Die Einzigen - Norbert Niemann - E-Book

Die Einzigen E-Book

Norbert Niemann

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Beschreibung

Marlene Krahl lebt für die Musik. Ihre Kompositionen und Forschungen im Bereich der elektronischen Avantgarde beanspruchen sie mit Haut und Haar, als ihr früherer Bandkollege Harry Bieler sie nach Jahren unverhofft in Venedig wiedertrifft. Noch immer ist er fasziniert von ihr als Frau und Künstlerin. Gegen seine Zweifel setzt sie Entschiedenheit. Er sucht Zugang zu ihren Sphären, will ihr Förderer und Geliebter werden und holt sie nach München zurück. Ihr kompromissloser Kunstwille gibt ihm die Kraft, das familieneigene Unternehmen radikal neu zu erfinden. Doch mit dem wachsenden Erfolg kommt auch die Frage ans Licht, wozu er führt. Und was noch bleibt, wenn sich die Zeiten ändern? Mit »Die Einzigen« gelingt Norbert Niemann ein virtuoser Roman über die unbedingte, lebensdurchdringende Kraft von Kunst und Liebe in Zeiten des entfesselten Marktes.

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www.berlinverlag.de

Die Arbeit an diesem Roman wurde vom Deutschen Literaturfonds e. V. gefördert

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2014

ISBN 978-3-8270-7765-3

Für die deutsche Ausgabe © 2014 Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin 2014

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Für meine Freunde

»Have you ever been to Electric Ladyland?«

The Jimi Hendrix Experience

SELLWERTH

1.

Stimmengewirr drang aus der Halle, gedämpft durch eine doppelte Glastür. Die geriffelten Scheiben schnitten die Körper dahinter in schmale Längsstreifen, setzten sie leicht verschoben wieder zusammen. Offenbar hatte man mit der Zeremonie noch nicht begonnen, sein Plan, sich zu verspäten und unauffällig unter die Menge zu mischen, war missglückt. Er ging jetzt in die andere Richtung, wo rechter Hand die riesigen Fenster lagen. Seine Schritte klackten, obwohl er versuchte, so leise wie möglich aufzutreten. Als er stehenblieb, drückte die Stille. Dazu ein schwach säuerlicher Geruch. Er schluckte, konzentrierte sich auf die hell erleuchtete Kammer hinter einer der Scheiben. Sehr weißes Licht bestrahlte die überbordende Blumenpracht. Blütenköpfe aus Glanzlack. Nirgends Schatten.

Das Knarren der Tür ließ ihn den Kopf drehen.

Eine Frau war eingetreten, raffte mit beiden Händen ihr schwarzes Cape unterm Kinn. Festlich gekleidete Jugendliche begleiteten sie. Die Frau verließ den Kreis, näherte sich zuerst zögernd, dann mit zielsicherem Schritt. Musik übertönte plötzlich das Geräusch ihrer Absätze, die Klänge kamen aus der Halle, brachen jedoch nach wenigen Tönen wieder ab. Sie nickte wortlos, stellte sich neben ihn. Die Jugendlichen folgten ihr. Er wandte sich wieder dem Fenster zu.

Zwischen den Sträußen und Gebinden lugte an einzelnen Stellen helles Holz hervor. Die Seiten waren von den goldbestickten Schärpen völlig verdeckt. Nur das vordere, durch die schräg abfallende Rampe leicht nach vorne gekippte Ende lag frei. Er versuchte sich den Körper vorzustellen: die Haut, die übereinandergelegten Hände, die durchsichtigen Lider, Sellwerths wuchtiges Kinn. Es war aussichtslos, doch er gab erst auf, als die Frau schneller zu atmen begann.

Er senkte den Blick, betrachtete seine ineinandergelegten Hände, sah in den Augenwinkeln, dass die fremde Frau weinte. Plötzlich begriff er. Der Tote hinter dem Glas musste ein anderer sein. Er war unter die Trauernden einer zweiten, dem Begräbnis Sellwerths vermutlich unmittelbar folgenden Beerdigung geraten. Hitze überlief ihn, im selben Moment überkam ihn der Drang zu lachen. Er zuckte zurück, neigte, als er sich wieder gefasst hatte, den Kopf vor der Witwe, vor den Kindern, die steif im Halbkreis um sie herumstanden, und entfernte sich still.

