Die Enthüllung des Realen -  - E-Book

Die Enthüllung des Realen E-Book

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Beschreibung

Milo Raus Theaterstücke, Filme und Performances sorgen immer wieder für Aufsehen. Begleitet von theoretischen, aber auch mal handgreiflichen Debatten bis zu veritablen Prozessen rühren sie an neuralgische Punkte des gesellschaftlichen Selbstverständnisses. Das Echo in der Presse ist denn auch sehr vielschichtig. ,Liebhaber der Skandale' (,La Vanguardia'), ,Fänger des Realen' (,taz'), ,Sozialer Plastiker' (,La Libération') oder ,Theatererneuerer' (,Der Spiegel') sind Bezeichnungen, mit denen die Arbeit des Schweizer Regisseurs zu fassen versucht wird. Die Arbeitsweise Milo Raus nimmt wohl im aktuellen europäischen Theaterschaffen eine Ausnahmeposition ein. Die Projekte der letzten sechs Jahre reichen von hypernaturalistischen Reenactments (,Die letzten Tage der Ceausescus') über kaum mehr Theater zu nennende Volksprozesse (,Die Zürcher Prozesse') bis zur freien Rekonstruktion eines rassistischen Fun-Radios (,Hate Radio'). ,Die Enthüllung des Realen' entfaltet in Gesprächen, Manifesten und Essays ein offensives und variables Denken, das hinter Raus Projekten steht. Ergänzend dazu finden sich Beiträge aus unterschiedlichster Perspektive u. a. von Alexander Kluge, Heinz Bude, Christine Wahl und Sandra Umathum. Somit enthüllt dieses Buch Stück für Stück den Neuen Realismus von Milo Raus Theater, der nebenbei auch ein fröhlicher Abschied von der Postmoderne ist.

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DIE ENTHÜLLUNG DES REALEN

Milo Rau und das International Institute of Political Murder

Die Enthüllung des Realen

Milo Rau und das International Institute of Political Murder

Herausgegeben von Rolf Bossart

© 2013 by Theater der Zeit

Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

Verlag Theater der Zeit

Verlagsleiter Harald Müller

Im Podewil | Klosterstraße 68 | 10179 Berlin | Germany

www.theaterderzeit.de

Redaktion: Rolf Bossart, Nina Wolters

Redaktionelle Mitarbeit: Hayat Erdogan

Lektorat: Nicole Gronemeyer

Grafik: Nina Wolters

Coverbild: Daniel Seiffert

ISBN 978-3-943881-69-1

Mit freundlicher Unterstützung von:

Dank an den Bühnenbildner Anton Lukas; die Dramaturgen Eva-Maria Bertschy, Jens Dietrich, Mascha Euchner-Martinez, Karoline Exner, Milena Kipfmüller, Sophie-Thérèse Krempl und Julia Reichert; den Sounddesigner Jens Baudisch; die Grafikerin Nina Wolters; die Filmemacher Marcel Bächtiger und Markus Tomsche; die Regieassistenten Yanina Kochtova und Stefan Kraft — und an alle Schauspielerinnen und Schauspieler sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des IIPM, ohne die die in diesem Buch behandelten Projekte nicht Realität geworden wären.

DIE ENTHÜLLUNGDES REALEN

Milo Rau und dasInternational Instituteof Political Murder

Herausgegeben von Rolf Bossart

INHALT

Rolf Bossart Die Enthüllung des RealenVorwort

Rolf Bossart / Milo Rau Das ist der Grund, warum es die Kunst gibt

Milo Rau Wer hat damals meine Rolle gespielt?

René Solis Entre engagement et esthétique

Maxi Leinkauf / Milo Rau So ist der Mensch

Milo Rau Stählern musste man werden

Friedrich Kittler / Milo Rau Das Innerste, was dieser Mensch hat

Jean-François Perrier / Milo Rau Au théâtre, nous ne sommes jamais dans un rêve: nous sommes toujours réveillés

Sandra Umathum Du sollst dir ein Bild machen!Überlegungen zu Milo Raus „Die letzten Tage der Ceauşescus“ und „Hate Radio“

Heinz Bude / Milo RauZwischen subjektivem Erzählen und objektivem Verhängnis

Christoph Fellmann Die tieferen Schichten der Wahrheit

Vera Ryser / Milo Rau Situationismus rückwärts

Klaus Theweleit Man selber lebt ja im Pop

Sylvia Sasse / Milo Rau Das Reale des Simulacrums

Alexander Kluge / Milo Rau Da wird nachgedreht

Milo Rau Der Kinderwagen auf Eisensteins Treppe

Milo Rau Genau so und nicht anders

Nicole Gronemeyer Banalität und Schrecken Das realistische Experiment des Reenactments

Anton Lukas / Silvie Naunheim Diese unheimliche Verdoppelung

Rolf Bossart Symbolisierungsakt und heroische Öffentlichkeit Thesen zur politischen Wirksamkeit von Milo Raus Theaterarbeit

