Die entspannte Familie - Simone Kriebs - E-Book
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Die entspannte Familie E-Book

Simone Kriebs

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Beschreibung

»In entspannten Familien zählt die innere Haltung.«
(Simone Kriebs)


In den letzten Jahrzehnten gab es eine Vielzahl von Erziehungsmodellen und Ansichten, wie Erziehung richtig wäre. Diese Modelle waren stets Ausdruck der Zeit und damit der gesellschaftlichen Strukturen. Dabei geht es in Familie viel eher um authentische Begegnungen, um ein gelebtes Miteinander.
Die Familientherapeutin Simone Kriebs bietet gestressten Eltern Hilfe, eine entspannte Haltung zu finden und durch ein besseres Verständnis der Entwicklungsprozesse Vertrauen in biologische Fähigkeiten und natürliche Reifeprozesse zu erlangen.

  • Die neue Autorin zum Thema Erziehung
  • Mit mehr Gelassenheit zu besserer Erziehungskompetenz
  • Eine neue, erfrischende Stimme für alle gestressten Eltern
  • Lebensnah, erfahrungsstark und authentisch geschrieben

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Seitenzahl: 257

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Simone Kriebs

Die entspannte Familie

Wie man aus einer Mücke

keinen Elefanten macht

Unter Mitarbeit von Oliver Ruppel

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2017 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlaggestaltung: Gute Botschafter GmbH, Haltern am See

Umschlagmotiv: © Giovanni Cancemi / shutterstock

ISBN 978-3-641-20864-6V001

www.gtvh.de

INHALT

EINLEITUNG

Die Familie im Stress

Kindheit ist kein Sonderstatus

1. WAS UNSERE KINDER BRAUCHEN

Gefühle erkennen

Warum wir etwas mögen oder eben nicht

Selbstvertrauen stärken

Erfahrungsspielräume schaffen

Autonomie und Verantwortung

Grenzen achten

Authentische zwischenmenschliche Beziehungen

Mit gutem Gewissen für sich sorgen

Weniger ist mehr

Gelassenheit und Zeit

2. WAS MAN ÜBER DAS GEHIRN ZUM THEMA ERZIEHUNG WISSEN MUSS

Und täglich grüßt das Murmeltier

Ich sehe was, was du nicht siehst

Ich fühle, also bin ich

Beziehung, Lernen, Schule

3. STOLPERSTEINE IN FAMILIEN

Harmonie um jeden Preis

Sein Kind muss man schützen

Eltern müssen immer einer Meinung sein

Mein Kind muss mich doch verstehen

Regeln, Grenzen, Rituale

4. ANREGUNGEN FÜR EINE ENTSPANNTE FAMILIE

Orientierung

Führungskompetenz

Konflikte

Kinder sind die besten Spiegel

Vertrauen

Ernährung

Schule

ÜBUNGEN FÜR EINEN ENTSPANNTEN AUSSTIEG AUS ALTEN MUSTERN

NACHWORT

ANMERKUNGEN

LITERATUREMPFEHLUNGEN

Ein Mann klatscht alle 10 Sekunden in die Hände. Nach dem Grund für dieses merkwürdige Verhalten befragt, erklärt er: »Um die Elefanten zu verscheuchen.« Auf den Hinweis, es gäbe hier doch keine Elefanten, antwortet der Mann: »Na, also! Sehen Sie?«

(Paul Watzlawick)

EINLEITUNG

Heute ist fast jeder irgendwie im Stress. Der gesellschaftliche Leistungsanspruch hat sich verstärkt, die Forderung nach sozialer Anpassung erhöht den Druck auf jeden Einzelnen. Familien stehen heute im Zentrum dieser Leistungsanpassung. Jeder strebt nach Perfektion, Eltern wollen alles richtig machen – mit der Erwartung, dass Kinder sich dadurch perfekt entwickeln. Aber was ist Perfektion und woran soll man sich anpassen?

In den letzten Jahrzehnten gab es eine Vielzahl von Erziehungsmodellen und Ansichten, wie Erziehung sein sollte. Diese Modelle waren stets Ausdruck der Zeit und der gesellschaftlichen Strukturen. Diese gesellschaftliche Orientierung hat zunehmend an Einfluss verloren. Heute existiert eine Vielzahl von Meinungen, wie Kinder erzogen werden müssten. Dies führt zu einer recht großen Verunsicherung bei vielen Eltern. Statt äußerer Orientierung benötigen Eltern eine innere Haltung. Kinder brauchen kein Erziehungsmodell, sondern Eltern, die ihnen Orientierung bieten und in der Lage sind, mit ihnen authentisch in Kontakt zu treten.

Kinder sind von Geburt an eigenständige Menschen und sollten als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft angesehen werden. Der Begriff Kindheit suggeriert, ein noch zu entwickelnder Mensch zu sein. Unsere Vorstellungen über junge Menschen sind vielfach geprägt von der Annahme, dass sie egoistisch und triebgesteuert auf die Welt kommen und erst durch erzieherische Maßnahmen zu sozialen Wesen gemacht werden. Sätze wie: »Dem muss man mal Manieren beibringen« oder »Der hat eine schlechte Kinderstube«, machen solche Einstellungen deutlich. Da aber viele von uns selbst mit dieser Grundhaltung erzogen wurden, haben wir unbewusst diese Einstellung übernommen, die uns daran festhalten lässt, dass Kinder eine besondere Behandlung benötigen.

