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Ich erzähle hier die Geschichte von meiner großen Schwester, die gemeinhin als die Zukunft bekannt ist. Betrachtet diese Niederschrift also als eine Dokumentation ihrer sonderbaren Lebensweise und Arbeit. Natürlich wäre es keine Dokumentation, wenn ich nicht sachlich davon berichten würde, wie dieses Häufchen Elend blutgetränkt durch die Welt zieht und sein Dasein verschwendet, nicht wahr? Doch keine Sorge: Meine Schwester ist sehr robust. Nun ... Ich schätze, das haben wir jedenfalls alle gedacht.
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Seitenzahl: 350
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Die Trübsal der Zukunft
Mutterkummer
Amseltod
Tiberios Stunde des Ruhms
Die Winkelzüge der Zukunft
Die Zukunft und die Weisheit gehen in eine Bar
Teresa ließ sich überrumpeln
Schimmer eines Krieges
28 Jahre zuvor
Tyrannin Weisheit
Das Wesen der Menschen
Das Verständnis der Zukunft
Das Museum der Gewaltgeschichte
Zwei Mal täglich, drei Wochen
Ich präsentiere: Professorin Teresa
Was mag die Zukunft wohl bringen?
Das Schaf
Aus den Erinnerungen der Weisheit
Der Zorn der Vergangenheit
Die Mühen der Zukunft
Sternenhimmel
Die Macht des Fleißes
Lang lebe Klara
Und so schloss sich der Käfig
Die letzten Worte
Nachwort
Impressum
Erster Teil
Die Trübsal der Zukunft
Teresa lag nun bereits seit über sechzehn Stunden in ihrem Bett. Ihr Arm war unter dem Gewicht ihres Kopfes eingeschlafen, sodass sie ihn kaum noch spürte. Sie öffnete lustlos ihre vor Müdigkeit brennenden Augen und blickte auf die Uhr … die Vorlesung hatte bereits begonnen. Die Studenten fragten sich vermutlich, wo sie blieb.
Fuck it, dachte sie.
Sie streckte ihren Arm aus, um die Dose mit Beruhigungspillen zu greifen, die auf dem Nachtschrank stand und stieß sie dabei versehentlich um. Die Tabletten versprenkelten sich über zahllose Klamotten, die neben ihrem Bett unachtsam verteilt einen großen Haufen bildeten.
Die junge Frau schloss die Augen und tastete umher. Nach einer Weile berührten ihre Fingerspitzen zwei der Pillen, die in einen BH gefallen waren. Sie schob sie in ihren Mund, drehte sich um und schlief weiter.
Mutterkummer
Kümmere dich gut um deine große Schwester.
Darum hat mich meine Großmutter vor langer Zeit gebeten. Noch heute denke ich ab und zu daran – vermutlich aus Reue.
Es ist so eine Eigenart von mir, dass ich Geschichten sammle. Nicht nur die guten, sondern auch die schlechten.
Überhaupt, einfach alle.
Die Geschichte, die ich jetzt erzählen werde, ist die letzte aller Geschichten und meine Schwester ist ihr Hauptcharakter. Man nennt meine Schwester die Zukunft. Sie wäre eigentlich ein mächtiges Wesen, doch anstatt von ihren Fähigkeiten auf sinnvolle Weise Gebrauch zu machen, beschäftigt sie sich mit wertlosen Banalitäten: Als Diebin, die durch die Welt streift, mischt sie sich in anderer Leute Leben ein und beraubt sie ihrer Habseligkeiten.
Ich hatte nie Gelegenheit, sie zu fragen, warum sie das tut. Schon als ich noch ein kleines Mädchen war, habe ich mich so gefühlt, als könnte ich ihr nicht so nahe kommen, wie ich es mir immer gewünscht hatte. Man hat es uns nicht leicht gemacht, aber … wenn ich ehrlich bin, ist das auch nur eine Ausrede.
Wie dem auch sei. Die Geschichte findet ihren Anfang an einem sehr kalten Spätwinternachmittag in einem Café in einer alten Kleinstadt.
Natürlich findet die Geschichte nicht wirklich an dieser Stelle ihren Anfang. Ich habe diesen Start sorgsam ausgesucht, weil er meinen Standpunkt am besten untermauert – denn an diesem Tag wurde sonnenklar, dass meine Schwester ihr Leben und ihre Macht verschwendete.
Im engen Café Lunte loderte das Kaminfeuer, während das Schneegewühl hinter den großen Schaufenstern die Sicht nach draußen erschwerte. Im Inneren fand eine erstaunliche Menge an Personen zusammengedrängt an vielen Tischen Zuflucht vor der Kälte. Sie redeten gedämpft und durcheinander. Nur von der Theke her hörte man aus dem Radio eine monotone, distanzierte Stimme. Sie berichtete von der verstümmelten Leiche einer Konzertpianistin, die man in der Woche zuvor in einer verlassenen Lagerhalle im Industriegebiet gefunden hatte.
Davon abgesehen verzierte auch das leise Wimmern eines kleinen, vielleicht sechs Jahre alten Jungen die Geräuschkulisse des Cafés. Er saß zusammen mit einer Frau mittleren Alters an einem Platz am Fenster und weinte vor sich hin.
»Mach dir keine Sorgen, Emil«, versuchte die Frau ihn zu trösten, »Du wirst sicher neue Freunde finden!«
Diese taktlose Äußerung verschlimmerte das jämmerliche Schluchzen des Jungen noch weiter. »Ich will nicht weg, Mama«, sagte er und ballte ein bisschen Tischdecke in seiner Faust.
Die Eingangstür schwang wieder einmal auf und ließ eine kalte Brise herein. Währenddessen fuhr die Frau fort, ohne sich vom Geheule beeindrucken zu lassen: »Schau doch erst, was die Zukunft bringen wird. In ein paar Wochen ist das alles doch schon wieder vergessen und du wirst merken, dass es nicht so schlimm ist, wie du es dir vorstellst. Jeder zieht mal um im Leben! Nutze das doch einfach für einen Neuanfang.«
Der neue Gast – eine junge Frau, die keine zwanzig Jahre alt aussah – nahm am freien Tisch neben ihnen Platz und schaute durch das Menü.