Milo Rau Mit den Augen eines Kindes oder eines Kriegsfotografen

Milo Rau Ein Theater für alle

Robert Pfaller / Milo Rau Dass man sich wehrt, Täter zu werden

Christine Wahl Das Agora-Prinzip Milo Raus Prozesstheater in Moskau und Zürich

Julia Reichert / Milo Rau Es gibt keinen Ort, der sich schlechter für Moral eignet

Alexandra Kedves / Milo Rau Politische Kunst gibt es nicht

Rico Bandle / Roger Köppel / Milo Rau Nennen wir es Schaujournalismus

Julia Bendlin / Milo Rau Eine Art geschichtsschreibende Dokumentation

Wolfgang Höbel / Milo Rau Die Gründe können Sie sich googeln

Milo Rau Was ist Unst?

Milo Rau The Realm of the Real

Konrad Petrovszky / Milo Rau The End of Postmodernism

Milo Rau St. Galler Manifest

Timon Beyes Der Skandal der Öffentlichkeit Die „City of Change“ als Kunst des Urbanen

Robert Pfaller / Rolf Bossart Befreit sind wir nicht, wenn wir alle schwach sind, sondern wenn wir alle stark sind

Daniel Cohn-Bendit Das Moment der Freiheit

Milo Rau Voilà, le pouvoir de nouveau innocent!

Jörg Scheller Stage Presents The Director Milo Rau and his Theatrical Hyper-Allegories

Valentin Groebner / Milo Rau Möglicherweise bin ich im Unrecht

Dirk Pilz Skandal um Theaterlesung in Weimar Breiviks Rede auf der Bühne

Frank Meyer / Milo Rau Wir zeigen lieber den „Figaro“ nochmal

Rolf Bossart / Milo Rau Wir sind Körper, durchströmt von Ideologie

Milo Rau Die Revolution hat tatsächlich stattgefunden

Milo Rau Eine andere Währung des Glücks

Elisabeth Bronfen Es geht nicht um Metaphern

ANHANG Projekte 2009 – 2013 (Auswahl) / Autorinnen und Autoren / Bildnachweise.

ROLF BOSSART

DIE ENTHÜLLUNG DES REALEN

VORWORT

„Es gibt da also die beängstigende Erscheinung eines Bildes, das resümiert, was wir die Enthüllung des Realen nennen können in dem, was sich an ihm am wenigsten durchdringen lässt, des Realen ohne jede Vermittlung, des letzten Realen, des wesentlichen Objekts, das kein Objekt mehr ist, sondern jenes Etwas, angesichts dessen alle Worte aufhören und sämtliche Kategorien scheitern, das Angst-objekt par excellence.“

Jacques Lacan

Die künstlerische, theoretische und politische Arbeit von Milo Rau und der von ihm im Jahr 2007 gegründeten Produktionsgesellschaft IIPM – International Institute of Political Murder auf einen Nenner zu bringen gestaltet sich schwierig. Die von Milo Rau in den letzten Jahren präsentierten Werke schreiten thematisch und formal ein sehr weites Feld aus: Sie reichen von hypernaturalistischen Reenactments („Die letzten Tage der Ceauşescus“) bis zu kaum mehr Theater zu nennenden Volksprozessen („Die Zürcher Prozesse“), von der gefakten Initiative zur Wiedereinführung der Nürnberger Gesetze (als Teil des Projekts „City of Change“) bis zur, aus einem dokumentarischen Blickwinkel, sehr freien Rekonstruktion eines rassistischen Fun-Radios („Hate Radio“).

Die Arbeit Milo Raus und seines International Institute of Political Murder nimmt im aktuellen europäischen Theaterschaffen eine Art „Ausnahmeposition“ ein, wie Sandra Umathum in ihrem Beitrag in diesem Band schreibt. Um sie dem dokumentarischen Theater zuzuordnen, geht der Regisseur zu frei, auch zu undurchsichtig mit dem Recherchematerial um, fehlt seiner Arbeit der distanzierende, letztlich moralische Gestus klassischer, aber auch aktueller dokumentarischer Positionen. So arbeitet Rau nicht mit Laien (bzw. nicht nur), sondern oft mit ausgebildeten Schauspielern, die nach sehr genauen praktologischen und sprechtechnischen Skripten agieren, die er vorher erstellt hat. Und bei „Hate Radio“ handelt es sich keineswegs um die gestische Kopie eines Sendeabends des ruandischen „Radio Mille Collines“, sondern um die äußerst filigrane, aus dem widersprüchlichsten Material angefertigte, im streng dokumentarischen Sinn völlig fiktionale Assemblage aus Zeitschriften-Texten, Radioauszügen, dialogisierten Zeugenaussagen und auch erfundenen Charakteren – die, wie Milo Rau kürzlich in einem Interview erzählte, u. a. sogar mit den Worten des heutigen ruandischen Oberbefehlshabers sprechen, dessen Armee im Ostkongo steht.

