Leseprobe
Reinhard K. Sprenger
Die Entscheidung liegt bei dir!
Wege aus der alltäglichen Unzufriedenheit
Campus Verlag Frankfurt/New York
Leseprobe
In Erinnerung an meinen Vater. Für meinen Sohn Robin und meine Tochter Eileen.
Leseprobe
Über das Buch
»In Zeiten steigender Arbeitsplatzunsicherheit kann ich den Job nicht wechseln!« … »Meinen Lebenstraum verwirklichen? Aber ich kann doch nicht einfach so nach Neuseeland auswandern!« … »Die Partnerschaft nach Jahren beenden? Aber die Kinder und das Haus!«
Wir finden immer ein »Aber« und richten uns ein in der alltäglichen Unzufriedenheit. Wir fühlen uns als Opfer der Sachzwänge; ohnmächtig und fremdbestimmt. Dabei ist ein gelungenes Leben keine Glückssache, die uns nur zustößt, wenn das Schicksal es ausnahmsweise mal gut mit uns meint. Stattdessen verlangt es selbstverantwortliches und entschiedenes Handeln. Wie man sein Glück in die eigenen Hände nimmt, zeigt Reinhard K. Sprenger in diesem aufrüttelnden Buch.
»Sprengers Bestseller ist ein echter Augenöffner.« Myself
Über den Autor
Dr. Reinhard K. Sprenger, promovierter Philosoph, gilt als profiliertester Managementberater und Führungsexperte Deutschlands. Zu seinen Kunden zählen nahezu alle großen DAX-Unternehmen. Er lebt in Zürich und Santa Fe, New Mexico. Sprenger ist bekannt als kritischer Denker, der nachdrücklich dazu auffordert, neues Denken und Handeln zu wagen.
Inhalt
Vorwort zur überarbeiteten Neuauflage
Einleitung
Von ungeahnten Möglichkeiten
Worum es in diesem Buch geht – und worum nicht
Entscheiden können
Die Macht der Wahlfreiheit
Ein Tag wie jeder andere
Ein wunderbares Geschenk
Hinter selbst gewählten Gittern
Preisvergleich
Die kalten Duschen des Lebens
Der Mythos der Sachzwänge
Wer sitzt am Steuer?
Opfer der Umstände?
Spielball des Arbeitsmarkts?
Opfer-Storys
Nachrichten aus dem Jammertal
Jargon der Ohn-Macht
Das Pontius-Pilatus-Syndrom
Keine Zeit!
Mach’s anderen recht!
Welch ein Stress!
Die anderen sind schuld!
Der Wille zur Ohnmacht
Was tue ich dazu?
Unterlassungssünden
Das Elend der guten Vorsätze
Der Traum vom Retter
Wünschen, Warten, Wundern
Bescheiden statt Entscheiden
In der Pflicht
Grenzen der Freiheit
Der Zwang zur Freiheit
Unvermeidliches und Unwillkürliches
Entscheiden lassen
Bestraft durch Belohnung
Zuckerbrot und Peitsche
Von Menschen und Hamstern
Verlust der Lust
Süße Drogen
Neid und Missgunst
Prämien für Sinnlosigkeit
Das Ende der Risikofreude
Ausgereizt
Burn-out
Das Paradox der Freiheit
Unklare Motive
Psychologische »Anteiber«
Einflüsterung 1: »Du kannst alles haben!«
Einflüsterung 2: »Es gibt richtige Entscheidungen!«
Was tun?
Ein Beispiel
Der Sirenengesang des Lobens
Verhängnisvolles Lob
Lob gegen Leistung
Manipuliert durch Lob
Anschlag auf die Freiheit
Beschämt durch Lob
Kalte Nesselfetzen
Lob verhindert Spaß am Tun
Wie denn besser?
Fragen gestellt – durch Fragen gestellt
Nur gefragt?
Das Warum-Spiel
Sagen statt fragen
Die Vorbild-Falle
Lebende Imitate
Zweite Sieger
Hannemann, geh du voran!
Der Tod des Glücks
Unvergleichliches vergleichen
Selbst-Vertrauen
Fremdbestimmt leben
Glück ist keine Glückssache
Entschieden leben
Glück folgt der Entschiedenheit
Meister des Lebens
Ändern statt ärgern
Das Unglück abwählen
100 Prozent »Ja!«
Commitment leben
Das Geheimnis des Glücks
Vom Geben und Nehmen
Von Wegen und Zielen
Nutze den Augenblick!
Leben im Hier und Jetzt
Erfolg ist, was folgt
Das Beste geben
Der Münchhausen-Trick
Die Last der Ideale
Selbstbestimmt leben
»Ich«: ein Sich-Ent-Schließen
Das Ende der Schuldzuweisung
Der trügerische Trost der »positiven Freiheit«
Ist Willensfreiheit eine Illusion?
Die Verwechslung von Freiheit und Zufall
Die Trennung von Hirn und Person
Willensfreiheit ist intuitiv und praktisch
Ausblick: Eine Kultur der Selbstverantwortung
Das egoistische Missverständnis
Macht hat, wer macht
[Leseprobe] Vorwort zur überarbeiteten Neuauflage
Tu, was du willst, sagte Gott, und zahle dafür. (aus dem Spanischen)
Einige Jahre sind vergangen, seit ich die Erstfassung dieses Textes geschrieben habe. Jahre der Erfahrung mit einem Buch, das auf leisen Sohlen die Menschen erreichte – weniger als Liebling der Bestsellerlisten, mehr als Empfehlung Einzelner, die einem Freund oder einer Freundin etwas Wichtiges weitergeben wollten. Keines meiner Bücher hat so viele Menschen bewegt, nie hatte ich so viele E-Mails und Briefe bekommen. Ziel meines Schreibens ist es gewesen, Menschen jenseits der Unternehmensgrenzen mit den Ideen zu erreichen, an denen ich seit vielen Jahren gearbeitet hatte und die bis heute Kern meiner beraterischen Tätigkeit sind. Das ist mir gelungen, und darüber bin ich sehr glücklich.
Nun die überarbeitete Neuauflage. Denn es gibt Menschen, und es sind nicht wenige, die die menschliche Freiheit nicht als Lust, sondern als Last empfinden. Sie können es gar nicht erwarten, jene Verantwortung wieder loszuwerden, die der Wegbegleiter der Freiheit ist. Und deshalb suchen sie Entlastungen. Und natürlich finden sie die – sowohl bei der politischen Philosophie als auch bei der Hirnforschung. Da beide Einsprüche gegen die Freiheit sehr populär sind, wollte ich sie nicht unkommentiert lassen.
Die Entscheidung liegt bei dir! ist eine Lebensphilosophie des Wollens, im Gegensatz zu vielen anderen Angeboten, die durch ein Sollen charakterisiert sind. Ja, sie will gerade die Fesseln des »Du sollst!« sprengen. Sie will ein Leben ohne Angst ermöglichen. Sie will die Freiheit mehren. Sie will die Menschen nicht in die Zwangsjacke von Moralvorschriften stecken, sondern den aufrechten Gang der selbstbewussten Mündigkeit üben. Das ist ihr Wahlspruch: »Ich will die Welt nach meinem Willen prägen – soweit es in meiner Macht steht.« Die höchste Kunst ist es dann, auch ein Sollen zu wollen. Aber dazu später mehr.
Angesichts der deutschen Jammerkultur scheint mir das Buch aktueller denn je. Es antwortet vor allem aber auf die alltäglichen und zeitlosen Fragen. Manches erscheint beim Lesen offensichtlich. Aber sind nicht alle Fragen einfach, wenn man die Antworten weiß? Für viele dieser Antworten reklamiere ich keine Eigentumsrechte; sie sind zum Teil einige tausend Jahre alt. Ich habe sie nur aufgegriffen und auf Gegenwärtiges bezogen. So können Sie mit ihnen alles Mögliche tun: den Sinn des Lebens entdecken, den Liebeskummer bewältigen, das Erziehungsproblem lösen, den Beziehungskonflikt schlichten, das Wichtige vom Unwichtigen scheiden, Ihr Leben in neuem Licht sehen, kurz: Wege zum persönlichen Glück entdecken. Die möglichen Auswirkungen des Buches möchte ich daher in eine Warnung kleiden: Vorsicht, es könnte Sie verändern!
[Leseprobe] Einleitung
Von ungeahnten Möglichkeiten
Vielleicht sitzen Sie gerade in Ihrem Wohnzimmersessel oder an Ihrem Schreibtisch, entspannen sich auf einer Gartenliege, reisen im Intercity, warten im Wartezimmer eines Arztes … und haben dieses Buch aufgeschlagen. Meine Frage an Sie: Was möchten Sie jetzt eigentlich noch lieber tun, als dieses Buch zu lesen? Sofort fallen Ihnen sicher einige Dinge ein: auf den Bahamas am Strand liegen, mit dem/der Geliebten durch Venedig bummeln, in den Alpen wandern, mit Freunden feiern … Suchen Sie sich aus, was Sie jetzt eigentlich lieber tun würden.