»Ich will aber nicht neu anfangen«, heulte Emil, während sich ein neuer Schwall Rotz aus seiner Nase auf den Rand des Bierdeckels goss, auf dem seine Limonade stand. »Ich will für immer hier bleiben!«
»Also wirklich, Emil, langsam reicht es. Wir haben das schon so oft besprochen. Wir müssen umziehen, so ist es nun einmal – ich weiß, es ist schwer für dich, aber du musst dich von deiner Freundin wohl oder übel verabschieden. Das geht jedem Menschen irgendwann so, also benimm dich nicht wie ein Baby.«
Er ließ ein schrilles Wehklagen aus seiner Kehle wandern und strampelte mit seinen Beinen, sodass einige der Umsitzenden verstohlene Blicke auf ihn richteten. Auch der neue Gast beobachtete ihn – doch im Gegensatz zu den anderen tat sie das ziemlich unverhohlen.
Plötzlich ertönte die Anfangsmelodie eines modernen Popsongs aus der Tasche von Emils Mutter, die sofort darin zu wühlen begann und ihr Handy herausholte.
»Ich bin gleich zurück, warte einen Moment, das ist der Makler, da muss ich rangehen«, erklärte sie hastig, stand auf und verließ das Lokal, um den Anruf entgegenzunehmen.
Daraufhin beschäftigte sich Emil damit, im Stillen weiter seines Unglücks zu frönen, während ihm dicke Tränen aus den Augen kullerten, die seinen Blick benebelten. Nach nur wenigen Sekunden schreckte er auf, da er eine kalte Berührung an seiner Wange spürte.
Überrascht schaute er hoch. Er wischte seine Ärmel über Augen und Nase, gerade schnell genug, um zu sehen, wie die junge Frau eine seiner Tränen von ihrem Zeigefinger in ein Reagenzglas tropfen ließ, bevor sie es verkorkte und in die Reisetasche steckte, die neben ihr stand.
Meine Schwester hinterließ in diesem Moment einen ziemlich bedeutenden Eindruck bei Emil. Er musste mitansehen, wie sie sich schamlos auf dem Platz seiner Mutter niederließ. Ihre runden, hellgrünen Augen stachen deutlich aus ihrem Gesicht hervor – verstärkt durch schwarze Eyelinerkonturen und dunkle Wimpern. Sie verankerte den Jungen fest in ihrem durchdringenden, unnatürlichen Blick, der ihm ein klein wenig Angst einjagte.
Ohne ein Wort zu sagen, ordnete sie zuerst ihre langen Haare und glättete dann ihr helles, zerfetztes Kleid. Dass es einst weiß gewesen war, ließ sich unter all dem Schmutz, den Blutflecken und den Schlammspritzern nur noch erahnen.
Sie nahm die Kaffeetasse von Emils Mutter auf und nippte daran. Emil schauderte, als er ihren Arm sah, den bis über die Schulter große Brandwunden bedeckten. Außerdem hätte der Junge hätte schwören können, dass der gesündere Arm ein Stückchen kürzer war als der andere.
Ein gespielter Ausdruck der Freude machte sich genau eine Sekunde lang auf ihrem Gesicht breit, als sie den Kaffee schmeckte, dann erschlaffte ihre Miene wieder.
Neben den Brandwunden überzog eine beunruhigende Anzahl an blauen Flecken und Verletzungen aller Farben und Formen jeden sichtbaren Teil ihres Körpers. Nur ihr Gesicht war makellos. Trotz des auffallenden Äußeren nahm im ganzen Café niemand außer dem Jungen von ihrer Existenz größere Notiz.
Es vergingen mehrere Minuten, ohne dass die Frau irgendetwas sagte. Stattdessen begutachtete sie Emil so aufmerksam wie er sie, sodass der Grund für seine Trauer aus seinem Bewusstsein gespült wurde, obwohl seine Augen und Wangen noch eine deutliche Rotfärbung präsentierten.
Schließlich kramte das Mädchen einen Moment lang in ihrer Tasche und rollte etwas vor Emils Augen. Er atmete vor Überraschung scharf ein – er konnte seinen Augen kaum trauen: Das war der Füller seiner besten Freundin! Er sah edel aus, dick und groß und weinrot gefärbt, mit kleinen, goldenen Ornamenten. Wieso hatte ihn diese Frau?
Sie blickte ihn weiter interessiert an, doch auf eine unnahbare Art. Emil wollte sie nach dem Füller fragen, doch letztlich brachte er kein Wort heraus. Stattdessen umklammerte er das Andenken und hielt den Mund weit offen.
Im selben Moment, als das Klingeln der Eingangstür ertönte und man den Wind von draußen wehen hörte, erhob sich die junge Frau wieder vom gestohlenen Stuhl und war längst auf ihrem Platz in die Bestellkarte vertieft, als Emils Mutter einen Blick auf seinen Tisch warf. Emil versteckte den Füller hastig in seiner Tasche und hielt ihn in einem festen Griff.
Es gab nur eine Möglichkeit: Diese merkwürdige Frau musste den Füller von Nathalie gestohlen haben. Instinktiv erinnerte sich Emil an das letzte Mal, als er sie gesehen hatte.
*
Sanft und in großen Schwüngen ließ die junge Frau ihren Füllfederhalter – einen roten und dicken, mit kleinen, goldenen Ornamenten – über die dünnen Seiten ihres Notizbuchs gleiten. Gelegentlich hielt sie ihn sich an die Lippen, wenn sie darüber nachdachte, was sie als Nächstes festhalten wollte. Dabei malte sie versehentlich kleine blaue Tintenflecke an ihren Mund.
Es war ihr leider nie gelungen, sich diese Geste abzugewöhnen. Es brachte sie des Öfteren in Verlegenheit, im Alter von 19 Jahren noch mit Tintenflecken im Gesicht durch die Gegend zu laufen.
Sie saß auf einer schwarzen Bank auf dem Berg vor dem Stadtschloss, sodass ihr zu Füßen die Lichter der Häuser brannten und Laternen ihren Glanz auf die vereisten Straßen warfen. Vor einer Stunde hatte es aufgehört zu schneien und es wehte kein Wind.
Obgleich ihre Hände durch die Kälte deutlich in Mitleidenschaft gezogen wurden, schrieb sie weiter, bis sie hörte, wie die Glocke eines kleinen Kirchturms in der Nähe achtzehn Uhr schlug. Dann setzte sie die Kappe des Stiftes auf und schloss das Büchlein, um sich der spärlich beleuchteten Treppe zuzuwenden, die einige Meter vor ihr den Berg hinabführte.
Sie erwartete jemanden. An diesen Ort verirrte sich nur selten eine Person zu dieser Jahres- und Tageszeit – und so machte ihr Herz einen kleinen Hüpfer, als sie leise Schritte auf sich zustapfen hörte.
»Hallo Nathalie!«, rief der Junge direkt, als er ihr Gesicht sah.