Aber auch eine Annäherung an Positionen des postdramatischen Theaters ist nicht ohne Weiteres möglich. Die Verschleifspuren zwischen „faktisch“ und „fiktional“, zwischen Zitat und authentischem Gestus, aus denen das postdramatische Theater in den letzten dreißig Jahren seine performativen Funken schlug, interessieren in Raus Theater nicht. Er selbst, der sich immer wieder polemisch von der Frage nach Wahrheit und Lüge im postmodernen Sinn abwendet und sie als „Hobby-Nietzscheanismus“ oder „Seminarproblemchen“ bezeichnet und durch den statuarischen Gestus des „Genau-So“ einer theatral erzeugten „Gegenwärtigkeit des Abwesenden“ zu ersetzen hofft, spricht im Hinblick auf seine Ästhetik lieber von „Wahrheit im Sinn von Sergej Eisenstein“ oder schlicht von „Real-Theater“, wie Alexander Kluge Raus Inszenierungen einmal genannt hat. Was wiederum stark nach Rückkehr zur klassischen Moderne klingt.

Es verwundert daher wenig, dass Milo Raus Theaterstücke, Filme und Performances, die bisher in über zwanzig Ländern zu sehen waren, nicht nur von intellektuellen, sondern ebenso von veritablen Prozessen und gern auch mal handgreiflichen Debatten weit über die Kunstwelt hinaus begleitet waren. „Liebhaber der Skandale“ („La Vanguardia“), „Fänger des Realen“ („taz“), „Sozialer Plastiker“ („La Libération“), „Theatererneuerer“ („Der Spiegel“), „Agent Provocateur“ („Iswestija“) – die Bezeichnungen, mit der die Arbeit des Schweizer Regisseurs und seines Teams zu fassen versucht wurden, sind ebenso zahlreich wie unterschiedlich.

In vielen programmatischen Gesprächen und Texten, die hier in ausgewählter Form versammelt sind, hat Milo Rau selber über Motive, Methoden und Materialien seiner Arbeit reflektiert. Ein inhaltlicher Schwerpunkt liegt daher bewusst auf dem offensiven und variablen Denken, das darin entfaltet wird. Ergänzend analysieren und deuten verschiedene Essays aus theaterwissenschaftlicher (Sandra Umathum), aus kunsttheoretischer (Timon Beyes, Jörg Scheller), aus philosophischer (Rolf Bossart) und aus journalistischer Perspektive (Christine Wahl, Dirk Pilz u. a.) entlang der einzelnen Projekte der letzten fünf Jahre die Wirkungen des Theaters von Milo Rau; dabei kommen auch langjährige Mitarbeiter des Regisseurs zu Wort, so etwa der Bühnenbildner Anton Lukas.

Insgesamt versucht so der vorliegende Band die verschlungenen Wege und den aktuellen Stand der Selbst- und Fremddefinition nachzuzeichnen. Entstanden ist er im Rahmen der Ausstellung „Die Enthüllung des Realen“ (Sophiensæle Berlin, November 2013). Nach zahlreichen Ausstellungen, die einzelnen Arbeiten von Milo Rau gewidmet waren – u. a. im Kunsthaus Bregenz (2011), im Migros Museum Zürich (2012), in der Wiener Akademie der Bildenden Künste (2013), am HMKV Dortmund (2013) oder am KonzertTheater Bern (2013) – ist „Die Enthüllung des Realen“ die erste Ausstellung, die einen längeren, dabei klar begrenzten Abschnitt von Milo Raus Schaffen untersucht: von der Gründung seiner (nach dem finanziellen und künstlerischen Zusammenbruch zweier vorhergehender bereits dritten) Produktionsgesellschaft IIPM – International Institute of Political Murder im Jahr 2007 bis zur Ausstellung – die für Rau selbst den Anfangspunkt einer neuen Phase setzen soll.

Im eingangs abgedruckten Lacanzitat findet sich das Wort von der „Enthüllung des Realen“, dem die Ausstellung und dieser Katalog ihren Titel verdanken. Jacques Lacan bezeichnet dort das Reale als das „Angst-objekt par excellence“. Als charakteristisch dafür nennt er die Tatsache, dass das Reale eine Objektbegegnung ohne jede Vermittlung ist. Darin liegt das Angstmachende und zugleich die große Faszinationskraft des Realen. Wer sich seiner bedient, um Macht auszuüben, setzt daher auf die betörende und ängstigende Kraft von Authentizität und Unmittelbarkeit. Wer sich aber mit einem aufklärenden Impuls davon distanziert, setzt auf die Strategien der endlosen Verweisungen und Vermittlungen, welche aber immer zugleich auch Strategien der Flucht und der Abweisung des Realen bzw. der Macht, die man ihm zuschreibt, sind. Die postmodernen Dekonstruktionsbemühungen zielten daher auf die Entmächtigung jener, die im Namen der Unmittelbarkeit des Realen auftraten. Aber sie verdrängten zugleich alles, was einmal im Ringen um Wahrheit oder im Substanzbegriff verhandelt und bearbeitet worden war. Dieses Verdrängte kehrt wieder. Es sucht die Postmoderne heim in der „Objektbegegnung ohne jede Vermittlung“, im Mystizismus und im Obskurantismus.

