Die Entblößung bis auf die Knochen - Martin Szegedi - E-Book

Die Entblößung bis auf die Knochen E-Book

Martin Szegedi

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Beschreibung

Auch die Demokratie und die soziale Marktwirtschaft haben ihre Schattenseiten, ihre dunklen Ecken. Der Roman handelt von den Anpassungsschwierigkeiten des Autors an die westliche Gesellschaft nach der Ausreise aus der Ceausescu-Diktatur Rumäniens mit einer klaren Botschaft: Das Leben ist mit vielen unbarmherzig, aber wenn man nicht allein gelassen wird, schafft es auch der Schwächste, es zu meistern.

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Seitenzahl: 182

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Prolog

Epilog

„Die Demokratie

mit der sozialen Marktwirtschaft,

wie wir sie sehen und wie man uns lehrt,

haben auch ihre Schattenseiten.

Ihre dunklen Ecken.

In der Diktatur ist es umgekehrt:

Sie ist ein großes Dunkel

mit zwei, drei Lichtflecken.“

Der Autor, in „Was auf der Hand liegt“ (Gedichte, 2015)

Gewidmet meinen fleißigen und hilfsbereiten Mitbürgern

Motto:

„Manchmal muss man mehrmals sterben um einmal richtig leben zu können.“

PROLOG

Rumänien, Ende September 1984. Es herrscht noch die Ceausescu Diktatur.

Bin einunddreißig Jahre alt und befinde mich seit ungefähr einer Stunde im Warteraum des Passamts in Deva, nachdem wir am Vortag ein Schreiben erhalten hatten, dass unser Ausreiseantrag in die BRD genehmigt wurde.

Plötzlich geht in der Wand ein kleines Schiebetürchen auf, ich sehe in der Öffnung den Kopf eines mir schon von den Audienzen her bekannten Securitateoffiziers, der meinen Namen in den Raum hineinruft:

„Szegedi Martin!“

„Da bin ich!“, meldete ich mich, sprang auf vom Stuhl und näherte mich dem Fenster aus der Wand.

Der Offizier schaute mich mit finsterem Gesicht und einem ernsten Blick an und streckte die Hand zur Öffnung raus:

„Hier haben Sie die Ausreisepässe. Aber passen Sie auf was sie DORT reden. Der lange Arm der Revolution kann Sie überall erreichen!“

Ich antwortete:

„Ich habe verstanden und danke Ihnen!“

Dann griff ich mir die Pässe.

*

Es folgten die Vorbereitungen für die Ausreise:

Rausschmiss aus der Partei, Kündigung des Arbeits-Verhältnisses, Einpacken von Habseligkeiten in drei größere extra dafür gefertigte Kisten, die Fahrt mit diesen zum Zoll nach Bukarest, Hausrats-Auflösung, Abschiedsnahme von den Verwandten, Mutters Nervenzusammenbruch gefolgt von einer schizophrenen Krise, und die Zugfahrt, am 9. November 1984, von Simeria nach Nürnberg, wo wir im Durchgangslager die ersten Aufnahmeformalitäten hinter uns brachten.

Dann unser Weg mit dem Zug ins Zwischenlager von Rastatt und nach einer Woche weiter nach Edenheim, wo wir Anfang Dezember desselben Jahres ankamen und im Übergangswohnheim aus der Hölderlin Straße die erste Bleibe fanden.

In einem Appartement mit vier Zimmern, ein Bad und einer Küche, wohnten wir ein Jahr lang zusammen mit drei andern Familien, jeweils eine in einem Zimmer. Wir zu viert.

Im großen Wohnzimmer eine fünfköpfige Familie Siebenbürger Sachsen, daneben eine vierköpfige Bukarester Familie und im kleinsten Zimmer, ein älteres Ehepaar aus dem Banat.

Küche und Bad benutzten wir gemeinsam.

*

Ich fuhr mit meiner Frau schon am ersten Tag mit dem Bus in die Stadt, um Lebensmittel zu kaufen.

Als erstes zum Bäcker.

