Willkommen neue Träume - Norbert Niemann - E-Book

Willkommen neue Träume E-Book

Norbert Niemann

3,9

Beschreibung

Von mitreißender Vielfalt und erzählerischer Kraft: Asger Weidenfeldt, ein junger, erfolgreicher Fernsehjournalist in Berlin, spürt, dass er das wirkliche Leben verpasst. Er legt eine Pause ein, fährt zurück in die Heimat, wo seine Mutter Clara, eine gealterte Schauspielerin, vom vergangenen Ruhm zehrt. Als Clara zur Rückkehr des verlorenen Sohns ein großes Fest organisiert, prallen die Generationen, Lebensentwürfe und Träume aufeinander. Es kommt zur Explosion. Ein grandioser Gesellschaftsroman von einem der derzeit provokativsten, kraftvollsten Autoren in Deutschland. Niemann nimmt in den Menschen eines Dorfes das Ganze unserer Gegenwart in den Blick.

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Norbert Niemann

WILLKOMMEN

NEUE TRÄUME

Roman

Carl Hanser Verlag

eBook ISBN 978-3-446-23339-3

© Carl Hanser Verlag München 2008

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt Electronic Publishing GmbH, Hamburg

www.hanser.de

Für Judith

Inhalt

Vorspiel       Hinweg     9

Erster Teil     Tag der Erinnerungen

1. Kapitel     Fuchsenhub Nr. 7     55

2. Kapitel     Ein glückliches Paar     60

3. Kapitel     Väter und Söhne     70

4. Kapitel     Freie Liebe 1     83

5. Kapitel     Freie Liebe 2     94

6. Kapitel     Schleifen, Knoten, Rosen     106

7. Kapitel     Wiedersehen in der Unterwelt     121

8. Kapitel     Alte Wünsche, alte Wunden     134

9. Kapitel     Fragen des Standpunkts     150

Zweiter Teil     Das Event

1. Kapitel     Letzte Vorbereitungen     167

2. Kapitel     Heitere Ankunft auf dem Lande     174

3. Kapitel     Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1     183

4. Kapitel     Der Auftritt     198

5. Kapitel     Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2     208

6. Kapitel     Der Platzregen     224

7. Kapitel     Fromme Wünsche, dankbare Abschiede     236

8. Kapitel     Schlußklänge     251

9. Kapitel     Kehraus     259

Dritter Teil     Wochen der Ernüchterung

1. Kapitel     Beleuchtung eines Übergangs     267

2. Kapitel     Klassische Idyllen     287

3. Kapitel     Schärfere Konturen     309

Vierter Teil     Das Jahr des Staunens

1. Kapitel     Der Antrag     335

2. Kapitel     Nach dem Begräbnis     350

3. Kapitel     Vögel, Fische und Vereine     364

4. Kapitel     Doppelschläge     375

5. Kapitel     Berichte aus der weiten Welt 1     390

6. Kapitel     Toter Mann     407

7. Kapitel     Bürgers Wille     417

8. Kapitel     Tanz am See     430

9. Kapitel     Alles weiß     449

Fünfter Teil     Willkommen, neue Träume!

1. Kapitel     Unternehmen Zukunft     469

2. Kapitel     Renaissancen     498

3. Kapitel     Glück     514

4. Kapitel     Berichte aus der weiten Welt 2     533

5. Kapitel     Tod eines Kommunalpolitikers     553

6. Kapitel     Letztes Geleit     566

Nachspiel     Ausweg     579

Vorspiel

HINWEG

»Niemand hat noch von seiner eigenen Zeit gesungen.«

Petrarca

Sie schießen ins Bild. Fast zeitgleich stoßen ihre milchweißen Köpfe unter der Stadtautobahn hervor, die das Blickfeld begrenzt. Über das weite unbelebte Gelände fliegen sie näher, fünf, vier, drei Schienenstränge zwischen sich, zwei Pfeile mit abgerundeten stumpfen Spitzen. Die verspiegelten Cockpits verleihen ihnen die Gesichter von Zeichentrickfiguren, Aliens von identischem Aussehen, Insekten mit Doppelauge und glatter Knubbelnase, gutmütige Würmer. Wurmartig auch ihre im gelben Spätsommerlicht schlüpfrig glänzenden Leiber, die sich den Windungen anpassen, den Weichen gehorchen, von einer Spur zur nächsten, zur übernächsten wechseln. Daß es aussieht, als schlängelten sie, als würden sie kriechen, gemächlich, abgeklärt, zielbewußt, trotz der hohen Geschwindigkeit, die sie nun drosseln. Und gleiten dann Seite an Seite dahin, überholen sich um Wagenlänge, fallen zurück, während sie enger aneinanderrücken und, überraschend, wieder auseinanderschnellen. Die Enden scheinen sich beinahe zu berühren, ihre Schwänze schlagen aus, als wollten sie die Aufmerksamkeit des Artgenossen erregen, ihren Mitbewerber irritieren, den Konkurrenten aus den Gleisen hebeln. Eine kleine dunkelrote Rangierlok tuckert drüben am Rand des Areals in Gegenrichtung vorbei. Das Tuckern ist nicht zu hören im Rauschen des nahen und des fernen Verkehrs, von dem die Luft so gleichmäßig erfüllt wird, daß es wie Stille klingt. Stille der Großstadt, tuckerndes Bild, ein lautloser Anschein von Tuckern. Dazu der Eindruck eines geschmeidigen Eindringens, als die Pfeilspitzen, die Wurmköpfe unter dem Netz der Richt- und Trageseile, unter dem Gestrüpp aus Fahrleitungen und Galgen und Isolatoren hindurch die Brücke erreichen. Als stellte diese hübsche, alte, frisch renovierte Eisenkonstruktion mit ihren Fachwerkbögen eine Art Barriere dar. Als ob zwischen ihren Pfeilern, den sandgestrahlten Steinquadern der Gründungen, aus denen die Träger wie vom eigenen Gewicht herabgebogenes Schilfgras sprießen, unsichtbare Membranen eingezogen wären, die es zu durchstoßen gilt. Ein Ensemble von Toren, das die Bahnanlagen überspannt, eine Front versperrter Durchlässe, die geöffnet, die aufgebrochen werden müssen, um von einem menschenleeren Raum in den nächsten menschenleeren Raum zu gelangen.

Der Mann stellte sich auf Zehenspitzen, hob die Kamera und ließ sie wieder sinken. Er stieg auf die untere Querstrebe des Geländers, um das Objektiv über das Schutzgitter zu bringen, das schräg als eine Art Auffangrinne entlang des Brückenlaufs montiert war. »Achtung Starkstrom«. Etwa alle fünf Sekunden betätigte er den Auslöser, fotografierte zuletzt doch durch das engmaschige Drahtwerk, während unter ihm die Züge hindurchschlüpften. Der Mann sprang auf den Gehsteig zurück und wechselte den Film.

Auf dem Trottoir herrschte dichtes Gedränge. Es war nach fünf, die Menschen auf dem Heimweg von der Arbeit. Sie kamen aus den kürzlich fertiggestellten, in der Abendsonne funkelnden Glas- und Stahlbauten, die als Steilufer das Flußbett der Gleise begrenzten und inzwischen von Ämtern und Zentralverwaltungen und Banken bezogen waren. Sie strömten in die verwitterten Betonaufstiege der S-Bahnen, zu den Haltestellen der Busse auf der anderen Seite des Gleisgeländes. Vor dem Mann, der umständlich an seinem altmodischen Fotoapparat fummelte, geriet der Fußgängerverkehr ins Stocken. Männer in Anzügen, eilige Frauen mit strengen Frisuren und erschöpften Mienen schlugen einen Bogen um ihn, der als Hindernis den Weg verengte. Der hagere Sechzigjährige war unrasiert und trug sein dichtes graues, etwas zu langes Haar quer über den Kopf gekämmt. In seinem abgewetzten khakifarbenen Anorak und den Schnürstiefeln, an denen Brocken angetrockneten Lehms klebten, konnte er vielleicht für einen Bergwanderer gehalten werden, der sich in die Großstadt verirrt hatte. Das betonten auch die unruhigen Augen unter den buschigen, an der Nasenwurzel zusammenstoßenden Brauen, wenn er schulterzuckend und schamhaft lächelnd immer wieder Blickkontakt mit den Vorübereilenden suchte. Als bitte er um Auskunft, wo genau er hier eigentlich gelandet sei und wie er wieder hinausfinden könne. Doch dem Mann war nicht zu helfen. Letztlich zählte er zu jener Kategorie von Fremdkörpern, für die es keine Schnittstelle im Bewußtsein gibt und die im selben Augenblick, in dem sie wahrgenommen, auch schon vergessen, aus dem Gedächtnis gelöscht werden. Da war nur ein blinder Fleck auf dem Bürgersteig, der als Hürde registriert und möglichst schnell umgangen werden mußte, wollte man im Zeitlimit bleiben.

Der Mann wich so gut es ging zurück, preßte den Rücken gegen die Brüstung, legte eine Hand schützend über die Kamera, die nun wieder schußbereit vor seiner Brust baumelte. Die Finger der anderen Hand umklammerten die Dose mit dem vollen Film. Auch er verstand plötzlich nicht mehr, wozu er hergekommen war. Es kam ihm lächerlich vor, hier im kalten Wind zu stehen, beschienen vom gloriosen Septemberlicht, peinlich sein instinktives Schnuppern in einem Geruch nach nichts. Er empfand sich selbst wie nicht vorhanden, vertrieben in eine Illusion, die nur als atmosphärische Störung in die Wirklichkeit ragte. Der Mann schloß die Augen und grub in seiner Erinnerung nach dem Grund für seine Anwesenheit.