Nun habe ich eine gute Nachricht für Sie: DAS KÖNNEN SIE JETZT TUN! Sie können, wo auch immer Sie sind, augenblicklich das tun, was Sie eigentlich tun möchten. Sie können jetzt den Flug in die Karibik buchen, zur Bergwanderung aufbrechen, die Freunde zusammenrufen …
»Das ist doch blanker Unsinn!«, denken Sie wahrscheinlich, »als ob man immer das tun könnte, was man am liebsten tun möchte!« Und es fallen Ihnen sicher hundert Gründe ein, warum es nicht möglich ist, jetzt genau das zu tun, wonach Ihnen Herz und Sinn steht. »Ich kann doch hier nicht einfach alles so stehen und liegen lassen.« »Ich habe momentan kein Geld fürs Reisen.« »Morgen muss ich einen wichtigen beruflichen Termin wahrnehmen.« »Ich habe doch meine Familie …« »Bis ich all die Freunde zusammengerufen habe, vergeht der halbe Abend …« – hundert Gründe, die alle ernst zu nehmen und wichtig sind.
Aber unmöglich wäre es nicht. Sie könnten, wenn Sie wirklich wollten, das scheinbar Unmögliche möglich machen. Es hätte nur Folgen, auf die Sie sich im Augenblick nicht einlassen wollen. Vielleicht müssten Sie Ihr Konto plündern oder gar überziehen, auf etwas anderes verzichten, das Ihnen ebenso wichtig ist, Ihre Freundin oder Ihren Freund mühsam überreden, mit Ihnen »blauzumachen«, im Büro eine Lügengeschichte erzählen oder schlicht Zeit und Geld investieren, um die Party mit Ihren Freunden zu organisieren. Offenbar ist Ihnen dieser Preis im Augenblick zu hoch.
Wenn wir etwas tun oder lassen, dann vergleichen wir Preise. Nicht immer bewusst, aber in unseren Tagträumen fragen wir uns dafür umso intensiver: Was kostet es, ein ganz anderes Leben zu führen, als ich es bisher getan habe? Was kostet es, meinen Job hinzuwerfen? Meinen Partner zu verlassen? In einem anderen Land zu leben? Wie auf einer Nebenspur prüfen wir alle möglichen Alternativen und wägen die Folgekosten ab. Kosten, die sowohl materieller (»Ich werde meinen Lebensstandard einbüßen«) als auch ideeller Natur (»Ich habe Gewissensbisse«) sein können. Wir vergleichen Preise, kommen zu einem Ergebnis – und dieses Ergebnis ist dann unser konkretes Handeln. Das, was wir in jeder Sekunde tatsächlich tun, ist nichts anderes als das Ergebnis dieses Preisvergleichs.
Die aktive Rolle, die wir dabei einnehmen, ist uns meist nicht bewusst, und so erleben sich viele Menschen nicht als Gestalter ihres Lebens, sondern als Opfer der Umstände. Sie werden unzufrieden. Selbstmitleid kommt auf. Der eigene Lebenszug steht immer am falschen Bahnhof, die Party findet immer woanders statt, die Post geht immer auf einem anderen Spielfeld ab. Und was ist mit Ihnen? Beschleicht auch Sie manchmal leiser Neid, wenn andere ein offenbar spannenderes Leben führen? Kennen Sie auch das Gefühl, sich auf eingefahrenen Gleisen zu bewegen? Auf der Stelle zu treten? Sind Sie manchmal ein bisschen unzufrieden? Vielleicht auch mehr als ein bisschen?
Vermutlich kennen Sie das Gefühl: Sie stehen irgendwie neben sich, fühlen sich wie im falschen Film. Nicht Sie selbst steuern Ihr Leben, sondern andere, die eine bestimmte Rolle in Ihrem Leben spielen. Diese können zum Beispiel »weiter oben« stehen, Ihr Chef etwa, oder es können Menschen sein, für die Sie Verantwortung tragen und die Sie nicht enttäuschen wollen. Der Zwang, Geld zu verdienen, die Lage am Arbeitsmarkt, die Sorge um die Kinder oder schlicht der »Ernst des Lebens« – all das verhindert, dass Sie Ihren Traum vom besseren Leben realisieren. »Tja, wenn ich es mir aussuchen könnte …«
Wenn Sie aber mit dem Ernst des Lebens mal einen trinken gehen und dabei ganz ehrlich zu sich selbst sind, dann müssen Sie anerkennen: Sie haben es sich ausgesucht! Sie haben die Situation, in der Sie sich jetzt befinden, anderen vorgezogen – wie immer Sie es auch drehen und wenden. Sie haben gewählt.
Ein kurioser Gedanke? Mit dem Anerkennen dieses Gedankens entscheiden Sie über die Freiheit – oder Unfreiheit – Ihres Lebens. Und damit über Ihr Lebensglück. Vielleicht fragen Sie sich, was das mit der Freiheit Ihres Lebens zu tun haben soll. Nun, wenn Sie anerkennen, dass Sie Ihre private und berufliche Situation frei gewählt haben, können Sie diese Situation auch wieder abwählen – jederzeit! Allein die reine Vorstellung wirkt manchmal wie ein Befreiungsschlag.
Es mag in Ihren Ohren zynisch klingen. Vielleicht haben Sie gerade Ärger mit Ihrem Partner, oder Ihr ewig unzufriedener Chef hat Sie mal wieder ungerecht behandelt. Ihre Kinder sind unter Umständen in der rebellischen Phase, und Sie haben gerade den Kampf gegen Ihr Übergewicht endgültig aufgegeben: »Das hat doch nichts mit Wählen zu tun!« Ich behaupte: Doch, hat es.
Wem jetzt das »Ja, aber …« auf den Lippen liegt, den bitte ich an dieser Stelle um etwas Geduld. Natürlich könnte ich verständnisvolle Einschränkungen hinzufügen: »Es ist oft nicht so einfach, wie hier scheinbar vorausgesetzt.« »Manche Entscheidungen sind komplex, die Konsequenzen nicht absehbar.« »Es gibt Sachzwänge und Schicksalsschläge.« Kurz: »Die Umstände …« Sie haben sich Jahr für Jahr wie Geröll über unser Leben geschoben. Darunter fühlen wir uns nun lebendig begraben. Auf all diese »Ja, aber« will ich eingehen.
Mir geht es zunächst aber eher bescheiden darum, dass Sie die Bedeutung des Ausdrucks »selbst gewählt« erkennen, weil dies ganz einfach praktisch für Ihr Leben ist. Anders gesagt: Ich möchte Sie einladen, den Gedanken »Die Entscheidung liegt bei dir!« auszuprobieren und seinen Nutzen für Ihr alltägliches Leben zu prüfen.
Worum es in diesem Buch geht – und worum nicht
Ich will in diesem Buch nicht zeigen, wie Sie mit Schwierigkeiten besser fertig werden, seelische Probleme überwinden, wie Sie sich besser anpassen oder flexibler reagieren. Auch das sogenannte »positive Denken« ist meine Sache nicht. All das mag gewisse Lebenssituationen lindern und die Probleme trostbringend umwölken. Aber letztlich bleibt eine solche Herangehensweise doch passiv und schwach.
Es geht mir in diesem Buch um das Bewusstsein, mit dem Sie Ihr Leben leben. Es geht mir um Klarheit, Konsequenz und das Gefühl, mit dem eigenen Lebenszug am richtigen Bahnhof zu stehen. Ich will zeigen, wie Sie eine aktive Rolle übernehmen, wie Sie durch aktives Tun der alltäglichen Unzufriedenheit entkommen können und wieder die Kontrolle über Ihr Leben gewinnen. Dieses Buch will Sie wieder ans Ruder bringen – dorthin, wo Sie hingehören.
Einige Gedanken dieses Buches habe ich ursprünglich für Führungskräfte in Unternehmen niedergeschrieben. Nachdem ich sie unter den Titeln Mythos Motivation und Das Prinzip Selbstverantwortung veröffentlicht hatte, wiesen mich viele Menschen darauf hin, dass sie nicht nur für das Berufsleben anregend und hilfreich seien. »Das geht eigentlich jeden an!« war ein oft gehörter Kommentar.
Dieses Buch ist durch solche Anregungen entstanden. Es verabschiedet im ersten Teil das alltägliche Gefühl der Ohn-Macht und zeigt, dass Sie entscheiden können. Es illustriert das Bewusstsein der Wahl-Freiheit für unser tägliches Handeln und beschreibt die Folgen für unsere persönliche Glücksbilanz. Ich betone: Handeln. Denn meine Hauptthese ist: Glück ist keine Glückssache. Glück, was auch immer Sie persönlich darunter verstehen, ist nicht etwas, das Ihnen »zustößt«.
Glück ist das Ergebnis von selbstverantwortlichem, entschiedenem Handeln.