Die heutige Kleinkindforschung zeigt, dass junge Menschen alle Potenziale und Fähigkeiten mitbringen, die sie für ihr Leben brauchen. Erzieherische Ziele wie Hilfsbereitschaft, Zusammenarbeit, Lernmotivation sind genetisch angelegte »Programme«, die nicht erst durch erzieherische Maßnahmen zutage gebracht werden.

In der Arbeit mit Eltern stelle ich häufig fest, dass viele gut gemeinte erzieherische Maßnahmen erst das Problem erzeugen.

Die Haltung, dass, wenn ein Kind auffällig reagiert, die Ursache in ihm zu finden ist, führt dazu, dass junge Menschen immer mehr unter die Lupe genommen werden, um möglichst frühzeitig Defizite auszubügeln. Dabei sind Kinder genau wie erwachsene Menschen soziale Wesen, die auf ihre Beziehungen zu anderen und auf ihr Umfeld reagieren. Mir gefällt der Vergleich von Henning Köhler1 von Kindern mit Zimmerpflanzen. Niemand käme auf die Idee, wenn eine Pflanze nicht richtig gedeiht, den Fehler bei ihr zu suchen. Wir würden uns Gedanken machen, ob der Standort günstig ist oder ausreichend Wasser und Nährstoffe vorhanden sind. Ist jedoch bei einem Kind etwas auffällig, dann fällt der Blick als erstes auf mögliche »Fehlfunktionen« des Kindes.

Heute fühlt sich fast jeder zur Hobbypädagogik berufen. Eine Vielzahl von Erziehungsratgebern zu jedem Thema und jedem Alter sollen helfen, dass wir als Eltern alles richtig machen können. Kinder sind jedoch Menschen und keine Maschinen. Sie wollen nicht perfektioniert, sondern geliebt werden. Kinder wollen keine perfekten Eltern, sondern Erwachsene, die sie lieben, wie sie sind, und sich kümmern. Der Perfektionswahn stresst alle Familienmitglieder gleichermaßen und verhindert echten zwischenmenschlichen Kontakt. Jeder spielt nur eine Rolle.

Ich stimme dem dänischen Familientherapeuten Jesper Juul2 bei seiner Forderung zu, mit dem Erziehungsspiel aufzuhören und sich mit der eigenen inneren Haltung auseinanderzusetzen. Ich glaube, dass ein respektvolles Miteinander in einer Familie sich nur entwickeln kann, wenn die Erwachsenen bereit sind, sich mit ihren unbewussten »Programmen« zum Thema Erziehung auseinanderzusetzen. Dieses Buch bietet Hilfestellungen, eine solche entspannte Haltung zu finden.

Ein besseres Verständnis von Hirn- und Entwicklungsprozessen soll Eltern darin unterstützen, das Vertrauen in biologische Fähigkeiten und natürliche Entwicklungsprozesse zurückzugewinnen. Was ist natürlicher, als ein Miteinander zu leben? Es soll Mut machen, aus den leistungsüberzogenen Erwartungen auszusteigen und eigenständig zu authentischen Entscheidungen zu kommen, für die wir Verantwortung tragen.

Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich in den ersten Jahren als Mutter von ständigen Belehrungen und gut gemeinten Ratschlägen verunsichert wurde. Als junge Mutter ist es so gut wie unmöglich, sich vor diesen übergriffigen Einmischungen zu schützen. Völlig fremde Menschen an Supermarktkassen oder in Fußgängerzonen meinen, ungefragt ihren Rat kundtun zu müssen. Dabei spielen sich teils völlig absurde Situationen ab, wie z. B. als mein Sohn vor einem großen Container mit Sandspielzeug stand und friedlich das bunte Plastikzeug betrachtete und mir eine ältere Frau zurief: »Nun kaufen sie dem armen Kind doch mal was!« Einfach so, völlig aus dem Zusammenhang und vor allem, ohne uns zu kennen.

Noch schlimmer waren die Gespräche in Krabbelgruppen, Kindergärten oder Schulen, in denen Eltern regelmäßig über die neuesten Trends der optimalen Förderung wetteiferten. Mein Druck war groß, ich wollte – natürlich wie alle anderen auch – eine gute Mutter sein. Um ja eine optimale Förderung für meinen Sohn zu gewährleisten, rannte ich zum Logopäden, Motopäden und Ergotherapeuten. Doch ich hatte den Eindruck, je mehr ich mich bemühte, den sozialen Anforderungen gerecht zu werden, desto unsicherer wurde ich.