Ich stellte mich in die Reihe an die Theke und schon bald fragte die Verkäuferin, was ich wünschte.

„Ein Brot“, antwortete ich.

„Was für eins?“, fragte sie mich zurück.

Ich stand überrascht, perplex da.

Erst dann schaute ich mir das im Hintergrund mit allerhand Backwaren und Brotarten vollgestopfte Regal an.

In Rumänien gab es in den Läden nur eine Art von Brot und eine Art Baguette.

Wenn man ein Brot verlangte, bekam man halt ein Brot, denn es gab nur eine Sorte davon.

Jetzt, in Deutschland, hatte ich ein Brot verlangt und man fragte mich: „Was für eins?“

Ich riss mich zusammen und zeigte, etwas unsicher, mit dem Finger auf ein Brot aus dem Regal, das ähnlich aussah wie das aus Rumänien.

Später erfuhr ich dann, dass es in Deutschland über dreihundert Sorten Brot gibt und fragte mich, verwirrt, warum man so viele Arten von Brot eigentlich braucht?

Dieses Überangebot an Waren war uns schon in einem Laden in Nürnberg aufgefallen:

Wir waren grad mit dem Zug aus Rumänien dort angekommen, hatten im Durchgangslager ein Zimmer bezogen, wollten was essen und stellten fest, wir hatten kein Salz.

So beschloss ich mit meiner Frau, wir sollen Salz einkaufen gehen.

Ganz in der Nähe fanden wir schon einen Laden, gingen rein und kamen aus dem Staunen nicht mehr raus. Alle Regale um uns herum waren vollgestopft mit allerhand für Sachen, bei manchen wussten wir gar nicht für was sie zu gebrauchen waren.

Wir suchten nach dem Salz wie nach der Nadel im Heuhaufen und fanden es nicht.

Fast verzweifelt, fragten wir eine Verkäuferin wo das Salz lagert und sie führte uns endlich zum richtigen Regal.

Monate später erfuhren wir dann, dass eine auch frisch ausgereiste Siebenbürgerin, in einem Lebensmittelladen in Edenheim einkaufen ging, sich an die Wursttheke anstellte und als gefragt wurde was sie wünsche,sie geantwortet hat:

„Ein halbes Kilo Pariser, bitte.“

Die Verkäuferin sah sie verdutzt an und sagte:

„Dann müssen Sie in die Apotheke, liebe Frau!“

„Nein, diesen Pariser von da möchte ich“, und zeigte auf eine dickere Wurst aus der Auslage.

In Rumänien gab es eine Art Sojawurst zu kaufen, die dicker war und „Pariser“ hieß.

Von wo hätte meine frisch ausgewanderte Landsfrau wissen können, dass man in Deutschland mit Pariser Kondome meint?

Lange Zeit fielen wir überall auf.

An einem Tag im Winter, wir waren nur kurz vor - her in Edenheim angekommen, war ich mit meiner Frau unterwegs in einem größeren Bekleidungsladen und ich bemerkte, dass manche Leute mich lang anschauten und sogar sich nach mir umdrehten.

Nach einer Weile sagte meine Frau:

„Gib deine Kappe her, in meine Tasche. Siehst du nicht, keiner trägt sowas in Deutschland! Die dreh'n sich alle nach dir um.“

Und es war tatsächlich so.

Ich hatte mir in Bukarest eine auffallend große und hohe Winterkappe mit einem langen Schild gekauft, extra für Deutschland, aus schwarzem Fellimitat. Die waren teuer und damals in Rumänien in Mode.

Nun kaufte ich mir eine einfache, aus Stoff, sogenannte Arbeiterkappe, denn im ersten Jahr fuhr ich in die Arbeit mit dem Fahrrad und wenn es regnete, brauchte ich etwas auf dem Schädel.

An einem Tag, als ich nach der Arbeit , auf dem Kopf mit meiner Proletenkappe und an den Füßen mit Sicherheitsschuhen, mein Fahrrad durch die Fußgängerzone schob, kam ich an einem Wahlplakat der DKP vorbei, an dem ein Mann mittleren Alters an die Passanten Flugblätter verteilte.