»Emil!«, grüßte sie den Kleinen. Sie öffnete ihre Arme, um ihn mit einer Umarmung zu empfangen. »Wie geht es dir? Alles in Ordnung? Schön, dass du gekommen bist!«
Er nickte. »Ich habe eine Eins in Mathe bekommen!«
Nathalie wuschelte durch seinen blonden Haarschopf und machte noch etwas mehr Platz auf der Bank, sodass er sich setzen konnte. »Oho, eine Eins! Wie lange hast du dafür gelernt?«
»Gaaanz lange«, sagte er, machte einen erschöpften Gesichtsausdruck und ließ seine Arme erschlafft fallen.
»Super, gut gemacht!«, lobte sie ihn. »Immer schön viel lernen. Alles klar?«
»Ja. Die Hauslehrerin war gemein zu mir, weil ich ein paar Mädchen mit Sand beworfen habe.«
Nathalie setzte einen überaus strengen Blick auf. »Mit Sand beworfen?«
»Ich mache das nie wieder! Mama hat doll geschimpft, als ich es erzählt hab’. Ich habe mich auch entschuldigt.«
»Na gut, dann lasse ich dich auch nochmal davonkommen. Und was hast du sonst Schönes gemacht?«
Emil setzte ein breites Grinsen auf. »Ich war bei Philipp, die haben eine Katze! So süß! Aber sie hat mich gekratzt. Oh! Und da war ein kleines Baby. Philipps Schwester. Die ist auch ganz niedlich.«
»Wie heißt sie denn?«
»Weiß nicht mehr«, antwortete er. »Sie war ganz klein! Willst du auch mal ein Baby kriegen?«
Nathalies Herz setzte einen Schlag aus.
»Ich … hatte mal eins«, erwähnte Nathalie langsam, doch sie schluckte sofort, als sie merkte, dass sie das womöglich nicht hätte sagen sollen.
»Was ist passiert? Ist es erwachsen geworden?«
»Hm …«, machte Nathalie und dachte kurz nach. »Es war ein Junge. Ich war damals noch ein kleines Mädchen, also konnte ich mich nicht um ihn kümmern. Da habe ich ihn weggegeben.« Sie zeigte ein gezwungenes Lächeln und lenkte dann vom Thema ab. »Kümmert sich deine Mutter gut um dich?«
»Ja«, rief Emil und nickte eifrig.
»Das ist schön! Nicht jeder kann sich so glücklich schätzen. Weißt du, Mutter sein ist überhaupt nicht einfach. Ich bin sicher, sie hat dich sehr gern, also hör auf das, was sie dir sagt, einverstanden? Sie meint es nur gut.«
Emil nickte.
Das Gespräch plätscherte eine Weile vor sich hin. Dann erklang der Glockenton, der das Vergehen einer halben Stunde kennzeichnete. Der Junge sprang auf. »Ich muss weg«, erklärte er und umarmte Nathalie zum Abschied.
»Kommst du nächste Woche wieder her?«
»Ja«, sagte er. »Klar, versprochen.«
»Denk dran: Nicht verraten, dass du mich triffst. Sonst bekomme ich ziemlichen Ärger und dann dürfen wir uns nicht mehr sehen.«
Emil nickte, dann drehte er sich um und schritt die Treppe wieder hinab. Nathalie saß einige Minuten reglos auf ihrem Platz, bis sie das Notizbuch wieder öffnete, das überwiegend mit Anmerkungen über ihr Studium und mit Einkaufslisten gefüllt war. Sie schrieb einen kleinen Satz hinein: »Er wird immer größer.«
Direkt daneben landete eine Träne.
*
Emils Mutter setzte sich wieder auf ihren Platz und steckte das Telefon zurück in ihre Tasche. Dann seufzte sie kurz, bevor sie das Wort an ihr Kind richtete.
»Es ist nun mal so, Emil – Papa hat eine neue Arbeit gefunden. Weit weg von hier, nicht mehr auf der Insel. Er kann ja nicht jeden Tag mit dem Schiff übers Meer herfahren. Ich habe dir das ja schon erklärt. Wir müssen deswegen umziehen – dort werden wir dann sogar ein eigenes Haus ganz für uns haben! Du könntest deine Freundin auch nach ihrer Adresse fragen, ich helfe dir dabei, dass ihr einander Briefe schreiben könnt. Ist das in Ordnung für dich?«
Emil war innerlich noch immer mit seinen Erinnerungen an Nathalie beschäftigt. Ihre Worte klirrten in seinen Gedanken. »Ich bin sicher, sie hat dich sehr gern, also hör auf das, was sie dir sagt, einverstanden?«
Der Füller wog schwer in seinen Fingern.
Emil nickte. »Ich komme hierher zurück, wenn ich groß bin«, sagte er und umklammerte dann seinen Stift noch etwas fester. »Und Briefe schreiben möchte ich auch.«
Seine Mutter lächelte und tätschelte seinen Kopf.
Mehr gab es für die Zukunft hier nicht zu tun. Ohne je etwas bestellt zu haben, legte sie die Karte wieder hin und hob ihre Reisetasche auf. Sie schwang sie auf ihren Rücken, lief zur Garderobe und nahm ihren dünnen, dunkelgrauen Kapuzenumhang mit.
Nachdem sie ihn sich umgeworfen hatte, verließ sie das Lokal. Sofort stürzte sich ein Schwarm Schneeflocken in ihre Wimpern, woraufhin sie die Kapuze tiefer nach unten zog.
An jenem Tag sammelte die Zukunft zum ersten Mal Tränen für ihr großes Projekt, doch nicht nur das machte ihn besonders. Sie wurde nämlich außerdem von einem Monster in der Gestalt eines kleinen Mädchens verfolgt.
Die Zukunft marschierte über den glatten Asphaltboden hinweg, lief quer über den Platz und bog dann in eine kleine Straße ein, die neben dem Rathaus versteckt in ein kleines Einkaufsviertel der Stadt führte. Es begann dunkel zu werden. Auf der großen Turmuhr offenbarten die Zeiger, dass es bereits kurz vor drei Uhr sein musste.
Unweit hinter meiner Schwester schlich ihr das Monster hinterher, das, abgesehen von dem Umstand, dass es laufen konnte, eher tot als lebendig aussah. Sie hielt behutsam diskreten Abstand, doch die Zukunft achtete ohnehin wenig auf ihre Umgebung und stapfte mit ihrer leichten Bekleidung furchtlos durch das Schneegewühl.
»Wirst du je erlernen, sorgfältig mit deinem Leib umzugehen?«, murmelte das Mädchen zu sich und beobachtete meine Schwester mit argwöhnisch kalten Augen.