Für diese aktive Rolle brauchen Sie Energie. Woher kommt die Energie, mit der Sie Ihr Leben leben? Woher kommt die Motivation, etwas zu tun und zu verändern? Grundsätzlich können Sie diese Energie von innen oder von außen beziehen. Sie können Ihr Leben selbst steuern oder von anderen steuern lassen. In dem einen Fall sind Sie die Ursache, die Quelle Ihres Lebens. In dem anderen Fall reagieren Sie auf das, was um Sie herum passiert. Beide Lebenskonzepte können nicht völlig getrennt, wohl aber unterschieden werden. In welchem Bereich Sie sich vorrangig aufhalten, ist eine Frage Ihrer inneren Einstellung.
Im zweiten Teil dieses Buches beschreibe ich, was passiert, wenn die Energie von außen kommt. Wenn Sie andereentscheiden lassen. Welche Effekte, Begleiterscheinungen und Nebenwirkungen es hat, wenn andere Sie schieben oder ziehen. Wenn Sie sich fremdsteuern, motivieren lassen: mit Belohnungen jeder Art, mit Geld, Prämien, Lob und Tadel, Vorbildern, subtilen Bestechungen. Ich frage: Was bleibt von unserer Selbstständigkeit, von unserer Freiheit, wenn wir uns in das System von Zuckerbrot und Peitsche einspannen lassen? Und ich frage: Was hindert uns daran, den eigenen Weg zu gehen?
Wenn die Energie von innen kommt – das ist das Thema des dritten Teils. Die Frage lautet hier: Was können Sie tun, um Ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen? Was passiert, wenn Sie aktiv werden und selbst Ihr Lebensauto steuern? Was passiert, wenn Sie sich nicht mehr von anderen Ihre Lebens-Ziele vorsetzen lassen, sondern sich stattdessen selbst motivieren und selbst-bestimmt leben? Welche Gedanken helfen Ihnen dabei, die Verantwortung für das Glück in Ihrem Leben selbst zu übernehmen? Welche Gedanken stärken Ihr Selbst-Bewusstsein? Und was heißt am Ende entschieden leben?
Wenn ich auf Vorträgen über diese Fragen spreche, stimmen mir viele Menschen schnell und problemlos zu: »Klar! Weiß ich schon!« Wenn ich sie aber auf die Folgen für ihre konkrete Lebenssituation aufmerksam mache, entwickeln sie enorme Widerstandskräfte. Fordere ich sie gar zum Handeln auf, winken sie resigniert ab: »Utopisch!« »Alles nur Theorie!« Oder es kommt das schlimmste aller Schimpfwörter: »Philosophie!«
Das hat damit zu tun, dass unser Verstand darauf gepolt ist, unbedingt Recht zu behalten und anders gelagerte Erfahrungen ins Unrecht zu setzen. Wir »verteidigen« gleichsam unsere Vergangenheit. Wir rechtfertigen unsere Lebensentscheidungen. Ich möchte Sie dennoch einladen: Auch wenn Ihnen einige Passagen ausgesprochen unsympathisch sein sollten, legen Sie das Buch nicht sofort zur Seite! Das Erschrecken ist immer Einsicht in die Wirklichkeit. Und wer nie anstößig war, hat auch nie Anstöße gegeben.
Wenn Sie sagen: »Das trifft auf mich nicht zu!«, sind Sie wahrscheinlich genau derjenige, den ich meine. Vieles klärt und erklärt sich im Fortgang des Textes – wie ich hoffe – auf ermutigende und befreiende Weise. Vielleicht kann ich Ihnen ja auch hin und wieder ein Lächeln der Selbsterkenntnis ins Gesicht zaubern. Ich wünsche mir jedenfalls, dass viele von Ihnen Ihr Leben und Ihre Fragen darin »wiederfinden«.
Für zahlreiche Anregungen, stille Hinweise und engagierte Einsprüche danke ich Karin Beiküfner und Britta Kroker, vor allem aber Sabine Gilliam, die schon an dieses Buch glaubte, als es noch gar nicht geschrieben war.
Entscheiden können
[Leseprobe] Die Macht der Wahlfreiheit
Ein Tag wie jeder andere
Mittwochmorgen. Sie sind gerade aufgestanden, und das einzig Ausgeschlafene in diesem Moment ist die »Einen wunderschönen guten Morgen!«-Stimme der Radiomoderatorin, die das heutige Telefonspiel erklärt. Eine Reise nach Mauritius können Sie gewinnen, wenn Sie jetzt ganz schnell anrufen und den Werbespruch des Senders vorsingen. Auf Mauritius, tja, da wäre es jetzt wärmer. Dort bräuchten Sie nicht den Bericht zu schreiben, den der Chef Ihnen gestern zur »Überarbeitung« wieder auf den Schreibtisch gelegt hat. Und es würden nicht diese gelben Klebezettel an der Tür hängen: »Stromrechnung überweisen!«, »Leere Flaschen wegbringen!« Der Wasserhahn tropft, und Sie erinnern sich dunkel, dass Sie sich schon vor drei Wochen darum kümmern wollten.
Ein Tag, nicht besser oder schlechter als die meisten in Ihrem Leben. Wenn Sie nach Hause kommen, werden Sie auf die immer gleiche Frage »Wie war’s heute im Büro?« die gleiche Antwort wie gestern und an den Tagen zuvor geben: »Wie immer.«
Vielleicht haben Sie sich früher einmal alles anders vorgestellt. Aber das ist lange her. Es hat sich halt so ergeben. Fast wie von selbst. Inzwischen wissen Sie, dass »man sich nach der Decke strecken muss«. Sie funktionieren. Nur manchmal, wenn zusätzlich der Wagen nicht anspringt, der Mantel sich in der Autotür verklemmt und der Hausmeister Sie zum zehnten Mal daran erinnert, das Garagentor zu schließen, möchten Sie das alles abschütteln wie ein nasser Hund den Regen. Von wegen Mauritius!
Neben vielen kleinen Dingen, die einem das Leben schwer machen, gibt es noch die wirklich belastenden Probleme: Vor kurzem ist auch in Ihrem Unternehmen der Begriff Stellenabbau gefallen. »Sie wissen ja, wir sind in unserem Unternehmen eine große Familie. Und nun hat unser Familienoberhaupt einen Beschluss gefasst: Sie werden bald das Nest verlassen müssen.« Wen wird es zuerst treffen? Welche Zukunft erwartet Sie, wenn Sie den Schwarzen Peter ziehen? In diesen Zeiten scheint es auf jeden Fall klug, sich ruhig zu verhalten und nicht unangenehm aufzufallen. Vielleicht hätten Sie vor einem Jahr die Stelle in München annehmen sollen, die Ihnen angeboten worden war. Damals dachten Sie aber an die Kinder, denen Sie einen Umzug nicht zumuten wollten (sie hatten sich gerade gut eingewöhnt, die lang ersehnten Freunde gefunden – es ging einfach nicht!). Außerdem war da das Häuschen, das Sie wenige Jahre zuvor gekauft und gerade fertig eingerichtet hatten.
Vielleicht sind es auch andere Lebensumstände, die Sie beschäftigen: Sie hetzen von einer Verpflichtung zur anderen und reiben sich auf. In Ihrer Beziehung kriselt es schon seit längerer Zeit. Die Kredite auf das Haus müssen abbezahlt werden. Die Schwiegermutter ist ein Pflegefall. Auf die Pflegestation eines Altenheims wollen Sie sie nicht abschieben, aber Sie haben schon länger keinen richtigen Urlaub mehr gemacht. Da sind möglicherweise die Folgen einer früheren Heirat. Die Unterhaltszahlungen. Als Alleinerziehende: Kochen, Waschen, Kinder betreuen, Geld verdienen. Vielleicht macht es Ihnen auch einfach zu schaffen, dass Sie die großen Ziele aufgegeben haben und Ihre Lebensträume nun im Kino verwirklicht sehen.
»Ja, wenn …«, fangen Sie dann an und zählen all die Umstände, Sachzwänge, Verpflichtungen auf, aus denen die Routine Ihres Alltags besteht und auf die Sie am liebsten sofort verzichten würden. Eine lange Liste? Und eins passt irgendwie zum anderen? Bis Sie am Ende wieder überzeugt sind, dass das alles so sein muss und Sie gar nicht anders können? Nicht, weil Sie es so wollen, sondern weil »die Umstände« so und nicht anders sind?
Ich möchte den Eingangsgedanken dieses Buches wieder aufgreifen und zuspitzen: Sie haben Ihr Leben, so wie es jetzt ist, frei gewählt. Diesen Alltag, diesen Job, diesen Chef, diese Kollegen, diese Wohnung, diese Stadt, diesen Partner (oder auch Ihr Single-Dasein) – all das und alle anderen Umstände sowie Begleitumstände Ihres Lebens: Sie haben sie gewählt. Dafür sind Sie verantwortlich. Und nur Sie. Egal, welche Motive Sie hatten, einerlei, was Sie bewog: Sie haben es sich ausgesucht. Sie haben alles, was jetzt ist, entschieden und damit selbst gewählt – und Sie können all dies auch wieder abwählen. Dafür wäre dann wieder ein Preis zu zahlen. Wie hoch der ist, entscheiden nur Sie selbst.
So lässt sich unsere Wahl-Freiheit zusammenfassen:
Sie können alles tun.
Alles hat Konsequenzen.
