Die Erben der Hexenschülerin: Cécile - Rotraud Falke-Held - E-Book

Die Erben der Hexenschülerin: Cécile E-Book

Rotraud Falke-Held

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Beschreibung

Die junge Cécile lebt zur Zeit des Sonnenkönigs Louis XIV in Paris. Sie ist die Nachfahrin der Hexenschülerin Clara und die Enkelin von Cathérine, die im dreißigjährigen Krieg in Dringenberg gelebt hat. Wie ihre Ahninnen fühlt Cécile einen tiefen Wunsch nach Abenteuern. Als ihr und ihren Freundinnen auf dem Markt die Geldbörse gestohlen wird, macht sie die Bekanntschaft des jungen Diebes Jules sowie des Seemannes Philippe Delacroix. Cécile sieht ihren Wunsch nach Abenteuer erfüllt und die Möglichkeit, aus ihren geordneten und geborgenen Verhältnissen auszubrechen und freundet sich mit Jules an. Cécile und Jules werden bei einem geheimen Treffen Zeugen eines Mordkomplotts, was ihr Leben in Unruhe versetzen wird. Jules muss Paris verlassen, um in Sicherheit zu sein. Doch auch für Cécile ist dieses Erlebnis nicht abgeschlossen. Unvermittelt wird sie mit der Vergangenheit konfrontiert und gerät in höchste Lebensgefahr. Die Geschichte ist spannend und voller Wendungen, die Céciles Leben immer wieder in neue Bahnen lenken.

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Seitenzahl: 393

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die junge Cécile lebt zur Zeit des Sonnenkönigs Louis XIV in Paris.

Sie ist die Nachfahrin der Hexenschülerin Clara und die Enkelin von Cathérine, die im dreißigjährigen Krieg in Dringenberg gelebt hat.

Wie ihre Ahninnen fühlt Cécile einen tiefen Wunsch nach Abenteuern.

Als ihr und ihren Freundinnen auf dem Markt die Geldbörse gestohlen wird, macht sie die Bekanntschaft des jungen Diebes Jules sowie des Seemannes Philippe Delacroix.

Cécile sieht ihren Wunsch nach Abenteuer erfüllt und die Möglichkeit, aus ihren geordneten und geborgenen Verhältnissen auszubrechen und freundet sich mit Jules an.

Cécile und Jules geraten bei einem geheimen Treffen in höchste Gefahr, so dass Jules Paris verlassen, um in Sicherheit zu sein. Doch auch für Cécile ist dieses Erlebnis nicht abgeschlossen. Unvermittelt wird sie mit der Vergangenheit konfrontiert und gerät in Lebensgefahr.

Die Geschichte ist spannend und voller Wendungen, die Céciles Leben immer wieder in neue Bahnen lenken.

Besuchen Sie die Autorin im Internet:

www.rotraud-falkeheld.de

Inhaltsverzeichnis

Cécile

Prolog Céciles Erbe

Kapitel 1 Cécile

Kapitel 2 Diebstahl auf dem Markt

Kapitel 3 Die Gaukler

Kapitel 4 Jules

Kapitel 5 Drohende Gefahr

Kapitel 6 Ein Neubeginn

Kapitel 7 Jules und Philippe

Kapitel 8 Audienz beim König

Kapitel 9 Rachegedanken

Kapitel 10 Gefangen

Kapitel 11 Flucht

Kapitel 12 Ein Traum wird wahr

Kapitel 13 Böses Erwachen

Kapitel 14 Weitere Rachegedanken

Kapitel 15 Rückreise

Kapitel 16 Judith

Judith

Kapitel 1 Nächtlicher Angriff

Kapitel 2 Verletzt

Kapitel 3 Auf Reisen

Kapitel 4 In Dringenberg

Kapitel 5 Der Buchhändler

Epilog

Triggerwarnung

Wahrheit oder Erfindung

Personen

Cécile Perrault

geb. 09. Juni 1660

Jeanne-Madeleine Perrault

Céciles Mutter

Guillaume Perrault

Céciles Vater

Catherine Dufour

Céciles Großmutter

Mathieu Dufour

Céciles Großvater

Florence Perrault

Céciles Schwester

Jacques Perrault

Céciles Bruder

Sabine

Angestellte im Hause Perrault

Anne Moreau

Céciles Freundin

Veronique Gagnon

Florences Freundin

Jules Travers

ein junger Dieb, Sohn des Chevalier de Beauchêne

Mathéo

Anführer einer Diebesbande

Madame Estelle

Handleserin, Jules Ziehmutter

Philippe Delacroix

junger Korsar

Charles Delacroix

Philippes Vater

Roger Flamand

Anwaltskollege von Guillaume

Aubert Savage

Anwaltskollege von Guillaume

Géraldine Vipond alias Louise Noirot

reiche Kaufmannsfrau

Alexandre Morel

Géraldines Geliebter

Seraphine

Giftmischerin

Michel Roux

Mitglied von Jules Bande, später

Gehilfe von Géraldine in Paris

Eugene

Gehilfe von Géraldine in Melun

Adèle und Lambert

Hausangestellte bei Philippe

Margeaux

Hausangestellte bei Cécile

Judith

Céciles Tochter

Chloé

Judiths Freundin

Wichtigste Namen in Dringenberg:

Anna Beck

Schwiegertochter von Maximilian Beck

Friedrich Beck

Annas Sohn

Christina Beck

Friedrichs Frau

Lukas Gerber

Antonias Enkel

Barbara Gerber

Lukas Frau

Simon Dierkes

junger reisender Buchhändler

Am Ende dieses Buches befindet sich eine Triggerwarnung. Wen diese Warnung interessiert, kann auf Seite → vorblättern und sich informieren.

Diese enthält jedoch Spoiler.

Wer sich auf das Abenteuer einlassen will, ohne Vorwissen in die Geschichte zu starten, kann auch das tun.

Ich wünsche auf jeden Fall ALLEN spannende Unterhaltung mit den Abenteuern von Cécile Perrault.

Prolog

Céciles Erbe

Cécile Perrault wurde am 09. Juni des Jahres 1660 in Paris geboren. Es war der Tag, an dem der zweiundzwanzigjährige König Louis XIV die nur um fünf Tage jüngere Maria Teresa von Spanien zur Frau nahm. Maria Teresa war außerdem die Cousine des Königs, verwandt waren sie sowohl von mütterlicher als auch von väterlicher Seite.

Es war eigentlich verboten, dass Cousin und Cousinen heirateten, aber der König stand über solchen Gesetzen und so besiegelte diese Ehe den Frieden zwischen Spanien und Frankreich. Endlich war das endlose Kämpfen und Töten beendet, das auch nach dem Frieden von Münster, der in Deutschland den Dreißigjährigen Krieg beendet hatte, in Frankreich weitergegangen war.

Céciles Grußmutter Catherine war im Dreißigjährigen Krieg in einer kleinen deutschen Stadt aufgewachsen. Sie hatte viele Kämpfe, Seuchen, Hunger, Not und Verzweiflung erlebt. Sie war sogar als Hexe verdächtigt worden, konnte aber - Gott sei es gedankt - dem Hexengericht entgehen, sie hatte einige Male fliehen müssen und schließlich Mathieu Dufour kennen- und liebengelernt. Sie war mit ihm nach Straßburg gegangen, einer Stadt im Grenzgebiet zwischen Frankreich und Deutschland, wo sie eine Weile auf dem Weingut seiner Eltern gelebt hatten. Mathieus Vater war Franzose, während seine Mutter Josephine ebenso wie Catherine eine Deutsche gewesen war. Später dachte Cécile oft, dass ihr Großvater es so ähnlich gemacht hatte, wie der König. Er hatte eine Landsmännin seiner Mutter geheiratet.