Walerij Korowin,

Leiter des Instituts für Geopolitische Expertisen:

„Wer sponsert die Ausstellungen moderner Kunst?“

„Der Westen, das ist ein Sabotageakt.“

Milo Raus Theater arbeitet beharrlich zwischen diesen Polen. Es geht aus von der Faszinationskraft des Realen, aber es enthüllt das Reale nicht als „heiligen Brocken“ oder als Apotheose der Authentizität, sondern als soziale Plastik, als Verkörperung in maximaler Künstlichkeit. Das heißt, es führt die Zuschauer innerhalb eines ganz und gar künstlichen Settings an den wirklichen, historisch-konkreten Grund der meist unbewussten und abstrakten Angst vor dem Realen. Kurz gesagt, es überführt mythische Angst in reale Angst.

Zu welchem Zweck? Nicht um die Zuschauer zu ängstigen, sondern um sich im besten Fall mit ihnen zu verbünden; mit Subjekten, die versuchen, die realen Ursachen ihrer Ängste zu erkennen und zu bearbeiten. Denn der einzige Ort, wo der Begriff der Solidarität keine moralisierende Hohlformel darstellt, ist dort, wo er als Komplementärbegriff zur Angst entsteht. Die Bühne, wie sie Milo Rau nutzt und herstellt, kann ein solcher Ort sein.

Es ist darum die spezifische Qualität von Raus Theater, dass es das Skandalöse und gleichwohl Rationalisierte, das Beängstigende und gleichwohl Integrierte, das Problematische und gleichwohl Banalisierte in einem nahezu lehrstückartigen Arrangement wieder als jenes neue, rohe Ding zeigt, das es einmal vor diesen Überlagerungsprozessen war. Bei den „Letzten Tagen der Ceauşescus“ ist das die Wiederholung der bereits in der Anordnung des Tribunals geschlossenen Situation der rumänischen Revolution, bei „Hate Radio“ ist es die Wiedererzeugung der enthemmenden Wirkung einer beschwingten Selbstradikalisierung im Radiostudio, bei der „City of Change“ ist es die bewusst naive Neuverwendung von alten, nationalen und durch Ideologisierung und Dekonstruktion sinnentleerten Mythen, bei „Breiviks Erklärung“ ist es die Ausstellung der mehrheitsfähigen Ideologie eines Massenmörders, bei den „Moskauer Prozessen“ ist es das freiwillige Aufeinandertreffen von Todfeinden im künstlichen Gerichtssaal, bei den „Zürcher Prozessen“ ist es das öffentliche Aufführen eines zentralen, aber kollektiv verinnerlichten und im Ressentiment stillgelegten Diskurses. Die wichtigsten Mittel dieses neuen Realismus von Milo Rau sind akribische Recherchen, detailversessene Nachstellungen, permanente Aktionsbereitschaft, Ergebnisoffenheit bis zum Schluss und anstelle des Zitats ein funktionaler bis totalisierender Zugriff auf die Tradition. Hinzu kommt der biografische, gleichsam existenzielle Zugang bei der Wahl der Themen und vor allem der künstlerische Anspruch, wirklich in die kollektiven Bilder einzudringen und sich nicht hinter einem Als-ob zu verstecken.

Wir danken dem Amt für Kultur von Kanton und Stadt St. Gallen, dem Institute for the Performing Arts and Film (IPF) und der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), deren Unterstützung das Erscheinen dieses Buches ermöglicht haben. Ebenso danken wir allen Autoren und Autorinnen für ihre Beiträge und den Verlagen für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck.

ROLF BOSSART / MILO RAU

DAS IST DER GRUND, WARUM ES DIE KUNST GIBT

Rolf Bossart Du hast im selben Alter Trotzki und Lenin gelesen, in dem andere Kinder „Die Schatzinsel“ verschlingen. Dann bist du mit 19 Jahren auf Reportage in den lakandonischen Urwald Mexikos zu den Zapatisten und hast deinen ersten Essay („Langues et Langages de la Révolution“) veröffentlicht. Kaum warst du wieder zurück in Europa, hast du begonnen, an der Universität Zürich Großdemonstrationen gegen den damals im Bildungssektor verschärft einsetzenden neoliberalen Rückbau zu organisieren. Hilft dieser Bezug auf die Jugend, um die Dinge, die du jetzt tust, zu verstehen? Was davon ist wichtig geworden?