Er ist schon einmal auf der Brücke gestanden und hat Aufnahmen gemacht, mit demselben Apparat. Ein junger ehrgeiziger Mensch, der Berufsfotograf werden wollte. Mit genau diesen preisgekrönten Fotos schaffte er es. Fünfunddreißig Jahre lagen dazwischen. Damals war die alte Leica alles, was er besaß. Heute lebte er in den kurzen Ruhephasen zwischen seinen Reisen draußen auf dem Land. Abgelegenes Haus am See, großes helles Atelier mit Blick auf die Alpenkette über Wasser und Ried. In den Redaktionen der internationalen Magazine war sein Name trotz des immensen Konkurrenzdrucks nach wie vor eine feste Größe. Städteporträts waren sein Kerngeschäft, Kriegsgebiete hatte er immer gemieden. Routine garantierte die konstant hohe Qualität seiner Arbeit, auch wenn er sich eingestehen mußte, daß die Motive ihn immer seltener zu fesseln vermochten. Doch das war nicht der Grund für das, was dann einsetzte, ihm nie zuvor widerfahren war und sich seither nicht wieder abschütteln ließ: Sein Metier ermüdete ihn. Schlimmer: Er mochte seine Bilder nicht mehr. Etwas, er besaß keine Worte dafür, hatte sich aus ihnen verflüchtigt. Nichts sprang ihn an, stachelte ihn auf weiterzumachen, besser zu werden, noch besser. Es gab nichts zu verbessern an dem lauen Mittelmaß, das er in ihnen zu sehen glaubte. Deswegen war er hierher zurückgekehrt, nachdem er tagelang nichts anderes hatte tun können, als sein Archiv zu durchforsten. Was eigentlich hatte er geglaubt, mit der Kamera eingefangen zu haben? Seine unverwechselbare Perspektive, davon war früher oft die Rede gewesen, der Lieblsche Standpunkt, der den Dingen ihre Wahrheit abringt, dieser Ruf eilte ihm voraus bis heute. Was für eine Wahrheit? Je länger er in seinen Mappen blätterte, desto weniger wußte er eine Antwort. Auf den Abzügen fand er überall nur eine Doublette des Gewöhnlichen, er dachte, schal die Katastrophe, nachdem sie eingetreten ist. Welche Katastrophe?

Liebl stieß sich vom Brückengeländer ab. Wie jemand, der sich ins kalte Wasser stürzt, sprang er zwischen die Passanten und riß die Kamera hoch. Exakt diese Position hatte er seinerzeit eingenommen, exakt diesen Ausschnitt hatte er gewählt. Das Geschiebe der Menge, der Verkehr, der sich auf der Fahrbahn staute, wie jetzt. Halbe Köpfe, Hüte ragten damals ins Bild, die Autos liefen als Band am unteren Rand durch die Schrägen, Senkrechten, Kreuze der Balken und Stäbe, dahinter die Brüstung, und zwischen ihrem Gestänge waren Segmente des Bahnhofs zu identifizieren, die Silhouette der Stadt. Alles wirkte wie durchgestrichen, die Körper eingesperrt, die Fluchten verstellt. Daß er an jenem Tag mehrfach angepöbelt worden war, fiel ihm wieder ein. Mit einer gewissen Aggressivität hatte er sich an die Arbeit gemacht, sie vermittelte sich auf den Aufnahmen als leichte Verwischtheit. Nichts davon heute. Um ihn ruhiges lethargisches Fließen. Was hatte seinen Blick geleitet? Fest stand, die alte Einstellung taugte nicht mehr.

Er überquerte die Fahrbahn, quetschte sich zwischen den eng aufgefahrenen Autos hindurch auf die gegenüberliegende Seite der Brücke. Die beiden Schnellzüge waren schon lange in den Sackbahnhof eingefahren. Ihre glatten Körper steckten im Gebäude, als hätten sie sich Kopf voran hineingebohrt. Bleiche Maden, die aufs Fressen konzentriert stillhielten, während sich an einer anderen Stelle der breiten Einfahrtsöffnung, dieser großen klaffenden Wunde, ein sattes Exemplar von ihrem Wirt löste und träge davonstahl. Die Einstiegsluken standen offen, die Abteile hatten sich geleert. Liebl konnte es sehen, die hinteren Waggons ragten aus der Halle. Die Bahnsteige hatte man weit ins Freie hinaus verlängert und mit separaten Überdachungen versehen, das hatte es früher nicht gegeben. Dort befand sich kein Mensch. Überhaupt wirkte der Ort leblos, die wenigen Rangiermanöver schienen sich zu verlangsamen, und das Innere des Baus war von hier aus nicht einsehbar. Jetzt rührte sich gar nichts mehr. Die Sonne fiel schräg von hinten ein, wurde von den Glasfronten der Verwaltungsgebäude reflektiert. Je tiefer sie sank, desto mehr Fensterflächen verstärkten ihr Licht. Anschwellende Beleuchtung, seitlich die riesigen blendenden Spiegel. Der Kasten, in glühendes Kupfer getaucht, war kaum noch als Bahnhof wiederzuerkennen. In Flammen das Hallendach, überbelichtet die Gegenstände darunter. Sie wurden durchscheinend, strahlten von innen, die Konturen lösten sich auf.

Mit zusammengekniffenen Augen, weit über das Geländer gelehnt, beobachtete Liebl das Schauspiel. Unwillkürlich tastete er nach der Kamera, mit der bedächtigen Bewegung des erfahrenen Jägers brachte er sie vors Auge. Plötzlich erinnerte er sich. Er war hier, weil er noch einmal von vorne beginnen, seinen Beruf neu für sich erfinden wollte. Er mußte auf die andere Seite einer Sperre gelangen. Er wollte in die Objekte hinein. Er hatte die Absicht, jenes versteckte Leben auf seinen Film zu bannen, das entgegen allem Anschein hinter den Fassaden der Bauten, unter dieser Außenhaut aus Fahrzeugen, Brücken, Tunneln, Kanälen, Leitungen, Netzen existierte, wie zum Trotz weiter existierte. Er hatte sich in eine Täuschung einschließen lassen und seinen Irrtum auf Fotos vervielfältigt, die Täuschung gesteigert. Aus Irrtum war er zum Komplizen der blickdichten Oberfläche geworden. Künftig sollten seine Aufnahmen die Dinge durchsichtig machen. Er wußte nicht, ob das möglich war, ob er nicht wieder irrte. Er hatte keine Ahnung, was dann zum Vorschein käme, ob überhaupt noch etwas zu sehen wäre. Aber er war auf eine Spur gestoßen, die ihn vorwärtszubringen schien in seinem Vorhaben.

Im Sucher nichts als gleißende Helle. Nach längerer Betrachtung jedoch erschien ganz schwach ein Schema. In dünnen Strichen auf goldenem Grund war etwas angedeutet, abstrakt wie die Zeichnung eines Schaltplans. Eine Art Buchse, auf die ein Gewirr greller Linien zulief, die den Sonnenuntergang reflektierenden Schienen und Gabelungen. Es waren flirrende Lichtfäden, die aufblitzten, versprühten, platzten, zerstoben. Explosionen von Licht. Der Fotograf rieb sich die Augen, ein wanderndes Muster blieb auf der Netzhaut zurück, es glich anderen, vertrauten Mustern. Er schraubte am Objektiv. Offene Blende. Als er den Auslöser drückte, kam es ihm vor, als betätige er eine Fernzündung. Der Mann wußte, auf dem Abzug würde so gut wie nichts zu erkennen sein. Doch in der weißen Leere der Detonation wären möglicherweise minimale Schatten zu entdecken und darüber vielleicht auch diese Ahnung eines Fadenkreuzes.

Von einer Minute zur nächsten versank alles in Dunkelheit, als hätte ein Stromausfall das Flutlicht in einem Stadion lahmgelegt. Beinahe übergangslos erloschen die gewaltigen Scheinwerfer, die gespiegelten Doppelgänger der Sonne, nachdem diese unter den Dächerrand des Horizonts gesackt war.

Aber es handelte sich um kein Stadion, und die Massen erstarrten keineswegs mit offenen Mündern in ihren Gesten. Sie verstummten auch nicht. Keine Ruhe trat ein, auch wenn die schlagartige Verfinsterung der Einbildung Vorschub leistete, mit dem Licht seien auch die Menschen ausgelöscht und mit ihnen das von Dach und Wänden widerhallende Brausen ihrer Stimmen und Schritte verschwunden. Unten auf den Perrons, in der Vorhalle, zwischen den Kiosken ging das Schleppen, Hetzen, Stoßen, Warten ohne Unterbrechung weiter. Die Leute blinzelten nicht einmal, denn unmittelbar über dem Pflaster der Plattformen herrschte ein gleichbleibender Dämmer, als verströme der Untergrund sein eigenes schwaches Schimmern. Den klackernden Absätzen der Pumps und Stiefel, den dumpf aufklatschenden Lederhalbschuhen folgend, seitwärts ausweichend den verhalten knarzenden Turnschuhen, den pochenden Tritt von Gesundheitsschuhen als Warnung im Ohr, vor den geräuschlos von hinten überholenden oder quer einfallenden Slippers und Wildlederboots ständig auf der Hut, blieb der Gesichtskreis jedes Reisenden ganz auf das unveränderlich stumpfe Einheitsgraublau des Bodenbezirks beschränkt. Von einem gelegentlichen Hochschnellen des Oberkörpers und Strecken des Halses abgesehen, mit dem man sich hier und da Übersicht zu verschaffen, irgendeinen Zielpunkt ins Auge zu fassen bemühte, bewegte man sich in einer von Hosenbeinen, langen, kurzen und ganz kurzen Röcken, Nylons, Baumwollstrümpfen und Socken, Anzügen, Blazern, Barbourjacken, Jeansoutfits und Mänteln aus Loden, Popelin, Velourviskose, Kaschmir eng begrenzten Welt. Man kämpfte sich durch die gefährliche Welt der Trage- und Reisetaschen, der Rucksäcke, Handkoffer und Koffer, die auf quietschenden Rollen hinterhergezogen wurden, in der anstrengenden Welt der Handymelodien und Handymonologe und der wechselnden und sich vermischenden Drogeriedüfte. Man versuchte angespannt, aus den sich überschlagenden, sirenenhaften Lauten der Ansagen, die unentwegt von schrillen Pfiffen, vom Piepen der Verriegelungsautomatik und dem nachfolgenden, dumpf saugenden Geräusch beim Schließen der Waggontüren überlagert wurden, Bruchstücke von Sätzen und Wörtern zu filtern und sie hinterher im Gedächtnis zu Informationen zusammenzusetzen. Man fahndete nach Anzeigetafeln, nach Zug- und Gleisnummern und Abfahrtszeiten, während man vor den leise heransurrenden, orange lackierten Transportern mit ihren mürrischen Lenkern und ihren langen Kolonnen von Anhängern zurückfuhr. Abholdienste, Geschäftspartner, Liebende, Familienangehörige standen herum, damit man auf sie auflief, sie umständlich umgehen mußte, dunkelhäutige Chauffeure mit Schildern, auf denen Mr. Smith oder Dr. Carducci oder Intercontinental oder ein Firmenname mit dickem Eddington aufgemalt war.