Amseltod
Nachdem die Zukunft durch einige weitere Gassen geschlendert war – jede von ihnen menschenleer, da kaum eine Person von Verstand dieses Wetter ertragen wollte – gelangte sie vor die Tür eines rustikalen Juweliers. Allerlei Steine und Schmuckstücke glitzerten auf alten, grauen Holztresen hinter den nach vielen Jahren durch Steinschläge und Kratzer in Mitleidenschaft gezogenen Schaufensterscheiben.
Vor der Eingangstür hing ein Zettel mit der Aufschrift:
ÖFFNET HEUTE
ERST 17 UHR.
Meine Schwester drückte trotzdem gegen den Knauf, doch wie erwartet ließ sich der Laden nicht betreten. Sie hielt einen Moment inne, bevor sie ihre Tasche über die andere Schulter schwang, sich umdrehte und die drei Stufen wieder hinabschritt.
Krawumms.
Unten angelangt stürzte ein hechtender alter Mann in sie hinein. Die Zukunft stolperte gegen die Hausmauer und mit einem Scheppern ihres Inhalts klatschte ihre Tasche gegen die Ziegel. Dem Mann rutschte ein überraschter Laut aus der Kehle, doch er fing die Zukunft auf, bevor sie zu Boden schlug.
»Tut mir leid«, rief er hastig, dann ließ er auch schon wieder von ihr ab, sprang die Treppe hinauf und zog wie wild am Türknauf. Jetzt erst bemerkte er die Notiz und sackte mit einem Blick auf seine Armbanduhr in sich zusammen.
»Zwei Stunden«, keuchte er atemlos und entmutigt, während er sich umdrehte und resigniert auf die erste Stufe setzte. »Oh nein …«
Sein lederner Anorak war vorne geöffnet und hing ihm schief vom Körper.
Noch immer stand die Zukunft direkt neben ihm und schaute zu Boden. Unter ihrem antiken Umhang lugten die weißen Sandalen hervor, die erfolgreich dabei versagten, ihre baren Füße vor dem Schnee zu schützen. Sie stampfte wiederholt auf den Boden auf, um den Matsch zu entfernen, und gab sich erst zufrieden, als ihre leuchtend grün lackierten Zehennägel wieder zum Vorschein kamen.
Der Alte fand schließlich seinen Atem wieder und fragte: »Alles in Ordnung?«, als er bemerkte, dass die junge Frau immer noch da war. »Meine Güte. Du siehst aus, als hättest du einiges mitgemacht. Brauchst du Hilfe? Habe ich dich verletzt? Es tut mir leid, ich hätte besser darauf achten sollen, wo ich hinrenne.«
Er zeigte ein freundliches Gesicht und wartete einen Moment, dann deutete er hinter sich. »Ich muss da rein, du auch? Warum machen sie ausgerechnet an so einem Tag später auf?«
Der Mann sah sich um und bemerkte das Schneetreiben. »Vermutlich gerade deswegen«, seufzte er. »Wenigstens öffnen sie überhaupt. Was machst du? Möchtest du da drin auch etwas kaufen?«
Er lächelte die Zukunft an. Sie setzte sich auf die Treppe, reagierte jedoch nicht weiter auf ihn. Ihr Blick schweifte über die Straße. Direkt auf der anderen Seite stand eine Bank vor einigen Bäumen und Sträuchern, hinter denen sich ein kleiner Spielplatz befand.
Der Wind rauschte durch die Dachrinnen der Häuser und die Zweige der Äste. Im Gestrüpp des kleinen Parks hörte man eine Amsel zwitschern. Nach ein paar Minuten sprang die Straßenbeleuchtung an.
Erst als es dunkel genug war, stahl sich das kleine Mädchen hinter den Büschen entlang zum Spielplatz. Dann suchte sie sich einen Sitzplatz hinter einigen Sträuchern, von dem aus man die Zukunft gut beobachten konnte. Hinter ihr begann der große Stadtpark, an dessen Ende der Uni-Campus grenzte.
Das Kind konzentrierte sich darauf, jedes Wort zu hören, das der alte Mann von sich gab, auch wenn die Phasen des Schweigens lang waren. Während dieser Zeit saß sie völlig bewegungslos da, wie vereist. Nicht einmal ein winziges Zittern entfuhr ihrem von einem weißen Umhang verhüllten Körper.
Still beobachtete sie die Zukunft, bis eine kleine Schwarzdrossel neben ihr landete und neugierig durch das Laub sprang. Nach nur wenigen Sekunden zeichnete sich eine Regung auf dem Antlitz des Mädchens ab.
Es war tiefe Abscheu.
Der naive Vogel hüpfte weiter um sie herum, beobachtete neugierig die Reisigzweige, die überall verstreut lagen und steckte ab und an seinen orangefarbenen Schnabel hinein, um darin zu wühlen. Sein schwarzes Gefieder verlieh ihm eine kugelförmige Gestalt. Während seiner Untersuchungen gab der Vogel ab und an einen hohen, fiepsenden Ton von sich oder zwitscherte fröhlich in klar voneinander getrennten Lauten.
Er schien das Mädchen gar nicht als eigenständiges Wesen anzuerkennen, sondern krabbelte munter über ihre Füße und stupste sie an wie ein Stück Holz.
Irgendwann fühlte sie sich durch die Anwesenheit dieses Biestes so gestört, dass sie sich aufbäumte und ein Fauchen ausstieß. Der Vogel sprang erschreckt auf, nur um sich kurz danach unter lautem Gezeter in Richtung ihrer Haare zu stürzen.
Das war ein Fehler.
Kurz bevor der Vogel das Mädchen erreichen konnte, dematerialisierte sie sich in einem Lichtblitz, als wäre sie einfach in ihre Einzelteile zerfallen. Jetzt versuchte die Drossel wie wild Reißaus zu nehmen, doch ihr geschah das gleiche: Kaum einen Moment später hörte sie mitten im Flug auf, zu existieren.
Danach entstand das Mädchen wieder aus dem Nichts, doch nun trug sie ein kleines, blassgrünes Ei in der Hand, über das sich zahllose ziegelrote Pünktchen zogen. Das Ei war so frisch gelegt, dass es ihre kalten Finger wärmte.
Sie hasste Vögel.
Noch immer mit Verachtung in den Augen blickte sie zurück zu den zwei Personen auf der anderen Straßenseite.