Mein Schlüsselerlebnis hatte ich, als mein sechsjähriger Sohn im Kindergarten war und eine Erzieherin mir sagte, dass sie sich um mein Kind sorge: »Ihr Sohn ist sehr lebhaft und springt viel herum, und ich habe den Eindruck, dass er sich nicht spürt. Ich denke, es ist wichtig, dass Sie ihn auf Hyperkinetische Störung (ADHS) untersuchen lassen, denn sonst bekommt er in der Schule Probleme.« Sie kam gerade von einer Fortbildung zu diesem Thema. Ich ließ mir von der Erzieherin die Fortbildungsunterlagen geben, um mir einen besseren Eindruck machen zu können. Als ich dann die Darstellung mit meinem Sohn verglich, fand ich das nicht plausibel. Sicher gab es Momente, in denen mein Sohn aufgekratzt und lebhaft war. Momente, in denen er auf Bäume kletterte, sich auf den Boden legte oder rumhampelte, statt ruhig am Tisch zu sitzen. Doch genauso hatte er ruhige und entspannte Phasen. Er konnte lange puzzeln, friedlich mit Lego spielen oder Geschichten lauschen, die ich ihm vorlas.

Ich war selbst als Kind sehr aktiv und bewegungsfreudig und zum Glück von meinen Eltern dadurch nie als krank eingestuft worden. Ich weiß noch genau, wie leid ich es war, dieser ständigen defizitären Sicht auf mein Kind nachzugeben, um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Das hatte mein Kind nicht verdient. Ich beschloss, aus dem sozialen Wahnsinn und den Rastern gängiger Erziehungsmethoden auszusteigen. Ich wollte wieder auf meinen gesunden Menschenverstand und mein Gefühl vertrauen.

Die Familie im Stress

Eltern haben häufig große Sorge um die Zukunft ihrer Kinder. Sie möchten alles dafür tun, dass ihre Kinder im späteren Leben finanziell gut dastehen und beruflichen Erfolg haben. Diese Sorge stresst. Erziehung muss funktionieren, was bedeutet, der junge Mensch fügt sich in die sozialen Anforderungen ein. Dann sind Eltern beruhigt, und das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben wird noch dazu vom sozialen Umfeld bestätigt. Jungen Menschen wird immer stärker die Eigenverantwortung für ihr Leben entzogen. Ich kann mich nicht erinnern, dass zu meiner Schulzeit Eltern sich gleichermaßen für die schulischen Aufgaben/Leistungen ihrer Kinder verantwortlich gefühlt haben wie heute. Mittlerweile gibt es schon Einführungskurse für Eltern an Universitäten. Jeder möchte, dass sein Kind nach der vierten Klasse auf das Gymnasium wechselt, denn ohne Abitur hat man ja heutzutage keine Perspektive! Dann steht man auf dem Abstellgleis der Gesellschaft, und als Eltern hat man versagt. Ich selbst bin nach der vierten Klasse zunächst zur Hauptschule gewechselt, und das war für meine Eltern völlig in Ordnung. Ich hatte nie den Eindruck, dass sie das als ihr Versagen ansahen oder dass ich deswegen weniger wertvoll für sie war.

Der Satz: »Man kann auch ohne Abitur glücklich werden«, den ich oft als Postkarte in Lehrerzimmern hängen sehe, beinhaltet doch auch, dass man es mit einem Abitur auf jeden Fall wird. So vermitteln wir jungen Menschen, dass sich die Mühe der Anpassung lohnt und am Ende ein glückliches Leben steht. Mit Partner, Kind, Reihenhaus und Hund. Dieser Illusion sind wir ja auch schon aufgesessen. Es sind nicht der äußere Status und materieller Besitz, die eine gestärkte Persönlichkeit herausbilden. Innerlich ist uns das bewusst. Im Kontakt mit unseren Kindern rutschen wir aber leider schnell in ein Rollenverhalten, das unseren eigenen Selbstwert schwächt und zur Anpassung und Entfremdung von uns selbst führt. Es ist das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen, auch in schwierigen Lebensphasen innere Lösungen zu finden.

Nicht der Schulabschluss oder der Notendurchschnitt verhelfen uns zu einem zufriedenen Leben. Es sind meines Erachtens nach Grundüberzeugungen wie diese:

1. Ich vertraue auf mich, meine Kompetenzen und Fähigkeiten.2. Es ist erlaubt, Fehler zu machen, denn sie sind wertvolle Erfahrungen.3. Mein Wert hängt nicht von meiner Leistung ab, sondern ich bin wertvoll, weil ich ich bin.4. Ich treffe eigenständig Entscheidungen und trage die Verantwortung dafür.

Wir brauchen Eltern, die an ihre Kinder glauben und Vertrauen haben, dass ihre Kinder für das Leben und seine Herausforderungen selbst gute Lösungen suchen. Dafür müssen wir aufhören, sie vor jeder unangenehmen Erfahrung zu schützen. Kinder haben ein Recht auf eigene Erfahrungen – mit allen Emotionen, die das Leben bietet. Wir können sie einladen, an unseren Erfahrungen teilzuhaben. Wir können sie bestärken, sich auszuprobieren und unterstützen, indem wir ihnen beistehen, wenn etwas misslingt.

Eine gestärkte Persönlichkeit zeichnet sich dadurch aus, erfolgreiche Bewältigungsstrategien für die Probleme des Lebens zu finden, sich nicht von Fehlern und Misserfolgen entmutigen zu lassen, sondern sie als Erfahrungswerte zu betrachten. Wir könnten uns entscheiden, Kindern das Gefühl zu geben, dass ihr Wert nicht von einer schulischen Leistung abhängig ist.