Eine seit dem frühen Morgen nicht abreißende Serie von Verspätungen hatte eine Kettenreaktion der Gleisverschiebungen, der wartenden oder bereits abgefahrenen Anschlüsse ausgelöst und den Fahrplan heillos durcheinandergewirbelt. Ein beleibter Herr undefinierbaren Alters ließ seine zwei mächtigen Koffer zu Boden sinken. Am Ende des Ankunftsbahnsteigs und auf der Höhe der Prellböcke angelangt, wischte er sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Das feiste Gesicht unter dem karierten Schlapphütchen war hochrot angelaufen. Er blähte die Backen, die langen, gekräuselten, von einigen Silberfäden durchwirkten Koteletten sträubten sich. Eine kleine vollschlanke Frau im veilchenblauen Jogginganzug mit hellrosa Applikationen und der Aufschrift »It’s beautiful« winkte ihm mit hektisch rudernden Gebärden. Sie stand drüben, nahe der Rückseite einer der verchromten Imbißbuden, und zwischen ihnen strömte der Strom der Passagiere und Bahnangestellten. Ihr Ziehkoffer und die bauchige Umhängetasche waren mit dem gleichen karierten Stoff bezogen wie die ausgebeulten Gepäckstücke des Mannes, schwangere Riesenmuscheln, die den Anschein erweckten, ihre Niederkunft mit weiteren niedlichen Taschen aus derselben Serie stünde unmittelbar bevor. »Karibik gewinnen!« war auf der Reklamewand über einem Meer mit Strand und Palmen zu lesen, vor der sich die Frau nun zum Weitergehen wandte. Wo eben noch ihr rundes, breitwangiges Gesicht mit dem großen derben Mund zu sehen war, zeigte sich ein abgetakeltes Segelschiff mit drei Masten. Der Mann öffnete den Reißverschluß seiner karierten Windjacke bis auf Nabelhöhe, um etwas mehr Bauchfreiheit zu gewinnen. Dann nahm er seine Last wieder auf und zockelte der vorwegpreschenden veilchenfarbenen Rückenansicht hinterher, über der das kastanienbraun gefärbte Kräuselhaar im dringlichen Takt ihrer kurzen Beine wippte.

Kaum war er in die Drift des Querbahnsteigs eingetaucht, stach im flotten Marsch ein Soldat um die Ecke des Kiosks. Hager, sehnig, von hoch aufgeschossener Statur, überragte er das Gewimmel, durch das er sich Haken schlagend und von keinem Hindernis gebremst pflügte. Wie ein Haubentaucher auf den Wellen schwamm sein mit einem Barett schräg bedeckter Kopf in der aufgewühlten Strömung, wie ein vom Sturmwind entführter Wasserball trieb er darüber hin. Eine kleine Asiatin zerrte an ihrem festgefahrenen, hoch aufgeladenen Gepäckwagen. Urplötzlich löste sich der Querstand der Räder, und sie schnellte rücklings vor die Füße des Uniformierten. Der fing sie auf, nachdem er reflexhaft seine klobige Militärtasche geschultert hatte, und schaute streng zu der winzigen Frau an seiner Hüfte hinunter. Über das sehr kahle, sehr kantige Gesicht des etwa fünfunddreißigjährigen Mannes huschte der Anflug einer Gefühlsregung. Für einen kurzen Moment flackerten die Pupillen, bevor er sie zum Stillstand zwang und die Lider anspannte. Es ließ sich nicht entscheiden, ob sein Blick Zorn ausdrückte über diese Belästigung und fahrlässige Unterbrechung seines Kurses, oder Verachtung. Die sehr hellen und schütteren Brauen waren kaum zu erkennen und verstärkten den Anschein von Kälte in seinen hellblauen Augen, während die um fast zwei Köpfe kleinere Asiatin kichernd, glucksend in seinen Armen zappelte und sich pausenlos radebrechend auf Englisch entschuldigte. Endlich zogen sich die tiefen senkrechten Wangenfurchen zu zwei spitzen Winkeln auseinander. Der Soldat lächelte, griff sich den Gepäckwagen und bugsierte ihn zügig zum Eingangsbereich der Schalterhalle. Die mädchenhafte Frau verbeugte sich immer noch mit nickenden Bewegungen, als über der Menge der Kopf mit der roten Mütze längst hinter einem der bereitstehenden Züge aus dem Sichtfeld gespült war.

Unweit, vor dem Schaufenster eines Pressestands, stand einer mit getönter Brille und beobachtete den Vorgang. Er setzte einen Fuß vor, als wollte er zu Hilfe eilen, zog ihn wieder zurück, knickte ein Knie über das andere, rieb mit Daumen und Zeigefinger das unrasierte Kinn. Gleich darauf ließ er abrupt die Hand sinken, als würde er einen Fremdkörper von sich stoßen. Nun hingen die Arme herab und verfielen in schwaches Pendeln. Die leichte, kakaobraune Sporttasche in seiner Linken schaukelte mit. Das Erscheinungsbild der mittelgroßen, schmächtigen Person war ein wenig verwirrend. Ließ es zuerst an einen gutaussehenden jungen Mann, fast an einen Jugendlichen denken, verwunderte im nächsten Moment das seltsam Kraftlose, Verlebte des Gesichts. Die sehr helle Haut unter den hohen Backenknochen war abgesackt und zog die Mundwinkel mit nach unten, während die von den Gläsern leicht verdunkelten Augen staunend oder hochmütig umherwanderten. Dabei zuckten beständig die Lider und verliehen ihm einen schlauen, beinahe verschmitzten Ausdruck. Einen notorischen Nacht- und Partymenschen konnte man glauben vor sich zu haben – und hätte gleich darauf zum Beispiel auf einen Wissenschaftler getippt. Jedes Detail seiner Gestalt schien die anderen Details Lügen zu strafen. Etwas kindlich Schwärmerisches und zugleich greisenhaft Spöttisches lag in der Art, wie er sich auf einmal umdrehte und übertrieben aufmerksam die Zeitschriften der Auslage musterte. Den Oberkörper weit nach vorne gebeugt, die Nase knapp vor der Glasscheibe, ruckte sein Kopf die Zeile der aufgereihten Titel entlang. »Living«, »Casa«, »Eden«, »Gehirn & Geist«, »Weinwelt«, »Wellness«, »Chronos«, »Treppen«, »Alpenjournal«. Bald riß er sich los, machte, als würde er Anlauf nehmen, ein paar energische Schritte Richtung Hallenmitte und erstarrte erneut.

Die Asiatin war mittlerweile verschwunden, der Blick des Mannes folgte den vorüberhastenden Menschen. Er schien sie zu studieren, er forschte nach etwas, an ihrem Äußeren wahrscheinlich, nach ihrer Art sich fortzubewegen, man hätte annehmen können nach Extravaganzen, wäre er mit seinem Verhalten nicht selbst aus dem Rahmen des Üblichen gefallen. Seine Brille, das in die Stirn gekämmte, dunkle Haar, der vanillefarbene Anzug und die roten Sneakers, der bunte Stoffbeutel mit den folkloristischen, vermutlich mexikanischen Motiven, der an seiner Schulter hing, hatten etwas von einer Verkleidung. Fast legte sie die umgekehrte Schlußfolgerung nahe, sein scheues, amüsiertes Interesse gelte gerade der Gewöhnlichkeit seiner Zeitgenossen. Hier stakste eine Schönheit vorbei, die sichtlich Karriere gemacht hatte, dort lungerte jemand, der sein Unglück als Kainsmal auf der Stirn trug, und drüben schien einer mit leerem Blick nur darauf zu warten, daß die Zeit verging. Alle traten sie voreinander auf, als wäre es die normalste Sache der Welt. Wie machen die das? Was ist ihr Trick?

So vielleicht konnte dieses Schmunzeln und Dastehen gedeutet werden, das der Mann jetzt unterbrach, um zuerst auf die Armbanduhr, danach hinüber zur großen Anzeigetafel zu schauen, wo grüne Lämpchen neben den Namen der abfahrenden Züge blinkten. Dann lief er Richtung Gleise davon.

Wie immer am Abend waren die Regionalverbindungen überfüllt. Auf den Zwischengängen der Großraumabteile stauten sich erschöpfte Angestellte, launige Lehrlinge, gleichmütige Arbeiter, lässige Rekruten, stille Studenten, lärmende Schüler, verschüchterte alte Leute. Sie suchten nach Sitzplätzen in den vorderen Waggons, und es würde einige Zeit dauern, bis der erfolglose Rest aufgegeben und sich auf die Gänge bei den Toilettentüren verteilt hätte. An die Seitenwände unter den Feuerlöschern gelehnt oder auf Seesäcken und Aluminiumkoffern in den engen Durchgängen hockend würden sie in sich gekehrt oder wütend bis zu ihren Zielbahnhöfen ausharren. In Gedanken würden sie bittere Beschwerdebriefe schreiben an das Management der Bahn, sich vornehmen, den Kampf um Sitzgelegenheiten in Zukunft noch früher aufzunehmen, oder sich entmutigt, träge, gelassen, wie auch immer, mit ihrem Los abfinden.

Für die vier um eine der Tischplatten gruppierten Fahrgäste fand das neben ihnen tobende Geschiebe nur am Rande des Bewußtseins statt. Sie hatten ihren Platz ergattert und lehnten nun wunschlos erschöpft in den Sesseln. Der Soldat, der sein Barett auf den Knien abgelegt hatte, wo er es mit beiden Händen festhielt, saß mit geschlossenen Augen starr aufgerichtet. Nur sein Oberkörper schwankte ein klein wenig im Stoßtakt der Räder. Ihm gegenüber putzte der Mann mit dem verwelkten Kindergesicht seine beschlagenen Brillengläser und schaute zwinkernd auf die vorübergleitenden Vororte hinaus.