Je mehr Zeit verstrich, desto ungeduldiger schien die Zukunft zu werden. Sie rutschte auf ihrem Platz herum und stieß sogar manchmal mit ihrem Ellenbogen gegen die Kleidung des alten Mannes. Sie wollte ihm irgendetwas mitteilen. Er ließ sich davon rein gar nicht beeindrucken, sondern schaute nur still und mit müden, hellblauen Augen durch das Schneewehen, das langsam abklang. Gelegentlich fuhr er mit der Hand über seinen Dreitagebart. Bald fiel er so tief in Gedanken an Ereignisse, die bereits Jahrzehnte zurücklagen, dass er von seiner Umgebung kaum noch etwas wahrnahm.
*
An einem warmen Herbstnachmittag spurtete ein junger Mann durch einen strikt sauber gehaltenen, leeren Park. In seiner Eile ignorierte er die vorgegebenen Wegstrecken und zertrampelte dabei unzählige wehrlose Gräser und Blumen. Seine lederne, lockere Kleidung wirbelte um ihn herum – insbesondere seine im Wind flatternde Krawatte –, doch endlich erkannte er hinter einer Erlenlinie das Gebäude, vor dem er sich mit seiner Freundin treffen wollte.
»Du bist zu spät!«, rief sie, als sie ihn unter den Bäumen hervorlaufen sah. »Mal wieder«, setzte sie nach. Schnell bemerkte der Mann, dass die Prüfung nicht wie erhofft verlaufen war. Dianara saß entmutigt da – auf den Stufen, die hinauf zum großen Eingangsportal der juristischen Fakultät der Atlas-Universität führten.
»Tut mir leid«, keuchte Kalvin. Er sah auf seine Uhr und stellte fest, dass sie fast eine Stunde auf ihn gewartet haben musste. Kein Wunder, dass außer ihr keine Studenten mehr anwesend waren. Im Stillen verfluchte er sich noch einmal für das Verpassen des Zuges. »Wie ist es gelaufen?«, fragte er schließlich unsicher.
Dianara rollte sich mit einem Stöhnen über die Stufen und machte dabei ihre Kleidung schmutzig. »Na, wie wohl«, seufzte sie. »Hab’s nicht geschafft. Es ist alles aus. Ich bin eine Versagerin.«
Kalvin ließ für einen Moment die Schultern hängen, doch dann setzte er sich neben sie, nahm ihre Hand und zog sie zu sich hoch, damit er sie umarmen konnte. Sie nahm das Angebot dankbar entgegen und kuschelte sich in seine Arme.
Dianara schluchzte tief, so als würde ihr erst jetzt wirklich klar, in welcher Tinte sie nun saß. »Fünf Jahre umsonst«, jammerte sie. »Ich bin schon wirklich dämlich, diese Prüfung zu vergeigen.«
Kalvin wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte, also setzte er einen Kuss auf ihre Stirn, während er sie weiter in den Armen hielt.
»Tut mir wirklich leid für dich, dass du so eine nutzlose Freundin hast«, sagte sie.
»He, jetzt übertreib nicht«, hielt er ein. »Mach dir keine Sorgen darum. Es ist schade, was passiert ist, aber wir kriegen das schon hin. Irgendwas wird uns schon einfallen.«
Plötzlich machte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht breit. »Danke!«, rief sie grinsend. »Hat aber echt lange gedauert, bis tröstende Worte von dir kamen!«
Kalvin ärgerte sich, als er bemerkte, dass sie sich über ihn lustig machte. »Hör auf damit! Du weißt, dass ich nicht gut im Trösten bin.«
Kalvin war die peinlichste Person, der Dianara je begegnet war, doch auf irgendeine Weise fand sie das niedlich – und gleichzeitig konnte sie sich wunderbar darüber erfreuen.
»Stimmt, du bist mies im Trösten. Was soll’s, ich hab’s vermasselt. Ich werde mich darüber noch eine ganze Weile ärgern, aber es ist, wie es ist.«
Sie saßen einige Minuten weiter da, bis Kalvin vorschlug, dass sie sich auf den Weg in die Stadt machen könnten, um etwas zu essen. Also schlenderten sie zu zweit durch den Park. Die sonst so gesprächige Dianara sagte kaum ein Wort. Es fiel Kalvin nicht schwer, ihre wahre Stimmung zu erraten, obwohl sie alles daran setzte, ihren Unmut zu verschleiern.
Schließlich saßen beide unter einem großen, weißen Sonnenschirm an einem Tisch eines Eiscafés. Während Kalvin die Karte durchsah, bemerkte er, dass Dianara ihren Studentenausweis betrachtete.
»Dianara Vera Amseltod«, las sie ihren Namen vor und zog dabei einen Schmollmund. »Sagen Sie, werter Herr Küste, wann werden Sie mich von meinem unliebsamen Nachnamen befreien? Du hast schon vor Monaten angekündigt, mir bald einen Antrag machen zu wollen!«
Kalvin schluckte. »Ähm … also …«, klärte er auf, »… Das stimmt.«
Dianara zog ihre dunklen Brauen hoch. »Und weiter?«
»Na ja«, fing er mit einem peinlich berührten Lächeln an. »Ich wollte das ja schon längst gemacht haben, aber ich habe irgendwie … auf den richtigen Moment gewartet. Und natürlich auf den Ring, auf den ganz besonders, aber leider … habe ich ihn irgendwie immer noch nicht.«
Seine Freundin rollte mit den Augen und schob sich den braunen, viel zu langen Pony aus dem Gesicht.
»Und in den letzten Tagen warst du so viel mit Lernen beschäftigt, deswegen wollte ich es eigentlich heute machen, aber … ach, es tut mir leid, das hätte längst passieren sollen. Ich werde gleich morgen einen tollen Ring bestellen! Und dann den Antrag machen!«
Dianara setzte einen überaus skeptischen Blick auf. »Hör zu, Kalvin, ich liebe dich, aber auf deine Versprechen und Versicherungen kann man nun wirklich keinen Pfennig geben. Du bist ungefähr der trotteligste, unzuverlässigste Mann, den ich je getroffen habe. Ich bin mir sicher, wenn ich das dir überlasse, werde ich deinen Antrag erst auf meinem Sterbebett hören … wenn du zu diesem Termin dann nicht auch noch zu spät kommst«, sagte sie lachend.
»Ich meine das ernst! Warte, ich gebe es dir schriftlich«, rief er, zog ein kleines Notizbuch aus seiner Westentasche hervor und schrieb eine Nachricht hinein. Dann setzte er seine Unterschrift darunter und hielt sie seiner Freundin vor die Nase:
Hiermit verpflichtet sich Kalvin Küste, Dianara Amseltod einen wundervollen Verlobungsring zu besorgen.
– Kalvin Küste
Er riss das Papier heraus und drückte es Dianara in die Hand.