Später, nachdem der Dreißigjährige Krieg beendet war, waren Catherine und Mathieu nach Paris gezogen, wo Mathieu sich in der Politik engagiert hatte.

Er hatte König Louis und Mazarin unterstützt. Mazarin, Kardinal und als Minister Nachfolger von Richelieu, der seinen Schützling Louis nach dem frühen Tod des Vaters erzogen hatte. Er war Louis Mutter Anna ein treuer Ratgeber, der immer allein zum Wohle der Krone handelte, nicht wie verwandte Adlige oder die Pairs in eigenem Interesse, zu eigener Macht. Und dennoch hatte am Ende niemand solche Macht erlangt wie Mazarin. Trotzdem hatte er nach dem Aufstand des Volkes Ende der 1640er Jahre das Land verlassen müssen. Erst 1653 war er zurückgekehrt und konnte eine Aussöhnungspolitik betreiben, wobei er stets einen kühlen Kopf behielt. Es nützte niemandem, beleidigt zu sein und Bestrafungen zu vollziehen, war seine Meinung. Allein der Friede nützte dem Volk und auch der Krone.

Diese Einstellung hatte Mathieu immer beeindruckt.

Nun wurden sie beide allmählich alt. Mathieu - und Mazarin ebenfalls.

Die Hochzeit mit der Infantin Maria Teresa, die fortan Marie Thérèse von Frankreich hieß, wurde mit großem Pomp gefeiert.

Zur gleichen Zeit wurde also Mathieus und Catherines Enkelkind Cécile, die Tochter ihrer Tochter Jeanne-Madeleine Perrault und ihres Ehemannes, des Advokats Guillaume Perrault, geboren.

Cécile war ein Kind ihrer Zeit und ihrer besonderen Familie.

Ihre Mutter Jeanne-Madeleine, das älteste Kind von Catherine und Mathieu, war sowohl in deutscher als auch französischer Sprache erzogen worden. Sie war nach beiden Großmüttern ihrer Eltern benannt worden. Jeanne nach Mathieus Großmutter und die französische Form von Magdalene nach Catherines Großmutter.

Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges waren Catherine und Mathieu mit ihren vier Kindern für mehrere Wochen in die kleine Stadt gereist, in der Catherine aufgewachsen war. Dringenberg hieß sie. Catherine und auch Jeanne erzählten oft davon, wie wenige Menschen nur noch in der einst blühenden Stadt gelebt hatten. Catherine hatte ein ausgesprochen aufregendes Leben geführt. Während der Kriegszeiten war die Hexenverfolgung auf ihrem Höhepunkt gewesen. Hexenjäger waren durch das Land gereist und hatten sich zur Aufgabe gemacht, das Land von Hexen und Zauberern zu reinigen. Es gab sogar umfangreiche Literatur dazu, wie man Hexen aufspürte, mittels Folter befragte und welche Zeichen dafür sprachen, dass man es mit einer Hexe zu tun hatte.

Catherine hatte erzählt, dass ihre Zwillingsschwester Antonia ein kleines, halbmondförmiges Muttermal im Nacken hatte, das sie stets gut bedeckte, da dies als Hexenmal gedeutet wurde.

Als Jeanne geboren wurde, hatte Catherine große Angst bekommen, als sie dieses Mal auch bei ihrem kleinen Mädchen entdeckte. Doch Jeanne war niemals als Hexe bezeichnet worden, auch wenn sie eine selbstständige Frau mit eigenem Willen war, der nach Meinung vieler Männer den Frauen nicht zustand.

Auch Cécile hatte dieses Temperament und diesen Freiheitsdrang geerbt. Sie hörte den Erzählungen ihrer Großmutter leidenschaftlich gern zu, obwohl die Berichte über die Hexenverfolgung sie schon sehr gruselten.

Cécile hatte rabenschwarze Haare und dunkle Augen und ähnelte damit sehr dem französischen Teil ihrer Familie.

Bei ihrer zweieinhalb Jahre jüngeren Schwester Florence waren die deutschen Gene enorm durchgeschlagen. Catherine behauptete, sie sähe so aus, wie sie selbst und ihre Zwillingsschwester in ihrer Jugend ausgesehen hatten. Florence hatte flammend rote Haare, grüne Augen und eine zierliche Figur. In ihrem Wesen entsprach sie laut der Großmutter eher Antonia, die schon als junges Mädchen ruhiger und fürsorglicher gewesen war als Catherine.

Cécile war groß und wenn auch schlank, so konnte man sie doch nicht als zierlich bezeichnen. Neben Florence fühlte sie sich manchmal regelrecht grob und tollpatschig.

Ihr Bruder Jacques war zehn Jahre jünger als Cécile und schlug äußerlich und auch in seiner Art nach dem Vater. Seine Haare waren nicht so dunkel wie die von Jeanne oder Cécile. Sie hatten ein kräftiges braun, ebenso wie seine Augen.

Cécile wusste noch nichts von Politik, über die ihr Großvater Mathieu sich oft mit ihrem Vater unterhielt. Aber sie hörte trotzdem gerne zu.

„Louis regiert wirklich völlig anders als alle Könige vor ihm“, stellte Mathieu zum Beispiel fest. „Er ist in der Tat ein Schüler von Mazarin.“

„Und die Männer, die er um sich herum versammelt hat, sind alles Experten auf ihrem Gebiet“, stimmte Céciles Vater Guillaume zu.

„Colbert ist ein hervorragender Finanzminister. Aber eine einheitliche Steuer wird er auf Dauer nicht durchsetzen können. Außerdem muss Frankreich eine Einheit werden. Zurzeit besteht es aus lauter kleinen Provinzen, die alle ihre eigenen Gesetze haben“, fand Mathieu.

„Schluss mit den vererbten Ämtern an Männer, die keine Ahnung von ihren Aufgaben haben.“

„Gut gesagt, Guillaume. Aber ich wage die Vorhersage, dass sich dieses System nicht durchsetzen wird. Die Pairs murren, die Adligen beklagen sich und wollen ihre Privilegien nicht so leicht aufgeben. Und Louis Nachkommen haben keinen Mazarin als Lehrer.“

„Sie haben Louis selbst“, warf Céciles Mutter Jeanne ein.

„Oh ja, er tut sein Bestes. Aber ob der König selbst seinen Sohn und Nachfolger lehrt oder ein Gelehrter den jungen König lehrt, ist doch ein großer Unterschied, nicht wahr? Nun, wir werden sehen. Na ja, ich vielleicht nicht mehr, aber ihr. Außerdem muss er mit seiner Steuerpolitik sehr aufpassen. Ich befürchte, er wälzt zu viel auf das einfache Volk ab. Am Ende tragen die Bauern die größte Last“, gab Mathieu zu Bedenken.

An der Stelle hatte Cécile genug von dem Gerede. Sie war noch ein Kind, das nicht viel Ahnung von Politik und Steuern hatte. Aber sie wuchs mit solchen Gesprächen auf, an denen sich oft auch ihre Großmutter Catherine und ihre Mutter beteiligten.

Einmal sagte die Großmutter beim Zubettgehen zu Cécile: „Du kannst sehr froh sein, dass du in dieser Zeit aufwächst. Auch wenn es vielen Männern nicht recht ist, sagen Frauen immer offener ihre Meinung und mischen sich in die Politik ein. Es ist ein Segen, denn wir Frauen sind intelligent und stehen den Männern in nichts nach. Aber viel zu lange mussten wir schweigen.“

„Du hast aber nie geschwiegen“, erwiderte Cécile.