Die Dämmerung war bereits fortgeschritten. Doch über den blaustichigen Quadern der Industrieanlagen und Gewerbebauten stand noch ein Fetzen blanken Himmels, scharf begrenzt von schwarzblauen Gewitterwolken, die von Westen hereinzogen. Der seltsam verzitterte Kondensstreifen eines Flugzeugs durchkreuzte die rosarote Fläche. In ihrem Glanz waren die Staus auf den Ausfallstraßen, die Häuserzeilen und Vorgärten noch in allen Einzelheiten zu unterscheiden, obwohl Scheinwerfer und Lichtreklamen, die Beleuchtungen der Straßenkreuzungen, Betriebsgelände, Schaufenster und Tankstellen schon brannten. Streckenweise sauste der Zug zwischen Lärmschutzwänden aus Beton, gelegentlich von Plexiglasflächen durchbrochen, auf denen Scherenschnitte fliegender Vögel klebten. Dann war nur das verdoppelte Wageninnere in der Fensterscheibe zu sehen, die beiden Neonbahnen unter den Kunststoffblenden entlang der tonnenförmig gewölbten Decke. Die Gepäckablagen erinnerten mit ihren massigen Gitterstreben an die Rippen eines Walfischskeletts. Ins Brustbein waren Leselampen eingelassen. Unter ihren Lichtkegeln zeichneten sich die Mitreisenden besonders scharf ab, als Spiegelbilder konnten sie unbemerkt betrachtet werden.

Der Herr am gegenüberliegenden Fenster verbarg sich hinter einer Boulevardzeitung, auf deren Titelseite neben einem unscharfen Foto, das Trümmer, ausgebrannte Autos und Leichen ahnen ließ, die Überschrift »Blutiger Herbst« in riesigen roten Lettern prangte. Am Mittelfinger seiner rechten, stark behaarten Hand steckte ein breiter Siegelring. Neben ihm beugte sich eine ganz in Schwarz gekleidete Frau über ihr aufgeklapptes Notebook. Sie schien konzentriert zu arbeiten, unter den himmelblau, fuchsrot und dunkelviolett gefärbten Strähnen lag ihre fleischige Stirn in tiefen Falten. Gegenüber, auf der anderen Seite des Tisches, saß ein junges Paar. Beide trugen hellgrüne Stirnbänder mit aufgenähten weißen Plastikherzen, die wie Warnblinkanlagen von links nach rechts wandernd unablässig aufleuchteten. Sie knipsten auf Mobiltelefonen herum, die sonderbare Grunzlaute von sich gaben. Ab und zu zeigten sie einander mit verliebten Augen die Displays.

Schnellte der Zug aus den Schutzschneisen, lösten sich die Abbilder der Passagiere nicht auf, wurden nur kraftloser, durchsichtig auf die Außenwelt. Durch die Körper hindurch traten Sträucher, Bäume, Häuser, Fahrzeuge hervor, über die Landschaft legte sich die Kopie der Landschaft vor dem Fensterausschnitt drüben: Ein Lastwagen raste durch eine Scheune, auf der Wellblechwand einer Fabrikhalle erschien die Ansicht eines Dorfs am Hügel. Manchmal trafen Strahlenbündel naher Bogenlampen direkt in den Wagen. Die Spiegelungen verschwanden.

Der Mann wandte sich vom Fenster ab und setzte seine getönte Brille wieder auf. Hinter dem noch immer mit geschlossenen Augen dasitzenden Soldaten und der pummeligen Frau im It’sbeautiful-Trainingsanzug, die gerade Sandwichdreiecke aus einer Hartplastikhülle herauszudrücken versuchte, staffelten sich die Rundungen der Lehnen. Über die Oberköpfe huschten, flackerten Spots, standen eine Weile still und illuminierten Schweißperlen, Hautrötungen, kleine Pickel, die bräunlichen Verfärbungen der blau und magenta gepunkteten Sitzbezüge neben den altrosa Lappen der Schoner. Vier Reihen weiter teilten Glaswände das Abteil. Raucherpiktogramme klebten darauf. Der Mann schob seine bunte Umhängetasche auf den Schoß, zog ein schmales Buch und ein Päckchen griechische Zigaretten heraus.

»Laß mich das machen.«

Seinen voluminösen Oberkörper über die Tischplatte wuchtend, griff der Herr mit dem karierten Hütchen nach der Packung mit den belegten Schnitten, die seine Frau inzwischen mit den Zähnen zu öffnen beabsichtigte. Er riß sie ihr aus dem Mund. Schwer atmend drehte und wendete er die Box in seinen dicken Fingern. Thunfisch, Ei und etwas wie ein Salatblatt waren durch die Klarsichtwände zwischen mehlweißen Brotscheiben zu identifizieren. Schließlich fummelte er ein kleines Schweizermesser aus der Hosentasche und machte sich mit abgespreizten Ellbogen daran, den Behälter zu tranchieren. Mehrmals rutschte die Klinge ab an dem widerspenstigen Ding, mehrmals stieß er, ohne es zu merken, mit dem Ellbogen ans Knie seines Nachbarn. Der Mann mit der Brille veränderte die Sitzhaltung. Er zündete sich eine Zigarette an, schlug das Buch auf.

»Heute klappt gar nichts.«

Die Frau sandte die Worte mit einem entschuldigenden Augenaufschlag zu dem jungen, trotz seines ein wenig gönnerhaften Lächelns durchaus sympathischen Herrn hinüber, der ihr eine eigenartige Regung von Zuneigung und Mitleid einflößte. Sie hätte nicht sagen können, woran es lag, intuitiv hatte sie sofort Vertrauen zu ihm gefaßt. Er erinnerte sie an etwas, vielleicht an irgend jemanden, dessen Foto sie öfter in ihren Illustrierten gesehen hatte, oder an den älteren ihrer beiden Söhne, der sie zuletzt vor vier Jahren zu ihrem fünfundfünfzigsten Geburtstag besucht hatte. Helmut übte einen angeblich sehr aufreibenden, aber gut bezahlten Beruf namens Consulting aus. Sie konnte sich nichts darunter vorstellen. Kurz bevor sie in Urlaub gefahren war, hatte er sie angerufen und ihr mitgeteilt, er sei arbeitslos geworden.

Die Frau überkam das Bedürfnis, den in einem beigefarbenen Buch mit gebrochenem, abstehendem Rücken lesenden Mann in eine Unterhaltung zu verwickeln. Nicht daß sie glaubte, ein Gegenüber aufgespürt zu haben, das mit außerordentlichem Einfühlungsvermögen begabt auf Anhieb ihre Sorgen und Nöte begreifen würde, wenn sie nur anfinge von ihrem Leben zu erzählen. Vielmehr versprach die Vorstellung, daß ihr überhaupt jemand zuhörte, gleichgültig was sie redete, grundsätzlich Wohlbehagen, beinahe eine Art Beseligung. Sie unterschied ihre Mitmenschen nach dem Grad ihrer Aufnahmefähigkeit. Es gab Taube, Schwerhörige und bisweilen solche, die sich gegen keine Sorte von Geräusch wehren konnten. Der Sitznachbar ihres unterdessen mit seinem Taschenmesser in den Polyacrylpanzer eingedrungenen Ehemanns erschien ihr als ein einziges, offenes Ohr, das nur darauf wartete, in Anspruch genommen und aus seiner Einsamkeit gerissen zu werden.

»Erst der Flieger in der Warteschleife, dann der ICE um über eine Stunde verspätet. Ich kann Ihnen sagen.«

Dem Mann mit dem Taschenmesser war es mittels Hebelwirkung gelungen, die Schalenhälften zu öffnen. Er nahm seinen Anteil der Brotzeit heraus, schlang ihn in zwei Happen hinunter. Darauf reichte er die Box seiner Frau, die ein großes Stück vom Sandwich abriß und mit ermunterndem Kopfnicken ihrem Gegenüber hinhielt. Über den Rand der Bruchstelle lappte eine Scheibe hartgekochtes Ei, der bröckelige Dotter drohte aus dem Eiweißring zu fallen.

»Bitte nicht.«

Dem Eingeladenen sank das Buch vornüber, es lag ihm wie ein Tablett auf der flachen Hand. Ein Ausdruck befangener Höflichkeit, in den das Lächeln des jungen Mannes nun umschlug, widerlegte die ablehnende Äußerung. Den gutmütig sonoren Klang seiner Stimme konnte er trotz aller Zurückhaltung nicht verbergen. Die Frau hatte genug gesehen und gehört, um sicher zu sein. Herzhaft biß sie in das gerade noch dargebotene Stück ihrer Schnitte, mümmelnd setzte sie die Unterhaltung fort.

»Rudolf ist nun einmal nicht mehr der gesündeste. Magen, Gelenke, Leberwerte, der Blutdruck gibt den Ärzten Rätsel auf. Rauf, runter, wieder rauf.«

Rudolf wand sich unruhig in seinem Sessel.

»Nichts wären sie im Amt ohne ihn gewesen. Denen ist das natürlich egal.«

Sein Gesicht wurde käsig, das Schnaufen ging in leises Pfeifen über.

»Den Politikern sowieso.«

»Helene«, zischte er.

Der Uniformierte öffnete die Augen und schloß sie gleich wieder. Ein Seitenblick auf den Dicken schien ihm zu genügen. Bei den Beamten, den Zivilisten der Wehrverwaltung gab es ganz ähnlich behäbige, aufgedunsene Pantoffelhelden. Dann und wann plauderte der Soldat gerne mit diesen alten Männern, die nie aus ihrem Kasernenstandort herauskamen. Oft waren sie wandelnde Witzbücher. Man konnte gar nicht anders, als sie mögen. Manche hielten irgendwo eine Flasche Schnaps versteckt. Trotzdem gehörten sie weg. Sie waren die Verstopfung des Landes.

Helene beachtete den Protest ihres Gatten nicht.

»Hundertfünfzig Euro weniger. Hören Sie mal. Das sind dreihundert Mark.«

Der Buchbesitzer hörte und nickte verlegen. Sein Mund klappte auf und zu und wieder auf. Er schien nach geeigneten Worten zu suchen, aber beim besten Willen keine finden zu können. Schließlich räusperte er sich.

»Eine schlimme Zeit.«

Hüstelnd wandte er sich wieder zu seiner Lektüre.