Sie lachte. Jeden Tag schaffte er es, etwas zu tun, das all seine bisherigen peinlichen Taten übertraf. Als sie den Zettel behutsam in ihr eigenes Notizbuch legte, um ihn aufzubewahren, wusste Kalvin, dass es ihr schon ein Stück besser ging als vorher.
»Im Ernst jetzt«, sagte sie. »Du musst keine Versprechungen machen, die du vielleicht nicht halten kannst. Ich kenne dich doch. Am Ende machst du dir immer so viele Vorwürfe, dabei sind es Dinge, die gar nicht so sehr zählen.«
Dianara dachte einen Moment nach, bevor sie einen verstohlenen Blick an ihren Freund richtete und nach seiner Hand griff. »Aber wirklich, ich brauche endlich einen neuen Namen. Und wie ich dich kenne, werde ich noch ewig auf deinen Antrag warten.«
Kalvin wollte protestieren. Er öffnete seinen Mund, aus dem ein halber Laut hervordrang, bevor sie ihn achtlos unterbrach: »Ich habe keinen Ring da, aber … mein lieber Kalvin Küste … möchtest du mich heiraten?«
*
Nach ungefähr einer Stunde hörte es schließlich zu schneien auf. Völlige Finsternis füllte nun den Himmel, aber die Straße schimmerte in einem hellen, unberührten Weiß.
Stoisch saß der Mann noch immer auf den Stufen. Neben ihm massierte sich meine Schwester zusammengekauert mit ihren Händen ihre kalten Füße, während sie einen leeren, starren Blick auf das Ende der Straße warf, wo sie eine kleine Regung entdeckte. Eine klare, junge Stimme ertönte von diesem Ort aus, und dann erkannte sie zwei Personen in dicker Winterkleidung gehüllt aus einem Hauseingang hinaustreten – ein junges Mädchen und augenscheinlich ihr großer Bruder im Teenageralter.
Die beiden bewegten sich in ihre Richtung. Sie liefen Hand in Hand nebeneinander her, doch schon bald löste sich die Kleine vom Griff und sprintete in Richtung des von dickem Schnee bedeckten Spielplatzes davon.
Sie tollte eine Weile herum und bewarf die Spielgeräte mit Schneebällen, dann entdeckte sie die beiden verlorenen Seelen auf der Steintreppe und lief neugierig auf sie zu. »Hey Noah, da sitzen Leute!«
»Dann störe sie nicht«, rief der Junge mit einer tiefen Sprachmelodie hinterher, doch es schien, als wären ihr seine Worte völlig egal, denn sie rannte trotzdem über die Straße.
»Hallo!«, begrüßte sie die zwei, und erst jetzt erwachte der alte Mann aus seinem Tagtraum und schenkte dem jungen Mädchen Beachtung.
»Hallo. Oh, es hat aufgehört zu schneien.« Er warf nervös einen Blick auf seine Uhr.
»Was macht ihr hier?«, fragte das Kind und fügte hinzu: »Ich bin Sonja und ich bin seit gestern zehn Jahre alt.«
Sie zeigte voller Stolz beide Hände mit zehn Fingern vor. »Und ihr?«
»Ich bin Kalvin und ich bin dreiundsiebzig«, antwortete der Mann lächelnd. »Und ich warte darauf, dass der Laden hier aufmacht.« Er wies hinter sich. »Ich muss dort etwas kaufen. Einen Verlobungsring für meine Frau.«
Er lachte darüber, wie unsinnig dieser Satz klang.
»Ich habe gesagt, du sollst die beiden nicht stören«, belehrte der Junge das Mädchen, doch sie ignorierte ihn mit einem Schulterzucken.
»Ach wo, sie stört ja nicht. Es ist nicht so, als hätten wir hier sehr viel zu tun«, entgegnete Kalvin.
»Und wer bist du?«, fragte Sonja die Zukunft, die jedoch nicht antwortete, sondern mutlos in die Leere starrte.
»Hallo?«
Keine Reaktion.
»Hallo?«
Kalvin lachte. »Ach, manche Menschen reden eben wenig. Weißt du«, flüsterte er Sonja zu, »als ich noch jung war, habe ich auch kaum gesprochen. Ich wusste einfach nie, was ich sagen sollte – und wenn ich dann mal etwas gesagt habe, haben sich die anderen so angesehen, als hätte ich mich auf einen Frosch gesetzt. War nicht leicht.«
Er lächelte und schüttelte seinen Kopf.
»Und heute reden Sie mehr?«
»Oh ja!«, rief er. »Reden ist etwas sehr Schönes, finde ich. Ich habe nur meine Zeit gebraucht, um das herauszufinden. Meine Frau hat mir dabei sehr geholfen.«
»Wie ist sie so?«
»Sie redet noch mehr als du und ich zusammen! Und sie kann andere Menschen lesen wie Bücher. Gestern habe ich die Dachkammer aufgeräumt und bin dabei auf eines ihrer alten Notizbücher gestoßen.«
Er holte es heraus und zeigte es dem Mädchen. Dann klappte er es auf und holte einen vergilbten, halb zerfallenen Zettel heraus, den er ihr vor die Nase hielt:
Hiermit verpflichtet sich Kalvin Küste, Dianara Amseltod einen wundervollen Verlobungsring zu besorgen.
– Kalvin Küste
»Als ich ihr den Zettel damals gegeben habe, hat sie gemeint, dass ich das sowieso nicht tun werde. Aber hier bin ich und werde es tun! Ich hatte es all die Jahre doch glatt vergessen. Ich möchte sie damit überraschen, weil sie bestimmt nicht mehr damit rechnet.«
»Bestimmt nicht«, bestätigte der Junge trocken, der seiner Schwester über die Schulter geschaut und den Zettel mitgelesen hatte.
Die beiden begaben sich kurze Zeit später zur Bank der anderen Straßenseite und versuchten, einen Schneemann zu bauen. So verging die verbleibende Zeit für den Mann schneller, bis es ihn schließlich überraschte, als der Ladenbesitzer tatsächlich auftauchte, die Tür öffnete, und ihn hineinließ.
Meine Schwester saß währenddessen noch immer auf der Treppe und wirkte dabei so kläglich, dass Sonja auf der anderen Seite der Straße ihren Bruder leise fragte, was denn mit ihr geschehen sein mochte.
Kalvin hatte überhaupt nicht begriffen, was sie von ihm gewollt haben könnte.