Einfache, klare Sätze. Aber offenbar schwer verdaulich. Ich habe bis heute nahezu ausschließlich Menschen kennen gelernt, die zwar – einerseits – alles tun wollen, aber – andererseits – den Preis dafür nicht zahlen wollen. Mit jeder Wahl sind aber zwangsläufig bestimmte Auswirkungen verbunden, die wir gleichzeitig mitwählen. Es gibt keinen Trick in der Welt, der es uns erlaubt, diesen Konsequenzen auszuweichen. Aber genau das scheinen alle zu erwarten. Und wenn das nicht gelingt, nicht gelingen kann, fangen sie an zu jammern.
Ein wunderbares Geschenk
Jede Ameise weiß, was sie zu tun hat, sobald sie dem Ei entschlüpft ist. Sie hat – wie alle Tiere – ein festes Programm, nach dem sie lebt. Sie hat einen Instinkt, der ihr auf jeden Reiz unverrückbar die Reaktion vorgibt.
Anders der Mensch. Er folgt keinem Schema F. Er wird nicht einfach von Instinkten gesteuert. Er ist frei – das heißt, er kann wählen, was er in einer bestimmten Situation tut. Ein Tier verhält sich, der Mensch handelt. Eigentlich ein wunderbares Geschenk, oder?
Das Problem ist: Die meisten Menschen haben vergessen, dass sie wählen. Sogar täglich wählen. Sie vergessen einfach, dass sie sich für diese Lebensumstände täglich neu entscheiden. Dass sie sie auch abwählen könnten, wenn sie wollten, und es aus Gründen nicht tun, für die nur sie selbst verantwortlich sind. Dass sie diesen Ehepartner, der vielleicht schon länger nicht mehr ihre Leidenschaft entfacht, jeden Tag wieder und wieder wählen. Dass sie zu diesem Chef, über den sie sich mit periodischer Regelmäßigkeit bis zur Weißglut ärgern, jeden Tag Ja sagen. Ebenso den Stau, in dem sie jeden Morgen stehen. Die Vereinskollegen, die so furchtbar lahm sind und überhaupt nicht aus den Sträuchern kommen – sie wählen sie täglich. Ihr Übergewicht, auch das wählen sie täglich. Das Gehalt, das natürlich immer ein wenig zu niedrig ist, auch das wählt jeder an jedem letzten oder ersten des Monats.
Am Beispiel der eingangs angesprochenen Situation des Bücherlesens heißt das: Was Sie momentan eigentlich tun wollen, ist – dieses Buch zu lesen! Wenn Sie etwas »eigentlicher« wollten, würden Sie es tun. Mehr noch: Es gibt in Ihrem Leben im Augenblick nichts Wichtigeres, als dieses Buch zu lesen.
Eine etwas vollmundige Behauptung? Prüfen Sie den Gedanken: Wenn es etwas Wichtigeres gäbe, würden Sie es schlicht tun. Sie würden keine Sekunde zögern. Sie würden jetzt das Buch zur Seite legen. Niemand könnte Sie aufhalten. Wenn Sie also weiterlesen, dann haben Sie Preise verglichen, sich entschieden, es sich ausgesucht.
Das, was Ihr Leben im Moment ausmacht, ist der Weg, den Sie gewählt haben. Es gibt immer auch einen anderen Weg, etwas zu tun. Meistens auch mehr als einen. Doch viele halten an einer Methode fest, ein Ziel zu erreichen oder ein Problem zu lösen. Sie kommen gar nicht auf die Idee, einen anderen, vielleicht den eigenen, den besonderen Weg zu gehen. Statt es auf eine alternative Weise anzugehen, verdoppeln sie ihre Anstrengungen. Und wenn es dann nicht funktioniert, resignieren sie. Schließlich geben sie auf. Dabei liegt die Wahl immer in ihrer Hand.
Hinter selbst gewählten Gittern
»›Lass dich doch krankschreiben‹, haben ihr die Demonstranten zugerufen, als sie ihren Dienst in Dannenberg angetreten hat. Doch daran habe sie keine Sekunde gedacht, sagt Tanja B. Seit Freitag ist die 22 Jahre alte Polizeimeisterin im Einsatz, um dafür zu sorgen, dass der Castor-Transport sicher ins niedersächsische Gorleben gelangen kann.
Dass sie ihre Pflicht erfüllt, bedeutet freilich nicht, dass sie von ihrer Aufgabe überzeugt ist. ›Wenn ich die Wahl hätte, würde ich lieber demonstrieren als den Castor verteidigen‹, sagt Tanja B., die zum ersten Mal bei dem Transport dabei ist. Denn sie ist sich sicher, dass radioaktive Strahlung aus den sechs Behältern dringt und der Umgebung Schaden bringt. Doch sie hat nicht die Wahl, und deswegen muss sie nun jene, die ihrer Ansicht nach Recht haben, zurückdrängen.« (FAZ, Nr. 54 vom 5.3.97)
Dieses Zitat aus einem Zeitungsartikel zeigt besser als jede theoretische Herleitung, wie wir uns programmiert haben. Tanja B. glaubt, keine Wahl zu haben (was dienstrechtlich falsch ist), und die angesehene Frankfurter Allgemeine Zeitung bestätigt die arme Polizistin: Keine Wahl! Sie ist wirklich zu bedauern! Und da Selbstverletzung den Samariter-Reflex des Publikums mobilisiert, lehnt sich der Leser seufzend zurück: »Is’ auch wirklich ’ne arme Socke!«
Tatsache aber ist: Tanja B. hat Preise verglichen, und der Preis der Einsatzverweigerung war ihr zu hoch. Vielleicht wäre ihre Polizeikarriere ins Stocken gekommen. Vermutlich hätte sie sich den Spott ihrer Kollegen zugezogen. Sicher wollte sie nicht als feige gelten. All das wollte sie vermeiden. Das ist allemal verständlich, und auch ich kann ihr Dilemma lebhaft nachempfinden. Aber es ändert nichts an der Tatsache, dass sie sich entschieden hat. Sie hatte die Wahl, und sie hat sich für eine der Möglichkeiten entschieden. Kein Grund also, sie zu bedauern.
Viele Angestellte rechtfertigen beispielsweise ihre Versetzung in eine andere Stadt oder gar in ein anderes Land gegenüber ihrer Familie oft damit, dass sie »keine andere Wahl« gehabt hätten. Ich will nicht Entscheidungsprozesse verharmlosen, die persönlich oft als dramatisches Wechselbad der Gefühle erlebt werden. Ich kenne diese innere Zerrissenheit aus eigener Erfahrung und weiß, wie belastend sie ist. Wenn sie sich aber so entschieden haben und was immer sie dabei auch empfinden: Sie haben die Ansprüche ihrer Familie abgewählt zugunsten der Ansprüche ihres Unternehmens.
Vielleicht bedroht diese Klarheit ihr Rollenverständnis vom guten Vater oder der guten Mutter. Schließlich wollen sie als fürsorglicher Elternteil gelten. Da ist es naheliegend, auf einen bekannten Trick zurückzugreifen: Die anderen werden Verständnis haben, wenn sie erzählen, dass sie doch letztlich keine Wahl hatten. Doch! Die hatten sie. Sie wollen aber für ihre Entscheidung nicht geradestehen. Wie Kinder, die glauben, nicht gesehen zu werden, wenn sie die Augen schließen.
Auf einer Zugfahrt kam ich mit einem städtischen Beamten ins Gespräch, der sich über die weitaus besseren Verdienstmöglichkeiten in der Wirtschaft beklagte. Ich wandte ein: »Als Sie Beamter wurden, wussten Sie doch, dass Sie mit dieser Wahl das Gelübde auf lebenslange Armut abgegeben haben. Außerdem können Sie doch jederzeit Ihren Beamtenstatus aufgeben und sich einen Job in der Wirtschaft suchen.« »Aber die Arbeitsplatzsicherheit, der Leistungsdruck, die Pension …« »Aha!«
»Darf ich es in meinem Leben so haben, wie ich es gerne hätte?« Sie haben es so! Auch wenn es sich noch so hart anhört: Sie sind nicht gezwungen worden, Ihr Leben in der gerade praktizierten Form zu leben. Dem liegen Entscheidungen und damit abgelehnte Alternativen zugrunde. Mögen diese auch noch so abwegig sein. Immer dann, wenn Sie anfangen, über etwas zu lamentieren – dann haben Sie vergessen, dass Sie es sich ausgesucht haben.
Preisvergleich
»Ich möchte dich gerne heiraten«, sagt die Frau zu ihrem Geliebten. »Glaube mir, ich wünsche mir nichts sehnlicher auf dieser Welt. Aber ich kann mich nicht von meinem Mann trennen. Er würde es nicht überstehen. Er braucht mich. Ohne mich kann er nicht leben.« Worte, die in so manchem Liebesdrama fallen und die Sie so ähnlich vielleicht auch schon einmal gehört haben. Jedoch: Kann sich diese Frau nicht trennen? Ist es nicht die Loyalität gegenüber ihrem Mann und ihre Sorge um sein Wohlbefinden, die sie bei ihm bleiben lassen? Hat sie sich nicht für bestimmte Werte und gegen andere entschieden?