Durch schmale Sehschlitze spähend, konnte der Soldat nicht umhin, auch den Zeitgenossen vis-à-vis heimlich noch einmal genauer zu betrachten. Beim Einsteigen hatte er ihn kurz gemustert und sich wohl sofort geschworen, ihn für die Dauer der Fahrt vollständig zu ignorieren. Von kräftigem Knochenbau, besaß er Anlagen, die durch ein wenig Training und Disziplin einen Athleten aus ihm geformt hätten. Doch der Waschlappen zog es vor, seine Natur mit Füßen zu treten. Zudem bezeugte seine lächerliche Aufmachung, daß es sich hier um eines jener Exemplare der Gattung handelte, die auch den letzten Bodenkontakt verloren hatten.

Den meisten Bürgern hierzulande war ihre Ahnungslosigkeit ja an der Nasenspitze abzulesen. Sie hatten nicht die geringste Vorstellung von dem, was wirklich vor sich ging da draußen, ein paar hundert Kilometer jenseits der windigen Mauern dieses Kindergartens. Sie ließen sich mit ihrer Tagesdosis Kurznachrichten abfüllen und wiegten sich, unterbrochen von kurzen, durch regelmäßige, aber seltene Terror- und sonstige Warnungen ausgelöste Panikattacken, in Sicherheit. Es war schockierend, jedesmal wenn er gezwungen war, vorübergehend wieder ins Zivilleben einzutauchen. Dennoch setzten sich bald, nach einer Phase äußerster Bestürzung, die ständig in Wut umzuschlagen drohte, etwas wie Vatergefühle durch für dieses Volk, das sichtlich von allen guten Geistern verlassen war. Seine Landsleute waren eine Horde leichtgläubiger Memmen, bieder, kritiklos, doch an und für sich liebenswert. Sie würden noch begreifen, was die Stunde geschlagen hatte. Bis dahin galt es sie zu schützen, danach erst recht. Die Eisdecke ihrer kaputten Idyllen schmolz dahin. Sie konnte jederzeit einbrechen. Gleich darunter lag die Hölle. Er hatte den Vergleich: Gesichter, die der Wahrheit ins Auge hatten schauen müssen. Sie waren einmal genauso einfältig gewesen. Trotzdem schimmerten Reste ihrer von Grund auf erschütterten Vertrauensseligkeit weiter durch die von Krieg und Elend verwüsteten Züge. Darin lag eine gewisse Hoffnung.

Indessen hatte er für Menschen vom Schlag seines Gegenübers nicht einmal Verachtung übrig. Individuen, die sich und anderen vormachten, sie könnten die Zeit erfassen, sie gar als schlimm durchschauen. Die sich einbildeten, sie hätten etwas von der Weltlage begriffen, ohne ihr komfortables Milieu jemals verlassen zu haben. Weil sie ein bißchen Bildung besaßen, weil sie in ihren Ohrensesseln regelmäßig die Zeitung, ab und zu ein Buch studierten, nur um sich besser hinter angeblichen Fakten, Untersuchungen und Deutungen verbarrikadieren zu können. Solche Kreaturen waren allen Ernstes der Auffassung, sie könnten das Unheil bannen, indem sie es an ihre privaten Bunkerwände malten.

Eben jetzt schob der Schlaumeier sein abgegriffenes Bändchen vor die Brillengläser. Als wäre es ein Visier, das man beliebig auf- und zuklappen könnte. Der Soldat entzifferte den stellenweise stark verblaßten Titel. In schlichten, rostroten Buchstaben stand er auf dem vergilbten Pappdeckel: Das Zeitalter der Angst.

»Was lesen Sie da?«

Als die Frage fiel, wunderte er sich, daß sie aus seinem eigenen Mund kam.

»Gedichte.«

Er hätte es erraten müssen. Der Mann war Romantiker. Wahrscheinlich gehörte er sogar zur Spezies der sogenannten Intellektuellen. Vor seinem inneren Auge sah der Armeeangehörige eine jener schöngeistigen, oft um fingierte Kaminfeuer gruppierten Diskussionsrunden, die im Fernsehen spät nachts über Gott und die Welt schwafelten. Bei früheren Heimaturlauben, in denen er ohnehin nichts anderes tat, als in seinem fast leeren Zweizimmer-Appartment herumzulungern und ab und zu seine alte Stammkneipe zu besuchen, hatte er sich ein paar solcher Sendungen angeschaut, wenn einer seiner wiederkehrenden Sprengstoffalpträume ihn aus dem Schlaf riß. Dann saß er vor dem Gerät, wartete darauf, daß er müde wurde, und hörte sich das Gefasel an. Irgendwie waren die Teilnehmer sich immer ähnlich, irgendwie glichen sie genau diesem Schnösel mit dem dünnen Gedichtband. Zu jedem Thema fielen ihnen die gleichen Phrasen ein. Sie gaben ihren faden, schwer verdaulichen Senf zum neuesten technologischen Fortschritt, zum Terrorismus, zur Krise des Einzelhandels und zur jüngsten Reform, zur Kunst oder zum allerletzten Skandal eines Vollidioten aus der Schlagerbranche. Laufend zappte der Soldat das Programm weg, laufend kehrte er zu ihm zurück, in Erwartung eines einzigen vernünftigen Satzes, fassungslos darüber, daß er nie kam. Sein Entsetzen schlug um in Empörung, und die ließ ihn erst recht nicht zur Ruhe kommen. Mit der Wirklichkeit hatte das alles nichts zu tun. Schon eher mit Gehirnwäsche. Nie konnte er die Feindseligkeit besser nachvollziehen, die dem sogenannten Westen aus dem Rest der Welt entgegenschlug.

In jenen schlaflosen Nächten fand der Soldat sein Sinnbild für den Zustand des Staates, unter dessen Fahne er diente. Er sah vor sich einen gigantischen, nur an Selbsterhaltung interessierten Debattierklub, dessen wichtigtuerische Gier nach Aufmerksamkeit das Symptom einer fortgeschrittenen Lähmung war.

»Von einem Engländer Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben.«

Sogleich verstummte der Lyrikfreund wieder, ließ aber seine von den Brillengläsern etwas vergrößerten Augen auf dem Uniformierten ruhen. Die mit einem Mal rosig glänzenden Wangen vibrierten leicht, der eingekniffene linke Mundwinkel schien beinahe Hohn auszudrücken. Überhaupt begann sich die Gesichtshaut eigentümlich zu straffen, so daß seine Tischgenossen den Eindruck hatten, einer Verwandlung beizuwohnen.

Dem Soldaten kam es vor, als wäre er vom Suchlaser eines Aufklärungsflugkörpers erfaßt worden und würde nun Pixel für Pixel gescannt, denn der vom Romantiker zum Provokateur mutierte Mensch hielt die nervös oder ärgerlich ruckenden Pupillen weiter auf ihn gerichtet. Der soeben geäußerte Halbsatz war als Anspielung auf sein Kriegshandwerk zu deuten, das stand für ihn sofort außer Zweifel. Anscheinend hatte er es mit einem jener aggressiven Pazifisten zu tun, die keine Gelegenheit zum Angriff ausließen. Bei öffentlichen Vereidigungen traten sie im Rudel auf. Das aufreizende Starren dieses Einzelkämpfers war eine weitere, wenn auch ausgefallene Variante ihres blindwütigen Terrors gegen alles, was nur von ferne nach Militär roch.

Er bot der Offensive auf der Stelle Paroli, erwiderte die Attacke regungslos. Unangenehm berührte ihn allerdings die Tatsache, daß dieses Scharmützel mehr Kraft kostete, als er vorausgesehen hatte. Der Soldat führte es auf den Buchtitel zurück, der noch in seinem Kopf nachschwang. Zeitalter der Angst, Zeitalter der Angst, dachte er im Rhythmus der schlagenden Räder. Das hörte sich vertraut an.

Die Kampfhandlung brach ab, als der dicke Sitznachbar sich schnaubend vor und unbeholfen zwischen die Duellanten beugte. Dabei drohte ihm sein schlaffes kariertes Hütchen vom Kopf zu rutschen. Offenbar wollte Rudolf den Gegenstand dieses befremdlich einsilbigen Zwiegesprächs in Augenschein nehmen.

Von einem geheimnisvollen Eifer gepackt, präsentierte der Leser sein Lyrikbändchen der Runde.

Das Ehepaar entzifferte die Aufschrift.

»Das ist aber nicht schön.«

Der Kommentar war den wulstigen Lippen der Frau in der It’sbeautiful-Jacke versehentlich entschlüpft. Er klang wie zu sich selbst gesprochen. Mit durchaus banger Miene hatte sie die wortkarge Unterhaltung der beiden Herren verfolgt und dabei versäumt weiterzukauen. Nun schluckte sie den faden Brei herunter und wandte sich an ihren schneidigen Nebenmann, der sich die rote Kappe wieder auf den nahezu haarlosen Schädel stülpte.

»Wir kommen aus dem Urlaub. Bulgarien. Waren Sie schon mal da?«

Der Mann mit dem Buch stocherte seine Zigarette aus.

Rudolf sah zu, wie die Glut am Klappdeckel des Abfallbehälters in Funken zerstiebte und in den bleifarbenen Eimer unterhalb des Fensters regnete. Das Metall war mit einer dünnen Schicht weißgrauer Asche überzogen. Eine schwarze Kruste aus Verbrennungsrückständen bildete mit den rostroten Brandrändern entlang der Scharnierleiste ein Muster. Es ähnelte einer Landschaftszeichnung, die ihn vielleicht an den Ausblick auf der Hotelterrasse beim Abendessen denken ließ: Kumuluswolken türmten sich über dem Schwarzen Meer, verfärbten sich zu schmutzigen Schaumbergen, während er sein drittes Weißbier trank.

Sich in seine Sitzschale zurücklehnend, schenkte Rudolf den Männern ein scheues, wohlwollendes Lächeln, das diese jedoch nicht bemerkten. Er war es gewohnt, nicht beachtet zu werden. Es störte ihn nicht. Im Gegenteil entsprach es ganz seinem Lebensgefühl, stets nur als ein durchs Sichtfeld huschender Schatten wahrgenommen zu werden, der vom Wesentlichen ablenkt und besser ignoriert wird. Während der vergangenen Jahrzehnte hatte er sich jenseits des Kleckses, den seine Gegenwart in den Raum tupfte, offenbar eine recht behagliche Existenz geschaffen. Er lebte dort wie versteckt in einer Höhle, in der er sich lauschig eingerichtet hatte.

