund.«

Mir war, als hätte ich einen rechten Schwinger übersehen, der mich nun ungebremst am Rippenbogen traf. Für Sekunden blieb mir die Luft weg.

»Wie kommst du darauf?«, fragte ich mit belegter Stimme.

»Sie war letzte Woche zweimal mit ihm essen und ist jedes Mal erst nach Mitternacht nach Hause gekommen. Außerdem hat sie auffällig gute Laune. Die Kombination ist doch verdächtig, findest du nicht?«

Und wie ich das fand. Aber schließlich war Frühling. In allen Gärten summten die Bienen und schnäbelten die Vögel. Und Charlie war noch immer eine der bestaussehenden Frauen Kölns. Eigentlich hätte ich mit so etwas rechnen müssen. Hatte ich natürlich nicht.

»Wer ist der Kerl?«

»Bloch, ihr Redaktionsleiter.«

»Bloch? Ist das etwa dieser pomadisierte Gartenzwerg?«

Chris nickte. »Meine Mutter hat eine Vorliebe für kleine Männer.«

Jetzt verstand ich überhaupt nichts mehr. Ich maß immerhin einen Meter fünfundachtzig.

»Seit wann?«

»Wohl schon immer«, sagte Chris leichthin. »Mein Vater muss auch so ein Kurzer gewesen sein, einen halben Kopf kleiner als sie. Du warst anscheinend nur die Ausnahme von der Regel.«

Als Ausnahme von der Regel hatte ich mich noch nie gesehen. Das wurde ja immer schöner.

»Vielleicht haben die beiden ja bei ihren spätabendlichen Treffen nur Charlies Einsatz in Paris besprochen.«

Chris musterte mich mit einem dieser Blicke, die Heranwachsende für begriffsstutzige Erwachsene reserviert haben. »Das hätten sie ja auch während der Fahrt machen können, oder nicht?«

»Während welcher Fahrt?«, stammelte ich.

»Während der Fahrt nach Paris.« Chris sprach überlaut, als sei ich schwerhörig. »Sie sind mit seinem Wagen gefahren. Außerdem wohnen sie im selben Hotel in der Nähe der Bastille. Sinnigerweise heißt der Schuppen auch noch ›Le Réveil du Printemps‹.«

»Reway … wie? Was heißt das?«

»Auf Deutsch würde man ›Hotel Frühlingserwachen‹ sagen. Sehr poetisch.«

Das war der zweite Schwinger, diesmal voll vor die Kinnlade. Ich kippte ins Nichts.

»Willst du noch eine Cola?«, hörte ich nach einer Weile jemanden Fremdes fragen.

»Die ist doch noch halb voll. Außerdem war das die einzige.« Chris sah mir direkt in die Augen. Ihr Blick war weich. »Du liebst Charlie noch, stimmt’s?«

»Das geht dich gar nichts an«, sagte ich schroffer, als sie es verdient hatte. »Ich reise morgen übrigens auch nach Frankreich.«

»Sag bloß, nach Paris?«

»An die Côte d’Azur. Und das auch nur für einen Tag.«

»Also fliegst du?«

Ich nickte.

»Wie kannst du dir das leisten? Ich denke, du bist pleite. Letzte Woche hast du dir noch zehn Mark von mir geliehen.«

»Stimmt«, sagte ich. »Die kriegst du gleich mit Zinsen zurück. Ich hab einen Auftrag angenommen.«

»Arbeitest du wieder als Schnüffler? Wieder für den Anwalt?«

»Ich hab ja nichts anderes gelernt.«

»Bei Klöckner-Humboldt-Deutz suchen sie einen Nachtwächter. Das stand am Samstag in der Zeitung.«

»Haha.«

»Entschuldige. Um was geht’s denn? Oder ist das geheim?«

»Keine große Sache. Ich muss lediglich eine kleine Ausreißerin etwa in deinem Alter einfangen.«

»Ist sie mit einem Mann durchgebrannt?« Chris war Feuer und Flamme.