Wenn meine Kinder mit einer schlechten Note nach Hause kamen, habe ich immer gesagt: »Das ist zwar eine fünf, aber du bist immer meine Nummer eins.« Ich wollte ihnen Mut machen, dass diese Note nichts über ihre Persönlichkeit aussagt und ihnen vermitteln, es findet sich immer ein Weg, wie es weitergeht. Meine Tochter hatte beispielsweise im zweiten Schuljahr noch große Schwierigkeiten beim Lesen. Die besorgte Klassenlehrerin bat mich, regelmäßig mit ihr zu üben, damit sie den Anschluss nicht verpasse. Ich spürte sofort die innere Unsicherheit wieder, wusste aber genau, wenn ich das Thema Lesen in den Mittelpunkt stellte, dass das für das Selbstvertrauen und das Selbstwertgefühl meiner Tochter nicht förderlich sein konnte. Ich entschied mich gegen den Rat der Lehrerin und ließ mein Kind lieber Dinge tun, die ihm Spaß machten. Manchmal ließ sich sogar beides miteinander verbinden. Wenn sie z. B. Schule spielen wollte, dann übernahm sie natürlich die Rolle der Lehrerin und ich die der Schülerin. Wenn ich nun ein Diktat schreiben musste, so las sie mir von sich aus einen Text vor und hat diesen anschließend sogar korrigiert. Dabei fühlte sie sich jedoch in einer machtvolleren Position und nicht so ausgeliefert wie sonst in der Schülerrolle.

»Ich erziehe mein Kind jetzt antiautoritär, und es macht trotzdem nicht, was ich will.«

(Nina Hagen)

Mir fällt in der Arbeit mit Familien und Schulen immer wieder auf, dass sich die Erwachsenen als erfolgreich im Miteinander erleben, wenn sie junge Menschen von ihrer Meinung überzeugen. Was die Erwachsenen besonders stresst und frustriert ist, dass sie regelmäßig die Erfahrung machen, dass sie dieses Ziel nicht erreichen. Dann wird nach neuen Tipps und Tricks gesucht, ähnlich wie in einem Verkaufsgespräch, den anderen davon zu überzeugen, dass die eigene Meinung sehr wohl richtig ist. So soll das Kind doch bitte einsehen, dass man es schließlich nur gut meint und es auch besser weiß – immer in der Hoffnung, dass der junge Mensch dann ein erwünschtes Verhalten zeigt. Ich glaube, wir müssen zu einer neuen Führungskultur im Umgang mit jungen Menschen kommen. Wir sollten aufhören, uns in Allmachtsvorstellungen zu verlieren und anerkennen, dass junge Menschen von Geburt an autonome Wesen sind. Wie es in dem Film »Dirty Dancing« schon heißt: »Das ist dein Tanzbereich, das ist mein Tanzbereich«, sollten wir uns bemühen, uns unsere Einflussmöglichkeiten und besonders auch unsere Grenzen bewusst zu machen. Das stärkt uns ungemein und nimmt uns den Stress. Wir haben die Chance, zu einer klareren Haltung zu kommen und uns als wirkungsvoller zu erleben, wenn wir Ziele verfolgen, die in unserem Einflussbereich liegen.

Nehmen wir mal als Beispiel das Zähneputzen. In vielen Familien mit kleinen Kindern führt das Thema regelmäßig zu Konflikten. Den Eltern ist es besonders wichtig, die Kinder haben keine Lust dazu und äußern das auch lautstark. So habe ich mich damals auch schon halb auf meinem Kind sitzend, ihm die Zahnbürste in den Mund schiebend, wiedergefunden, nachdem alle Erklärungen, Androhungen oder Kompromissangebote ins Leere gelaufen waren. Ich habe immer nach einer Methode gesucht, eine einvernehmliche Lösung zu finden. Wenn das gelingt, dann ist das schön, doch wenn nicht, ist genau das der Knackpunkt. Wenn unser Hauptinteresse die Einvernehmlichkeit ist, dann erleben wir uns immer wieder als gescheitert, sobald unser Gegenüber nicht mitspielt. Wir fangen dann entweder an, unsere eigene Position aufzugeben oder die Position des anderen zu bekämpfen.

Wie kann es also gelingen, sich selbst treu zu bleiben und die Meinung des anderen zu akzeptieren? Für mich war klar, dass ich meinem dreijährigen Sohn die Verantwortung für seine Zahnhygiene nicht übertragen wollte. Ob also die Zähne geputzt werden oder nicht, stand somit gar nicht zur Verhandlung. Mein Ziel war also, die Zähne mit ihm gemeinsam zu putzen. Was sollte also der pädagogische »Eiertanz«? Ich fragte mich, was sein Entscheidungsspielraum in dieser Situation wirklich war? Letztlich doch die Art und Weise, wie es abläuft. Und das hatte er mir ja deutlich gezeigt. Also sagte ich beim nächsten Mal zu ihm: »Ich will, dass wir jetzt deine Zähne putzen, das ist mir sehr wichtig, damit deine Zähne gesund bleiben. Ich weiß, dass du das nicht gerne machst, und das ist auch in Ordnung. Deine Zähne werden wir trotzdem auf jeden Fall putzen. Du kannst aber entscheiden, wie wir das machen – mit viel Geschrei oder friedlich.« Nun war der Verhandlungsspielraum klar, und ich übernahm die Verantwortung dafür, dass seine Zähne unbedingt geputzt werden sollten. Auch wenn wir da nicht einer Meinung waren.