2.

Die Trauernden füllten die Halle bis in die Fensternischen. Harry Bieler steuerte auf einen toten Winkel ganz hinten zu, wo zwei Friedhofsangestellte, ihre Uniformmützen vor dem Bauch, Musik und Andacht über sich ergehen ließen. Die Lautsprecheranlage war mit der Lautstärke überfordert, die hohen Töne überschlugen sich, die tiefen rumpelten. Als er den Platz endlich erreicht hatte, schaute er über die Schulter eines Wärters auf den leeren Halbkreis in der Mitte, wo auf dem altarartigen Gestell zwischen Chrysanthemen und Lilien die Urne stand. Er erkannte die Musik wieder. Eine Instrumentalnummer aus alten Tagen, gemeinsam entwickelt in endlosen Probennächten.

Aber es handelte sich um eine neuere Version. Eben setzte das Solo ein. Geschmeidige Linien waren an die Stelle von Sellwerths expressiven Improvisationen von damals getreten. Opulente Bläsersätze, die diskreten, konsequent durchgehaltenen Backbeats des Schlagzeugs zeugten von einem insgesamt etwas geglätteten, doch nach wie vor eigenständigen Stil. Nur der schnörkellos geradlinige, oft kantige Bass entsprach exakt der ursprünglichen Fassung. Das war Marlenes Handschrift gewesen.

Nach wenigen Takten lag ihm wieder jeder Ton in den Fingern. Das Schema, nach dem sie sich übers Griffbrett bewegt hatten, steckte noch in ihnen. Es war, als tanzten die Phantasien Sellwerths immer noch auf dem Fundament seiner schwerfällig mäandernden Läufe. Fast kam es ihm vor, als spiele er selber, als hinge das Instrument wieder um seinen Hals. Auf der Zarge ruhte der rechte Unterarm, der Wechselschlag marschierte. Als wäre er es, der den Einfällen Sellwerths folgte, ihnen den Boden bereitete, manchmal behutsam vom Schema abwich, die Dynamik der Linien unterstützte, aufgriff, fortführte, als fände das intuitive Gespräch zwischen ihnen immer noch statt. Im Gegensatz zu Harry hatte Sellwerth bis zuletzt mit der Musik weitergemacht. Der Sound war im Großen und Ganzen gleichgeblieben, nur der Duktus hatte sich etwas verändert. Die Melodieführung klang weniger gehetzt. Abgeklärter vielleicht. Aber Harry mochte diese neue Lässigkeit, die er vorher tatsächlich noch nie an Sellwerths Spiel wahrgenommen hatte. Er war beeindruckt, als die Improvisation unvermittelt in die tiefen Lagen abstürzte, kurz darauf ebenso unvermittelt wieder in die hohen Register zurückschnellte. Zu seinem eigenen Erstaunen spürte er eine Art Genugtuung, als wäre er auch heute noch mit dieser Musik verbunden, als hätte er niemals mit dem Spielen aufgehört, sondern konsequent weitergemacht. So wie Sellwerth. Etwas wurde aufgerührt, was ihm einmal wichtig gewesen war, er dann vergessen hatte, nun erinnerte er sich vage, während ihm ein flüchtiger Schmerz die Schläfen hinaufhuschte. Im gleichen Augenblick dachte er daran, dass Sellwerth tot war.

Das vasenförmige Aschegefäß stand auf dunkelrotem, goldglänzendem Brokat. Kerzenflammen spiegelten sich auf der polierten schwarzen Oberfläche, Harry nahm es erst jetzt wahr. Das Behältnis wirkte mit einem Mal größer. Als wäre es näher gerückt.