Milo Rau Das meiste. Aus der Perspektive der existenzialistischen Psychoanalyse würde ich sagen, dass man sich in den Teenagerjahren selber entwirft und dass man diesem Entwurf dann auch nicht mehr entkommt. Das ist, neben allem Zufälligen und Fatalen, das Moment der Freiheit im Menschen. Bestimmte Bücher bewusst zu lesen, auch wenn es anstrengend ist; bestimmte Reisen zu unternehmen, auch wenn sie in irgendeinem deprimierenden Militärlager im Urwald oder im Gefängnis enden; den Kampf aufzunehmen, wo man ihn findet. Wobei das ein dialektischer Prozess ist: Ich habe ja mit 16, 17 Jahren nicht nur Lenin gelesen, sondern auch Tarantino geguckt, wie alle, die zu meiner Generation gehören. Ich bin neben meinen offensichtlich politischen Positionen ein geradezu extrem unpolitischer Mensch, ein völlig pedantischer Formalist. Nach meiner Arbeit als Veranstalter von Demonstrationen und Chiapas-Reisender habe ich ein paar Jährchen des L’art pour l’art eingelegt und zum Beispiel eine finanziell verheerende, geradezu lächerlich postmoderne Pynchon-Adaption gedreht („Paranoia Express“, 2002) – doch parallel dazu habe ich ernsthafte Kritiken für die „Neue Zürcher Zeitung“ geschrieben und Soziologie studiert. Auch später ist es irgendwie immer durcheinandergegangen: Auf „Amnesie“ (2005), eine völlig realistische, wenn auch aktualisierende Gontscharow-Bearbeitung, folgte „Bei Anruf Avantgarde“ (2005), ironischer Meta-Agitprop. Und so ging es weiter bis heute: Direkt nach einer Aktion wie die „City of Change“ (2010/11) kam ein sehr klassisch geschriebenes und inszeniertes Stück wie „Hate Radio“ (2011/12). Es ist eine Art Charakterschwäche von mir, mir ständig selbst in den Rücken zu fallen.

Bossart Eine Charakterschwäche, mit der du ja sehr offensiv umgehst. Das Motto auf deinem Blog AlthussersHaende.org ist ein Pasolini-Zitat: „Ich weiß sehr wohl, wie widersprüchlich man sein muss, um wirklich konsequent zu sein.“ Aber was all deine Unternehmungen doch irgendwie auf einen Nenner bringt, ist deine Art des – im Sinne des Ethnologen Clifford Geertz – „dichten Beschreibens“. Du bleibst nie in ästhetischer Halbdistanz, sondern bist immer sehr nah am Gegenstand.

Rau „Dichtes Beschreiben“, das gefällt mir. Mich interessiert als Künstler in erster Linie eine völlig praktische, völlig reale Involviertheit, ganz egal, ob sich das auf Gontscharow, ein Videogramm, eine zentralafrikanische Radiostation, eine politische Grundsatzfrage oder auf ein theoretisches Problem bezieht. Seit ich denken kann, war ich geradezu hypnotisiert von dieser Idee, dabei zu sein – in die Dinge, Bücher und Länder, für die ich mich interessiert habe, wirklich einzutauchen, sie tatsächlich zu bearbeiten. Nach der Gontscharow-Adaption habe ich eine Adaption von Euripides' „Bakchen“ („Montana“, 2007) gemacht, die das Original derart vollständig transformiert hat, dass der Zuschauer nicht die geringste Chance hatte, die Vorlage zu erkennen (von der nur ein halber Satz übrig geblieben war). Ich kann diese Leute, die Texte mit dem Leuchtstift anstreichen und sie dann von ihren Schauspielern in dieser oder jener Verrenkung aufsagen lassen, nicht verstehen. Um auf Lenin zurückzukommen: Als ich dreizehn war, da habe ich mich für Russland interessiert, also habe ich Russisch gelernt, nicht allzu ausdauernd, aber ich wollte jemand sein, der in dieser mythisch-politischen Welt tatsächlich Fuß fassen kann – in diesem „frohlockenden und blutschwitzenden Russland“, wie der Dichter Alexander Blok so hübsch sagt. Und als ich dann 2010 begonnen habe, nach Moskau zu fahren, da habe ich fast zwei Jahre gebraucht, bis ich auf die Idee mit den „Moskauer Prozessen“ gekommen bin. Denn das ist der Nachteil meiner Arbeitsweise: Es ist eine Dialektik von Vorstellen und Begreifen, von Ideen und völlig konkreten Umsetzungen, die sehr langwierig ist. Deshalb gibt es ständig Neukonzeptionen, was das Arbeiten z. B. für meinen Bühnenbildner Anton Lukas sehr anstrengend macht. Und genauso wie bei den „Moskauer Prozessen“ ging es mir mit „Hate Radio“, mit den „Letzten Tagen der Ceauşescus“, aber auch bei Adaptionen von Autoren wie Euripides oder Pynchon. Am Anfang steht immer dieser obsessive Wunsch, in die soziale und materielle, ja: in die phantasmagorische Bedeutungsdichte von etwas einzudringen.