Klare Haltungen bieten Orientierung, und erreichbare Ziele signalisieren unserem Unbewussten Sicherheit. Kinder treffen so auf sichere Wegbegleiter, statt auf verunsicherte Erzieher. Erwachsene bieten dann Spielräume, in denen man Erfahrungen machen kann und eigene Meinungen akzeptiert werden, auch wenn ich als Kind nicht alles entscheiden kann. Altersgemäß verschieben sich diese Verantwortungsbereiche natürlich. Daher ist es auch wichtig, immer wieder auszuloten, wie sich alle Familienmitglieder im Zusammenleben fühlen. Rebellionen im Jugendalter, die meist auf die Pubertät geschoben werden, sind häufig Hinweise, dass Verantwortungsbereiche überprüft werden müssen. Meist ist es für uns Erwachsene schwer, die Verantwortung loszulassen und zu akzeptieren, dass unsere Kinder ihre eigenen Erfahrungen im Leben sammeln müssen. Wir wollen sie um jeden Preis schützen, wenn es sein muss, auch vor dem Leben – wie der überbesorgte Vaterfisch Marlin in dem Kinderfilm »Findet Nemo«, zu dem seine Freundin Dorie sagt: »Du kannst ihm doch nicht versprechen, dass ihm nie etwas passiert! Dann passiert ihm ja nie etwas!«

Kindheit ist kein Sonderstatus

Die sprachliche Differenzierung zwischen Kind und Erwachsenem und die besondere Lebensphase der Kindheit hat eine lange Tradition. Erst einmal ist mit dem Begriff »Kind« ein Verwandtschaftsverhältnis beschrieben, ebenso wie mit den Bezeichnungen Vater, Mutter, Onkel oder Tante. Seit Anfang des 15. Jahrhunderts beschreibt Kindheit eine zeitliche Lebensphase, in der sich ein Mensch befindet. Diese Kindheit wird häufig als defizitär betrachtet und mit mangelnden Kompetenzen und Fähigkeiten assoziiert. Vermutlich wurde mit Beginn der Industrialisierung aufgrund der mangelnden »Funktionalität« junger Menschen Kindheit als Sonderstatus begründet. Für die Industrialisierung benötigte man gut funktionierende Menschen, die gehorsam ihre Aufgaben erledigten. Dazu brauchte man eine gewisse Vorbereitung, die in der Kindheit herausgebildet werden sollte. Zu dieser Zeit wird auch in der analytischen Psychologie nach Freud der Mensch als triebgesteuertes, egoistisches Wesen beschrieben, das erst durch den Prozess der Erziehung eine soziale Reife entwickeln kann. Diese Sichtweise wurde durch die darwinistische Evolutionstheorie stabilisiert, in der der Mensch vom Affen abstammt und Tiere als etwas Wildes und Unzivilisiertes angesehen werden. Das Kind wird dadurch als noch nicht fertiger, nicht vollwertiger Mensch betrachtet und gesellschaftlich auch so behandelt. In vielen erzieherischen Zusammenhängen ist es üblich, dass Persönlichkeitsrechte und individuelle Grenzen junger Menschen überschritten werden. Dies kommt heute den meisten Erwachsenen völlig normal und gerechtfertigt vor. Fotos ihrer Kinder posten Eltern ungefragt auf sozialen Plattformen, Kinderzimmer werden durchsucht, geschenkte Spielekonsolen oder Handys nach Belieben eingezogen. Übergriffigkeit wird selbst von pädagogischem Fachpersonal verlangt. Beispielsweise werden Eltern von Schulen häufig aufgefordert, regelmäßig die Tornister ihrer Kinder zu durchsuchen, um Informationsbriefe zu erhalten.

Mittlerweile werden Handys ausspioniert, es gibt Überwachungsapps, die auf den Telefonen der Kinder installiert werden, bis hin zu Videokameras, die Zimmer kontrollieren wie Gefängnisse. All das findet immer noch – wie damals zu Beginn der Industrialisierung – unter dem Deckmantel statt, dass dieser Lebensabschnitt eines besonderen Schutzes bedürfe. Was wir jedoch unseren Kindern signalisieren, ist die Normalität der Grenzüberschreitungen. Wir selbst erfahren ebenfalls Übergriffigkeiten in unseren Persönlichkeitsrechten in unserem Alltag. Selbst das Mobiltelefon der Bundeskanzlerin wurde abgehört, ohne dass es deshalb größere Konflikte gab. Derartige Eingriffe in die Persönlichkeit werden mittlerweile als üblich angesehen. Der unsensible Umgang mit Persönlichkeitsgrenzen zeigt sich überall im Miteinander unserer Gesellschaft. So ist es nicht verwunderlich, dass junge Menschen infolge der Grenzüberschreitungen, die ihnen widerfahren, sich ebenfalls im Kontakt mit anderen Menschen übergriffig verhalten. Sie haben ja »gute« Vorbilder.