Auch bemerkte er, dass sich einzelne Köpfe immer wieder nach ihm umdrehten. Damit hatte er gerechnet, sich innerlich dagegen gewappnet auf dem Weg hierher. Er rückte enger an die Wand, entzog sich den Blicken, mochte nicht in fremde Augen schauen. Heimlich musterte er seinerseits die Leute. Sie standen dicht gedrängt. Vermutlich Fans. Die Älteren unter ihnen hatten ihn noch auf der Bühne erlebt. Unizirkel, Studentenkneipenszene. Harry erkannte einige wieder, auch wenn er die Namen nicht hätte sagen können. Unverändert die schwarzen T-Shirts, die schwarzen Lederjacken. Müde schauten sie aus.

Sellwerths Solo war zu Ende, das Thema wurde wiederholt, es erschien ihm auf einmal lächerlich. Ausgerechnet diese verstaubte Nummer hatten sie für das Ritual ausgewählt. Auch der Schluss des Stücks war damals von ihnen gemeinsam entwickelt worden, er erinnerte sich. Es dauerte Ewigkeiten, bis die letzten Klänge versickerten, die Stille unerträglich wurde. So war es gedacht.

In der Trauerhalle trat man von einem Bein aufs andere. Ein Pfarrer war nicht zur Stelle, eine Rede offenbar nicht vorgesehen. Die kahlen Wände warfen jedes Räuspern hart zurück. Endlich setzten die beiden Wärter mit einstudierter Gemessenheit ihre Mützen auf und lösten die Torverriegelungen. Quietschend und knarzend öffneten sich die Flügel. Sonnenwärme schlug in den klammen Saal. Vom Tageslicht getroffen blitzten die grellweißen Blüten neben dem schwarzen Gefäß. Brokat funkelte, von jenseits des Parks drang Verkehrslärm herein. Dazwischen Vogelrufe. Die zusammengepferchten Menschen zwinkerten. Harry war froh, abseits im Schatten zu stehen. Schon vor Jahren hatte er diese Stadt verlassen. Mit den Leuten von damals wollte er nichts mehr zu tun haben.

Ein dritter Wärter tauchte auf, nahm die Urne vom Gestell, trug sie mit ausgestreckten Armen durch die auseinanderweichende Menge. Auf der Schwelle hielt der Mann an. Zögerlich begann man sich hinter ihm aufzustellen. Harry stand nun direkt neben dem Uniformierten, Sellwerths Urne zum Greifen nah. Er senkte den Kopf, hob ihn aber sofort wieder und streckte trotzig das Kinn vor. Sein Blick fiel auf Sellwerths Vater, der hinter Wärter und Urne den Trauerzug anführte. Nur einmal waren sie einander begegnet. Der offen zur Schau getragene Stolz auf den exzentrischen Sohn hatte Harry seinerzeit verblüfft. Der Mann war vielleicht etwas grauer geworden, sonst sah er aus wie früher. Selbstsicher, athletisch, für sein Alter gut trainiert. Zwischen fünfzig und sechzig vermutlich. Sellwerths Vater wirkte gefasst, nur sein Hals und seine Ohren waren stark gerötet.

Unwillkürlich streckte er ihm die Hand hin.

Sellwerths Vater nahm sie, ohne die Miene zu ändern.

Der Wärter war bereits ins Freie getreten, als der Vater seine Hand wieder losließ, blinzelnd den Kopf zur Seite neigte, weiterging.

In Zweierreihen zog die Trauergemeinde hinterher, stierte geradeaus in den bunten Friedhofsgarten. Harry schaute nun jedem unverhohlen ins Gesicht. Das Händeschütteln mit Sellwerths Vater hatte ihn gestärkt, er hätte nicht sagen können, warum. Und er war plötzlich überzeugt, dass hier mehr als ein nicht einmal dreißigjähriger, vielleicht tatsächlich hochbegabter Musiker begraben wurde.

Man hat sich zu einem letzten Gang zusammengefunden, dachte er, gleich danach zerstreut sich die Gesellschaft in alle Winde.