Alle Menschen wollen ein gutes, ein gelungenes Leben führen. Aber nur wenige sind bereit, den Preis zu zahlen, der in der Regel dafür fällig ist. Sie sind nicht bereit, das Opfer zu bringen. Sich anzustrengen. Etwas anderes hintanzustellen. Eventuell sogar Regeln zu brechen, die ihnen Tradition und Erziehung mit auf den Weg gegeben haben. Wie oft träumen wir davon, alles stehen und liegen zu lassen: das langweilige Vorstadtdasein, die freudlose Arbeit, den Chef, der nicht sieht, was wir leisten, und stattdessen permanent Druck macht. Wäre es nicht toll, einfach einen Schnitt zu machen? Noch einmal völlig neu anzufangen? Am besten an einem anderen Ort? Wir spüren, welche Potenziale noch in uns schlummern und wie viel Energie wir freisetzen würden, wenn wir genügend Freiraum hätten.
Gerade Menschen in der Lebensmitte leiden häufig unter einer Art »Festlegung«: Wenn nichts Entscheidendes geschieht, werde ich die mir verbleibenden Lebensjahre auf die immer gleiche Weise verbringen. Alle Entscheidungen sind getroffen. Meine Ehe ist so, wie sie ist; mein Beruf steht ebenso fest … Zweifel nagen: War das alles richtig so? Hätte ich Besseres erreichen können, wenn ich mich anders entschieden hätte? Ist es jetzt zu spät, die Weichen neu zu stellen? War das jetzt schon alles?
Auch wenn es sich seltsam anhört: In jeder Sekunde unseres Lebens sind wir frei, alles über den Haufen zu werfen und neu zu beginnen. Dennoch schöpfen die meisten Menschen diese Freiheit nur selten aus, ja sie sind sich ihrer Freiheit gar nicht bewusst. Der Preis scheint zu hoch. Aber sind die Folgen einer Neuentscheidung wirklich so schrecklich? Was würde schlimmstenfalls passieren, wenn Sie einen Strich zögen und zum Beispiel Ihren Job hinwerfen würden? Erwartet Sie die Arbeitslosigkeit? Fürchten Sie Statusverlust, einen Karriereknick? Würden Sie die Selbstachtung verlieren, weil Sie glaubten, versagt zu haben? Hätte das Wohlleben ein Ende? Müssten Sie vielleicht Ihr Auto verkaufen?
Oder was würde geschehen, wenn Sie jemandem die Freundschaft aufkündigten? Wenn Sie ihm in aller Deutlichkeit sagten, dass Sie mit ihm nichts mehr zu tun haben wollen? Oder: Was, meinen Sie, wären die Folgen, wenn Sie etwas täten, das niemand in Ihrem Freundeskreis oder Ihrer Familie von Ihnen erwartet hätte? Fürchten Sie Liebesverlust? Dass die anderen Sie nicht mehr mögen? Wenn das zutrifft, dann ist es Ihnen wichtiger, von den anderen gemocht zu werden; es ist Ihnen wichtiger, als Ihr eigenes Leben zu leben. In Ordnung, dafür haben Sie sich entschieden.
Ich argumentiere hier nicht moralisch. Mir geht es um die Definition des Preises. Niemandem steht es an, für jemand anderen zu definieren, dass dieser oder jener Preis höher oder niedriger zu bewerten sei. Das ist ausschließlich eine Frage der persönlichen Einschätzung.
Wofür der eine seinen Job kündigt, ringt dem anderen nur ein müdes Lächeln ab. Wofür der eine sein Leben hingibt, gilt dem anderen nichts. Auch wer sich umbringt, wählt die – aus seiner Sicht – bessere Alternative. Wenn Sie aber mit allen Gegebenheiten in Ihrem Alltag leben können, nur zum Beispiel nicht mit der Tatsache, dass Ihre Wohnung an einer viel befahrenen Straße liegt, dann gibt es Hunderte von Wohnungen, die ruhiger gelegen sind. Sie können dort hinziehen. Dafür ist dann ein Preis fällig. Auch wenn Sie mit allen Umständen in Ihrem Job leben können, nur nicht mit der Tatsache, dass Sie zu wenig Geld verdienen, dann gibt es zahlreiche Alternativen, die Ihnen ein Vielfaches einbringen. Auch dafür ist dann ein Preis fällig. Der neue Job ist vielleicht nicht so angenehm oder liegt in einer anderen Stadt und setzt sogar die Trennung von Ihrer Familie voraus. Vielleicht verlangt er Ihnen auch ab, sich die Hände schmutzig zu machen oder gar Ihre Haut zu Markte zu tragen. Das wollen Sie nicht? Dann ist es Ihnen auch nicht wichtig genug, mehr Geld zu verdienen. Dann haben Sie sich dagegen entschieden.
Grundsätzlich gilt:
Wer sagt: »Ich kann nicht«, der will nicht.
»Das ist doch Theorie!« Ist es das? Alles nur Theorie? Das Argument trifft daneben, wobei ich weit entfernt bin, jemandem zu empfehlen, er solle seinen Job aufgeben. Viele Menschen indes haben sich im Laufe der Jahre derart im Wohlstand eingerichtet, dass schon allein die Verlustangst zur Zwangsjacke wird und die Freiheit der Wahl in unerreichbare Ferne rückt.
Konsequent gedacht: Man ist nicht bereit, die Annehmlichkeiten zu opfern, auf der anderen Seite aber bereit, täglich zu einem verhassten Arbeitsplatz zurückzukehren und sich schikanieren zu lassen. Dieser Preis wird gezahlt, der andere nicht. Das ist die Entscheidung. Sie hätte auch anders getroffen werden können.
Die kalten Duschen des Lebens
Oft erscheint nichts schwieriger, als eine klare, bewusste Entscheidung zu treffen. Wir werden kaum alle Auswirkungen unserer Entscheidung gedanklich vorwegnehmen können. Wir sind fast immer gezwungen, aufgrund unvollständiger Informationen zu wählen. Die vielen Möglichkeiten liegen gewissermaßen hinter einer Milchglasscheibe. Oder, wie der Philosoph Immanuel Kant es einst ausdrückte: »Die Notwendigkeit zu entscheiden übersteigt die Möglichkeit zu erkennen.« Warten auf uns vielleicht hinterher noch mehr Probleme als vor unserer Entscheidung?
Außerdem sind wir natürlich äußeren Einflüssen ausgesetzt. Wählen ist natürlich nur im Rahmen der Naturgesetze möglich; wir können das Gravitationsgesetz nicht außer Kraft setzen. Und die wenigsten von uns leben einsam auf einer Insel. Wir sind soziale Wesen und brauchen andere, um unsere Ziele zu erreichen. Nicht zuletzt stoßen uns Ereignisse zu, die nicht im Bereich unserer Kontrolle liegen: politische, wirtschaftliche, gesundheitliche. Oft tun wir uns auch einfach nur schwer mit den Konsequenzen unserer Entscheidungen. Sie sind nicht immer vorhersehbar und vor allem nicht immer angenehm. Ja, es gibt sie, die kalten Duschen des Lebens. »Das habe ich nicht gewählt«, protestieren wir dann, »das ist mir zugestoßen!« Mag sein.
In einem erweiterten Sinne haben Sie aber die Konsequenzen Ihrer Wahl der Möglichkeit nach alle mitgewählt. Das Leben ist immer lebensgefährlich. Der Philosoph Martin Heidegger schreibt: »Wenn der Mensch geboren ist, ist er bereit zu sterben.« Wenn ich bei einem Erdbeben von der herabstürzenden Zimmerdecke erschlagen werde, so geht dem – so absurd es zunächst auch klingen mag – die Wahl voraus, in überdachten Räumen zu leben. (Einige Naturvölker weigern sich deshalb, Häuser zu betreten.) Oder die Klage über den sogenannten »Zufall«, dass jemand an der nächsten Straßenecke überfahren wurde. So tragisch und traurig das im Einzelfall sein mag: Wenn jemand gewählt hat, am Straßenverkehr teilzunehmen, hat er grundsätzlich auch die Möglichkeit mitgewählt, überfahren zu werden.
Das mag manchem zu allgemein und grundsätzlich sein. Aber Sie werden sich kaum dem Gedanken verschließen können, dass Sie verschiedene Wahlmöglichkeiten haben, auf die Ereignisse zu reagieren. Dass Unvorhersehbares auftritt, mag nicht Ihre Wahl sein. Wie Sie darauf reagieren, schon.
[Leseprobe] Der Mythos der Sachzwänge
Wer sitzt am Steuer?
Wer sitzt am Steuer Ihres Lebensautos? Sie selbst oder Ihr Chef? Sie oder Ihr Ehepartner? Sie selbst oder das Geld, das Schicksal, die Verhältnisse? Lassen Sie »die Umstände« steuern? Oder sind Sie gar Opfer einer mächtigen internationalen Verschwörung mit dem Namen »die anderen«?