„Nein. Das ist unser charakterliches Erbe“, lachte Catherine. „Wir wollen uns nicht unterdrücken lassen. Schon meine Ahninnen waren so. Ich - wir haben eine Vorfahrin aus dem 14. Jahrhundert, die eine große Reise unternommen hat. Sie hat sogar kurze Zeit in Griechenland gelebt. Diese Geschichte wird immer weiter erzählt, von einer Generation zur nächsten. Sie und ihre Familie waren unter den ersten, die in das neu erbaute Dorf Dringenberg zogen.“

„Eines Tages werde ich Dringenberg besuchen“, entschied Cécile.

„Das wirst du sicher. Es gibt in unserer Familie ein Medaillon, das seit dem 15. Jahrhundert von den Müttern an die älteste Tochter übergeht. Du wirst es eines Tages von deiner Mutter bekommen. Magst du die Geschichte unserer Ahnin Clara hören?“

Cécile nickte.

„Fällt dir etwas auf? In unserer Familie sind Namen mit „C“ auffallend häufig. Clara, Catherine, Cécile.“ Die Großmutter lächelte. Und dann begann sie die Geschichte der Vorfahrin zu erzählen, die vor etwa 350 Jahren bis nach Griechenland gekommen war. Eine unvorstellbar weite Reise.

Cécile bestaunte dieses Abenteuer sehr, hatte aber selbst nicht den Wunsch, ebenfalls solche Reisen zu unternehmen. Sie fühlte sich wohl dort, wo sie war. Eines Tages würde sie gerne diese Stadt in Westfalen besuchen, in der die Großmutter aufgewachsen war, um die Verwandten dort kennenzulernen. Die Menschen, die die gleichen Vorfahren hatten wie sie. Die vielleicht auch diese Geschichten kannten, weil Catherines Zwillingsschwester sie ebenfalls weitergegeben hatte, auch wenn die keine Töchter hatte.

Aber leben würde Cécile für immer nur in Paris, da war sie sich sicher.

Kapitel 1

Cécile

In Jahr 1672 überfiel der König – Louis XIV – die Vereinigten Niederlande.

Die zwölfjährige Cécile hielt das für ein großartiges Abenteuer. Ihre Großmutter Catherine schalt sie deswegen.

„Ich habe auch so gedacht, als der Dreißigjährige Krieg begann. Ich habe es nicht verstanden, wie viel Leid und Elend Krieg mit sich bringt.“

„Aber hier geht es uns doch gut“, widersprach Cécile.

„Ja, hier geht es uns gut. Aber genug Menschen sind direkt davon betroffen. Wieviele werden ihre Heimat verlieren und sogar sterben? Ach, ich bin müde.“

„Dann ruh dich doch ein wenig aus“, schlug Cécile fürsorglich vor.

Catherine drückte ihre Hand und nickte ihr lächelnd zu.

Cécile verstand nicht, was sie meinte. Sie erkannte nicht, dass die Großmutter der dauernden Kämpfe müde und überdrüssig war, des Leids, das sich die Menschen antaten, ihrer Unfähigkeit, miteinander in Frieden zu leben und des ewigen Strebens nach Macht. Cécile konnte es noch nicht verstehen, sie war einfach zu jung.

Aber Catherine hatte so viel erlebt. Dreißig Jahre Krieg. In der letzten Zeit tauchten immer öfter Bilder aus ihrer Vergangenheit auf. So deutlich, als würde sie sie gerade erst erleben. Sie sah sich mit ihrer Zwillingsschwester Antonia durch Dringenberg laufen – fröhlich und unbeschwert. Und dann später, als Belagerer in Dringenberg waren. Sie sah ihre erste Liebe Reinhard Jahn, Tamar, die Hexe von Paderborn, die ihre Lehrmeisterin war, sah sich auf der Flucht vor dem Hexengericht und später auf der Flucht nach Düsseldorf. Und dann: Mathieu. Ach, Mathieu, der vor knapp zwei Jahren von ihr gegangen war. Aber sie hatten viele gute Jahre gehabt – fünfunddreißig. Vier Kinder hatte sie ihm geboren, Céciles Mutter Jeanne war die Älteste. Ihren zweiten Sohn Armand hatte sie nach einem tragischen Unfall vor einigen Jahren zu Grabe tragen müssen. Nach all den Kriegsjahren, den Verlusten, Ängsten, Entbehrungen war doch dies das Schlimmste gewesen, was ihr im Leben widerfahren war. Das eigene Kind begraben zu müssen, zerriss einem das Herz. Und doch widerfuhr das so vielen Menschen. So vielen. Und wie viele Mütter würden um ihre Söhne weinen, die im Krieg fielen.

„Mamie“, sprach Cécile sie mit dem französischen Wort für Oma an.

„Ja, ma petite?“

„Hast du geschlafen?“ Cécile glaubte das nicht, das hörte man deutlich.

„Nein, ma petite. Ich habe nur etwas geträumt.“

„Von früher?“

„Ja, von früher. Geh ein wenig lesen oder studieren und lass mich ein wenig ruhen, ja?“

Cécile nickte und verließ das kleine Wohnzimmer ihrer Großmutter.

Catherine war manchmal auch des Lebens müde, so viele waren bereits gegangen und es gab Tage, an denen nichts als Trauer und Sehnsucht in ihr war. Auch ihre Zwillingsschwester Antonia war bereits drüben, in jener anderen Welt, wie sie aus einem Brief im letzten Jahr erfahren hatte. Sie hatte sich nicht einmal von ihr verabschieden können.

Sie war immer tatkräftig, energievoll und temperamentvoll gewesen. Viel mehr als Antonia, die Ruhige, Fürsorgliche.

Aber jetzt fühlte sie sich manchmal so kraftlos.

Cécile, ihre Freundin Anne, ihre zweieinhalb Jahre jüngere Schwester Florence und deren Freundin Veronique saßen oft beisammen und stellten sich vor, junge Adlige zu sein, prächtige, reich verzierte Kleider zu tragen und wertvolles Geschmeide an Hals, Ohren und Handgelenken.

„Ich würde gerne in Versaille wohnen“, meinte Cécile verträumt und die anderen drei stimmten seufzend zu.

„Wir werden es wahrscheinlich niemals überhaupt sehen“, meinte Anne, ein Mädchen mit blonden Locken.

„Doch, ich habe es schon gesehen. Es ist wirklich riesengroß und sehr prächtig“, sagte Cécile. „Ich war aber natürlich nur bis zum Zaun, näher nicht.“

„Ich auch“, erklärte Florence.

„Ja natürlich, wir waren ja zusammen mit Vater dort.“

„Ich meine ja von innen“, erklärte Anne. „Von außen ist das ja kein so großes Problem.“

Die drei anderen Mädchen seufzten wieder. „Nein, von innen werden wir es wohl nie sehen“, stimmte Veronique zu.

„Wir könnten ja einen Chevalier oder einen Grafen heiraten und mit ihm in Versaille leben“, überlegte Cécile. „Und dann könnten wir immer so schöne Kleider tragen und Feste feiern und Theateraufführungen besuchen.“

„Und Ballett und Konzerte“, ergänzte Veronique.

„Ich würde dem König gerne mal begegnen“, meinte Florence.

So träumten die vier Mädchen von Versaille, dem König, dem Adel, von den rauschenden Festen und gutem Essen. Es war ein romantischer Traum, so unrealistisch wie zum Mond zu fliegen. Sie wussten es und es machte ihnen gar nicht so viel aus. Irgendwie war ihnen allen klar, dass sie ein Leben in der Residenz des Königs als Teil des Hofadels gar nicht führen wollten. Sie wollten ein bürgerliches Leben führen, in einem kleinen Häuschen mit ihren Familien, wo sie ehrlich sie selbst sein und sich frei bewegen konnten.