Ihn allerdings betraf das nicht. Er gehörte längst nicht mehr dazu.

3.

Marlene lehnte an einer Linde. Hinter dem Stamm ragte nur das angewinkelte Knie hervor, aber er wusste sofort, dass sie es war. Er hatte den Trauerzug vorausgehen lassen, war erst mit einigem Abstand gefolgt, sodass man bereits vor dem Grab Aufstellung genommen hatte, als er den Durchgang in der Koniferenhecke passierte. Die feuchte Luft hatte sich aufgeheizt, es zog ihn zu einem der etwas abseits stehenden Bäume. Als er ihr Knie sah, änderte er sofort die Richtung.

In der Halle konnte sie nicht gewesen sein, ihre Anwesenheit wäre ihm nicht entgangen. Wahrscheinlich war sie später gekommen, so wie er es auch für sich geplant hatte. Oder sie wartete hier schon die ganze Zeit. Zusammen lagen sie auf der Lauer wie einst, erfassten die Schwingungen ringsum. So wie sie es früher zu dritt getan hatten. Sie, Sellwerth, er.

Er wandte sich der Begräbniszeremonie zu, schaute auf eine Wand gestaffelter Rücken. Das Geschehen dahinter schien ihn nun deutlich weniger zu betreffen. Er stellte sich Marlenes Gesicht vor und was sich darin ausdrückte, er meinte zu spüren, wie sie die Arme verschränkte, den Kopf in den Nacken legte. Unwillkürlich ahmte er sie nach, empfand dieselbe Abwehr.

Drüben sprach nun doch jemand letzte Worte. Bruchstücke davon drangen herüber durch das Lärmen der Vögel, das Tosen des Verkehrs, das mit dem fortschreitenden Vormittag lauter geworden war. Kleine Gruppen hatten sich gebildet. Einige umarmten einander, andere kauerten am Boden, zündeten Windlichter an. Er konnte der Rede nicht folgen, auch nicht sehen, wer sprach. Es interessierte ihn nicht. Seit Marlene da war, schien ihm Sellwerths Tod nur noch ein Vorwand zu sein, um an diesem Begräbnis teilzunehmen. Es kam ihm plötzlich vor, als hätte er schon die ganze Zeit mit Marlenes Auftauchen gerechnet, obwohl er in Wahrheit kein einziges Mal an sie gedacht hatte. Er wollte nicht ihretwegen gekommen sein, er war auch nicht ihretwegen gekommen. Aber er wehrte sich nicht länger dagegen, dass ihre Gegenwart ihm jetzt wichtiger war als alles andere.

Wir thronten damals über den anderen, dachte er.

Vergleichbares hatte er später nie wieder erfahren, jetzt kehrte das Gefühl zurück. Nach so langer Zeit, in der sie nicht das Geringste voneinander gehört hatten, spürte er sofort die alte Vertrautheit, die gleiche beunruhigende Nähe, die gleiche Fremdheit. Nur Sellwerth fehlte, doch für sie beide fehlte er schon lange.

Die Rede war zu Ende. Man nahm ungelenk andere Formationen ein, gruppierte sich um, gab den Blick frei auf die Grabstelle. Ein Blumenteppich bildete einen Halbkreis um die überraschend winzige Bodenöffnung. Daneben der schwarze Erdhaufen, in dem die kleine Schaufel steckte. Der Moment war gekommen, wo sie einzeln vortreten, der Familie ihr Beileid ausdrücken mussten. Schon warf der Erste Erde hinab, gab der Frau neben Sellwerths Vater die Hand, es war offenbar die Mutter, darauf dem Vater selbst, schließlich einem etwa achtzehnjährigen Mädchen, vermutlich Sellwerths Schwester. Schon war der Nächste an der Reihe, der Übernächste, entfernte sich nach getaner Pflicht zuerst schleppend, dann mit immer länger werdenden Schritten, blieb einige Grabreihen weiter stehen, um mit anderen eine Zigarette zu rauchen.