»Das ist jetzt der Teil, der geheim ist.«

»Spielverderber.«

»Ich musste Verschwiegenheit geloben. Gegenüber jedermann. Sonst hätte ich den Auftrag nicht gekriegt.«

»Falls sie wirklich aus Liebe durchgebrannt ist, hoffe ich, dass sie dir entwischt.«

»Ich hab sie noch alle gekriegt.«

Eine Weile hockten wir schweigend beieinander. Chris schlürfte ihre restliche Cola, ich kaute auf dem erkalteten Stumpen herum und war unglücklich. Schläge einer fernen Kirchturmuhr, vermutlich von St. Agnes, bahnten sich den Weg durch den Verkehrslärm auf der Inneren Kanalstraße.

»Wie spät ist es?«, fragte Chris.

Ich warf einen Blick auf meine Fliegeruhr. »Vier.«

»Ich muss los, sonst krieg ich von Tante Hedwig eins auf den Deckel.« Sie stand auf und hielt mir die Handfläche hin. »Was ist mit meinem Geld?«

Ich nahm das Portemonnaie aus der Gesäßtasche und zog einen Zwanziger heraus. Dabei segelte das Foto auf die Tischplatte, das FJ mir überreicht hatte. Bevor ich es zurückstecken konnte, hatte Chris es sich geschnappt.

»Ist sie das?«, fragte sie.

»Du fragst zu viel.«

»Also ist sie’s. Und ich kenn sie.«

»Du kennst sie? Woher?«

»Das ist Miranda. Sie war bis Weihnachten in meiner Klasse. Seitdem geht sie auf ein Internat. Eine blöde Ziege. Nur in Sport war sie ein Ass. Sie konnte unglaublich gut turnen.«

»Hat sie auch einen Nachnamen?«

»Kayffenheim. Miranda Kayffenheim.«

»Etwa die Kayffenheims?«

»Der Bankier ist ihr Vater. Die schwimmen nur so im Geld. Deswegen war sie ja auch so arrogant.«

»Weißt du, wie alt sie genau ist?«

»Miranda ist schon siebzehn, sie ist mal sitzen geblieben. Trotzdem war sie die Klassenschlechteste, da hat auch alle Nachhilfe nichts genützt. Besonders gut hat man dich aber nicht informiert.«

»Einzelheiten erfahre ich erst morgen. Und du hältst den Mund über die Geschichte, ist das klar?«

»Großes Ehrenwort.«

»Hier – steck den Schein ein.«

Der Zwanziger wie das Bild wechselten die Seiten.

»Irre! Hundert Prozent Zinsen für eine Woche. Ich leih dir gerne noch mal was. Musst nur was sagen.«

»Ich komm eventuell darauf zurück.«

Chris beugte sich zu mir herab und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Guten Flug!«

»Lass dich mal wieder sehen.«

»Mach ich.«

Während sie davonradelte, betrachtete ich das Foto erneut, und diesmal fiel mir auch die vorgeschobene Unterlippe auf. Es gab keinen Zweifel.

»Daher also die Ähnlichkeit«, murmelte ich.

Donnerstag, 9.Mai 1968

Seit die Bundeswehr den Butzweiler Hof im vergangenen Jahr von der Royal Air Force übernommen hatte und mit einem Fernmeldeverband oder einem Transport-Kommando eingezogen war – es hatte in der Zeitung gestanden, ich hatte es vergessen –, wurden die Gebäude endlich saniert. Die Tommies hatten lediglich die Sportstätten wie die Tennisplätze, den Pool und die Squashhalle gepflegt, um ihre Leute bei Laune zu halten. Die Fassade war nunmehr eingerüstet, und einige weiß gekleidete Gestalten turnten mit langen Pinseln auf den Planken herum. Als das Taxi, das ich mir an diesem Morgen gegönnt hatte, vor der Empfangshalle anhielt, legten die Maler wie auf Kommando ihr Handwerkszeug zur Seite und öffneten ihre Butterbrotdosen. Einer kramte den Express hervor, und irgendwo weiter oben dudelte ein Kofferradio. Es war Punkt Viertel vor neun, Zeit für die Frühstückspause, und ich war eine Viertelstunde zu früh. Da kann man mal sehen, wie Geldnot einen notorischen Zuspätkommer erziehen kann.

Richtig weit waren die neuen Eigentümer des Flughafens mit ihren Renovierungsarbeiten dann aber doch noch nicht vorangekommen, die Glasscheibe der Eingangstür zierte nämlich ein riesiger Sprung von links oben bis rechts unten. Sicherheitshalber benutzte ich den Griff, um die Tür aufzudrücken, nicht dass ich noch die Scheibe bezahlen musste.