Paris September 1675

Kapitel 2

Diebstahl auf dem Markt

Cécile hatte im Juni ihren fünfzehnten Geburtstag gefeiert. Sie hatte Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt und war ein intelligentes junges Mädchen, was durchaus an den Gesprächen mit der Großmutter lag und deren reichen Erfahrungsschatz, den sie gerne mit ihren Enkelkindern teilte.

Auch die Kinder von Catherines Sohn Valentin und seiner Frau kamen oft zu Besuch und profitierten davon. Sie waren allerdings jünger als Cécile, die ihre Zeit lieber mit Anne, Florence und Veronique verbrachte.

Catherines jüngste Tochter Marlène lebte nicht in Paris. Sie war mit ihrem Mann nach Tours gezogen und war daher nicht ganz so regelmäßig mit dem Rest der Familie zusammen.

Heute war Cécile mit ihrer Anne, Florence und Veronique auf dem Markt unterwegs. Sie war ein wenig verstimmt, dass es Florence schon mit ihren zwölf Jahren erlaubt wurde, ohne erwachsene Begleitung auf den Markt zu gehen. Ihr war es erst jetzt, mit fünfzehn Jahren, erlaubt worden, während ihre Schwester ganz automatisch direkt mitgehen durfte. Aber sie wusste auch, wie das entstanden war. Sie selbst und Anne durften allein gehen und dadurch hatte Florence Begleitung und auch Veronique wurde der Alleingang erlaubt. Auf jeden Fall machte Cécile dieser Nachmittag mit den anderen Mädchen viel zu viel Spaß, um die ganze Zeit ihre schlechte Laune wegen dieser kleinen Ungerechtigkeit zu behalten.

Cécile liebte es sowieso, durch die Stadt zu streifen. Durch die Gassen, über die Plätze, vorbei an den prächtigen Gebäuden wie dem Louvre und Notre Dame. Die Mädchen hatten Körbe an ihren Armen, um auf dem Markt Gemüse, Früchte und frische Kräuter bei der Kräuterfrau, La Herboriste, zu kaufen.

Cécile mochte das Gewimmel auf dem Markt und die vielen Stimmen, die zu einem einzigen großen Stimmengewirr verschmolzen. Sie mochte das Geschrei der Händler, die ihre Ware anpriesen und das Feilschen um die Preise. Florence war da anders. Sie ging viel lieber in einem Geschäft einkaufen, ließ sich die Waren einpacken, bezahlte, was verlangt wurde und ging wieder. Aber heute schien auch sie Spaß zu haben. Heute war auch ein besonderer Tag, denn es waren Gaukler in der Stadt. Sie jonglierten und schlugen Saltos in der Straße. Die Mädchen waren begeistert. „Ist das nicht einfach fantastisch?“, rief Florence aus. „Sowas möchte ich auch können.“

„Und dann auf die Straße gehen und es vorführen?“, lachte Cécile.

Doch da schüttelte Florence den Kopf. „Das natürlich nicht. Nur zu Hause in unserem Garten.“

Die Mädchen schauten sich mit großen Augen um. Sie mussten acht geben, dass sie sich in diesem bunten Treiben nicht verloren, denn durch die Vorführungen der Gaukler war es noch viel voller in der Straße als sonst.

„Kommt heute Abend zu unserer großen Vorführung hierher!“, rief ein als Harlekin gekleideter Mann von einem Podest aus. „Es erwarten euch Theater, Gesang, fantastische Kunststücke.“ Wie auf’s Stichwort kam einer der Gaukler mit einer brennenden Fackel, deren Flamme er vor dem staunenden Publikum in seinem Mund verschwinden ließ und so löschte. Den Mädchen blieben vor Staunen die Münder offen stehen.

„Nur heute und morgen Abend!“, rief der Harlekin. „Dann ziehen wir weiter nach Versaille. Ja, liebes Publikum. Wir werden sogar in Versaille vor dem König und seinem Hofstaat auftreten.“

„Ob wir wohl dorthin gehen dürfen?“, fragte Cécile mehr sich selbst als die anderen.

„Nach Versaille?“, fragte Veronique ein wenig begriffsstutzig.

„Natürlich zu der Vorführung heute oder morgen Abend“, entgegnete Cécile ungeduldig.

„Vielleicht, aber bestimmt nicht allein. Versuchen sollten wir es aber, das wird sicher ein fantastischer Spaß“, meinte Anne.

„Wir sollten nachfragen, um wieviel Uhr die Vorstellung beginnt“, meinte Véronique.

„Sieh doch, dort hängt ein Plakat. Dort steht sicher alles drauf.“ Florence wies auf einen bunten Druck, der an dem Podest hing.“

Die Mädchen vergaßen beinahe ihren Auftrag, Lebensmittel einzukaufen, so fasziniert waren sie. Aber als sich der Pulk um das Podest herum auflöste, gingen auch sie weiter. Doch weit kamen sie nicht, da blieb Cécile erneut stehen und rief aus: „Seht mal dort drüben!“

Die anderen blickten in die Richtung, wussten aber nicht recht, was Cécile meinte.

„Die Frau dort! Sie liest aus der Hand. Seht ihr?“

Cécile wies auf eine Frau in einem farbenfrohen Kleid. Um ihre langen, offenen Haare hatte sie ein rotes Tuch geschlungen. Sie hielt die Hand einer anderen Frau in ihrer und konzentrierte sich offensichtlich auf die Innenfläche.

„Stimmt. Sie geht offenbar herum und bietet dem Publikum einen Blick in die Zukunft an“, meinte Veronique.

Ja, jetzt erkannte es Anne auch. Aber sie wollte nichts damit zu tun haben. „Ist doch egal“, wehrte sie deshalb ab und versuchte, Cécile fortzuziehen.

„Nun warte doch mal!“

„Cécile! Komm weiter. Wir haben noch so viel zu erledigen“, drängte Florence. Aber Cécile ließ sich nicht drängen. „Wir haben doch Zeit. Oder hat Maman gesagt, wann wir zurück sein müssen? Nein!“

„Aber sie weiß ungefähr, wie lange die Einkäufe dauern. Und sie macht sich Sorgen, wenn wir dann nicht zurück sind.“

„Heute dauern sie eben länger, weil Gaukler in der Stadt sind. Das wird sie verstehen“, beharrte Cécile.

Florence war sauer. Immer musste es nach Céciles Kopf gehen.

Die bunt gekleidete Frau war mit ihrer Kundin fertig und kam jetzt auf die Mädchen zu. Ihre Schritte waren betont und langsam. Sie lächelte ihnen zu.

Anne versuchte noch einmal, Cécile weiterzuziehen. Sie wollte nichts mit Wahrsagerinnen zu tun haben. Und die Frau schien sie schon regelrecht mit ihrem Blick zu fixieren. Aber Cécile war nicht zu bewegen.

„Ich grüße euch“, sagte die Frau. Ihre Stimme war angenehm und sehr sanft. Sie war nicht so jung, wie sie von Weitem gewirkt hatte, vermutlich wegen ihrer offenen, wilden Haare. Aber ihr Gesicht wies deutlich Falten auf und auch ihre Hände waren die einer Frau im reiferen Alter. Sie war sicher mindestens so alt wie die Mütter der Mädchen. Fast vierzig, vielleicht sogar etwas älter.

„Sei gegrüßt“, erwiderte Cécile keck.

„Du hast eine tolle Ausstrahlung“, sagte die Frau. „Wie ist deine Name?“

„Cécile.“

„Cécile.“ Sie ließ den Namen wie Musik klingen. „Mein Name ist Estelle. Darf ich einen Blick in deine Zukunft werfen?“

„Lass es“, warnte Anne.

Cécile hörte sie gar nicht, sondern nickte.

„Dann gib mir deine Hand“, forderte Estelle sie auf.

Cécile gehorchte.