Ohne Zweifel konnte auch Marlene von ihrer Linde aus die von früher bekannten Gesichter unterscheiden, bestimmt hatte auch sie die Namen vergessen. Und vermutlich regte sich in ihr die gleiche Abneigung gegen die immer noch genauso abgewetzten schwarzen Hosen, schwarzen Jacken, die ungepflegten Frisuren, die Jugendlichkeit vorzutäuschen versuchten. Diese Leute gefielen sich wie eh und je in ihrer uniformierten Originalität. Hielten sich nach wie vor für unangepasst, nichtspießig, autark. Glaubten alles zu durchschauen. Trugen ihre eingebildete Überlegenheit als Schild vor sich her. Ihren aus Fatalismus geborenen Hochmut, dachte Harry. Bis auf den heutigen Tag. Sie hatten nicht mehr als ihr bisschen Jungsein und ein wenig überbewertete Unterhaltungsmusik.

Niemals, dachte er, um nichts auf der Welt würde er mit diesen Leuten noch einmal gemeinsame Sache machen. Und auch Marlene hinter ihrer Linde wollte mit diesem Gespensterreigen vermutlich nichts mehr zu tun haben, sonst wäre sie aus ihrer Verschanzung gekommen.

Jetzt blieb die Familie allein am Grab zurück. Er und Marlene warteten. Aber erst als sich hinten bei den Koniferen die letzten Rauchergrüppchen aufgelöst hatten, trat der Vater vor das Loch im Boden. Harry sah den eben noch so gefasst wirkenden Mann in den Knien einsacken, die Mutter herbeieilen, ihm unter die Arme greifen. Die Schwester legte einen kleinen bunten Gegenstand ins Grab.

Die Familie verharrte, jeder auf seine Art. Harry spürte ein Brennen in der Kehle, er bedeckte das Gesicht mit den Händen. Der unvermittelt einsetzende Schmerz verwirrte ihn. Damit hatte er nicht gerechnet. Ein schneidendes Gefühl des Verlusts machte sich breit.

4.

Sie trat zuerst aus der Deckung. Der Kiesweg führte um hohe Sträucher herum, lief, wo sie dahinter auftauchte, auf die Grabstelle zu. Die wenigen Sekunden, in denen sie ihr Gesicht in seine Richtung wandte, genügten, um ihr Bild präzise in ihm wachzurufen. Im selben Augenblick war alles wieder da. Eine Spukerscheinung in seinem Kopf. Als fordere etwas lange Verdrängtes seine Gegenwart zurück. Harrys Blick folgte Marlenes vertrauten, energischen kleinen Schritten. Sie hatte stets behauptet, bei allem, was sie unternahm, werde ein unsichtbarer Zwang auf sie ausgeübt, unentwegt kämpfe sie dagegen an. Sein Blick blieb an der leicht wippenden Lederspange hängen, mit der sie ihr Haar im Nacken zusammengesteckt hatte, an den Falten in ihrem dunkelgrauen Blazer, an den seitlich ein wenig abgetretenen Absätzen ihrer halbhohen Schuhe.

Sie erreichte das Grab, stellte sich, einen Arm in die Hüfte gestützt, hin, ging dann in die Hocke. Die Friedhofsarbeiter hatten begonnen, die roten Grablichter und losen Blumen in Eimer zu sammeln, Kränze und Gebinde auf ein Metallgestell zu packen. Sie ließen sich nicht stören von der verspäteten Besucherin, die da vor dem Loch kauerte. Harry fragte sich, was sie gerade dachte, empfand. Tief vornübergebeugt schaute sie in die kleine Grube hinab, als gäbe es dort unten etwas, gegen das sie sich zur Wehr setzen musste. Doch die Verbindung zu ihr war abgerissen, seit sie wie selbstverständlich aus dem Schatten der Linde hervorgetreten war. Wie früher so oft wusste er plötzlich nicht mehr, wie er sich weiter verhalten sollte.