Auch im Bewußtsein der Ehefrau besaß Rudolfs Dasein seit langem nicht mehr Substanz als die dunkle Stelle, die eine diffuse Erinnerung im Gedächtnis hinterläßt. Einmal hatte sie in ihm den künftigen Zeuger und Ernährer ihrer Kinder zu sehen beschlossen und dies solange für Liebe gehalten, bis sie ihn tatsächlich heiratete. Danach akzeptierte sie ihn als etwas, das zum Hausstand zählte und nicht mehr loszuwerden war. Rudolf wußte das. In ihrer Ehe hatte stets Helene die Hosen angehabt, in dieser Familie war es seit jeher sie, die das letzte Wort behielt, und einst hatte er sehr darunter gelitten. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er glaubte, jeden Augenblick ersticken zu müssen. Aber das war lange her und längst vergessen. Bloß an die fabelhafte Kur, die er damals wegen seines spastischen Asthmas angetreten hatte, bewahrte er ein beinahe verklärtes Andenken. Für einige Wochen war er von Heim und Beruf suspendiert und fühlte sich mit einem Schlag gänzlich aus Zeit und Raum entlassen. Bald machte er Bekanntschaft mit einen inneren Frieden, den er nie wieder preiszugeben sich vornahm. Endlich, in den einsamen Stunden zwischen Moorbädern, Trinkkuren, vegetarischem Essen und verstohlenen Zusatzmahlzeiten, stieß er auf eine Lösung für seinen Plan. Er begann, seinen Körper zum geheimen Hobbyraum umzubauen. Wie an seinem Arbeitsplatz in der Stadtverwaltung legte er auch hier eine Art Fundus an, erstellte akribisch Inventarlisten bevorzugter Genußmittel und wurde hinter seinen intimen, imaginären Lagerbeständen buchstäblich unauffindbar. Der Kniff bestand darin, Abwesenheit durch Anwesenheit zu erzeugen. Nach außen trug er eine gutartige, nichtssagende Miene zur Schau, bewegte ein bißchen den Unterkiefer oder gab hie und da Laute von sich, die man für Wörter halten konnte.

Natürlich trug er im Laufe der Jahre immer schwerer an seinen Schätzen. Doch was andere für Fettgewebe oder krankhaft vergrößerte Organe halten mochten, diente ihm als Speicher und schalldichter Panzer in einem. Die beiden Söhne kannten den verschollenen Vater nicht, und er hatte keine Ahnung von ihrem Leben. Eines Tages waren sie ausgezogen, berufstätig, verheiratet, geschieden. Rudolf empfing darüber nur vage Nachrichten in seinen Stollen, die er ständig erweiterte und verschönte.

Gleichwohl drangen gelegentlich Geräusche hindurch, ein Grollen oder weit entferntes Dröhnen wie von einem nicht zu bestimmenden, aber merklich näher rückenden Unheil. So auch jetzt. Von den beiden Männern ging für Rudolf ein feines, unterschwelliges Beben aus, das seinen Unterschlupf erschütterte. Sie flößten ihm Furcht ein, die noch zunahm, seit er einen Blick auf dieses ramponierte, häßliche Buch geworfen hatte. Es dauerte einige Sekunden, bis ihm der Sinn der teilweise verblichenen Buchstaben aufgegangen war. Dann begriff er das böse Omen: Da draußen braute sich irgend etwas zusammen, dick, dunkel, undurchdringlich und so gewaltig, daß es ihn mitsamt seiner wohligen Höhle erdrücken konnte. Rudolf war überzeugt, die Herren kannten diese von ihm kaum geahnte Gefahr genau, jeder von seinem speziellen Blickpunkt aus. Der mit dem Buch war zweifellos sehr gebildet, der Uniformierte gewohnt, in Krisenregionen seinen Mann zu stehen. Zusammen besaßen sie das, wozu ihm jede Voraussetzung fehlte. Sie vertraten eine Existenzform unter für ihn gänzlich mysteriösen Bedingungen.

Daher empfand er jetzt Dankbarkeit für Helene, seine Gattin und Herrscherin über alle Unbill der Außenwelt. Abermals war es ihr gelungen, mit einer einzigen Bemerkung die dichten Nebelschwaden zu durchstoßen, die seinen Geist verfinsterten, und eine Bresche zur Sonne zu schlagen, deren Licht endlich wieder bis in seinen Keller vordrang und diesen leidlich erhellte. Bulgarien, Glück des Jahres. Burgas, Halbinsel Nessebar, Sveti Vlas, Obzor, Aktopol. Erschwinglich für kleine Leute wie sie. Er dachte an die üppigen Frühstücksbuffets, an Spezialitäten wie die würzige, luftgetrocknete Lukanka, dünn geschnitten, an seine Lieblingsgerichte Dobrudzhanska supa und Banska kavyrma, an die großen Portionen, die appetitlich angerichteten Pfannkuchen mit Honig und Walnüssen, den Traubenschnaps, das importierte deutsche Bier und die beispiellose Freundlichkeit des Hotelpersonals und der Kellnerinnen. Für den kostbaren Zeitraum von zwei Wochen im Jahr stimmten Innenwelt und Außenwelt überein.

Überhaupt war die gewissermaßen innige Verbundenheit mit seiner Lebensgefährtin, die ihn in diesem Moment von neuem erfüllte, das eigentliche Wunder, das sich nach Rudolfs Rückzug in den somatischen Untergrund ereignet hatte: Erst als ihr endloses Geschwafel, der Klatsch und die Rechthaberei sein Ohr nicht mehr erreichten, begann er den unschätzbaren Wert zu erkennen, den Helenes Laster für ihn darstellte. Es war keine Untugend, es war eine als Fehler getarnte Stärke, ein Talent. Unerwartet erwies es sich als segensreiches Hilfsmittel für seine Bedürfnisse. Er war strenggenommen verloren ohne seine Frau, wehrlos in Situationen wie diesen: Wie so oft sollte er auch jetzt durch die winzige Öffnung gezerrt werden, die noch zu seinem Schlupfloch führte. Hinaus in eine ungute Luft, die sein Herz nicht verkraften, seine Lunge nicht verarbeiten konnte und sein Gehirn außer Kraft setzte. Doch dann, den Kopf schon im Nebelbrei, den Brustkorb zwischen scharfen Lukenrändern eingezwängt, ertönte wie jedesmal Helenes Stimme. Als könnte sie seine gefährliche Lage tatsächlich erfassen, als wäre ihr Nervensystem mit dem seinen kurzgeschlossen, sprach sie irgendeinen als Stumpfsinn getarnten, doch erlösenden Zauberspruch. Und Rudolf rutschte sanft in sein Refugium zurück. Exakt dafür hatte er seine Ehefrau schätzen, beinahe lieben gelernt. Es galt nur im richtigen Augenblick den Hebel umzulegen, den Dämmschutz aus- und wieder einzuschalten. »Zwischenstop. Auf dem Weg nach Afghanistan.«

Der Soldat fingerte ein silbernes Zigarettenetui aus der Hemdbrusttasche.

Der Gebildete zog die Augenbrauen hoch und packte sein Buch ein.

Rudolf deutete mit dem Daumen auf seine Schulter.

»Oberleutnant.«

Er meinte die Schultern des anderen, die Schulterklappen auf dessen Uniform, wo zwei übereinanderstehende, kleine weiße Rauten mit einem Punkt in der Mitte zu sehen waren. Es war vermutlich als kameradschaftliche Geste gedacht: Er würde sich in nichts einmischen und im Gegenzug aus der Kampfzone entlassen.

Sein Gesicht dem Fenster zuwendend, kontrollierte der Oberleutnant die leeren Bahnsteige der spärlich beleuchteten Haltestelle, in die sie gerade einfuhren. Sie bestand aus einem niedrigen, kleinen, mit Graffiti besprühten Flachbau, der eher einer Baracke als einem Bahnhof glich. Offenkundig lag die Station weitab vom Schuß, denn neben und hinter ihr waren nichts als schwarze, in der Dunkelheit endlos wirkende Felder zu sehen. Der Anblick hatte etwas von der Einsamkeit eines provisorischen Stützpunkts oder einer Partisanenbasis am Rand einer Steppe.

Dem feinen jungen Herrn hielt Rudolf als Opfergabe seine Zigarettenschachtel unter die Nase. Der verfiel wieder in seine frühere Verlegenheit. Mit vornehm zurückhaltenden Gesten wehrte er ab und versuchte begreiflich zu machen, daß er eben erst geraucht habe. Doch da die Schachtel vor seinem Gesicht anders nicht verschwinden wollte, akzeptierte er schließlich das Geschenk.

Der Zug stoppte.

Die Männer rauchten.

Unterdessen war auch der letzte rote Streifen Abendhimmel von der Wetterfront verschluckt worden. Die Finsternis wurde ab und zu von Blitzen erhellt, die aus weiter Ferne herüberleuchteten.

»Das ist nicht wie am Mittelmeer. Da werden Urlauber noch als Gäste behandelt.«

Die Frau setzte ihre Plauderei ins Ungefähre fort.

Eine Handvoll Leute verließ das Abteil, stieg aus, huschte durch die Lichtkegel, verschwand in der Nacht. Niemand stieg zu.

»Leider läßt das seit kurzem sogar in Bulgarien nach.«

Die Urlauberin stutzte. Mit ihrer Äußerung hatte sie sich selbst überrumpelt. Sie war ein Versehen, und Helene kam es vor, als hätte sie sich angesteckt. Irgend etwas Trübes, Negatives, das noch nicht Krankheit ist, aber ihr hilft sich einzunisten, machte, daß sie ihr kleines, privates Paradies mit Schmutz bewarf.

Ohne Frage, an der Sonnenstrandküste zogen die Preise an. Die Einheimischen waren zurückhaltender geworden mit ihrer berühmten Herzlichkeit. Helene hatte es mit Bedauern bemerkt, sie war sogar ein bißchen enttäuscht. Früher kostenlose Extras gab es oft nur noch gegen Aufgeld und die entzückenden kleinen Aufmerksamkeiten, mit denen sie einmal in den Lounges und Tanzbars verwöhnt worden waren, hatte man eingestellt.