Bossart Du brauchst in älteren Interviews ab und zu den Begriff der „sozialen Plastik“, allerdings in einem völlig anderen Sinne als Beuys, oder auch der „sozialen Phantasie“. Wie sind diese Begriffe genau gemeint?

Rau Ich gehöre ja zu einer Generation, die von den Ekstasen einer, sagen wir mal, analytischen Phantasie überfüttert wurde. Die einzige Sache, die ich im Gymnasium und dann im Studium immer wieder gelernt habe, ist die, dass man kritisch sein soll: Intelligenz, das hieß, bestehende Erzählungen, bestehende Wirklichkeitsentwürfe zu analysieren und zu zerlegen – und dann, wurde man Künstler, ein wenig daran zu leiden oder eben je nach ästhetischem Ansatz drüber- oder danebenzustehen. Die soziale Phantasie ist nun das Gegenteil davon: Sie ist aktiv, sie hat einen Realisierungsdrang, sie will die ganze Welt auf einmal umarmen, und vor allem will sie sie verändern. Man kann das sehr gut an der zapatistischen Revolution zeigen, einer großformatigen sozialen Plastik. Sie hat ohne eine ernst zu nehmende Streitmacht, ohne Großmächte im Hintergrund und ohne das Anzapfen bereits vorhandener politischer Bewegungen oder Theorien funktioniert. Man kennt ja von Medienbildern diese Soldaten mit den Holzgewehren: Damit sind die Zapatisten sprichwörtlich aus dem Nichts, versteckt unter Skimasken, am 1. Januar 1994 in San Cristóbal aufgetaucht. Sehr geschickt haben sie sich dann als die Namen- und Gesichtslosen inszeniert, die Majas aus dem Urwald, die wahren Mexikaner – und gleichzeitig der Regierung gesagt: Wir sind globalisierter als ihr, urbaner, universeller. Wir sind die Zukunft der Menschheit, nicht ihr! Diese völlig machiavellistische Wendung des postmodernen Eklektizismus, diese kämpferische Form erhöhter sozialer Intelligenz, dieser aggressive Konstruktivismus ist für mich sehr entscheidend geworden. Du kannst tun, was du willst, nur muss es wahr werden, es muss real werden. Analyse allein reicht nicht.

Bossart Soziale Phantasie heißt also: Man eignet sich die bestehenden Diskurse an, formatiert sie, radikalisiert sie, führt sie eng und stellt sie in einen Raum, in dem plötzlich wieder völlig offen ist, was sie bedeuten.

Rau Genau. Eine soziale Plastik, wie ich sie verstehe, bedeutet „angewandter Surrealismus“, wie der Leiter des Moskauer Sacharow-Zentrums meine „Moskauer Prozesse“ genannt hat. Theater ist nichts anderes als die völlig konkrete Rückbesinnung auf diese ganz simple aristotelische Tatsache: dass alles, was wir für real erachten, nichts anderes ist als eine soziale Verabredung. Klar, das ist eine Erkenntnis aus dem Soziologie-Proseminar. Aber Spielen oder Inszenieren, wie ich es verstehe, bedeutet, die im Normalfall einfach als natürlich und zwingend hingenommene Wirklichkeit nicht analytisch oder ironisch aufzulösen, sondern sie in all ihren Konsequenzen zur Erscheinung zu bringen, sie in Aktion zu zeigen. Das ist ja der Grund, warum Theater überhaupt als Kunstform entwickelt wurde: als Umgang mit dieser zugleich natürlichsten und phantastischsten Fähigkeit des Menschen, nämlich aus dem sozial Imaginären Realität zu schaffen. Wenn mich einige als Dokumentarist bezeichnen, so basiert das auf einem Missverständnis. Denn was man auf einer Bühne tut, ist grundsätzlich das Gegenteil von Dokumentieren – es sei denn, Seiltanz ist dokumentarisch, weil die Erdanziehungskraft dokumentiert wird. Mein Stück „Hate Radio“ zum Beispiel hat mit dem historischen RTLM etwa so viel zu tun wie die bewaffneten „Majas“ der Zapatisten mit den an der Grenze zur totalen Armut lebenden indigenen Kleinbauern Südmexikos, die sich hinter den Skimasken verstecken. Das historische RTLM war, nach heutigem Maßstab, zum Sterben langweilig und langfädig, das waren bis auf einige Momente ziemlich biedere Angestellte des Genozids. Und wenn die Medien berichteten, ich hätte in Moskau den „Pussy Riot“-Prozess nachgespielt, so ist genau das Gegenteil wahr: Meine „Moskauer Prozesse“ führten das auf, was in der russischen Wirklichkeit unmöglich gespielt werden kann.