Dabei hatte er sich bereits in Sicherheit gewiegt, als Sellwerths Familie nach ungefähr einer Viertelstunde erstarrten Dastehens aufgebrochen war. Erleichtert hatte er die Familie Richtung Ausgang gehen sehen, die Mutter einige Meter voraus, dahinter die Schwester dicht neben dem sichtlich mitgenommenen Vater, dessen Schritte immer wieder stockten, der sich immer wieder umdrehte, zurückschaute, erneut gestützt werden musste, sodass sich der Abstand zu seiner Frau noch weiter vergrößerte. Die Mutter schien Marlene, die sie mit Sicherheit doch als Sellwerths Freundin aus Schulzeiten wiedererkannt hatte, zu ignorieren, denn sie hatte ausdrücklich in die entgegengesetzte Richtung geblickt, als sie an Marlene vorüberschritt. Nur Sellwerths kleine Schwester hatte ihr kurz gewinkt. Dann hatte Harry das Knirschen der Schritte im Kies immer leiser werden gehört, bis endlich alle unsichtbar geworden waren. Und er hatte sich vorgestellt, wie auch Marlene diesen sich endlos dahinschleppenden Abgang von ihrer Linde aus verfolgte.

Von seinem eingebildeten Gleichmut war nun nichts mehr zu spüren. Marlene kauerte weiter vor Sellwerths Grab, den Kopf gebeugt. Er trat ein paar Schritte näher, gab den Schutz der Mauer auf, stand auf dem Weg, versuchte, sich ihr Gesicht auszumalen. In seiner Vorstellung zogen die Wangenfurchen ihre Mundwinkel nun deutlich nach unten, über der flächigen Partie zwischen den Brauen wuchsen zwei schmale, durch eine Falte getrennte Höcker. Es war die Miene, die er damals so oft an ihr beobachtet hatte, kurz bevor sie die Stadt verließ.

Ihr Verhalten in jenen letzten Wochen war ihm bis heute unverständlich geblieben. Sellwerths Verzweiflung über den Verrat seiner besten Freunde an ihm, an der Band, an allem, was sie zusammengehalten hatte, war kaum auszuhalten gewesen. Marlene indes zeigte keine Spur von Mitleid, stellte Sellwerth vor vollendete Tatsachen. Sie gehe weg, nach Italien. Sie hatte sich bereits an der Hochschule in Venedig eingeschrieben, einen Italienisch-Kurs belegt, Leute kennengelernt, im Frari-Bezirk ein WG-Zimmer gefunden. An Venedig erschien ihr alles grandios, inspirierend, ihr bisheriges Leben ans Mittelmaß vergeudete Zeit. Nie wieder werde sie ihren Fuß dorthin setzen.

Marlenes Strategie war simpel und wirksam gewesen, er erinnerte sich, wie sie eines Abends, an einen Kneipentresen gelehnt, beiläufig von ihrem italienischen Sommer zu schwärmen begonnen und dabei so getan hatte, als wäre Harry, im Gegensatz zu Sellwerth, seit langem in ihre Pläne eingeweiht. Ständig flocht sie ein »Wie du weißt« oder »Habe ich dir schon gesagt« in ihren Bericht. Und er hatte sich ihr Spiel gefallen lassen. Lächelnd, unbeteiligt, unternahm nichts dagegen, machte mit, half ihr, Sellwerth zu täuschen. Er durchschaute ihre Absicht, wusste die ganze Zeit, dass sie ihn, Harry, benutzte, wenn sie ihre Hand auf sein Bein legte, auf seinen Unterarm, an seine Wange. Und ihre Rechnung ging auf. Sellwerth beobachtete die vermeintlichen Zärtlichkeiten mit fassungslosem Entsetzen.