Sachzwänge scheinen besonders geeignet, der Freiheit eine Absage zu erteilen. Denn wer sich dem Sachzwang beugt, tut, was zu tun ist, beziehungsweise lebt so, wie alle leben. Man will ja kein Außenseiter sein. In der Tat ist der Weg der Notwendigkeit viel gebahnter als der der Freiheit. Das ist vertrautes Gelände, die Sicherheit des Bewährten. Aber gibt es Sachzwänge wirklich? Ist der Hinweis darauf nicht vielmehr eine Denkfaulheit, Bequemlichkeit, ein vorgeschobenes Argument? Meine These ist:
Es gibt keine Sachzwänge.
»Ich hatte doch damals keine Wahl!«, heißt es empört, und schnell sind sie zur Stelle: Familie oder Immobilie. Vielen ist einfach nicht bewusst, dass sie gewählt haben. Sie bauen sich über Jahre und Jahrzehnte ihre Lebensumstände zusammen, als deren Opfer sie sich danach erleben. Richtig aber ist: Alles, was im Augenblick ist und geschieht, ist die Folge von Entscheidungen, die Sie irgendwann vorher in Ihrem Leben getroffen haben – ob Ihnen das nun gefällt oder nicht. Sie haben vielleicht nicht auf genau dieses Ergebnis gezielt, das mag sein. Aber dennoch ist es eine Konsequenz Ihrer früheren Entscheidung. Vielleicht haben Sie diese Entscheidung auch nicht sehr bewusst, nicht sehr aufmerksam, nicht in klarer Sicht der Alternativen getroffen und halten sie deshalb nicht für eine Entscheidung. Oder die abgewählte Alternative erschien Ihnen so absurd, dass Sie sie nicht wirklich in Erwägung gezogen, nicht wirklich ernsthaft geprüft haben. Diesem »Nicht-wirklich-in-Erwägung-Ziehen« ist aber schon immer eine Wahl vorausgegangen, die meist eine Entscheidung für ganz bestimmte Werte oder Lebensweisen beinhaltete. So wurde Ihre Berufswahl vielleicht vom Gedanken beeinflusst: »Bei einem anderen Job droht mir später doch die Arbeitslosigkeit.« Das schien Ihnen keine »wirkliche« Alternative, die Sie hätten wählen können, weil Sie zuvor schon eine Entscheidung für ein Leben »jenseits der Sozialhilfe« getroffen hatten.
Ein Bekannter erzählte mir, er sei als kleiner Junge fasziniert von der Seefahrt gewesen. Das Meer, die großen Schiffe, die weite Welt hätten auf ihn eine ungeheure Anziehungskraft ausgeübt. Seine Eltern erzählten aber allen Bekannten schon seit er drei Jahre alt war, dass er sicher einmal Mediziner würde und die elterliche Praxis übernähme. Nach dem Abitur liebäugelte er tatsächlich kurzzeitig mit der Idee, zur See zu fahren. Die Nachricht von der drohenden Medizinerschwemme bewegte ihn stattdessen, noch eben das Studium anzuhängen. Im Urlaub am Meer, den er sich nach dem Studienabschluss gönnte, ergriff ihn wieder die Sehnsucht. Doch als er zurückkehrte und der Universitätsprofessor ihm nachdrücklich zur Promotion riet, begrub er seinen »unrealistischen« Traum endgültig. Heute, mit gut gehender Praxis, erscheint ihm der Gang der Dinge irgendwie »natürlich« und »vernünftig«. Heimlich bedauert er, das Seemannsleben nie ausprobiert zu haben. Er hat aber auch nicht das Gefühl, dass jemals wirklich eine Entscheidung anstand. Was er nicht sieht: Er hat eine Wahl getroffen. Er hat sich früh entschieden, den Kampf mit den Eltern nicht aufzunehmen. Er hat sich für die Fortsetzung der Familientradition entschieden sowie für Wohlstand, soziales Ansehen und Sicherheit. Gleichzeitig hat er die Möglichkeit eines aufregenden, spannenden, abenteuerlichen Lebens, das mit vielen Unwägbarkeiten einhergeht, abgewählt. Darüber zu urteilen steht niemandem an. Aber weil er die Alternative nicht ernsthaft geprüft hat, erinnert er sich nicht mehr, dass er gewählt hat.
Für viele gehört der Sachzwang einfach nur zu jener Diagonale des Erfolgs, die von links unten nach rechts oben verläuft. Viele haben sich ihren Sicherheitscontainer so luxuriös ausmöbliert, dass es ihnen geradezu absurd erscheint, etwas davon aufs Spiel zu setzen. Die Ketten aus Gold binden ebenso wie die Ketten aus Eisen. Das führt dann zu der bekannten Verfettung der Herzen und der Bankkonten.
Und in der Tat kann der Preis aus der Sicht des Einzelnen außerordentlich hoch sein. Doch darum geht es mir hier gar nicht, denn keineswegs will ich jemandem leichtfertig nahe legen, seinen Wohlstand und die Sicherheit stabiler materieller Verhältnisse zu opfern. Das Problem ist, dass viele nicht bereit sind, für die Auswirkungen ihres Festhaltens Verantwortung zu übernehmen, sie als Resultat ihrer Entscheidung anzuerkennen und die Unbeweglichkeit als Preis zu zahlen.
Je mehr Dinge Sie haben, desto mehr haben die Dinge Sie.
Jeder Komfort muss bezahlt werden. Es heißt ja nicht zufällig »Immobilie« – sie macht immobil. Und so kenne ich zahlreiche Menschen, die bereit sind, in ihrem Arbeitsleben täglich Abwertungen und Respektlosigkeiten hinzunehmen sowie ihre Würde und ihren aufrechten Gang zu opfern, die aber nicht bereit sind, auf ihren Sechszylinder zu verzichten. Dazu entscheiden sie sich täglich. Das ist ihre Wahl.
Wenn Sie also sagen: »Ich kann nicht!«, dann wollen Sie nicht. Anderes ist Ihnen wichtiger. Sie wollen den Preis des Wechsels nicht bezahlen. Niemandem steht es an, die Gründe Ihres Bleibens zu bewerten. Aber dann sind Ihnen die Dinge, über die Sie sich beschweren, auch nicht wirklich wichtig. Jedenfalls nicht so wichtig, dass sie Sie zum Handeln veranlassen; nicht so bedeutend, dass Sie die Angst vor dem Risiko überwinden.
Gehen wir ins Extrem und jeder prüfe sich selbst: Wer hindert Sie, den Traumjob als Segellehrer in der Karibik anzunehmen? Wer hindert Sie, die fehlende Ausbildung nachzuholen, die Arbeitsgenehmigungen zu beantragen, die Einreisebestimmungen zu prüfen? Sie selbst ganz allein. Sonst niemand. Sie wollen auf die Annehmlichkeiten Ihres vollklimatisierten Sicherheitscontainers nicht verzichten. Das will ich keineswegs kritisieren. Aber beschuldigen Sie nicht Ihre Familie, die Umstände … All das können Sie abwählen, wenn Sie wollen. Wenn Sie es nicht wollen und weiter so leben wie bisher, dann tun Sie es in dem Bewusstsein, diese Umstände gewählt zu haben. Damit entfällt jede Grundlage der Schuldzuweisung. Damit entfällt jede Grundlage des »Ich kann ja nicht, weil …«
Opfer der Umstände?
Ich erinnere mich noch gut an die Reaktion meines Vaters, als wir über den Gedanken der Wahlfreiheit sprachen. Väterlich milde und seine ganze Lebenserfahrung ausspielend, meinte er: »Das hast du wohl auf der Universität gelernt. Das Leben, das sieht doch ganz anders aus.« Zum Beweis verwies er auf seine Erinnerung an die NS-Zeit: »Man hätte uns doch damals an die Wand gestellt.« Bums! Da war es, das Mega-Argument, von denen ich später in meinem Berufsleben noch so viele ähnliche hören sollte (neuerdings: »Ich kann da als Politiker nichts machen, ich folge nur den Vorschriften aus Brüssel!«). Das Rädchen-Gerede der Manager, die Befehlsnotstands-Entschuldigung der Elterngeneration: Man verliert sich in der Bodenlosigkeit extremer existenzieller Bedrohungen, um das Prinzip der Wahlfreiheit zu widerlegen.
Es steht Kindern niemals an, die Motive ihrer Eltern zu bewerten. Dazu haben sie kein Recht. Und auch mir steht es nicht zu, die Entscheidung meines Vaters, sich nicht dem Widerstand gegen Hitler angeschlossen zu haben, zu kritisieren. Aber es gab Menschen, die haben sich »an die Wand stellen lassen«. Es war wählbar. Ich sage nicht, dass das eine moralisch hochstehend, das andere feige ist. (In dieser Hinsicht sollten wir Zeitgenossen uns an die eigene Nase fassen.) Ich sage nur: So hoch der Preis auch sein mag, für die Konsequenzen seiner Entscheidung trägt mein Vater die Verantwortung.