Somit beschreiben die Begriffe »Kinder« und »Erwachsene« meist Rollen, die gespielt werden. Sobald sich Menschen aber aus einer Rolle heraus verhalten, fehlt das Menschliche, die persönliche Beziehung. Wenn Erwachsene die Erwachsenenrolle einnehmen, wechseln deren Kinder in die Kinderrolle, und es entwickelt sich ein Rollenspiel, bei dem beide Parteien sich nicht mehr auf einer menschlichen Ebene begegnen können. Durch das Spielen dieser Rollen verlieren beide Parteien den Kontakt zur eigenen Persönlichkeit mit den individuellen Bedürfnissen, die jeder hat. Der Kontakt zum eigenen Ich wird damit verbaut, und beide werden immer tiefer in die Rolle, die sie meinen ausfüllen zu müssen, getrieben. So sehen Erwachsene sowohl sich selbst als auch ihre Kinder nicht mehr in der Gesamtheit ihrer Persönlichkeit. Keiner wird innerhalb der Familie mehr als das Wesen wahrgenommen, das er wirklich ist. Das führt dazu, dass jeder sich defizitär, falsch und zumindest nicht wohlfühlt. Aber da alle Menschen nach Anerkennung streben, suchen sie diese nun durch Anpassung an das Leistungsprinzip dieser Gesellschaft. Innerlich zieht sich aber jeder in sich zurück, da er sich nicht als der Mensch wahrgenommen fühlt, der er ist. So stürzt sich der Vater in Arbeit, die Kinder sitzen vor dem Computer oder Fernseher, die Mutter organisiert die Familie, und dabei fühlt sich zwangsläufig jeder isoliert. Denn die Grundbedürfnisse jedes Wesens sind Wachstum und Bindung.3 Die innere Isolation widerspricht aber diesen Bedürfnissen.

In der Arbeit mit Eltern und Lehrern stelle ich immer wieder fest, dass uns häufig die Empathie für junge Menschen verloren gegangen ist. Wir kategorisieren und neigen zu Fehlinterpretationen, unter denen wir selbst als Kinder gelitten haben. Als mein Sohn 13 Jahre alt war, fragte er mich morgens nach Kreppband, das er für die Schule brauchte. Wir suchten im morgendlichen Stress alle möglichen Ecken ab – ohne Erfolg. Genervt von der ungeplanten Zeitverzögerung sagte ich zu ihm: »Das fällt dir aber auch früh ein!« Worauf er mich nachäffte und meinen Kommentar wiederholte. Was für eine Unverschämtheit und Respektlosigkeit, dachte ich mir und sagte das auch. Zum Glück musste mein Sohn zum Bus und ich mit dem Hund raus, denn sonst hätte es sicher noch ein kleines Wortgefecht gegeben. Typisch Pubertät, dachte ich mir, im Lehrbuch liest sich das schöner. Doch beim Spaziergang ging ich die Szene noch mal durch. Wenn die gleiche Situation mir passiert wäre, und mein Partner hätte mir zu allem Überfluss meinen Spruch an den Kopf geworfen, dann hätte ich genauso pampig reagiert. Es ist also weniger ein pubertärer Ausdruck von Respektlosigkeit, sondern viel wahrscheinlicher eine menschliche Reaktion auf eine unnötige Zurechtweisung.

Diese Fehlannahmen von Erwachsenen gegenüber jungen Menschen und die damit einhergehenden Konflikte führen dazu, dass junge Menschen untereinander häufig ein anderes Verhalten zeigen als gegenüber Erwachsenen. Viele von ihnen haben es satt, moralisiert und nicht ernst genommen zu werden. Sie werden misstrauisch gegenüber jedem, der versucht, eine Rolle zu spielen und manipulativ zu lenken. Sie merken, dass es vielen Erwachsenen immer nur darum geht, einen Weg für Gehorsamkeit und Anpassung zu finden. Wenn sich beide Seiten in ihren Bedürfnissen nicht ernst nehmen, fehlt es auf beiden Seiten an persönlicher Verantwortung. Wenn ich aber keine persönliche Verantwortung für die Beziehung zu einem anderen übernehme, dann befinde ich mich in der Opferrolle. Ich fühle mich verletzt und unverstanden und gebe dem anderen die Schuld dafür. So entstehen zwischenmenschliche Sackgassen, in denen die Erwachsenen die Verantwortung haben, einen neuen Weg einzuschlagen.

Während eines Seminars, das ich in einer Schule hielt, fragte mich einer der Lehrer: »Was soll ich mit einem Schüler machen, der zu niemandem eine Beziehung aufbaut?« Ich antwortete: »Das gibt es nicht. Junge Menschen brauchen Beziehungen ebenso wie Essen und Trinken.« Nach kurzer Überlegung stimmte er mir zu und sagte, dass der Schüler nur zu anderen Schülern Kontakt aufbaue. Ich fragte nach seiner Einschätzung, warum dies so sei und er erwiderte: »Weil die auf seinem Niveau sind.« Diese Aussage klingt überheblich, macht aber deutlich, wie verletzt sich der Lehrer von den Zurückweisungen des Schülers fühlte. In seiner Wahrnehmung hatte er alles Mögliche ausprobiert, um das Vertrauen des Schülers zu gewinnen. Allerdings war seine Intention, dass der Schüler weniger stören und besser mitmachen sollte. Nun sollte die bessere Leistung nicht das Ziel, sondern die Folge sein. Denn Studien belegen, dass wenn wir einem Menschen Anerkennung schenken, sich seine Leistungsbereitschaft verdreifacht. Ignoranz oder Herabwürdigung führen zu ebenso starker Demotivation.4