Natürlich hing die Bösartigkeit der Posse mit Marlenes und Sellwerths Beziehungsgeschichte zusammen. Die beiden hatten als Paar zu studieren begonnen, dann aber auf einmal getrennt gewohnt, ohne dass Harry gewusst hätte, was vorgefallen war. Was wird schon sein?, dachte er damals. Vermutlich handelte es sich um einen ganz normalen Prozess, nicht ungewöhnlich am Ende der Studienzeit. Eine Frage der Lebensplanung. Die einen stagnierten auf halber Strecke, die anderen starteten erst richtig durch. Und was das künstlerische Talent betraf, hatte Marlenes Vorwurf des Mittelmaßes mit Sicherheit auf ihn gepasst, Harry. Für ihn hatte es keine dauerhafte Bühnenzukunft gegeben. So viel hatte er auch damals schon eingesehen.

Immer noch hockte Marlene vor dem Loch, grub mit den Fingern in der Erde, suchte nach Brocken, zerbröselte sie, ließ die Krümel auf den Haufen zurückrieseln. Dann richtete sie sich auf, wischte die Hände an der Hose ab. Gleich würde sie sich umdrehen. Ihn ansehen. Auf ihn zukommen. Er trat ein wenig weiter vor, mit vor der Brust verschränkten Armen.

Er war nicht verantwortlich für diesen Tod. Auch Marlene nicht. Sie hatte die Bande zerschnitten, die sie an Sellwerth gefesselt hatten, die Nahtstellen restlos ausgebrannt. Es hatte ihrer Art entsprochen. Tabula rasa. Er, der Mittelmäßige, war ihr nur ein bisschen zur Hand gegangen.

Als sie endlich den Kopf wandte, hielt er ihrem Blick stand. Er sah ihr Gesicht erst verschwommen, scharf die Wärter, die Blumen im Hintergrund. Ihr Schritt kam dem seinen um eine Sekunde zuvor. Seine Stiefelspitzen stachen in die Luft, zipp und zapp, zwei schwarze Dorne, dazu das Knirschen des Schotters.

»Hallo, Harry«, sagte sie.

»Hallo, Marlene.«

Sie blieben voreinander stehen.

»Alles gut?«

»Alles gut.«

Er schaute kurz auf.

»Selber?«

Sie wiegte den Kopf.

Dann ließ sie ihn stehen.

Harry stand vor dem kleinen Loch, unten der matt glänzende, leicht gewölbte Deckel der Urne. Die hinuntergeworfene Erde musste am Lack abgeglitten, in die Ritzen gerutscht sein. Nur einzelne Krumen waren klebengeblieben. Er hätte sie zählen können. Eine selbstgebastelte Puppe steckte am linken Rand, Beine und halber Rumpf eingeklemmt zwischen Gefäß und Schachtrand, ein Arm seitwärts ausgestreckt. Der zweite Arm fehlte. Mit verdrehtem Hals zeigte sich ihm das Gesicht. Büschel abstehender grüner Fäden markierten eine Irokesenbürste, ein aufgenähtes blaues Kreuz ein Auge, das andere von einer Piratenklappe verdeckt.

Er füllte die Schaufel. Hörte, wie Marlene sich mit kurzen hastigen Schritten entfernte, ließ langsam die schwarzen Humusbrocken hinabrieseln, bis das Knirschen verklungen war.

Als Harry wieder aufblickte, warteten die Arbeiter neben dem Gestell mit den Kränzen offensichtlich darauf, dass er sich ebenfalls verzog.

Auf dem Rückweg zum Auto hörte er, wie sich quietschend die Tore der Aussegnungshalle öffneten. Ein Sarg wurde herausgeschoben, flankiert von den Wärtern. Dahinter erschienen die Frau und die Jugendlichen, die mit ihm vor der Totenkammer gestanden hatten.

Er nahm einen Seitenweg entlang der Umfassungsmauer zum Ausgang.

5.