Sofort drückte er auch mir eins in die Hand, wahrscheinlich hatte er mich nach der Kappe und den Arbeitsschuhen, als Prolet aus dem Osten erkannt.

Ich schaute kurz aufs Flugblatt und warf es dann in den daneben stehenden Müllbehälter, denn vom Kommunismus hatte ich die Schnauze voll .

*

Mitte Januar 1985, also nach zwei Monaten seit unserer Abreise aus Rumänien, hatten ich und meine Frau schon Arbeit gefunden.

Zuerst meine Dolores, bei einer Textilfirma in Stechlingen und nach einer Woche auch ich, bei „Voltac“ in einem Vorort Edenheims. Jeder bei etwa sechs Kilometer von unserem Wohnheim entfernt, nur in entgegengesetzter Richtung.

Anderthalb Jahre später, und zwar im Sommer (ich hatte inzwischen den Führerschein gemacht, auf Kredit einen gebrauchten Opel Ascona gekauft und waren aus dem Heim in eine Mietwohnung umgezogen) machten wir, ich, meine Frau, meine Mutter und unsere sechsjährige Tochter, uns nach Rumänien auf, unsere zurückgelassenen Leute zu besuchen.

An der rumänischen Grenze, nach vier Stunden Wartezeit nahm man uns die Pässe ab, durchsuchte gründlich alles was wir im Kofferraum und auf dem Dachgepäckträger eingepackt hatten und als man auch die Hohlräume am Auto abgeklopft hatte, man fertig mit uns war und wir dachten, dass wir nun weiterfahren können, kam ein Offizier vom Zoll mit unseren deutschen Pässen zurück, übergab sie mir und sagte:

„Sie müssen umkehren, Sie sind nicht erwünscht im Land.“

„Wie kann das sein und warum?“,fragte ich fassungslos.

„Sie müssten das besser wissen als ich“, antwor - tete der Grenzer.

„Darf dann meine Frau ins Land, mit meiner Mutter und meiner Tochter?“

Der Grenzer, nach einem kurzen Zögern:

„Nein, keiner von Ihnen darf ins Land“.

„Ist das für immer oder nur vorläufig?“

„Versuchen Sie es nochmal in fünf Jahren“, sagte er, drehte mir den Rücken zu und ging weg.

Ich stand da, abgewiesen und verloren an der Grenze zu unserer Heimat als hätte man mir mit einer Keule einen Schlag auf den Kopf verpasst.

Es war klar: Weil man mir meinen Gedichtband „Das Fortziehen der Dichter“ nicht hat veröffentlichen wollen (obwohl nachdem er einen Preis erhalten hatte, zwei rumänische Literaturzeitschriften bekannt gemacht hatten,dass er 1979 veröffentlicht wird), hatte ich meinen Ausreiseantrag damit begründet und die Genehmigung regelrecht erpresst: Falls man mir nicht zügig die Ausreise genehmigt, würde ich meinen „Fall“ im Westen bekannt machen.

Also hat man mich dann „gezwungenermaßen“ aus dem Land gehen lassen aber im Gegenzug lässt man mich und meine Familie jetzt nicht mehr rein.

Wir stiegen ins Auto, ich wendete und weil es keine Wendeplatte vor dem Schlagbaum gab, musste ich mit dem so schwer beladenen Wagen über die Bordsteine des Mittelstreifens fahren, schlug mit dem Auspufftopf zweimal auf und hätte mir ihn dabei fast abgerissen, derweil die Grenzer uns zuschauten und laut auflachten.

Wir traten den Rückweg an und fuhren in Ungarn bis nach Györ wo wir in ein Hotel einkehrten.

.Ich brauchte Schlaf, denn ich war von Linz bis an die rumänische Grenze durchgefahren.

*

Arg enttäuscht und seelisch niedergeschlagen, kamen wir dann in Edenheim an.