Andererseits, wenn sie Ilja und Mariana, das Pächterehepaar ihres Lieblingslokals in der Altstadt von Nessebar, richtig verstanden hatte, war dieser Wandel vollkommen begreiflich und forderte alle Nachsicht der Welt. Für einen Moment sah Helene die Gesichter ihrer unerschütterlich warmherzigen Urlaubsfreunde vor sich. Die beiden waren noch immer begeistert wie kleine Kinder über das alljährliche Wiedersehen. Auch das gab es. Und was sie über die Stimmung außerhalb der Saison berichteten, war schließlich traurig genug. Mit ihrem unerschöpflichen, selbstgebrannten Slivova hatten sie sich zu später Stunde mit an den Tisch gesetzt, eine Runde nach der anderen ausgeschenkt und erzählt in ihrem mangelhaften, stark akzentgefärbten Deutsch: Die Region hatte einseitig auf einen boomenden Westtourismus gesetzt, dann waren die Gästezahlen eingebrochen. Während der langen Winterpausen herrschte seit langem fast flächendeckende Arbeitslosigkeit. Aber die Einnahmen aus dem Sommer reichten inzwischen nicht mehr aus, um das Jahr zu überbrücken. Eintönigkeit und Überdruß bestimmten den Alltag in den verödeten Küstenorten. Von der Kriminalität ganz zu schweigen.

Bis weit nach Mitternacht hatte dieser Bericht düsterer Fakten, diese Beichte immer größer werdender Geldsorgen gedauert. Die gute Laune und den Humor ließ sich das ungefähr gleichaltrige Restaurantbesitzerpaar davon aber nicht nehmen. Marianas drollige Art, beim Radebrechen die zu Fäusten geballten Hände hochzuhalten und den Kopf ein wenig zur Seite zu neigen. Ihr Lachen, wenn Ilja seine anzüglichen Späße trieb. Nicht zuletzt diesen beiden hatte es die Deutsche zu verdanken, daß sie an ihrem bulgarischen Ferientraum festhalten konnte. Sie fühlte sich aufgehoben in dieser Wirtsstube im Oststil der sechziger Jahre, mit den holzvertäfelten Wänden und der dunkelbraunen Theke. Beinahe zärtlich betrachtete sie die großen dunkelgrünen Plastikaschenbecher auf den gehäkelten Tischläufern, das goldgerahmte Foto vom Sonnenuntergang am Hafen. Sie sog den unverwüstlichen süßen Duft eines Putzmittels ein, der den beißenden Salmiakgeruch darunter nicht ganz überdecken konnte. In solchen Einzelheiten blitzten auf eine verdrehte Weise, die sie sich selbst nicht recht erklären konnte, ihre Mädchenjahre auf. Erinnerungen an die Mietwohnung der Eltern, die erste Rock-’n’-Roll-Party, die zu besuchen der Vater strengstens verboten hatte, meldeten sich und vermischten sich mit der Umgebung. Eine Andeutung des Käfigs, aus dem sie einst geflohen war, steckte mit in dem Inventar, das doch aus einer ganz fremden, der eigenen geradezu entgegengesetzten Geschichte stammte. In den Überbleibseln einer überstandenen Diktatur waren die alten Gefängnismauern kenntlich geblieben. Man hatte sich in ihnen eingerichtet, sie bewahrten ein Stück Heimat, das Helene sich zu eigen machte, weil sie bewiesen, daß die Mauern existiert hatten, Ausbruch und Veränderung wirklich stattgefunden hatten. Über den Umweg melancholischer, nicht selten sentimentaler Anwandlungen rührten sie auf, was die Touristin in ihrem süddeutschen Alltag laufend aus dem Gedächtnis verlor: Auch ohne ihre ehemalige, längst abgerissene Schule, ihre alte Eisdiele, ohne schäbige Nachkriegsmöbel, Relikte einer Vergangenheit, die aus Stadtbild und Wohnung getilgt waren, konnte Helene auf eine persönliche Lebensgeschichte mit eigenen Kämpfen und kleinen Siegen zurückschauen.

Bei Ilja und Mariana in Nessebar streifte etwas davon ihr Bewußtsein. Ein durch Vergessen von neuem unbekannt gewordener Gegenstand kam matt und unscharf zum Vorschein, wie unter einer dicken, trüben Eisschicht, die im Verlauf des bulgarischen Sommerurlaubs langsam abtaute, dünner, durchsichtiger wurde. Was sich dann zeigte, lag jenseits dessen, was sie in Gedanken hätte fassen können: eine Art verschwommenes Traumgesicht, in dem sie sich selbst begegnete. Und jedesmal, wenn die Ferien vorbei waren, versuchte sie den Traum so lange wie möglich im Gedächtnis zu behalten und ihn vor jedem falschen Gedanken, jedem Verrat genaugenommen, zu beschützen, der ihn vorzeitig zerstören konnte.

»Die Einheimischen trifft jedenfalls keine Schuld.«

Noch während sie den Satz sprach, spürte sie seine günstige Wirkung auf ihr Gemüt. Wie zur Bestätigung fuhr im selben Augenblick der Zug an. Helene war erleichtert. Sie hatte sich aus heikler Lage gerettet und war fast ein wenig stolz auf die Eleganz der Lösung, die sie gefunden hatte. Jetzt griff auch sie nach der orangen Schachtel, die ihr Mann auf den Tisch gelegt hatte.

»Natürlich nicht.«

Der Offizier zückte sein Sturmfeuerzeug und beobachtete die Frau, während sie die Zigarette anrauchte. Ein Anflug von Wohlwollen huschte über sein Gesicht, als sie mit kurzem Nicken dankte und sich dann eilends, mit angehaltenem Atem von ihm ab zum Mittelgang wandte, wo sie den Rauch in die von bläulichen Schwaden durchwaberte Luft pustete. Er dachte vielleicht an ein Kriegserlebnis, an eine Bäuerin, mit der er es im Norden des Kosovo zu tun bekommen hatte. Sie war neben ihm im Auto gesessen, eine Witwe und etwa im selben Alter wie diese Frau, ähnlich redselig, ähnlich einfältig und von ähnlich unscheinbarem Aussehen. Klein, mollig, mit fleischiger Nase, färbten sich die geplatzten Äderchen auf ihren Wangen violett im kalten Fahrtwind. Sie hatte ebenso anfängerhaft gepafft.

Es war im ersten Monat seines ersten Auslandseinsatzes. Aus dem Nichts der steinigen Hügellandschaft war sie aufgetaucht, plötzlich aufgeregt winkend vor seinem Jeep gestanden. Er hatte den Konvoi stoppen müssen. Einige ihrer Enkel waren tags zuvor mitsamt den Eltern unter den Trümmern ihres versehentlich bombardierten Dorfes umgekommen. Jetzt schlug sie sich durch, um Hilfe für die hinterbliebenen Kinder und ein gutes Dutzend weiterer Dorfbewohner zu organisieren. Die Frau schwang sich ohne Zögern auf den Beifahrersitz und nötigte ihn, den zeitraubenden und überdies gefährlichen Weg zum Ort der Katastrophe einzuschlagen. Eine Schrecksekunde lang hatte er an eine Falle, einen Hinterhalt geglaubt. Aber die Bäuerin bemerkte seine Hand, die reflexhaft zur Waffe ging, und versuchte das Mißtrauen in einem Schwall fremdsprachiger Laute aufzulösen. Ihr massiger Körper bäumte sich unter einem halb künstlichen, halb fieberhaften und etwas unheimlichen Lachen. Abrupt wurde sie ernst, machte Zeichen, die zum Aufbruch drängten.

Was den Soldaten an dem ganzen Auftreten der Frau in Erstaunen versetzt hatte, war die Selbstsicherheit, mit der sie sofort das Kommando übernahm. Ohne Pause plappernd kauerte sie mit hochgezogenen Beinen neben dem Leutnant, während der Jeep über die Schlaglöcher der Sandstraße schaukelte. Unermüdlich trieb sie ihn mit rudernden Armen zur Eile. Nachdem sie das Dorf erreicht hatten, kümmerte sie sich mit scheinbar ruhiger Gelassenheit um die Überlebenden. Ihre Umsicht verlangte ihm Respekt ab. Es war der Respekt des noch unerfahrenen Führungsoffiziers, der vom Chaos der operativen Sicherheitslage heillos überfordert war. Selbst auf ihn übertrug sich etwas von der entschiedenen, wenn auch durch und durch naiven Zuversicht, die diese Frau ausstrahlte.

Mit der Dämmerung begann es zu schneien, der Soldat lehnte bereits am abfahrbereiten Jeep. In einem letzten Blick zurück sah er die roten Feuerstellen, an denen in Decken gehüllte Menschen kauerten. Zwei dürre kleine Hunde liefen herum. Im Hintergrund türmten sich, von den Flammen schwach beleuchtet, die Schutthaufen der zerstörten Höfe. Schatten flackerten über Bruchstücke, hoben einzelne hervor. Hier war ein Stück geflieste Wand wiederzuerkennen, dort ein geborstener Fensterstock. Etwas entfernt lag der Friedhof mit den frischen Kreuzen, und weiter drüben, an der Flanke des schneeüberzuckerten Bergzugs, grasten Ziegen. Genau diese Szene hatte sich dem Soldaten eingeprägt.

»Da sind andere Kräfte am Werk.«

Die Kräfte zu ergründen, gelang dem immer noch jungen Offizier allerdings ebensowenig, wie er sich den rätselhaften Trost erklären konnte, den jenes Bild ihm spendete. Als Spezialist für Einsätze in unübersichtlichem Gelände hatte er seither etliche Krisengebiete der Welt kennengelernt. Aber mit jedem neuen Einsatz verschwammen die Konturen des Feindes eher noch mehr, als daß sie aufklarten. Selbstverständlich wußte er, wogegen er kämpfte: gegen den Terror in jeglicher Form. Regelmäßige Schulungen vermittelten gründliche Kenntnisse über die politischen, kulturellen, psychologischen Hintergründe. Mehrmals war er Zeuge von Massakern und Selbstmordattentaten geworden, hatte mit eigenen Augen die Blutspur gesehen, die sie hinterließen, und den Tod von Kameraden aus den alliierten Verbänden verkraften müssen. Jedesmal trat erst mit dem wühlenden Zorn und der Abscheu, die sich dann einstellten, das Profil des zu vernichtenden Feindes schärfer hervor. Doch kaum war die Wut verraucht, büßte er auch die Gewißheit wieder ein. Er befand sich in irgendeinem fremden Land mit fremden Sitten und trug eine Uniform durch die Straßen.