Die Frau nahm die Hand des Mädchens in ihre und betrachtete konzentriert die Innenfläche. Für einen kurzen Moment schien sie zu erschrecken, aber sie hatte sich sofort wieder im Griff und Cécile dachte schon, sie hätte sich geirrt. Die Frau hatte doch sicher nicht so etwas Furchtbares gesehen, dass sie wirklich erschrocken war?

„Du hasst ein aufregendes Leben vor dir. Du wirst weite Reisen unternehmen. Du bekommst viel Kraft von deiner Familie, aber du wirst deinen ganz eigenen Weg gehen. Du bist sehr stark, Cécile. Und diese Stärke wirst du auf deinem Lebensweg auch brauchen. Ich sehe, dass in naher Zukunft ein Mensch in dein Leben treten wird, der dich für einige Zeit begleiten wird. Du kannst ihm helfen, seinen richtigen Weg zu finden.“

„Seinen richtigen Weg?“, fragte Cécile stirnrunzelnd. „Was soll das denn heißen?“

„Nun, manchmal verirren wir uns auf unserem Lebensweg. Treffen falsche Entscheidungen oder das Schicksal treibt uns fort. Wie dem auch sei: Du wirst es verstehen, wenn es soweit ist.“

„Mm“, knurrte Cécile unzufrieden mit dieser merkwürdigen, undurchsichtigen Vorhersage.

Estelle lächelte und fuhr fort: „Ich sehe auch einen Mann in deiner Zukunft. Ihr werdet euch lieben, aber ihr werdet oft getrennt sein.“

„Wir werden oft getrennt sein?“, fragte Cécile, der diese Aussage nicht gefiel. „Ist es, weil er ein Soldat im Krieg ist?“

„Das weiß ich nicht. Aber es wird keine Liebe für alle Zeit sein.“

„Wie alt werde ich?“, fragte Cécile.

„Auch das weiß ich nicht. Ich kann den Tod nicht vorhersehen“, sagte Estelle. „Niemand kann das.“

Cécile war ein wenig enttäuscht. Das, was sie hören wollte, hatte die Frau nicht gesagt. Nichts von einer großen Liebe und immerwährendem Glück. Im Gegenteil. Am Ende hatten die Freundinnen und Florence recht und sie wäre lieber nicht auf das Angebot eingegangen. Sie seufzte.

„Werde ich reich sein?“, fragte sie dann.

Estelle lächelte wieder. „Nein, reich wirst du nicht sein, nicht so, wie die wirklich reichen Adligen. Aber du - oder ihr - werdet erst recht nicht arm sein. Es wird dir gut gehen. Du wirst ein schönes Leben haben, aber ein ungewöhnliches.“

Cécile nickte. „Und ich werde es nicht leicht haben.“

„Nein, aber wer hat das schon? Niemand hat immerwährendes Glück, Cécile.“

Estelle ließ endlich die Hand des Mädchens los. „Möchte noch jemand etwas über seine Zukunft erfahren?“, fragte sie in die Runde. Doch alle drei Mädchen wehrten ab.

In dem Augenblick bemerkte Anne, dass ihr Geldbeutel verschwunden war. Die anderen sahen sofort selbst aufgeregt nach und entdeckten, dass auch ihre Beutel verschwunden waren.

„Du musst mich noch bezahlen“, meinte Madame Estelle nüchtern mitten in das Entsetzen der Mädchen hinein.

„Unsere Geldbeutel wurden gestohlen“, sagte Cécile. „Sie sind alle weg.“

„Was?“

„Ich werde dich bestimmt bezahlen, aber jetzt - jetzt kann ich es doch nicht. Ich komme noch einmal vorbei, dann…“

Estelle sah verärgert aus, was verständlich war. Aber noch mehr ärgerten sich die vier Mädchen. Während alle Aufmerksamkeit auf Estelle und Cécile geruht hatte, hatte irgendjemand ihre Geldbeutel gestohlen. Aber wer? Und wohin war derjenige verschwunden? Die Mädchen sahen sich hektisch um.

Ob wohl Madame Estelle etwas bemerkt… Doch merkwürdigerweise war die inzwischen ebenfalls ihren Blicken entschwunden.

„Was machen wir denn jetzt?“, fragte Cécile besorgt.

„Keine Ahnung, aber du bist schuld daran. Mit deinen ganzen Ablenkungen und deiner Vorliebe für Gaukler und Handlesen und so was“, meckerte Florence.

„Ach ja? Der einzige, der schuld daran ist, ist ja wohl der Dieb“, giftete Cécile zurück.

Bevor ein handfester Streit entbrennen konnte, kam ein junger Mann mit langen dunklen Haaren auf sie zu. Er hielt einen jungen Burschen am Genick und führte ihn vor sich her. Er ging mit weit ausholenden Schritten, die kraftvoll und doch so leicht wirkten. Der Blick des Jungen war zerknirscht, während der langhaarige Mann finster dreinblickte.

„Ich glaube, dieser Bursche hat eure Geldbeutel gestohlen“, sagte der junge Mann. „Ich konnte ihn dabei beobachten, wie er die Ablenkung durch die Handleserin ausnutzte. Es könnte sogar sein, dass die beiden ein Diebesgespann sind.“

„Wirklich?“, fragte Florence.

„Ja, möglicherweise. Die eine lenkt ab, der andere stiehlt. Aber vielleicht nutzt der Junge die Situation auch nur aus.“

Cécile sagte nichts. Sie betrachtete den Mann genau. Seine Augen waren ebenso dunkel wie die langen Haare. Sie schätzte ihn auf etwa zwanzig Jahre, er war groß und wirkte recht muskulös, obwohl er sehr schlank war.

„Am besten lasst ihr euch gar nicht auf solche Dinge ein“, mahnte er, was Cécile ärgerte. Er hatte nicht das Recht, sie zurechtzuweisen. Das konnte er mit dem Dieb machen, von ihr aus auch mit Madame Estelle, wenn er glaubte, die beiden wären ein Gespann, aber nicht mit ihr. Doch am meisten ärgerte es sie, dass er sie offenbar für naiv hielt.

„Es hat mich eben interessiert, was sie sagen würde“, beeilte sie sich, beiläufig zu sagen. „Glauben tue ich natürlich nicht an so was.“

Die anderen drei Mädchen rollten mit den Augen. „Und ob du das tust“, sagte Florence so leise, dass Cécile es nicht mitbekam.

Der Junge, den der Langhaarige noch immer festhielt, war wohl nur wenig älter als Cécile und Anne. Er war etwas kleiner als der Langhaarige, wirkte etwas ausgemergelt und seine Haare waren nicht ganz so lang, aber zerzaust.

„Warum hast du uns bestohlen?“, fragte Cécile.

„Ich brauchte Geld.“

„Das ist kein Grund. Geh arbeiten oder von mir aus betteln. Aber nicht stehlen!“, zischte sie ihn an.

In dem Moment kam Estelle wieder zu ihnen. „Was ist hier los?“, fragte sie mit einer viel herrischeren Stimme als vorhin, als sie in Céciles Hand gelesen hatte.

„Dieser Bursche hat die Geldbeutel der Mädchen gestohlen“, erklärte der Langhaarige. „Ich habe es gesehen und konnte ihn einfangen.“

Madame Estelle entglitten die Gesichtszüge. Es schien ihr peinlich zu sein und sie versuchte, den Jungen in Schutz zu nehmen. Verdammt, dachte Cécile, der Typ hat recht. Die gehören wirklich zusammen.