Packten all das was wir für unsere Verwandten und Freunde eingekauft hatten aus dem Auto und vom Dachgepäckträger wieder aus und stauten die vielen Päckchen in den Keller:

Wir hatten für einen jeden der uns irgendwie näher war, etwas gekauft, obwohl wir Schulden hatten.

Meine Frau machte uns was zu essen und die ganze Zeit als wir am Tisch saßen, haben wir geschwiegen.

Wir waren zwar in Deutschland aber unsere Herzen und Gedanken waren bei unseren Familien in Rumänien.

Unsere sechsjährige Tochter weinte:

„Ich will zu meinem Freund Florin, nach Hunedoara!“

Meine Frau hatte die Mutter und den Bruder mit Familie in Petersdorf, ich hatte meine Oma die mich großgezogen hat und meinen Onkel mit Familie in Bluthrot.

Und die alle warteten auf uns,denn sie wussten, dass wir losgefahren waren um sie zu besuchen.

Telefon hatten sie keins, so haben sie erfahren wie es uns ergangen ist, erst später nachdem ich ihnen einen Brief geschrieben habe.

Ich stellte mir meine alte Oma vor, wie sie wahrscheinlich nachts im Bett weinte und sich fragte: „Was hat nur dieser, mein Junge, böses angestellt, dass er nicht ins Land darf?!“

Wir waren zwar in Deutschland aber obwohl wir deutschstämmig waren und die Sprache für den Alltag ausreichend beherrschten, fühlten wir uns doch noch fremd.

Wir hatten noch keine richtigen Freundschaften schließen können, es gab keine Zeit dafür: In der Arbeit ging es schon von Anfang an gleich mit Überstunden los.

Es war alles noch frisch und neu für uns, die Tinte in unseren deutschen Ausweisen und Pässen noch nicht mal richtig getrocknet.

Und jetzt dieser Schlag: Fünf Jahre dürfen wir nicht in die Heimat! Fünf Jahre nicht unsere Familien besuchen und unsere tollen Freunde mit denen wir in all den Jahren daheim regelrecht ineinander gewachsen waren.

Ich stellte mir vor, dass die Securitateoffiziere vom Passamt bei denen ich in Audienzen vorge - sprochen und gewarnt hatte meinen „Fall“ im Westen bekannt zu machen falls man mich nicht ausreisen lässt, ich stellte mir vor ,dass diese Staats - bedienstete, diese „Machtmenschen“ sich von meiner Kleinigkeit vor den Kopf gestoßen gefühlt haben und sich sagten:

„Okay, du bist unverschämt und erpresst uns. So lassen wir dich gehen. Aber ins Land herein kommen, wirst du erst dann können, wenn WIR einverstanden sind!“

Die Securitate wurde doch mit Sicherheit gut aus – gebildet, wie man den Menschen Leid zufügen kann. Auch seelisches Leid.

Schon als wir in Nürnberg, frisch angekommen, mit den Aufnahmeformalitäten begonnen hatten, fragte uns mancher deutscher Beamte wieso es uns gelungen war in so kurzer Zeit (zwei Jahre) die Genehmigung zur Ausreise zu erreichen? (Andere Ausreisewillige mussten, in Rumänien, auch zehn oder sogar zwanzig Jahre auf die Genehmigung warten.)

Ich habe lächelnd drauf geantwortet, dass ich konsequent jeden Dienstag aufs Passamt in Audienz gegangen war und nicht locker gelassen habe.

Dass ich mir die Ausreise erpresst hatte, habe ich mir nicht getraut zu erzählen, denn in meinem Kopf hallten noch die Worte nach des Securitate - offiziers, als er mir die Pässe überreicht hatte:

„...und passen Sie auf was Sie DORT reden.

Der lange Arm der Revolution kann Sie überall erreichen!“

So fragte mich auch mal mein Meister, der Georg, schon kurz nachdem ich die Arbeit in der Firma angefangen hatte und ich an dem Tag etwas an der Bohrmaschine zu tun hatte,wieso wir in so kurzer Zeit, nach dem Antrag, ausreisen durften?

Ich antwortete ihm:

„Ich kann darüber noch nicht reden. Aber einmal werde ich euch alles erzählen.“

Das war im Jahr 1985.