Sein Stammcafé lag fünf Minuten vom Stadtbüro entfernt. Es war einer der ersten warmen Tage des Jahres. Er setzte sich nach draußen. Sobald sich die Sonne zeigte, hielt er das Gesicht ins Licht. Wurde sie von einer Wolke verdeckt, schaute er vor sich in die Zeitung, nippte an seinem doppelten Espresso. Wieder standen ein paar nie zuvor gehörte Staaten in den Schlagzeilen. Turkmenistan, Kirgisistan, Moldawien. Harry sprach sie leise nach, als übe er Vokabeln. Dann kehrte die Sonne zurück, er schloss die Augen, löschte die Wörter, fühlte seine Anwesenheit unter einem warmen Himmel. Wummernde Schläge wehten aus einem Cabriolet herüber, das vielleicht zwei Straßenecken entfernt an einer Ampel stand, dann weiterfuhr. House, Ambient, Techno. Er konnte diese neuen elektronischen Stilrichtungen nicht auseinanderhalten und auch nichts mit ihnen anfangen.

Der Rhythmus versetzte Kopf und Schultern trotzdem in ein leichtes Federn, das anhielt, während er das Feuilleton und die Wirtschaftsseiten überflog. Selbst den Sportteil las er an diesem Tag nur flüchtig. Wahrscheinlich schaffte er es deshalb bis zu den letzten Seiten der Regionalkultur.

Das Foto bemerkte er anfangs gar nicht. Wäre sein Blick nicht zufällig auf ihren Namen in der fett gedruckten Zeile unter der Überschrift gefallen, hätte er es vermutlich überblättert. Relativ groß aufgemacht, kündigte der Artikel eine Sonntagsmatinee mit zeitgenössischer Musik an. Zu den Komponisten gehörte die Tonkünstlerin Marlene Krahl.

Sie hat es also wirklich geschafft, dachte er.

Harry betrachtete ihr Gesicht auf dem Foto genauer. Es lag an den kurzen, zottelig in die Stirn fallenden Strähnen, dass er Marlene nicht auf Anhieb erkannt hatte. Die Proportionen wirkten verschoben, der Mund breiter, die Nase vogelschnabelartig. Insgesamt schien sich eine herbe Note in ihre Züge geschlichen zu haben.

Die Sonne kam wieder durch, Kellner begannen Schirme aufzuspannen. Er rollte die Zeitung zusammen, versuchte sich zu erinnern, wie sie bei Sellwerths Begräbnis ausgesehen hatte. Fast ein Jahr war das schon her. Er streckte mit geschlossenen Augen sein Gesicht ins Licht, fand aber nicht den geringsten Anhalt. Stattdessen Erinnerungsbilder aus früheren Zeiten: Marlene in der Unicafeteria, auf einem Barhocker des Silverscreen, im Probenkeller mit Saxophon und Pferdeschwanz.

Als wäre sie überhaupt nicht auf dem Friedhof gewesen, dachte er.

Der Gedanke passte zum Rot hinter seinen Lidern. Alles löste sich auf darin, Gegenstände, Wörter, jeglicher Zusammenhang.

6.

Nach Büroschluss machte er sich auf den Weg zu Angie. Eineinhalb Stunden Autofahrt nach Nürnberg. Es wurde ein guter Abend, auch wenn ihn gegen Ende die Ahnung beschlich, es könnte der letzte gute Abend mit Angie gewesen sein.

Sie stand mit dem Weinglas am Fenster, nachdem er ihr den Wunsch abgeschlagen hatte, über Nacht zu bleiben. Mit einem Lächeln schaute sie durch ihr flüchtiges Spiegelbild auf die Straße hinunter, wo sich absolut nichts regte. Sie wickelte eine Strähne ihrer frisch blondierten Haare um den Zeigefinger, ließ die Strähne los, wickelte erneut. Ihre Ängste waren selbstverständlich irrational, ihre Verstörtheit dagegen ohne Zweifel echt. Im Kino hatte sie gezittert, er hatte es jedes Mal fühlen können, wenn sie ihr Gesicht halb an seiner Brust verbarg, halb auf die Leinwand starrte. Bei den Szenen, die durch das Nachtsichtgerät des Serienkillers gefilmt waren, presste sie das Gesicht in seine Achsel, hielt sich die Ohren zu, wollte aber ständig wissen, was passierte, wann es endlich vorbei und ob es gut ausgegangen sei.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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