An diesem Beispiel wird ebenfalls deutlich, dass wir abhängig von dem Verhalten unseres Gegenübers sind, um uns als erfolgreich zu erleben. Wenn ich immer nur darauf aus bin, den anderen zu einem bestimmten Verhalten zu bringen, stresst das alle Beteiligten. So frustrieren sich Erwachsene und erleben sich als gescheitert, wenn junge Menschen andere Entscheidungen treffen. Nun führen andauernde Frustrationen zu Resignation und schließlich dazu, dass junge Menschen sich alleingelassen fühlen. Wir brauchen in unserer Gesellschaft mehr erwachsene Vorbilder, die wertschätzend ihre Meinung vertreten und ihre Grenzen wahren, ohne die der anderen zu verletzen. So können wir jungen Menschen Orientierung bieten und sie einladen, ihre Ansichten mit unseren abzugleichen und eigene Erfahrungen zu sammeln.

Im schulischen Kontext wird von Kindern sehr häufig noch eine autoritäre Form des Respekts erwartet. Schule funktioniert jedoch ebenfalls nur, wenn Erwachsene Beziehungsverantwortung übernehmen und bereit sind, sich menschlich auf einen ehrlichen Kontakt einzulassen. Unsere Brillen für Rollenzuordnungen verhindern, die Menschlichkeit zu sehen und fördern hierarchische, autoritäre Strukturen. Möchten wir aus diesen Rollen aussteigen, sollten wir uns zunächst einmal unsere eigenen Muster bewusst machen. Wenn Sie ein bestimmtes Verhalten bei Ihrem Kind feststellen, das Ihnen Schwierigkeiten bereitet, dann fragen Sie sich, wie wären früher Erwachsene mit mir umgegangen, wenn ich ein solches Verhalten gezeigt hätte? Wie hat es sich für mich angefühlt? Was hätte ich gebraucht? Betrachten wir uns als Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungsbereichen, so können wir ein anderes Interesse und Verständnis füreinander entwickeln. Wir können den anderen als »gleichwürdig«5 wahrnehmen, als Menschen mit ähnlichen Bedürfnissen und Empfindungen. Dann ist es auf einmal ganz leicht zu verstehen, was junge Menschen bewegt oder was sie brauchen. Es schafft ein Gefühl von Verbundenheit und Zugehörigkeit, wenn wir uns unserer Menschlichkeit bewusst sind.

Das soll nicht heißen, dass junge Menschen machen können, was sie wollen. Sicher gibt es Verantwortungsbereiche, die je nach Alter von den erfahreneren Familienmitgliedern übernommen werden müssen. Doch diese Einschätzungen können nicht von Ratgebern vorgegeben werden, sondern müssen persönlich getroffen und überprüft werden.

Menschen sind soziale Wesen und verhalten sich auf Grundlage sozialer Interaktion. Auf das Verhalten von jungen Menschen wird häufig überproportional stärker moralisierend, zurechtweisend und strafend reagiert als auf das gleiche Verhalten bei Erwachsenen. Dies hängt meines Erachtens in den meisten Fällen mit der oben beschriebenen defizitären Wahrnehmung von jungen Menschen zusammen. Unbewusst glauben viele Eltern nach wie vor, dass sie ihre Kinder bei unerwünschtem Verhalten bestrafen müssen, damit ihre Kinder lernen, was man tut oder nicht. Doch um es mit den Worten von Alice Miller zu sagen: »Wenn man einem Kind Moral predigt, lernt es Moral predigen, wenn man es warnt, lernt es warnen, wenn man mit ihm schimpft, lernt es schimpfen, wenn man es auslacht, so lernt es auslachen, wenn man es demütigt, lernt es demütigen, wenn man seine Seele tötet, lernt es töten. Es hat dann nur die Wahl, ob sich selbst oder die anderen oder beides.«6

Dass Kinder besondere Grenzen brauchen, ist bisher wissenschaftlich nicht belegt. Grenzen sollten m. E. nach nur dort gesetzt werden, wo eine wirkliche Gefahr droht. Diese Einschätzung fällt den meisten Eltern oft sehr schwer, da Kindern immer weniger zugetraut oder die Welt immer feindseliger eingeschätzt wird. Sei es, alleine zur Schule zu laufen oder alleine in der Freizeit unbeaufsichtigt draußen zu spielen. Alle anderen Grenzen sollten persönliche Grenzen sein. Diese sind dann weniger für das Kind, sondern signalisieren, wo der Erwachsene seine Integrität schützt. So wissen Kinder, wie sie ihr Gegenüber einzuschätzen haben. Wenn Menschen ihre eigenen Grenzen wahren, dann sind sie auch umsichtig mit den Grenzen von anderen.