Im Nachhinein, nachdem ich 1993 den ersten Selbstmordversuch unternommen hatte und an paranoider Schizophrenie erkrankte, leuchtete es mir ein, dass ab dem Tag als ich dem Georg so antwortete, wahrscheinlich der deutsche Geheimdienst auf mich aufmerksam wurde.

Denn man hatte ja zu befürchten, dass der Osten mit Spionen oder getarnten Kommunisten das Abendland unterwandern könnte.

Demokratie hin, Demokratie her und Freiheit hin und Freiheit her, der deutsche Staat und eigentlich der ganze Westen MUSSTE wachsam bleiben, besonders wenn man so aufgefallen war wie wir. So stellte ich mir das vor .

Aber ich wiederhole: im Nachhinein, erst nach acht, neun Jahren nachdem wir in Deutschland angekommen waren.

*

Während der fünfjährigen Einreisesperre nach Rumänien blieb mir nichts anderes übrig als weiter, nachdem wir in Edenheim angekommen waren, lange Briefe zu schreiben an meinen besten Freund Mac, der Rechtsanwalt in Hunedoara war, die Stadt aus der wir ausgereist waren.

Die Kuverts dieser Briefe waren sehr auffallend immer prall gefüllt und mir war bewusst, dass, bevor mein Freund Mac sie in die Hände bekam, sie vorher die Securitate lesen wird.

Darum verfasste ich die Briefe auf so eine Art, dass die Securitate aus ihnen schließen konnte, dass ich dem Abendland keine gute Werbung in Rumänien machte. Ich schrieb nur über die negativen Aspekte der westdeutschen Gesellschaft, kritisierte so gut ich konnte den Kapitalismus, wollte nicht meinen Freund, sondern die Securitate in meinen Briefen überzeugen von der Schlechtigkeit des Westens.

Hätte ich die Wahrheit geschrieben, dass es uns eigentlich in Deutschland gut geht, befürchtete ich, dass die Behörden unseren Anverwandten die noch in Rumänien waren, Schwierigkeiten hätten machen können und sich an ihnen rächen, wie an einer Art Geiseln.

Denn manche von unseren Anverwandten hatten auch die Ausreise in die BRD beantragt oder hatten so was vor.

Drum dachte ich, um so schlechter ich über Deutschland in meinen Briefen berichte und dies die Securitate liest, um so dienlicher wäre das unseren Anverwandten.

Jahre später, also um 1993 herum, kam ich zu dem Schluss, dass meine prall gefüllten Briefumschläge für Rumänien auch dem deutschen Geheimdienst auffallen hätten können oder eben aufgefallen sind.

Ich werde später, zur rechten Zeit, mal die Umstände erklären unter denen mir der Gedanke kam, dass mich von allem Anfang der deutsche Geheimdienst im Visier hatte.

Aber jetzt erst zurück in die Zeit als ich bei „Voltac“ die Arbeit angefangen hatte.

*

Ungefähr zwei, drei Wochen nachdem ich bei „Voltac“ vorgesprochen hatte ob sie nicht einen Elektriker brauchen, erhielt ich ein Schreiben, ich soll in der Firma vorstellig werden.

Ich betrat das Büro des Personalchefs, er gab mir die Hand und sagte man hätte beschlossen mich einzustellen. In der Firma würde man Maschinen zur Fleischbearbeitung bauen.

Er erklärte mir den Arbeitsvertrag, händigte ihn mir aus ,sagte mir, dass ich einen Stundenlohn von zwölf Mark und vierzig Pfennig für den Anfang habe und dass mir im Beruf weitere Aufstiegsmöglichkeiten offen stünden. Ich unterschrieb den Vertrag und dann sagte er:

„Sie können schon morgen anfangen, den Herr Möller, ihren Meister haben Sie schon voriges Mal kennen gelernt.