„Mein Sohn hat es sicher nicht böse gemein. Wir halten uns gerade so über Wasser“, erklärte sie. „Er will mir helfen und hat es falsch angefangen. Wir müssen sicher nicht die Gendarmen holen? Ihr habt ja euer Geld zurück“, redete Estelle weiter auf die Mädchen ein. „Ich werde dir auch nichts für das Handlesen berechnen.“

Der Junge ließ den Kopf hängen. „Es tut mir leid. Bitte, lassen Sie mich gehen. Ich… ich werde das niemals wieder tun. Ich weiß nicht, ich…“

Der junge Mann mit den langen dunklen Haaren blickte die Mädchen fragend an, die ihm bedeuteten, er solle den Burschen loslassen. Was machte es für einen Sinn, ihn einzusperren. Paris war voller Diebe.

„Dann pass auf ihn auf und lehre ihn, wie er auf anständige Weise Geld verdienen kann“, maßregelte der junge Mann Madame Estelle, bevor sie ihrem Sohn eine Backpfeife gab und ihn vor sich her zu ihrem Zelt schubste.

„Na hoffentlich war das die richtige Entscheidung“, meinte Anne. „Wenn es doch kein Alleingang war und er das auf ihre Anweisung tut?“

„Hauptsache, ihr habt euer Geld wieder. Er hatte sicher keine Zeit, etwas herauszunehmen“, meinte der junge Mann.

„Wir danken dir für deine Hilfe“, sagte Anne.

„Gern geschehen. Es war keine Schwierigkeit.“

„Wollen wir weitergehen?“, fragte sie dann die Freundinnen, aber Cécile reagierte mal wieder nicht.

„Ich heiße übrigens Cécile. Cécile Perrault“, sagte sie zu dem Mann. Dabei lachte sie ein wenig verlegen. Der junge Mann lächelte zurück. „Ich heiße Philippe. Philippe Delacroix. Ich stamme aus der Bretagne und bin nur zu Besuch hier in Paris. Ich begleite meinen Vater.“

„Oh, wann gehst du denn zurück?“

„Schon in ein paar Tagen. Mein Vater und ich werden uns in Saint Malo einschiffen und zur See fahren. Wir werden an den Seeschlachten teilnehmen.“

„Du ziehst in den Krieg?“ fragte Cécile staunend.

„Na ja…“

„Hast du keine Angst?“

Er lachte. „Ich bin schon früher mit meinem Vater zur See gefahren, seit ich dreizehn Jahre alt bin. Jetzt wird es ein wenig anders sein, natürlich. Ach, es wird ein fantastisches Abenteuer. Wir haben einen Kaperbrief von König Louis persönlich und werden ebenso zu Frankreichs Sieg beitragen wie Jean Bart“, erklärte er voller Stolz.

„Wie wer?“, fragte Cécile.

Er lachte wieder. „Du kennst ihn also nicht? Na, macht nichts. Er ist ein großer Seefahrer und Freibeuter im Dienste des Königs. Aber nun muss ich weiter. Deine Freundinnen warten auch schon.“ Er nickte den Mädchen zu, die der Unterhaltung schweigend zugehört hatten.

Cécile sah sich um und nickte. „Ja. Dann… Was wünscht man denn einem Seemann?“

„Allzeit eine gute Reise, würde ich sagen. Und immer eine Handbreit Wasser unter dem Kiel.“

„Das wünsche ich dir. Und dass die See immer ruhig ist und ihr die Gegner bezwingt.“

„Vielen Dank, schönes Mädchen.“ Er machte eine schwungvolle Verbeugung, nahm ihre Hand und küsste sie. „Lebe glücklich und lang.“

Sie wurde ganz rot vor Verlegenheit.

„Auf Wiedersehen“, flüsterte sie, obwohl es unwahrscheinlich war, dass sie diesen faszinierenden Mann jemals wieder sehen würde.

Philippe ging davon, sah sich noch einmal um und winkte ihr strahlend zu. In diesem Augenblick dachte Cécile in jugendlichem Überschwang und Schwärmerei: Wenn ich ihn wieder sehe, werde ich ihn heiraten.

Dann kam ein älterer Mann auf ihn zu, er schlug ihm herzlich auf den Rücken und sie verschwanden gemeinsam im Menschengewimmel.

Das war sicher sein Vater, dachte Cécile.

Sie nahm sehr zum Erstaunen der anderen Mädchen eine Münze aus ihrem Geldbeutel. „Was willst du denn damit?“, fragte Anne.

„Ich bringe sie Estelle. Ich will ihre Dienste nicht umsonst in Anspruch genommen haben. Nicht, wenn es ihnen womöglich wirklich so schlecht geht.“

Die drei Mädchen stöhnten, doch sie ließen Cécile gewähren. Etwas anderes blieb ihnen sowieso nicht übrig.

Doch danach zogen sie Cécile einfach mit sich - bevor sie sich noch einmal irgendwo ablenken ließ - schnurstracks zur Kräuterhändlerin La Herboriste.

Kapitel 3

Die Gaukler

Cécile und Florence hatten mit ihrer Begeisterung wirklich alle angesteckt und es so geschafft, ihre Familien zu einem Besuch bei der Vorstellung der Gaukler am nächsten Tag zu überzeugen.

Jeanne war allerdings der Meinung, dass Jacques mit fünf Jahren noch zu klein war, also blieb er zu Hause bei der Großmutter Catherine, während die Eltern mit den beiden Töchtern am nächsten Abend auf einen Platz direkt an der Seine gingen, auf dem die Vorstellung stattfinden sollte.

Sie hatten sich überlegt, die Kutsche zu nehmen, aber vermutlich könnte man sowieso nicht bis ganz zum Platz fahren und sie weiter entfernt unbeaufsichtigt stehen zu lassen, kam nicht infrage. Also gingen sie lieber zu Fuß.

Anne und Véronique trafen sie mit ihren Familien unterwegs und sie gingen gemeinsam weiter. Es waren viele Menschen unterwegs. Auf dem Platz herrschte bereits ein reges Treiben, als sie näher kamen. Die Bühne war erhöht aufgebaut direkt an der Seine, so dass auch diejenigen gut sehen konnten, die weiter hinten standen.

Das Wetter war herrlich, noch keine Spur von Herbst, nur, dass es bereits etwas früher dunkel wurde. Aber noch war es hell und sonnig. Die Atmosphäre war einfach fantastisch und aufgeladen von der aufgeregten Erwartung der Zuschauer.

Anders als am Vortag auf dem Markt waren die Gaukler noch nicht zu sehen. Cécile nahm an, dass sie gestern auf sich aufmerksam machen wollten, aber jetzt, kurz vor der Vorstellung, wollten sie nicht ihre Kunststücke schon im Vorfeld präsentieren.

Mitten in dem Trubel, dem Menschengewimmel und den Geräuschen der Stimmen, tauchte plötzlich und unvermittelt, ohne dass sie selbst es durch ihre Gedanken heraufbeschworen hatte, ein Gesicht vor ihrem inneren Auge auf. Es war ein junges, schönes Männergesicht mit dunklen, stechenden Augen und langen schwarzen Haaren. Es war das Gesicht von Philippe Delacroix, der ihnen geholfen hatte, als der Sohn der Handleserin ihre Geldbeutel gestohlen hatte. Sie lächelte vor sich hin und gestattete sich den Tagtraum.

„Alles in Ordnung?“, fragte Anne.

„Jaja“, erwiderte Cécile ein wenig abweisend.

„Du denkst aber nicht an diesen Typen, oder?“

Cécile fühlte sich ertappt und reagierte verärgert. „Und wenn?“, schnappte sie.

„Dir ist schon klar, dass du den nie wiedersiehst, oder? Ist sicher auch gut so.“

„Und wieso bitte?“

„Du kennst den doch gar nicht. Was findest du nur so toll an dem?“

„Er sah einfach gut aus. Mehr nicht.“

„Fandest du? Seine Haare waren viel zu lang.“

„Er ist eben ein Abenteurer.“

„Und das gefällt dir?“

Darauf erwiderte Cécile erst einmal nichts. Sie war fünfzehn Jahre alt und hatte wirklich keine Ahnung, was für Männer ihr gefielen. Eindruck hatte der junge Mann auf jeden Fall auf sie gemacht. Irgendwas war. Irgendwas fühlte sie. Aber sie wusste nicht genau, was das war.