Bossart Besteht hier nicht die Gefahr der Beliebigkeit, ja der Geschichtsfälschung?

Rau Absolut. Ich glaube aber, gerade weil es keine dokumentarische Wahrheit gibt, jedenfalls nicht im wirklichen Leben, braucht es die Kunst – die so etwas wie eine künstlerische Wahrheit schaffen kann. Wie ich ja öfters in anderen Interviews erzählt habe, sprechen meine Figuren in „Hate Radio“ unter anderem mit den Worten des heutigen ruandischen Oberbefehlshabers. Ganze Dialoge und Charaktere habe ich erfunden, und dass im RTLM tatsächlich Nirvana gespielt wurde wie in meinem „Hate Radio“, ist ungefähr genauso unwahrscheinlich und übrigens unnötig, wie dass Madame Bovary tatsächlich in Frankreich gelebt hat. Darum geht es in der Kunst nicht. Worum es geht, ist, dass man bereit ist, dafür den Preis zu zahlen. Ich kann dir sagen, meine Schauspieler und ich, wir haben Blut geschwitzt vor der Uraufführung in Kigali; und wir waren natürlich extrem erleichtert, als die ruandischen Zuschauer sagten: „Genau so war es!“ – obwohl wir nicht ganz verstanden haben, was sie damit meinten, denn „genau so“ war es ja gerade nicht gewesen. Und das unterscheidet eben das, was ich zu tun versuche, von allen Formen der Beliebigkeit, die sich in diesem grässlich bequemen Theaterbegriff des „Probierens“ gehalten hat. Man soll nicht probieren in der Kunst, man soll wetten. Einige der Zapatisten wurden erschossen, als sie Revolution spielten. Die Schauspieler in „Hate Radio“ mussten sehr, wirklich sehr lange „üben“, um über den Tod einer Million Menschen lachen zu können – aus innerstem Herzen. Und als wir nach Ruanda flogen, um im ehemaligen Sendestudio on air zum Massenmord aufzurufen, da hatten wir solche Angst, als gingen wir sprichwörtlich aufs Schlachtfeld.

Bossart Das erinnert mich an die Grundvoraussetzung für die psychoanalytische Suche nach dem realen Ding, die Wilfred Bion nennt: „no memory, no desire, no understanding“. Kannst du in Bezug auf deine Arbeit die Differenz zwischen dem bloß Realität vorspielenden und dem Realität bildenden Als-ob noch etwas spezifizieren?

Rau Kürzlich war ich auf der Premiere eines Stücks, das auf Interviews basierte, die die Künstler mit Leuten auf der Straße geführt hatten. Es war eine typische zeitgenössische Regie-Arbeit, der Text hätte auch von Ibsen oder Sarah Kane sein können: Es gab ein Bühnenkonzept, das schauspielerisch als eine Art Hindernislauf funktionierte, es gab ironische und ernste, stille und laute Momente, irgendwann wurde ein Lied gesungen, das Licht änderte sich ab und zu und am Ende versuchte einer der Schauspieler, sich mit einem Seil in den Bühnenhimmel zu ziehen. Worauf ich damit hinauswill: Normalerweise ist Theaterkunst eine mehr oder weniger gut funktionierende Gemeinschaft von Handwerkern. Die einen können Texte variabel sprechen, andere können sie zusammenmontieren, und die Dritten wissen, wie man das Ganze beleuchtet – und der Regisseur übernimmt eben irgendwie die Verantwortung und versucht, seine drei, vier Zauberkunststücke, seinen idiosynkratischen Stil unterzubringen. Aber Theater muss ein Akt sein, es muss eine Schwierigkeit darin bestehen, ihn zu vollführen – keine technische, sondern eine reale, eine existenzielle. Theater heißt, wie ich es verstehe: eine Situation der Entscheidung herzustellen. Wenn Anna Stawickaja, die Verteidigerin der Künstler in den historischen Vorbild-Prozessen, in meinen „Moskauer Prozessen“ die Verfahren, die sie allesamt verloren hat, noch einmal verhandelt, dann weiß sie, dass ihre Karriere vorbei ist, wenn sie wieder verliert. Das Ehepaar Ceauşescu in den „Letzten Tagen der Ceauşescus“ eben nicht ironisch zu spielen, sich in „Hate Radio“ vor die Überlebenden eines Genozids zu stellen und ihnen noch einmal willentlich diesen unerträglichen, unverständlichen Schmerz zuzufügen – das ist eine fast untragbare Verantwortung für einen Künstler. Und ich sage nicht, hör zu, ich bin der Regisseur, wir werden jetzt zusammen einen Dreh suchen, dass es für niemanden mehr ein Problem ist; du sprichst das jetzt ein wenig augenzwinkernd. Nein, mein Verständnis von sozialer Plastik ist es, den Künstlern, mit denen ich arbeite, einen öffentlichen Ort zu verschaffen, an dem sie gezwungen sind, die volle Verantwortung für das, was sie da tun, zu übernehmen. Einen tragischen Ort, um es etwas altertümlich zu formulieren.