Was ich Ihnen noch sagen möchte: Versuchen Sie Ihre Arbeitskollegen zu verstehen, versuchen Sie ihnen Verständnis entgegenzubringen, denn sie sind Kinder ihrer Zeit. Ich wünsche Ihnen einen guten Start!“

Später erfuhr ich, dass der Personalchef aus Kronstadt, also auch aus Rumänien stammte.

Aber zwei Wochen nachdem er mich eingestellt hatte, wechselte er zu einer größeren Firma aus Edenheim.

*

Am nächsten Tag begab ich mich, in der neuen Arbeitstasche mit einem Vesper und einem neuen Arbeitskittel, in das neugebaute Firmengebäude.

Betrat die große, hell beleuchtete Halle und erblickte gleich rechts von der Eingangstür, meinen Meister, den Herr Möller, an seinem Tisch.

Wir gaben uns die Hand, er hieß mich willkommen und bot mir von allem Anfang das „Du“ an:

„Ich bin der Georg“, sagte er.

Dann führte er mich zu meiner Werkbank und stellte mich den anderen Elektrikern vor:

„Das ist unser neuer Mitarbeiter, der Martin Szegedi. Und hier, Martin, ist der Siegfried, der Felix, der Martin, der auch so heißt wie du und der Luigi.“

Wir hatten also auch einen Italiener dabei.

Als Nächstes übergab mir Georg meinen Werkzeug-Wagen. Nigel-Nagel neu. Auf Gummiräder!

Mit vier Schubladen, alle vollgestopft mit allerhand Werkzeug!

In Rumänien waren wir schlecht versorgt mit Werkzeug. Wir mussten uns oft manches Werkzeug selbst anfertigen, denn im Lager waren die Bestände knapp.

Und immer wieder musste man sich manches Werkzeug, das man seltener brauchte, von einem anderen Kollegen leihen.

Hier hatte ich Werkzeug in Hülle und Fülle und alles blitze-blank sauber und neu!

Ich war begeistert.

Nach einer Zeit hatte ich mich in der Halle umgeschaut und festgestellt, dass wir dickere Styroporstreifen (20 cm breit und 80 cm lang) auf Lager hatten zum Probeschneiden (statt Fleisch).

Ich fragte den Georg ob ich mir 3 oder 4 Stück für meinen Wagen nehmen könnte.

Selbstverständlich durfte ich das.

Ich nahm der Reihe nach aus jeder Schublade meines Wagens das durcheinander liegende Werkzeug raus, legte eine Styroporplatte in die leere Schublade rein und schnitzte mit dem Messer in den weißen Kunststoff, an jedes einzelne Werkzeug angepasst, mehrere Mulden rein, in die ich dann das entsprechende Werkzeug reinlegte oder besser gesagt, reinpresste, dass es auch Halt hatte.

So konnte ich, wenn ich die Schublade öffnete, auf einen Blick sehen ob all mein Werkzeug im Wagen war, wenn ich Feierabend machte.

Ohne diese Ordnung im Wagen hätte ich mir nicht so leicht merken können ob ich nicht vielleicht ein Werkzeug in der Montagehalle hab liegen lassen.

Ich liebte mein tolles Werkzeug und wollte es nicht verlieren.

Mit der Zeit haben mir die Kollegen meine Styropor-Werkzeughalterung nachgemacht, aber schöner und passender als ich es gemacht hatte. (Ich wollte nicht zu viel Zeit damit verlieren.)

Es war einfach eine praktische Sache.

*

Als erste Arbeit gab mir der Meister die Schalttafel von einer einfachen, kleinen Maschine, die Fleisch in Würfel schnitt, zu verdrahten.

Kam mit dem übersichtlichen Elektroplan zu mir und fragte ob ich ihn verstehen, ihn lesen kann.

Selbstverständlich konnte ich das, nur kannte ich nicht alle Fachbegriffe in deutscher Sprache.

Er zeigte mir an einer Aufbauplatte wie man vorzugehen hat und dann habe ich noch andere drei Platten mit aufgebaut, denn er sagte mir, es würde schneller von statten geh'n, wenn man an vier Tafeln gleichzeitig, parallel, schaffen würde.