»Ich möchte einen Diamantring kaufen«, erklärte Kalvin inzwischen dem Verkäufer im Inneren des Ladens. »Aber wir müssen uns beeilen. Er soll toll aussehen und passen! Das ist das wichtigste.«
»Welche Ringgröße haben Sie denn?«
»Ah, er ist für meine Frau. Warten Sie, ich habe die Größe irgendwo aufgeschrieben. Sie müssen wissen, mein Gedächtnis … also, nicht dass es je besonders gut gewesen wäre. Aber heutzutage … kann ich mir selbst eine einfache Zahl nicht mehr so leicht merken. Ach verdammt, den Zettel habe ich nicht dabei. Ich habe doch glatt mein Journal zuhause liegen lassen.«
Die Zukunft hörte ein missmutiges Brummen, dann ein wenig Gekrame. »Warten Sie, ich habe … ich habe ihren alten Ring mitgenommen, nur für den Fall … ich bin sicher, ich …«
Seine Stimme wurde leiser, als er vergeblich in seiner Tasche nach ihrem Ring suchte. »Ich muss den Ring so schnell wie möglich kaufen!«, rief er verärgert, nahezu panisch.
»Beruhigen Sie sich erst einmal. Tief ein- und ausatmen. Sie haben den Ring bestimmt dabei, Sie müssen nur Ruhe bewahren und danach suchen«, erklärte der Ladenbesitzer in einer ermunternden Stimme.
»Sie haben recht«, erklang die tiefe Stimme des Alten. »Sie haben recht … warten Sie.«
Es ertönte das Klingeln eines Handys. »Entschuldigen Sie, das ist meins, bin gleich zurück«, erklärte Kalvin, woraufhin er das Telefon zutage förderte und den Laden verließ, um zu antworten. Er lief die Straße auf und ab und weckte damit auch Sonjas Interesse, die ihn zusammen mit ihrem Bruder beobachtete.
»Ich verstehe«, sagte der Mann vorsichtig und leise, während er aufmerksam weiter den Worten lauschte, die aus dem kleinen Gerät hervorstachen. »Nein …«, krächzte er nach ein paar Sekunden. »Nein, nein, nein … Ich bin doch gerade … nein …«
Er lauschte noch ein paar Minuten der Stimme im Hörer, nickte ab und zu und gab schwache Laute von sich. Letztendlich ließ er entmutigt das Telefon sinken, drückte einen Knopf, um das Gespräch zu beenden und schob das Gerät zurück in seine Tasche.
Seine Schultern sackten zusammen, als würden sie auslaufen, während er wieder zurück zur Treppe taumelte und sich direkt neben der Zukunft niederließ. Er stützte seine Arme auf seine Knie und blickte zu Boden.
»Meine Frau ist gerade gestorben«, flüsterte er.
»Was?«, fragte Sonja schockiert. »Was ist passiert?«
»Vor einer Woche kam sie ins Krankenhaus. Sie hatte einen Anfall. Ich war die ganze Zeit bei ihr, nur gestern habe ich zuhause vorbeigeschaut und die Wohnung aufgeräumt. Dann fand ich das Notizbuch und mir fiel wieder ein, dass ich ihr den Ring noch immer schulde.«
Er redete schwach und mit zittriger Stimme. Mittlerweile waren auch die anderen beiden an den Alten herangetreten. Der Ladenbesitzer stellte sich in den Türrahmen, um zu sehen, ob alles in Ordnung war.
»Ich wollte ihr unbedingt noch diesen Ring schenken.«
Er presste seine Hand an die Stirn und sein Körper begann zu beben. Die Zukunft erkannte, dass er weinte. Sie zögerte einen Moment, dann streckte sie ihre Hand aus und setzte sie gegen seine Wange, um eine der Tränen von seinem Gesicht zu sammeln und sie kurz danach unbemerkt in ein Reagenzglas fallen zu lassen.
Nach wenigen Minuten entschloss sich Kalvin, endlich zu seiner Frau zurückzukehren.
Er hinterließ eine gebrochene Stimmung und ein heulendes Mädchen. Der Junge versuchte sie zu trösten und tat es mit einem altersgemäßen Erfolg:
»Ach Sonja, nicht weinen. Der Kerl ist selber schuld. Ich meine, wenn seine Frau im Sterben lag, was macht er dann hier? Er hat ewig vor diesem Laden gesessen, anstelle zu ihr zu gehen! Hätte er in all der Zeit mal nachgesehen, ob er den Ring überhaupt bei sich hat, dann hätte er auch einfach zu ihr zurückfahren und rechtzeitig da sein können. Und abgesehen davon – wie kann man so lange damit warten, einen Verlobungsring zu kaufen? Die waren längst verheiratet!«
Sonja trat wütend gegen sein Knie.
Die Zukunft kehrte der Szenerie den Rücken. Sie schleifte ihr Gepäck kraftlos hinter sich her, während sie ihre Hand unter ihre Augen hielt. Wehmütig betrachtete sie den Ehering, den sie dem Alten entwendet hatte, als er vor dem Laden mit ihr zusammengestoßen war. Schließlich ließ sie den Ring fallen und er landete neben dem anderen Diebesgut in ihrer großen Tasche.
Tiberios Stunde des Ruhms
Etwas Interessantes an den Menschen ist, dass man sie darauf aufmerksam machen muss, wenn sie zu weit gehen. An keinem Punkt wird ein Mensch von alleine empathisch.
Meine Schwester ist schweigsam und somit nicht in der Lage sich zu wehren, wenn man sie beschädigt. Daher ist es auch ein so weit verbreitetes Muster, dass sie zugunsten einer zeitweiligen Wonne in Mitleidenschaft gezogen wird.
Man raucht, verbraucht zu viel Wasser, lässt Essen verrotten, man liegt die ganze Zeit faul im Bett herum, oder man vernachlässigt die Menschen, die einem etwas bedeuten – die Kosten trägt man nicht in jenem Moment, sondern sie fallen der Zukunft zur Last.
Ein paar Straßen weiter fiel meiner Schwester ein kleiner Lebensmittelladen auf, aus dem sie eine Orange mitgehen ließ. Je weiter sie lief, desto moderner wurden die Häuser. Irgendwann ließ sie die bewohnte Gegend hinter sich und stand auf einem Weg, der durch eine dunkle Parkanlage führte.
Die Umgebung schwieg, während die Zukunft durch den kalten Schnee schritt, doch bereits nach wenigen hundert Metern hörte sie Geräusche aus weiter Ferne – das Quietschen ungeölter Eisenscharniere, das Donnern von Güterzügen und die Glocken einer Schranke. Das Ende des Pfades brachte sie zu einer hohen, schmalen Brücke, die weiter bis zum Bahnhof führte. Direkt neben dem Aufstieg, von dem aus man über das gesamte Schienennetz blicken konnte, führte ein verlassener Abstieg hinunter zum ehemaligen Bahnhofsgebäude, das im Laufe der Jahre zu einer Ruine geworden war.