„Ich weiß auch nicht. Auf jeden Fall hat er uns geholfen.“

„Ja. Und dafür haben wir uns bedankt. Fertig!“

Jeanne, die sich mit den beiden anderen Müttern unterhalten hatte, wurde auf das Gespräch zwischen ihrer Tochter und Anne aufmerksam.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte sie ein wenig verwirrt über die ernsten Mienen der Mädchen.

Cécile blickte ihre Mutter missmutig an. „Nein, es ist alles in Ordnung.“

„Das will ich hoffen. Ihr solltet fröhlich und gespannt auf die Vorstellung sein. Stattdessen scheint ihr euch zu streiten.“

„Nein, nein, wir streiten wirklich nicht.“

Jeanne nickte. Sie wollte es hoffen.

Cécile atmete tief durch. Anne hatte recht, sie würde Philippe niemals im Leben wieder sehen. Es bestand keine Notwendigkeit, der Mutter von ihm zu erzählen.

Jeanne runzelte die Stirn. Sie hatte schon immer einen besonderen Sinn für die Stimmungen anderer Menschen gehabt, ganz besonders, wenn es um ihre eigenen Kinder ging. Bedrückte Cécile etwas?

Doch in dem Augenblick ertönte ein Trommelwirbel und ein großer, ziemlich beleibter Mann betrat die Bühne. „Verehrtes Publikum!“, tönte er mit donnernder Stimme. „Wir alle freuen uns, dass ihr gekommen seid und wir euch mit unserer Kunst unterhalten dürfen. Vergesst für einen Abend euren Alltag, eure Sorgen, eure Arbeit und lasst euch verzaubern von den atemberaubenden Kunststücken der Artisten.“

Sie folgten gebannt dem Arm des Mannes, der in die Lüfte wies. Dort sahen die Zuschauer, dass ein Seil zwischen zwei Gebäuden über die Seine gespannt war, über das jetzt eine Seiltänzerin balancierte. Cécile und ihre Freundinnen verfolgten gebannt und mit angehaltenem Atem den waghalsigen Auftritt der Frau. Sie nahmen kaum wahr, dass es allen Zuschauern ebenso ging wie ihnen.

In der Luft vollführte die Artistin sogar noch Sprünge, die so leicht und selbstverständlich aussahen, als stünde sie auf festem Boden. Bewundernde „Ahhhs“ und „Ohhhhs“ gingen durch die Zuschauerreihen. Als die junge Frau endlich auf der anderen Seite angekommen war, brandete begeisterter Applaus auf.

Gleich darauf erschienen Jongleure auf der Bühne, die ihre Bälle und Keulen in die Luft warfen, auffingen und sie im selben Moment wieder fortwarfen, um die nächsten zu fangen. Vier - nein fünf Keulen waren gleichzeitig in der Luft.

Artisten traten auf, die sich verbogen wie Gummi. Cécile wusste, dass sie diese Bewegungen niemals würde nachahmen können. Sie konnte kaum hinsehen, weil sie glaubte, die junge Frau müsse in ihrer Mitte zerbrechen.

Ein Harlekin trat auf und riss das Publikum mit seinen Späßen aus dem Staunen und brachte es zum Lachen.

Da Cécile diese Nummer nicht so sehr in ihren Bann zog, wandte sie sich um und beobachtete das Publikum. Ihr Blick blieb an den Ständen am Rande der Zuschauerränge hängen. Als sie schon weiterschauen wollte, bemerkte sie jemanden. Sie traute ihren Augen kaum. Da vorne, an dem Stand mit Gebäck – war das nicht Philippe? Ihr Retter vom Markt? Wobei Retter vielleicht etwas übertrieben ausgedrückt war. Ihr Leben war ja nicht in Gefahr gewesen.

Sie zögerte, was untypisch für sie war. Sollte sie zu ihm gehen? Aber ihre ganze Familie und die Familien ihrer Freundinnen waren bei ihr. Konnte sie es trotzdem wagen?

Auf der Bühne verabschiedete sich der Harlekin mit einem Salto und der Feuerspucker trat auf. Inzwischen begann die Sonne schon unterzugehen und das Feuer auf der Bühne entfaltete seine eigene, mystische Wirkung. Auch um die Bühne herum wurden jetzt Fackeln angezündet, die diese erleuchteten. Das schwindende Licht des Tages, das flackernde Feuer, die Geräusche um sie her - all das hatte eine fast hypnotische Wirkung. Cécile fühlte sich in einer völlig anderen Welt. In einer Welt voller Magie.

Sie dachte jetzt nicht mehr nach, sondern ging auf den jungen Mann zu.

Er drehte sich um, hielt eine Tüte Gebäck in der Hand. Sie sah seine dunklen Augen. Seine langen Haare hatte er im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden. An seiner Seite war der ältere Mann, mit dem er gestern im Marktgewimmel verschwunden und von dem Cécile annahm, dass er sein Vater war.

Philippe bemerkte sie und lächelte ihr überrascht entgegen. „Zum Gruß, schönes Mädchen“, sagte er und verneigte sich ein wenig spöttisch.

„Guten Tag. Ist das nicht eine fantastische Vorstellung?“

„In der Tat, das ist sie.“

„Ich dachte, du wolltest wieder nach Saint Malo?“

„Wir reisen morgen ab“, erklärte er. „Möchtest du eines dieser Macarons?“

Er bot ihr die Tüte an und Cécile fischte eines von dem köstlichen Mandelgebäck heraus und biss zaghaft hinein.

„Ich hoffe, du hast dich von dem Schreck auf dem Markt erholt?“

„Ja, das habe ich. Danke noch einmal für deine Hilfe. Ohne dich wäre wohl unser aller Geld weg gewesen.“

„Ja, das wäre es.“ Er lachte. „Das ist übrigens mein Vater, Charles Delacroix.“

„Guten Tag, Monsieur“, grüßte Cécile artig. „Meine Familie ist dort drüben, wir sind alle hier und sehen der Vorführung zu. Mein Vater ist der Anwalt Guillaume Perrault“, plapperte sie drauflos.

Warum habe ich das jetzt erzählt, fragte sie sich sofort. Wollte ich, dass er weiß, aus was für einer Familie ich stamme? Oder dass ich nicht allein hier bin?

Beide Männer lächelten milde. „Guten Tag, Mademoiselle Perrault“, sagte Philippes Vater freundlich. „Mein Sohn hat mir von dem Vorfall berichtet. Seid in Zukunft etwas vorsichtiger. Diese Handleserinnen sorgen oft nur für die Ablenkung, damit man ihre Kunden bestehlen kann.“

„Ja, das weiß ich jetzt auch“, erwiderte Cécile etwas beschämt. Ob es wohl doch ein Fehler gewesen war, der Frau das Geld noch zu bringen? „Gestern habe ich es einfach für einen Spaß gehalten.“

„Madame Estelle sitzt übrigens in ihrem Stand dort drüben.“ Er wies in die Richtung. „Aber du hattest ja schon deinen Blick in die Zukunft.“

„Ja, ganz richtig“, schnappte Cécile. Sie ärgerte sich, weil Philippe sich offensichtlich lustig über sie machte. Dabei wollte sie doch einen guten Eindruck machen.

Und plötzlich - ganz unvermittelt - beugte Philippe sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Mach es gut, schöne Cécile Perrault, Tochter eines Anwalts.“

Sie stand da und konnte sich nicht rühren. Wie zur Salzsäule erstarrt. Er hatte sie geküsst. So etwas tat man doch nicht. Noch dazu in aller Öffentlichkeit. Aber es war so schön gewesen. Sie hob die Hand und fuhr sich über die Wange.