Nehmen Sie sich doch an dieser Stelle einen Moment Zeit und beantworten sich folgende Fragen:

• Welche zwischenmenschliche Kultur möchte ich meinem Kind für sein Leben mitgeben? • Was wünsche ich ihm für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung? • An welchem Verhalten von mir kann mein Kind diese Kultur erkennen?

Vielleicht ist es hilfreich, sich als »Richtungsweiser« zu verstehen. Ein Begleiter, der aufgrund seiner größeren Erfahrung mit Rat zur Seite steht und einen Weg vorschlägt, der aber die Entscheidung dem jungen Menschen lässt, damit er spüren kann, dass er selbst am Steuer seines Lebens sitzt. Er darf entscheiden, ob er dem vorgeschlagenen Weg folgen oder einen neuen entdecken möchte. Doch er weiß, dass er jederzeit auf das Navigationsgerät zurückgreifen kann, wenn er den Eindruck hat, sich verfahren zu haben. Wenn ein junger Mensch erfahrene Bezugspersonen hat, die wertschätzend mit den eigenen Grenzen und den Grenzen der anderen umgehen, so lernen Kinder Wertschätzung. Sie brauchen Menschen, die eine eigene Position vertreten und eine Meinung haben zu Themen des Lebens, und die allerdings auch weitsichtig genug sind, jeden Menschen seine eigenen Erfahrungen mit dem Leben selbst machen zu lassen. Und Kinder brauchen Menschen, die da sind, wenn mal etwas schiefgegangen ist. Denn nichts ist so lehrreich, wie das Leben selbst, und nie braucht man mehr Unterstützung und das Gefühl der Zugehörigkeit, als in einem Moment des Scheiterns.

Kooperation, Hilfsbereitschaft und Moral

Mit der Evolutionstheorie von Charles Darwin wurde das Bild des Menschen neu geprägt. Es kam zu der Annahme, dass alle Lebewesen in Wettbewerb und Konkurrenz zueinander stehen. Lange Zeit wurde auch in der Pädagogik angenommen, dass der Mensch von Natur aus egoistisch, berechnend und auf den eigenen Vorteil bedacht sei. Dadurch kam es zu großen Anstrengungen, die angelegten Triebe zu unterdrücken und Kinder zu »zivilisierten« Menschen heranziehen zu wollen. Doch seit rund 20 Jahren belegen Forschungen genau das Gegenteil.

Dass Menschen von Geburt an selbstlos handeln und auf Kooperation und Hilfsbereitschaft angelegt sind, zeigen Versuche aus der frühkindlichen Forschung.7 In einem Versuch wurden Bilder mit Wäscheklammern an einer durch den Raum gespannten Schnur befestigt. Während der Versuchsleiter die Bilder befestigte, fiel ihm eine Wäscheklammer hin. Ein fünfzehn Monate altes Kind schaute dabei zu, ging spontan hin und hob die Wäscheklammer auf. Dieser Versuch ist in unterschiedlichen Ausführungen immer wieder gut durchführbar: Ohne jede Erwartungshaltung helfen Kinder spontan. Und das auch, wenn sie gerade mit etwas anderem Schönen beschäftigt sind. Das Helfen läuft als völlig selbstverständlicher Prozess ab, ohne dass eine Gegenleistung erwartet wurde. Im Gegenteil, im Vergleich wurde sogar festgestellt, dass junge Menschen, die für ihre Hilfe besondere Aufmerksamkeit bekamen, die Freude an ausschließlich uneigennützigem Verhalten verloren, da sie für eine Selbstverständlichkeit Lob erhielten.

In einem weiteren Versuch wird einem sechs Monate alten Baby ein Puppenspiel gezeigt. Dabei versucht eine Puppe, den Deckel einer Kiste zu öffnen. Ein Stoffhund mit gelber Latzhose kommt dazu und hilft der Puppe dabei. Ein Stoffhund mit blauer Latzhose boykottiert die Versuche der Puppe, indem er den Deckel runterdrückt.

Was denken Sie, für welchen Hund entscheiden sich die Kinder? Für den Unterstützer oder den Störer? Die Mehrheit der Erwachsenen vermutete, für den Störer und war über das eigentliche Ergebnis erstaunt. Alle Kinder in diesem Alter wählten den Unterstützer. Dabei wurde im Versuch darauf geachtet, dass mal der blaue und mal der gelbe Hund der Unterstützer war und dass der Versuchsleiter, der die Hunde zur Auswahl stellte, nicht wusste, welcher der Hunde gerade welche Rolle hatte. Selbst bei dreimonatigen Babys konnte eine Orientierung zum Unterstützer festgestellt werden, die sich durch Blickverhalten äußerte.

Die Annahme, dass Altruismus und Kooperation ein biologisches Erbe sind, belegen auch unterschiedliche Tierstudien. Bei einem Versuch mit Primaten sitzen sich beispielsweise zwei Schimpansen in zwei Käfigen gegenüber. Der eine hat grüne und rote Spielmarken. Immer wenn er eine grüne wählt, dann bekommen beide Affen etwas zu essen, bei der roten nur er selbst. Auch hier wird überdurchschnittlich häufig der grüne Jeton gewählt, obwohl der Schimpanse daraus keinen offensichtlichen, persönlichen Vorteil zieht.