Die Freiheit ist ein wundersames Ding. Die meisten von uns sehnen sich danach, schätzen sie als höchstes Gut. Gleichzeitig aber erschreckt sie viele Menschen zu Tode. Weil aus ihr auch Schuld resultieren kann. Schauen wir uns beispielsweise an, wie in modernen Gesellschaften Verbrechen reflektiert werden. Der Bildungsbürger führt sie auf die Gräuel desolater Familienverhältnisse, auf seelische Defekte und soziale Missstände zurück. Da müsse man ja geradezu »zwangsläufig« kriminell werden! Menschelnd werden die Dinge ins Gegenteil verkehrt: Aus Tätern werden Opfer. Sie sind von vornherein unmündige Personen; ihr Rechtsbruch insofern verstehbar, ein Unfall. Der Unhold gehört dann in die Gesellschaft der Kranken, Armen und Ausgestoßenen, denen fürsorglich und therapeutisch zu begegnen ist. Ähnlich wie Krankheit heute kaum mehr der körperlichen Verfassung und der individuellen Lebensführung zugeschrieben wird, sondern dem Stress, dem Leistungsdruck oder anderen bösen Mächten, so werden Verbrechen entkriminalisiert: »Die Verhältnisse« sind schuld, nicht der Verbrecher.
Der Zweck dieser Umwidmung ist offensichtlich: Freiheit, Verantwortung und Schuld sollen ausgelöscht werden. Indem man das Böse zur seelischen Entgleisung verniedlicht und den Täter zum gestrauchelten Mitmenschen inmitten widriger Umstände verharmlost, ist letztlich niemand mehr für die Tat dingfest zu machen. Außer natürlich: »die Verhältnisse«. Dabei hält dieser Trick nicht einmal der einfachsten logischen Prüfung stand. Wie viele Menschen weisen ähnlich misslungene Biografien auf, ohne kriminell zu werden? Wie viele Menschen fristen ein trostloses Dasein, ohne andere zu schädigen?
Für unsere Gesellschaft hat der Verweis auf »die Verhältnisse« katastrophale Folgen: Indem man Täter zu Opfern einer biografischen Fehlentwicklung umtauft, lädt man dazu ein, sich selbst als Opfer zu fühlen. Der Einzelne mag sich fragen: Habe ich nicht auch ein Handicap, weil mein Vater meine Mutter verließ, als ich erst vier Jahre alt war? Bin ich nicht auch benachteiligt, weil ich nicht studiert habe? Darf ich mich nicht jetzt – im Umkehrschluss – schadlos halten am Staat, an den Sozialversicherungen, den anderen?
Vielleicht können sich noch einige von Ihnen an Plakate aus der Zeit des Kalten Krieges erinnern: »Stell Dir vor, es gibt Krieg und keiner geht hin.« Sie mögen über die freche Wendung geschmunzelt haben – worauf hier so überraschend und provokant hingewiesen wurde, war die Tatsache, dass nicht Generäle, Verteidigungsminister oder der »militärisch-industrielle Komplex« den Krieg diktieren. Es ist jeder Einzelne, der sich entscheidet, in den Krieg zu ziehen. Niemals kämpft »eine Nation« oder »ein Volk«. Auch wenn es sich sehr unbequem anhört: Es sind die Einzelnen, die die Wahlentscheidung für oder gegen den Krieg treffen. Damit sage ich nicht, dass ein Krieg geführt oder nicht geführt werden sollte. Ich sage, dass Kriege geführt werden, weil Individuen sich entschieden haben, die Uniform anzuziehen und das Gewehr zu schultern. Individuen, keine Nation oder eine Gruppe von Nationen. Das gilt auch für die Verbrechen vom 11. September 2001: Es war nicht Al Quaida, es war nicht der Islam, schon gar nicht der Irak, der die Flugzeuge entführte und in die Twin-Towers flog – es waren einzelne Menschen, die sich entschieden hatten, so zu handeln.
Das Problem der Wahl stellt sich hier in aller Schärfe. Denn das Problem mit dem Rattenfänger ist niemals der Rattenfänger, es sind immer die Ratten. Solange sich kein Widerstand regt, kann jeder – wer auch immer – davon ausgehen, dass die anderen mit seinem Handeln einverstanden sind. Sonst würden sie ja aufmucken. Auch Regierungen sind bekanntlich nur so gut wie die Menschen, die ihnen Beine machen. Wenn deutsche Historiker behaupten, »dass Deutschland nach 1933 ein ›besetztes Land‹ war« (Hans Rothfels), in dem es einem »Verbrecherclub« gelungen war, das deutsche Volk »zwölf Jahre hindurch in seine Gefolgschaft zu zwingen« (Friedrich Meinecke), dass der Nationalsozialismus »eine satanische Verfälschung echter deutscher Tradition« gewesen sei (Gerhard Ritter), dann ist diese Opferrolle als Gegenerzählung zu Schuld und Verdrängung menschlich verständlich, aber faktisch Unfug. Gerade wir in Deutschland sollten nie vergessen: Niemals macht der Diktator die Verhältnisse; immer machen die Verhältnisse den Diktator.
Spielball des Arbeitsmarkts?
Ich wähle ein anderes rigoroses Beispiel zur Verdeutlichung der Wahlfreiheit und Verantwortung des Einzelnen: Nehmen wir für einen kurzen Augenblick an, das Unternehmen, für das Sie gearbeitet haben, ist in Konkurs gegangen, und Sie stehen plötzlich »auf der Straße«. Vergegenwärtigen Sie sich einen Augenblick das bedrückende Gefühl der Nutzlosigkeit, wenn Sie plötzlich Ihren Job verlieren. All Ihre Erwartungen, all Ihre Pläne … Über Arbeit jammert man so lange, bis man keine mehr hat. Was dann kommt, ist wirklich nicht lustig.
Ich weiß um die Problematik dieses Themas; dennoch die Frage: Wer ist verantwortlich für Ihre Arbeitslosigkeit? Es fallen Ihnen sicher etliche Leute ein, auf die Sie mit dem Finger zeigen könnten: das Management Ihres Unternehmens, die gnadenlosen Wettbewerber, der Wirtschaftsminister, der Ihre Branche nicht weiter subventionieren will, die EU, die den Markt nicht reguliert hat, die Gewerkschaften, die sich bei den Tarifverhandlungen nicht gemäßigt haben.
Aber fragen Sie sich weiter: Wer hat sich dieses Unternehmen ausgesucht? Wer hat damals die Alternativen ausgeschlagen? Wer hat sich für diesen Job entschieden? Wer hoffte auf bessere Zeiten, als die ersten Warnsignale unüberhörbar waren? Was haben Sie in den letzten Jahren unternommen, um Kontakte zu knüpfen, Alternativen vorzubereiten, sich fortzubilden, Ihre Qualifikation zu erweitern?
Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog rief in seiner viel beachteten »Berliner Rede« (1997) zur Selbstverantwortung auf. Unter diesem Stichwort sagte er: »Ich mache den 35-jährigen Kohlekumpeln, die in Bonn für den Erhalt ihres Arbeitsplatzes demonstriert haben, keinen Vorwurf.« Sein Vorwurf gelte vielmehr jenen, die den Bergleuten eingeredet hätten, ihr Beruf habe uneingeschränkte Zukunft.
Da sind sie wieder: Opfer, so weit das Auge reicht. Sie hatten es ja nicht wissen können. Sie sind nicht verantwortlich für ihre Berufswahl. Sie können nichts für ihr Ausharren in einem Arbeitssektor, der ein völlig überteuertes Produkt herstellt (das niemand braucht) und der deshalb seit über 30 Jahren von Steuergeldern lebt. Würden die Bauern in Schleswig-Holstein Ananas züchten und dafür den Beistand des Steuerzahlers fordern, würden wir sie nicht auch für verrückt halten? Ist es also angebracht, von Opfern zu sprechen? Nein, Selbstverantwortung fragt anders: Warum haben die Bergleute sich die Zukunftsfähigkeit ihres Berufs einreden lassen? Und mit welchem Recht glauben sie, weiterhin auf Kosten anderer leben zu dürfen? Wenn ich dann lese, dass Jugendliche auch heute noch weiterhin Bergleute werden wollen und auf jede Lehrstelle sechs Bewerber kommen, dann verschlägt es mir die Sprache. (Dies schreibe ich als fanatischer Ruhrgebietler.)
Ein späterer Studienkollege von mir ist zur Zeit der »Lehrerschwemme« in den 80er Jahren ausgebildet worden und hat keine Anstellung erhalten. Nun fährt er Taxi und wartet. Er wartet darauf, doch noch Lehrer werden zu können. Er wartet darauf, dass andere aktiv werden und etwas für ihn tun, nämlich ihm eine Lehrerstelle anbieten. Mittlerweile sind einige Jahre ins Land gegangen, die Kulissen sind verschoben, die Chance, in seinem Alter noch Lehrer zu werden, ist gering. Er fährt immer noch Taxi. »Das sind die mir doch schuldig!« Was? »Die Anstellung.« Wer? »Der Staat.«
Zugegeben: Nicht jeder hat immer und gleichzeitig alle Möglichkeiten. Nicht alle können den Weg vom Polier zum Programmierer, vom Bergmann zum Barmann, vom Zugführer zum Fremdenführer gehen. Es gibt viele Hindernisse, viele Unbequemlichkeiten, viele Hürden. Und einige unter Ihnen würden mir jetzt sicher gerne erzählen, was Sie schon alles versucht haben, um einen Job zu bekommen: »Ich habe über 200 Bewerbungen geschrieben, niemand will mich!« Ja, ich kenne viele Menschen in ähnlicher Situation. Aber sich einreihen in die Schlange vor der Klagemauer hilft nicht. Wenn Sie das Problem wirklich lösen wollen, würde es Sie sogar schwächen.