Der Soldat vergrub für einen Augenblick das Gesicht in den Händen, dann starrte er über die Sitzreihen hinweg ins Leere. Als er sich für eine Laufbahn als Berufssoldat entschied, hatte er eine fest umrissene Vorstellung von seiner Tätigkeit gehabt. Es mußte Leute geben, die sie ausführten. Zu ihren Voraussetzungen zählte, exakt dies zu erkennen: Die Weltpolitik gleicht einer hochempfindlichen Waage. Ständig neigt sich eine der beiden Schalen, ständig muß die Balance wiederhergestellt werden. Wer sie stört, ist Gegner. Die Existenz des Gegners bedingt die Existenz des Kriegers. Der Gegner existiert, weil das Gesetz des anfälligen Gleichgewichts existiert. Das war die simple Gleichung des Kriegs nach der Logik des Offiziers, naturgegeben, unabwendbar. Darauf gründete seine Moral. Sie verlieh dem Soldaten Würde. Sie gestand die Würde sogar dem Feind zu, denn der Feind war Teil dieser Gleichung.

Töten. Gegebenenfalls selbst getötet werden. Das fordert natürlich eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Überleben. Einerseits hat man seine Wurzeln abzuschneiden. Sterben muß man sowieso. Es kommt darauf an, daß man nichts und niemanden zurückläßt, sollte es geschehen. Da der Offizier früh sein zerrüttetes Elternhaus verlassen hatte und ohnehin stets Einzelgänger geblieben war, fiel die Loslösung ihm leicht. Andererseits muß ein Band auf gleichsam höherer Ebene geschaffen werden. Jederzeit wüßte man, wofür man sein Leben aufs Spiel setzt. Diese schwierigere, weil abstrakte Operation bedarf eines Ideals. Man zieht in den Kampf für Gerechtigkeit, für den Weltfrieden, für eine humane Koexistenz der Völker und Kulturen. Im Ernstfall, sagte er sich, würde er immerhin um des Lebens willen sterben.

Doch was ihm in der Theorie absolut plausibel erschien, verunsicherte ihn in der Praxis zunehmend. Je mehr Erfahrungen er sammelte, desto weniger kam er mit seinem Auftrag zurecht. Immer öfter trug er seine Uniform durch die fremden Straßen, ohne zu wissen, wen er dort gegen was verteidigte. Der Oberleutnant vermißte klaren Fronten. Er konnte zum Beispiel nicht mehr genau zwischen Feind und Zivilbevölkerung unterscheiden. Irgendwann würde sich irgendwo erneut irgendwer in die Luft sprengen und irgendwelche Landsleute und fremde Soldaten mit sich in den Tod reißen. Einmal wäre vielleicht er selbst dran. Es paßte nicht zusammen in seinem Kopf. Vor allem begriff er die Motive nicht. Jeder war mögliches Opfer und möglicher Täter zugleich. Wahllos wurden Existenzen ausgelöscht. Hier fand kein Kampf um des Lebens willen mehr statt, es existierte keine Moral. Der Soldat besaß nicht länger Würde, der Feind besaß sie erst recht nicht. Die Möglichkeit, eine wie auch immer geartete Balance herzustellen, war außer Kraft gesetzt. Der Krieg schien der Waage, dem Gesetz des Gleichgewichts selbst zu gelten.

Und doch gab es Minuten eines bizarren Mitgefühls, etwa wenn er mit seiner Waffe im Anschlag an den Fassaden ausgebrannter Häuser mit ihren endlosen Reihen schwarz starrender Fensterlöcher vorüberfuhr und durch das Gemisch aus Staub, den die Fahrzeugkolonne aufwirbelte, und dem Rauch noch schwelender Schutthalden sein Blick auf Gruppen zusammenkauernder, von Schmutz, Hunger, Krankheit, Furcht und Haß gezeichneter Männer und Frauen, Kinder und Greise fiel. Verwesungsgeruch lag schwach, aber durchdringend in der Luft, das heißt, er bildete sich ständig ein, ihn riechen zu können, seit er zum ersten Mal wirklich in der Luft gelegen hatte. Er dachte an das, was ihn seine Berufsjahre gelehrt hatten, die Litanei sagte sich von selbst auf in seinem Kopf: Potentiell ist jeder von diesen Menschen ein wandelnder Sprengkörper. Sie sind die Gepäckträger des Todes. Sie leben nur noch, um zu vernichten, was sie vernichtet, was sie längst vernichtet hat. Aber etwas anderes war stärker. Er konnte sich dagegen nicht wehren, es überrannte ihn wie eine Seuche. Seine Uniform wurde ihm dann so fremd wie die Länder, durch die er sie trug. Der Widerspruch machte ihn irre und aggressiv und mit dem nächsten Atemzug konfus und weinerlich. Bis endlich Wut in ihm hochkochte, Wut auf die Dekadenz und Schlaffheit des eigenen Landes. Eine Wut, die mit seiner Vorstellung von ihrem Haß, ein Verlangen nach Bestrafung, das mit ihrem Verlangen nach Auslöschung durcheinanderwirbelte, und ihn vollends verstörte.

»Der Urlaub ist vorbei.«

Mit einem flotten Griff pflückte Helene das Hütchen vom Kopf ihres Gatten und verstaute es in ihrer Handtasche, nachdem sie die nicht einmal halb gerauchte Zigarette ausgedrückt hatte.

Wie auf Befehl beugten sich außer Rudolf auch die anderen zum Aschenkübel, um ihre Glimmstengel loszuwerden.

»Wir leben mitten im Krieg.«

Der Oberleutnant korrigierte den Sitz seines Baretts. Selbstverständlich wußte er, daß er sich bloß über einen bedauerlichen Niedergang entrüstete, während dem Feind eine über Generationen weitergetragene Erbitterung und Ohnmacht zum Wesenszug geworden war. Der Unterschied konnte sich nur vorübergehend verwischen. Er war elementar. Menschen, denen nichts zu retten übrigblieb, waren gegen jedes fremde Dasein gleichgültig wie gegen das eigene.

»Hier nimmt das offenbar keiner zur Kenntnis.«

Noch einmal stand ihm das Bild von der Szene am Rand des zerbombten Dorfs im Kosovo vor Augen.

»Wie auch.«

Auf die fast unhörbar gemurmelten Worte des Soldaten fuhr unvermittelt wieder Leben in den jungen Herrn mit der Brille. Er schnellte den Oberkörper vor, bremste den Schwung diskret ab, indem er seine Hände gegen die Knie preßte, nickte mehrmals nachdrücklich und schüttelte gleich darauf mit gesenkter Stirn sein Haupt. Während der vergangenen zwanzig Minuten hatte er sich völlig aus der Unterhaltung zurückgezogen, war geradezu verschwunden gewesen hinter einem Wall betonter Teilnahmslosigkeit. Jetzt brachte er sich wieder in Erinnerung, wenigstens für Helene, die seinen Auftritt mit Neugier verfolgte. Sie fragte sich, was im Kopf dieses Menschen wohl vorgehen mochte.

Seit einiger Zeit hatte sie das Bedürfnis, von dem schroffen Soldaten mit dem schnarrenden Tonfall ein wenig abzurücken, der sich für Helenes Geschmack ein wenig zu weit auf ihre Sitzhälfte ausbreitete. Über das hauchdünne Luftpolster zwischen seinem Unterarm und ihrer Hüfte übertrug sich die Anspannung seiner Muskeln. Sie fühlte sich bereits reichlich unwohl in ihrer Haut, als die jüngere, jedenfalls zivilere Person mit den guten Manieren ihr Gelegenheit zur Ablenkung bot. Auch die Sympathie, die sie anfangs zu dem jungen Mann gefaßt und beim Auftauchen des Buchs mit dem erschreckenden Titel vorübergehend verloren hatte, stellte sich wieder ein.

Helene zweifelte nicht, daß der Soldat die Wahrheit ausgesprochen hatte. Sie lebte lange genug, um sich ausrechnen zu können, in welche Lage die Welt sich derzeit hineindrehte. Aus irgendeinem Grund waren die Dinge aus dem Ruder gelaufen. Das pfiffen schließlich die Spatzen von den Dächern. Reinen Wein schenkte man ihresgleichen doch schon lange nicht mehr ein. Die einfachen Leute mochten zwar von schlichtem Verstand sein, aber wenn etwas vom Kopf her zu stinken anfing, dann rochen sie es. Natürlich verhielt man sich trotzdem, als wäre alles in bester Ordnung.

Für Männer vom Schlage des Oberleutnants, dessen Finger auf seinem, an den ihren grenzenden Oberschenkel einen schnellen Rhythmus zu trommeln begonnen hatten, empfand Helene durchaus Dankbarkeit, um nicht zu sagen Hochachtung. Sie kannten nicht nur das wahre Ausmaß der Bedrohung, das von der breiten Masse, zu der Helene nun einmal gehörte, bloß durch die Brille der Schlagzeilen zu ahnen war. Sie stellten sich ihr. Aber wie bei allem, das sie vor Ehrfurcht beinahe erstarren ließ, gesellte sich auch in diesem Fall Unbehagen zu ihrer Bewunderung. Ohne Frage, der Soldat war ihr Beschützer. Eine imponierende, tatkräftige Erscheinung. Doch mochte das Militär auch eine unentbehrliche Kraft darstellen und Helene gegen die schlimmsten Gefahren verteidigen. Rettung, einen Lichtblick gar, bot es selbstverständlich nicht.

Derartiges erwartete sie freilich erst recht nicht von dem erstaunlich schweigsamen, wahrscheinlich äußerst intelligenten Herrn gegenüber. Vermutlich durchschaute er mehr als jeder andere in diesem Waggon, was wirklich gerade vor sich ging in der Welt. Aber was half es ihr. Sie hätte seine Ausführungen doch nicht begriffen. Trotzdem war Helene gefesselt von dem seltsam gebrochenen Temperament dieses Menschen, seinem Elan, der sich jedesmal auf halbem Weg selbst abzuwürgen schien. Er verbreitete eine Aura der Überlegenheit, die zur gleichen Zeit eine Aura des Versagens und wohl die Ursache dafür war, daß Helene anfangs einerseits an einen schlecht getarnten, womöglich skandalumwitterten Prominenten, andererseits an Helmut hatte denken müssen, ihren so überaus begabten Sohn.