„Du auch“, flüsterte sie. „Komm gesund zurück.“

„Das mache ich bestimmt.“ Dann hob er die Hand und winkte ihr zu.

Er sagte nicht Vielleicht sehen wir uns mal wieder oder etwas in der Art. Er verschwand einfach. Weil er wusste, dass sie sich niemals wieder sehen würden. So, wie es auch Cécile wusste. Aber sie wollte ihn doch wieder sehen. Sie wollte nicht, dass er so kurz durch ihr Leben geschwebt war und sofort wieder verschwand. Das war einfach ungerecht.

Jeanne sah sich nach Cécile um, sah sie nicht mehr in der Reihe, suchte sie. Dann entdeckte sie die Tochter ein Stück entfernt. Sie befand sich mit zwei unbekannten Männern im Gespräch. Einem jungen Mann und einem älteren, vielleicht Vater und Sohn. Aber Jeanne kannte sie nicht. Sie fühlte Ärger in sich aufsteigen. Was fiel Cécile ein? Aber dann dachte sie, dass vielleicht alles wirklich ganz harmlos sei und die beiden möglicherweise nur eine Auskunft erfragten. Trotzdem blieb die Frage, warum Cécile sich einfach entfernt hatte, ohne etwas zu sagen. Ach, sie war sprunghaft und abenteuerlustig. Sie war wie ihre eigene Mutter Catherine. Unbesonnen und leidenschaftlich. Und Catherines Erzählungen von ihrer eigenen Jugend hatten Cécile nur in ihren Handlungen bestärkt. Sie selbst war ein temperamentvolles Kind gewesen, aber mit den Jahren ruhiger und besonnener geworden. Davon war bei Cécile nichts zu spüren.

Auf der Bühne wirbelten erneut die Jongleure herum, dieses Mal mit brennenden Fackeln. Doch Jeanne interessierte das gerade nicht.

Sie seufzte. Sie machte sich auf, Cécile zurückzuholen. Doch Florence bemerkte die Blicke der Mutter, sah, was sie beobachtete und entschied, der Mutter von dem jungen Mann zu berichten. Sie hatten nichts von dem Diebstahl auf dem Markt erzählt, um die Mutter nicht zu beunruhigen und um nicht die Erlaubnis zu gefährden, das nächste Mal wieder allein gehen zu dürfen. Doch jetzt… wenn Cécile auch so dumm war…

„Maman, mach dir keine Sorgen“, begann sie.

Jeanne zog die Augenbrauen in die Höhe. „Nicht? Kennt ihr die Männer?“

„Nun ja…. Gestern auf dem Markt…“

„Ja? Nun rede schon.“

Jeanne wurde ungeduldig, sie erwartete jetzt von irgendeiner Katastrophe zu hören.

„Cécile hat sich aus der Hand lesen lassen. Von einer Wahrsagerin. Die ging einfach herum und sprach die Leute an. Unter anderem auch Cécile.“

„Und die musste sich natürlich darauf einlassen.“

„Ja, sie fand das spannend. Aber während wir alle auf Madame Estelle konzentriert waren, wurden unsere Geldbeutel gestohlen.“

„Was?“ Jeanne riss die Augen weit auf.

„Ja. Und dieser junge Mann, mit dem Cécile gerade redet, hat den Dieb geschnappt und unsere Beutel zurückgeholt. Der Dieb stellte sich als Sohn von Estelle heraus.“

„So. Und was habt ihr mit dem Dieb gemacht?“

„Gemacht? Nichts. Wir haben die Geldbeutel ja zurückbekommen.“

„Und der oder besser gesagt, die beiden, können einfach weitermachen?“

Florence hob die Schultern. „Wir wollten ihn nicht an den Pranger stellen lassen oder so was. Das ist grausam.“

„Das muss er sich vorher überlegen. Ach Mädchen…“

Jeanne schielte wieder zu Cécile hinüber, die gerade in eine Tüte griff und etwas aß. Was das war, konnte sie nicht erkennen. Sie beruhigte sich allerdings in Bezug auf die Männer. Vielleicht hatte Cécile ihn gesehen und hatte sich nur noch einmal bedanken wollen. „Wer ist der andere Mann?“, fragte sie.

„Sein Vater. Die beiden reisen nach Saint Malo und schiffen sich dort ein.“

„Wirklich?“

„Ja.“

Oh gut, dachte Jeanne. Dann sieht sie ihn wenigstens nicht wieder. Sie ist zu jung und er irgendwie zu verwegen. Aber genau der Typ, der ihrer Tochter vermutlich gefallen würde. Sie sah, wie sie sich verabschiedeten und die Männer davon gingen. Cécile kam allerdings nicht herüber, sondern ging auf einen Stand zu, an dem es Gebäck zu geben schien. Jeanne seufzte erneut.

Auf der Bühne wurde im Widerschein der Fackeln der Zauberkünstler angekündigt.

Cécile wusste, dass sie dummes Zeug dachte. Was war daran ungerecht? Aber ihr Kopf funktionierte nicht rational. Sie wollte ihn wieder sehen, sie wollte nicht, dass er in den Krieg zog, sie wollte, dass er in Paris blieb.

Sie stand vor dem Stand mit den Macarons und bestellte eine Tüte des bunten Baisergebäcks. Wenigstens das wollte sie jetzt haben. Es war das Letzte, was zwischen ihnen gewesen war. Er hatte ihr ein Macaron angeboten und sie hatte es angenommen.

Ach, was war das jetzt wieder für ein Unsinn? Es war das Letzte, das zwischen ihnen gewesen war? Es kam ihr selbst albern und hoffnungslos übertrieben vor. Das Letzte… Es gab doch nichts, gar nichts, das überhaupt zwischen ihnen gewesen war. Er hatte ihnen geholfen, als der Dieb die Geldbeutel gestohlen hatte. Und er hatte ihnen allen geholfen, nicht nur ihr. Ach, sie war ein dummes junges Mädchen, das sich in Träumen verlor.

Jemand klopfte auf ihre Schulter, sie drehte sich um und im nächsten Augenblick riss ihr jemand den Geldbeutel aus der Hand.

„Ah, das Mädchen, das mir ihren Geldbeutel nicht überlassen wollte. Jetzt habe ich ihn doch noch bekommen.“ Vor ihr stand der junge Dieb und grinste sie unverschämt an.

„Nein, du kriegst ihn immer noch nicht!“, schrie Cécile und griff danach, aber er war geschickt und schneller. Und er war deutlich größer und hielt den Beutel über seinen Kopf. Sie konnte sich recken, wie sie wollte, sie reichte nicht an den Beutel heran.

„Papa!“, rief sie. „Papa!“ Aber der konnte sie nicht hören über all die Köpfe der Menschen hinweg, bei dem anhaltenden Gemurmel und der Musik, die von der Bühne klang. Trotzdem schien er auf sie aufmerksam geworden zu sein und beobachtete seine Tochter und den unbekannten jungen Mann.

„Mein Vater ist Advokat“, erklärte Cécile nicht ohne Stolz. „Er wird dich sicher der Polizei übergeben.“ Sie hatte keine Angst hier zwischen all den Menschen. Ihr Vater würde sich das sicher sowieso nicht lange ansehen und herüber kommen. Auch dem Dieb war das bewusst. Außerdem ging ihm etwas durch den Kopf, das das kleine Mädchen vor ihm nicht einmal ahnen konnte. Ein Advokat also… Schnell lenkte er ein.

„In Ordnung, du bekommst den Beutel wieder. Aber du kommst mit mir. Ich zeige dir, wo ich lebe.“