Die Zukunft machte sich auf den Weg dorthin und betrachtete die gefliesten, von Graffiti überhäuften Wände des spärlich beleuchteten Tunnelsystems, das sich schier endlos verzweigte. Einige der Gänge wiesen zum neuen Bahnhof und andere zu einer Bushaltestelle.
Als die Zukunft an eine Kreuzung gelangte, hörte sie Stimmen aus der Richtung des neuen Bahnhofs. Sie blickte den Gang hinab, wo sie eine Gruppe Jugendlicher erkannte, die auf sie deuteten.
»Oh, schaut mal!«
»Was geht mit der?«
Sie gingen auf die Zukunft zu.
»Wow, hättet ihr mir nicht gesagt, dass sie da steht, hätte ich sie glatt übersehen.«
»Fuck, Mann, die sieht ja übel aus«, sagte ein klein gewachsener Junge mit rotblondem Haar, als er der Zukunft gegenüberstand.
»Was ist das für ’ne Tasche?«, fragte eine junge Frau mit harscher Stimme.
Mittlerweile standen alle fünf direkt vor der Zukunft und blickten einander teils argwöhnisch, teils grinsend an. Der Geruch von Alkohol füllte die Luft.
»Zeig mal, was drin ist«, befahl der Größte von ihnen und deutete auf ihr Gepäck. Er trug eine warme Weste über einem T-Shirt, sodass seine sehnigen, langen Arme sichtbar waren.
Die Zukunft sah ihn nur mit einem leeren Blick an. Die Reisetasche hielt sie seelenruhig auf ihrem Rücken.
»Dir wurde was gesagt, Kleine«, blaffte die Frau und blies der Zukunft dabei eine Schwade Zigarettenrauch ins Gesicht.
Der rothaarige Junge kam grinsend hinter den anderen hervor und hielt sein Handy auf die Zukunft. Er drückte auf einen Knopf, um die Aufnahme zu starten.
Die Zukunft schien das Interesse an ihnen verloren zu haben und drehte ab. Kaum war sie ein paar Schritte gelaufen, zog ihr etwas den Boden unter den Füßen weg und sie stolperte in einen dunklen Weg neben der Kreuzung, der zu einer Sackgasse führte. Jemand hatte ihr ein Bein gestellt.
Das Mädchen mit dem Vogelei stand eine Ecke weiter und beobachtete die Szene durch einen kleinen Spalt aus der Ferne. Während sie sah, was passierte, umschloss sie mit der Hand das Ei ein wenig fester und schlich sich näher heran, um die Zukunft weiter im Blick zu behalten.
»Hat dir keiner Manieren beigebracht?«, raunte Elise und trat gegen das Schienbein der Zukunft, die nun endgültig das Gleichgewicht verlor und gegen die Wand schlug, bevor sie auf dem Boden aufprallte.
Das Smartphone in der Hand des Rotschopfes verfolgte ihren Sturz. Er hielt es so nah wie möglich an das Gesicht des weißhaarigen Mädchens, ohne dabei in die Quere der Angreiferin zu kommen. »Woah, Elise hat schlechte Laune«, sagte er und lachte hohl.
Währenddessen hockte sie sich breitbeinig vor die Zukunft, packte ihr Kinn und zog es ins schwache Licht. Sie riss ihr den Umhang vom Körper, um zu sehen, ob sie darunter etwas Wertvolles trug. Dann wies sie mit dem Kopf auf die Reisetasche, die neben ihnen lag, damit sich einer der Jungs ihrer annehmen würde. Jemand sprang vor und rupfte den Verschluss des Gepäcks auf.
»Hübsches Gesicht«, bemerkte Elise. Sie strich mit einem Finger über die Haut der Zukunft, die noch immer eine ausdruckslose Miene zeigte, als wäre sie in diese Situation gar nicht involviert. Elise fühlte Wut in sich aufkommen. Sie hasste es, ignoriert zu werden.
Sie schlug mit ihrer Faust kraftvoll gegen die Wangen der Zukunft – so stark, dass sie ihr einen Zahn ausschlug und der Kopf mit einem Knirschen gegen die Wand dahinter prallte.
Immer noch dieser leere Ausdruck. Kein Schmerz zeichnete sich ab, keine Angst, keine Wut. So, als wäre diese Gestalt eine Puppe. Sie hob den Kopf der jungen Frau noch einmal hoch und erkannte dann ein winziges Flehen in den großen, grünen Augen. Elise rauschte ein Schauer über den Rücken.
»Gefällt dir das etwa?«, fragte sie leise.
Keine Antwort. Sie stand auf und ließ ihren Fuß in die Magengegend des am Boden liegenden Mädchens sinken. Sie spuckte der Zukunft auf die Stirn.
»Ich – hab – dich – was – gefragt –«
Mit jedem Wort trat sie gegen die Hüfte der Zukunft, den letzten Tritt richtete sie gegen ihren Oberarm. Er knackte.
Das kleine Mädchen, das die Situation beobachtete, stand nur noch einige Meter hinter ihnen. Es ballte mit kaltem Gesichtsausdruck eine Faust und zerquetschte damit das Vogelei in seiner Hand.
»Die ruinieren meine Arbeit«, flüsterte sie und schüttelte resignierend den Kopf. Der Zukunft war nicht zu helfen. Die Beobachterin betrachtete ihre glitschigen Finger mit den daran klebenden Schalenresten. »Ich sollte mich waschen«, sagte sie und verschwand in einem Lichtblitz.
»Was war denn das?«, wunderte sich Elise und wandte sich zur Quelle des Lichts um, schob es aber auf ihre Einbildung. Dann zog sie den größten Jugendlichen an ihre Hüfte und setzte einen Kuss auf seinen Mund.
»Was gefunden, Tiberio?«, fragte sie den Jungen mit der Kamera.
»Hier ist eine Decke drin! Irre warm. Außerdem ist hier noch aller möglicher Schrott. Sind das Wärmekissen? Thermoskanne, Wärmflasche. Seltsames Zeug, wofür soll das gut sein …? Na ja egal, nehmen wir es einfach mit.«
»Sie sagt immer noch nichts«, merkte einer der Jungen an. »Kiwi, was meinst du?«
Kaum gerufen, löste sich der Große aus Elises Umarmung und ging hinüber. Währenddessen kniete sich Elise neben die riesige Tasche und durchwühlte den Inhalt, bis sie auf etwas stieß, das ihr Interesse weckte. Sie lachte auf, hielt das Gerät hoch und schaute nach, ob es funktionierte.