Die Empfangshalle präsentierte sich weitgehend so, wie ich sie von meinem letzten Betreten anno 1940 in Erinnerung hatte. Außer dass die Hakenkreuzfähnchen entfernt worden waren. Damals hatte ich mit einer gewissen Katharina, der leicht mopsigen Tochter eines Südstadtmetzgers, bei Kaffee und Kuchen auf der Besucherterrasse gesessen und geflirtet. An ihr Gesicht konnte ich mich nicht mehr erinnern, nur daran, dass sie rothaarig gewesen war und intensiv nach Lavendelseife gerochen hatte. Was aus ihr geworden war, wusste ich nicht. Sofern sie den Krieg überlebt hatte, teilte sie vermutlich das Schicksal der meisten Metzgerstöchter, hatte den Gesellen geheiratet und mit ihm eine Reihe wurstgesichtiger Kinder in die Welt gesetzt.

Heute war von Weiblichkeit weit und breit nichts zu sehen. Keine flotte Hostess, die mich in Empfang nahm und mir Kaffee anbot. Ich stand ein bisschen verloren in der Halle herum und betrachtete die mit Zeitungspapier verklebten gläsernen Eingangstüren des Kinos, das ebenfalls von den Engländern eingerichtet worden war, bis ich plötzlich von der Seite von einem Unteroffizier angeraunzt wurde, der wissen wollte, was ich hier zu suchen hätte. Ich erklärte ihm, ich sei mit einem gewissen Willy Conrad verabredet. Seinem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass er den Mann kannte, aber er musterte mich von oben bis unten, als ob er an meinen Angaben zweifelte. Dabei hatte ich mich extra fein gemacht. Cordhose mit gedachter Bügelfalte, Lederjacke, ein sauberes Hemd und meine Wildlederschuhe. Dass ich keine Socken trug, konnte er ja nicht sehen. Sicherheitshalber notierte der Uffz meine Personalien und hieß mich auf den mit rissigem Leder gepolsterten Wartebänken Platz zu nehmen.

Es war noch immer zehn Minuten vor der Zeit, und da nirgendwo ein Aschenbecher in Sicht war, vertrieb ich mir die Zeit mit Gedächtniskrämerei.

Hier auf dem Butz hatte also Liesel Bach anno 1929 als erste Kölnerin ihren Pilotenschein gemacht, um gleich im Jahr darauf deutsche Kunstflugmeisterin zu werden, damals die Sensation in der Domstadt und für uns Pimpfe sowieso. Unterrichtet hatte sie der legendäre Jakob Möltgen, einer der erfolgreichsten deutschen Fluglehrer. Soweit ich wusste, flog die Bach nach wie vor, hatte sogar vor einigen Jahren erneut einen Titel im Kunstflug geholt. Außerdem munkelte man, sie hätte was mit Willy Schneider. Vielleicht entkorkte sie ihm ja die Flaschen.

Außer militärisch wurde der Flughafen nur noch sportfliegerisch genutzt, die British European Airways und die anderen Linien waren nach Köln-Wahn umgezogen. So hatte hier erst im April die VIII. Kölner Segelflugwoche stattgefunden. Und motorisierte Sportflugzeuge starteten von hier. Wobei Kayffenheim wohl eher geschäftlich denn sportlich in die Luft ging. Ich war gespannt, was für eine Maschine er besaß. Hoffentlich war er kein Nostalgiker und unterhielt einen offenen Doppeldecker.

Durch eine Schwingtür betrat plötzlich ein Mann die Halle, der sofort alle Blicke auf sich zog. Er war groß gewachsen, blond, Typ normannischer Kleiderschrank, und trug eine auf Maß gearbeitete dunkelblaue Phantasieuniform sowie eine dazu passende goldbestickte Mütze. Sein Lächeln entblößte eine Reihe blendweißer, prächtig gepflegter Zähne. Kerzengerade und trotzdem lässig kam er ohne Umwege auf mich zu. Als er vor mir stand und mir die Hand hinstreckte, stand ich auf. Er hatte gewaltige Pranken, machte aber netterweise keinen auf Schraubstock. Ich schätzte ihn auf Mitte vierzig bis Anfang fünfzig.

»Sie müssen Herr Saalbach sein«, sagte er. »Willy Conrad, angenehm.«