Viele verpassen den Zeitpunkt, wo der Preis, das Spielfeld zu verlassen, noch vergleichsweise niedrig ist. Sie halten fest, möchten bleiben, wollen gleichsam »überwintern«. Sie hoffen, dass der Kelch an ihnen vorübergeht. Wie bei dem Gedanken an den möglichen Verkehrsunfall: »Mich wird es schon nicht treffen.« »Rekordscheidungsraten? Aidsgefahr? Ich doch nicht!« Und dann erwischt es einen doch.
Wenn Sie wirklich das Problem lösen wollen, handeln wollen, dann müssen Sie die eingefahrene Denkschiene verlassen. Wenn Sie auf einem Spielfeld spielen, wo die anderen Mitspieler auf Sie verzichten können und wollen – gehen Sie weg! Sonst beendet der andere früher oder später das Spiel. Und wenn Sie nicht als Arbeitnehmer unterkommen, können Sie auf die Seite der Arbeitgeber wechseln. Prüfen Sie den Gedanken, in die Selbstständigkeit zu wechseln! Ein arbeitsloser ehemaliger Kaufhausdetektiv betreibt heute mit großem Erfolg eine Suchmaschine, die verflossene Jugendlieben wieder ausfindig macht, alte Militärkameraden in aller Welt sucht und Schulfreunde für Klassentreffen zusammenführt. Ein befreundeter Arzt fand nach vielen Bemühungen und mancher Enttäuschung eine vorzügliche Anstellung in Norwegen. Und Sie? Nehmen Sie wirklich alle Möglichkeiten wahr?
Arbeitslosigkeit ist immer auch das Ergebnis eigenen Handelns beziehungsweise Nicht-Handelns. Wer keine Arbeit hat, hat diese Arbeit nicht. Eine andere könnte er haben. Vielleicht nicht dauerhaft, vielleicht nicht so gut bezahlt, vielleicht nicht seiner Ausbildung entsprechend, vielleicht in einer anderen Branche, einer anderen Stadt, einem anderen Land. Aber ohne Arbeit müsste er nicht sein.
Das mag hart klingen, insbesondere, wenn Sie selbst betroffen sind. Und dass wir als Gesellschaft alle Anstrengungen unternehmen müssen, um möglichst allen Menschen ein Leben in Würde, das heißt mit sinnvollen Arbeitsmöglichkeiten, zu eröffnen, steht wohl außer Frage. Aber, auf den Einzelnen geschaut, gilt:
Jammern hilft nicht!
Wenn Sie auf ein Spielfeld gehen, dann wählen Sie gleichzeitig auch die Spielregeln, nach denen dieses Spiel gespielt wird. Nach den Regeln unseres Wirtschaftssystems haben Sie als Angestellter die Möglichkeit mitgewählt, vom Unternehmen versetzt, befördert, gefeuert zu werden. Diese Fremdbestimmung haben Sie sich ausgesucht … was weder gut noch schlecht ist; es hat nur Konsequenzen. Ganz im Gegensatz zum Selbstständigen: Dieser hat ein anderes Spiel gewählt. Er trägt allerdings auch andere Risiken – keine Aufträge zu erhalten und damit ebenfalls arbeitslos zu werden. Aber auch diese Gefahr besteht eigentlich nicht; es besteht lediglich die Gefahr, dass er diese Arbeit nicht mehr ausführen kann.
Wie Sie es auch drehen und wenden: Sie haben die Möglichkeit des Verlusts Ihres Arbeitsplatzes ebenso gewählt wie die Art und Weise, in der Sie auf den Verlust reagieren. Sie können sich lange damit beschäftigen, den Schuldigen ausfindig zu machen. Sie können in Selbstmitleid versinken und zur Flasche greifen. Sie können alle Samariter dieser Welt herbeirufen. Sie können dem Staat die Bürde aufhalsen, er habe gefälligst dafür zu sorgen, dass es Ihnen gut geht. Sie können abwarten, dass es von alleine besser wird, dass andere etwas für Sie tun, dass der Märchenprinz kommt, der alles wieder zum Guten wendet. Sie können Stoßgebete zum Himmel schicken und die Engel als schnelle Eingreiftruppe erflehen. Sie können den Kopf in den Sand stecken. Aber:
Wer heute den Kopf in den Sand steckt, knirscht morgen mit den Zähnen.
Ich behaupte: Wenn Sie andere für Ihre Arbeitslosigkeit verantwortlich machen, werden Sieimmer arbeitslos bleiben! Ich will damit nicht mit Blick auf die Vergangenheit beschuldigen, sondern für die Zukunft ermutigen. Es ist einfach praktisch, so zu denken. Wenn Sie die Verantwortung für Ihre Arbeitslosigkeit nicht übernehmen, übernehmen Sie auch nicht die Verantwortung für den Neubeginn. Dann vertrauen Sie den Politikern oder den Unternehmern mehr als sich selbst. Dann – und nur dann – haben Sie ein echtes Problem.
Wenn Sie denken, die Unternehmer, die Konjunktur, der Wettbewerber oder die Ausländer seien für Ihre Situation verantwortlich, dann geben Sie die Macht an all diese Menschen und Institutionen ab. Sind Sie sich bewusst, dass Sie damit Ihr Leben in die Hände anderer legen? Dass Sie Ihr Leben von anderen leben lassen? Wollen Sie das wirklich? Wenn Sie Ihre Arbeitslosigkeit überwinden wollen, dann brauchen Sie Macht über Ihr Leben. Die Kraft für den Neuanfang bekommen Sie nur, indem Sie nichts von anderen erwarten. Nichts vom Staat. Nichts vom Zufall. Nichts von äußeren Mächten. Indem Sie alles von sich selbst erwarten. Praktischer also ist es, sich zu fragen: Was kann ich jetzt tun? Was sind meine Handlungsmöglichkeiten? Darum geht es:
Handeln statt Jammern!
»So leicht geht das aber nicht!« Einverstanden. Ich habe auch nicht gesagt, dass es leicht sei. Ich habe gesagt: Sie haben die Wahl! Übrigens: Wenn Sie als Angestellter in einer Firma arbeiten, haben Sie auch die Möglichkeit mitgewählt, Ihren Chef zu feuern. Und rein statistisch verlassen zigmal mehr Arbeitnehmer ihre Arbeitgeber als umgekehrt. Jeder, der einmal einen Chef oder eine Firma abgewählt hat, kennt das Gefühl der Befreiung, das sich plötzlich und gleichsam aus dem Stand einstellt. Es ist, als würden Sie das Licht anknipsen. Prüfen Sie den Gedanken: In Wirklichkeit sind immer Sie der Arbeit-Geber.
Opfer-Storys
Möchten Sie mehr lesen? Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.
Der Wille zur Ohnmacht
Möchten Sie mehr lesen? Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.
Grenzen der Freiheit
Möchten Sie mehr lesen? Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.
Entscheiden lassen
Bestraft durch Belohnung
Möchten Sie mehr lesen? Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.
Burn-out
Möchten Sie mehr lesen? Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.
Der Sirenengesang des Lobens
Möchten Sie mehr lesen? Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.
Fragen gestellt – durch Fragen gestellt
Möchten Sie mehr lesen? Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.
Die Vorbild-Falle
Möchten Sie mehr lesen? Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.
Der Tod des Glücks
Möchten Sie mehr lesen? Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.
Entschieden leben
Glück folgt der Entschiedenheit
Möchten Sie mehr lesen? Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.
Das Geheimnis des Glücks
Möchten Sie mehr lesen? Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.
Erfolg ist, was folgt
Möchten Sie mehr lesen? Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.
Die Last der Ideale
Möchten Sie mehr lesen? Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.
Selbstbestimmt leben
Möchten Sie mehr lesen? Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.
Der trügerische Trost der »positiven Freiheit«
Möchten Sie mehr lesen? Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.
Ist Willensfreiheit eine Illusion?
Möchten Sie mehr lesen? Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.
Ausblick: Eine Kultur der Selbstverantwortung
Möchten Sie mehr lesen? Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.
[Zurück zum Text]
Impressum
Limitierte Sonderausgabe 2015
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Copyright © 2015 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Umschlaggestaltung: Thierry Wijnberg, Berlin und Amsterdam
Umschlagmotiv: © Thinkstock
Konvertierung in EPUB: Beltz Bad Langensalza
ISBN der Printausgabe: 978-3-593-50260-1
ISBN der EPUB-Ausgabe: 978-3-593-42999-1
www.campus.de