Wir hatten große, neue Werkbänke, also genug Platz um richtig drauf schaffen zu können.

Und ich legte los.

Schnell, schnell, denn ich wollte beweisen, dass ich nicht der langsamste bin beim Schaffen.

Nach einer Weile kam der Meister zu mir, schaute mir zu und plötzlich, als ich grad einen Draht abisoliert hatte und die feinen Lyzedrähte mit den Fingern zusammen zwirbelte, unter die Schraube des Schützes steckte und diese festzog, plötzlich fragte er mich verwundert:

„Setzt du keine Hülsen auf die Drähte?“

Ich habe ihn nicht verstanden und fragte zurück:

„Was für Hülsen?“

„Na, guck da, vor dir auf der Werkbank. Da sind doch die Schachteln mit den Aderendhülsen! Wir machen auf jedes Drahtende eine Hülse drauf,quetschen die zusammen mit dieser Zange (er griff sie sich aus meinem offenen Wagen) und klemmen sie erst dann unter die Schützschraube ein.“

Ich stand baff da. Jetzt wusste ich auch für was die komische Zange zu gebrauchen war.

Zum Glück hatte ich nicht allzu viele Drähte an den vier Tafeln nach meiner rumänischen Arbeitsweise festgeschraubt. Ich schraubte alle Drähte wieder weg und quetschte auf jedes Drahtende eine Hülse drauf.

So eine Hülse hatten wir in Rumänien mit einem Arbeitskollegen auf dem Draht von einem Kondensator entdeckt bei einer deutschen „Hylti“ Schlag - bohrmaschine die wir zu reparieren hatten.

Mein Kollege hatte sie mir gezeigt und gefragt:

„Martin, was könnte das sein? Schau mal was die Deutschen hier haben, auf diesem Draht vom Kon - densator!“

Ich sagte ihm:

„Du, Vali, nicht dass es ein ohmischer Widerstand ist.“

Er nahm den Kondensator und ging zum Meister ins Büro. Und dann kam er lächelnd zurück:

„Stell dir vor, Martin, die machen in Deutschland auf jeden Lyzedraht eine Hülse drauf, dass es eine sichere Sach’ wird!“

Und jetzt war ich in Deutschland und musste auf jedes Drahtende eine Hülse drauf quetschen.

Aber es war besser so, als den Draht zusammen zu zwirbeln. Es war nicht nur sauberer sondern auch ungefährlicher, sicherer, für eine elektrische Schaltung.

*

Langsam, Tag für Tag, kam ich meinen Kollegen menschlich näher und sie mir, wir redeten über das eine und das andere und erfuhr dabei, dass wir in der Firma, im Ganzen, an die siebzig Leute waren.

Ich stellte aber fest dass ich nicht viel zu erzählen hatte, nicht so viel mitreden konnte, weil wir noch sehr wenig gemeinsam hatten. Dazu kam noch, dass ich eigentlich schon immer introvertiert gewesen bin und schweigsam.

An einem Tag fragte mich mein Kollege Felix, so wie nebenbei:

„Mit was für einem Stundenlohn hat man dich eingestellt?“

Ich antwortete ihm:

„Zwölf Mark und vierzig Pfennig.“

Da hat er sich empört und sagte:

„Das ist ja untertariflich. Sie machen mit euch Dumping!“

Von Dumping hatte ich schon in Rumänien gehört, ich wusste was es bedeutet, aber was hätte ich sagen können?

Ich wusste, dass Rumänien in der Welt einen schlechten Ruf hatte und ich kam ja von dort. Wie hätte man mir von allem Anfang an, sagen wir mal so, einen hohen Stundenlohn zahlen können?

Man wusste ja nicht wen man eigentlich einstellte, was für Fachkenntnisse und was für eine Arbeitsmoral ich hatte.

Mir blieb lange die Empörung aus der Stimme meines Kollegen im Gedächtnis und ich sagte mir:

„Du musst schauen, die Augen aufreißen und dich bemühen gut zu schaffen. Aus allen Ansichten beweisen, dass du was leisten kannst.“