Bossart Ein anderer Begriff, den du gern verwendest, ist die „heroische Öffentlichkeit“ – eine Öffentlichkeit, in der der Künstler nicht bloß privat oder als Profi, sondern tatsächlich als Mensch, völlig real und politisch im Jetzt gefordert ist. In „Hate Radio“ wurde das besonders deutlich, weil es bei den ruandischen Schauspielern starke Interferenzen gab zwischen ihrer Biografie, ihrem Selbstverständnis als Schauspieler und der Art, wie die Medien damit umgegangen sind.

Rau Ja, am Anfang haben viele Kritiker von „Laien“ oder „Experten“ gesprochen. Dabei ist allein schon mein Text, den sie memorieren müssen, derart komplex, dass das für eine nicht ausgebildete Person nie zu schaffen wäre. Aber dass ein Schwarzer, der auch noch einen Massenmord überlebt hat, also quasi das prototypische postkoloniale Opfer – dass so ein Mensch den unfassbar schwierigen dialektischen Drahtseilakt schafft, als Darsteller eines Täters und als Überlebender eines Genozids auf der Bühne zu stehen, und das Ganze völlig entspannt gewissermaßen, also ohne dazwischen gesampelte Übersprungshandlungen: Das war einfach nicht zu verstehen.

Bossart Die Schwierigkeit, oder besser: Der Akt war für sie, zugleich als die, die sie fatalerweise sind, und die, die etwas ganz anderes tun, auf der Bühne zu stehen?

Rau Absolut richtig, und zwar ohne sich das anmerken zu lassen. Das klassische Angebot in der mitteleuropäischen Erinnerungskultur wäre die Überhöhung der Tatsache, ein Übriggebliebener zu sein, was jede künstlerische Distanzierung zum selber Erlebten obsolet machen würde. Oder man ist Profi und steht in feiner ironischer Distanz neben dem, was man nun mal ist (oder was man glaubt zu sein), man bringt die eigene Biografie in analytische Schwingung. Das alles ist für mich erledigt, überholt, ja, ich glaube nicht, dass das tatsächlich noch jemanden interessiert. Ich war letzthin mit „Hate Radio“ auf dem Festival d'Avignon, das 2013 einen Afrikaschwerpunkt hatte. Ich habe mir dort mit Nancy Nkusi, der weiblichen Hauptdarstellerin, ein schreckliches Stück angeguckt, in dem kongolesische Künstler auf eine sehr seltsame Weise „Kongolesen“ spielten: sie tanzten, waren poetisch und leidenschaftlich – und gleichzeitig haben sie sich über diesen völlig fatalen Congolese Touch lustig gemacht. Meine Darstellerin, eine geborene Ruanderin, sagte nur leise: „Warum tun die das? Was, verdammt noch mal, ist mit diesen Leuten bloß los?“ Und tatsächlich: Warum tun wir das alle, warum spielen wir uns was vor? Übrigens kenne ich das als Schweizer sehr gut, denn ebenso, wie es ein kongolesisches Theater gibt, gibt es auch ein schweizerisches, ein polnisches, ein russisches undsofort. Dieser pseudokritische, völlig folgenlose Authentizitäts- und Ironie-Marathon: Die Schwierigkeit besteht darin, sich dem zu entziehen, ohne zynisch zu werden. Und das kann eben nur mit ganzem Einsatz gelingen: Wenn man mit der Gewissheit auf der Bühne steht, dass die eigenen Spielakte den Diskurs, die symbolische Ordnung oder auch die Geschichte der Menschheit irgendwie verschieben können. Wenn man wirklich die Verantwortung übernimmt. Als ich für „Die letzten Tage der Ceauşescus“ in Rumänien gecastet habe, habe ich mich ganz bewusst für die in Rumänien bekanntesten Fernseh- und Filmschauspieler entschieden. Also für Leute, die gewaltige Übung darin hatten, „den Ceauşescu“ zu spielen – und für die es eine Herausforderung, ein berufliches Risiko und rein schauspieltechnisch fast eine Unmöglichkeit war, ihm (und ihren eigenen Erinnerungen an ihn) noch einmal neu zu begegnen.

Bossart Man könnte in einem bestimmten Jargon das, was du tust, auch als Erinnerungsarbeit bezeichnen. Es gibt aber diesen Satz von dir, ich glaube, das war in einem der Gespräche, die du mit Friedrich Kittler für „Die letzten Tage der Ceauşescus“ geführt hast: Erinnerung ist nicht möglich …

Rau