Die Erben der Nacht - Pyras - Ulrike Schweikert - E-Book

Die Erben der Nacht - Pyras E-Book

Ulrike Schweikert

4,7
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Band 3 der grandiosen Vampir-Saga

Ende des 19. Jahrhunderts ist die Macht der letzten Vampir-Clans in Europa am Schwinden. Um das Überleben ihrer Gattung zu sichern, beschließen die Altehrwürdigen, ihre Nachkommen fortan gemeinsam zu unterrichten. Beim wilden Clan der Pyras geht die Ausbildung in ihr drittes Jahr. Doch im Labyrinth unter den Straßen von Paris lauert ein alter Feind – und er ist mächtiger denn je. Der Vampirjäger ist zurück, mit einer Waffe, die für die Geschöpfe der Nacht den Untergang bedeuten könnte.

"Die Erben der Nacht" ist schaurig-romantisches und zugleich actionreiches Drama um Intrigen, Liebe und Verrat voll wunderbar düsterer Schauplätze. Mireißender Schmökerstoff für alle Fans von Vampiren und dunkler Fantasy.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 822

Bewertungen
4,7 (26 Bewertungen)
19
7
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
PROLOG: DER MEISTER
 
ABSCHIED VON DER INSEL
DIE KAUFMANNSHÄUSER AM BINNENHAFEN
IM BANN DER GEZEITEN
DAS GÄNGEVIERTEL FÄLLT
DIE HAMBURGER FREIHAFEN-UND LAGERHAUS AG
DIE FRANZÖSISCHE FREGATTE
PARIS
DURCH DIE ABWASSERKANÄLE
NEUE SÄRGE
DIE KATAKOMBEN VON PARIS
RATTEN, RATTEN, RATTEN
EIN MONSTER HINTER GITTERN
SELTSAME LICHTER IN DER UNTERWELT
DAS PHANTOM DER OPER
IM JARDIN DES PLANTES
NOCH EINE VERFOLGUNGSJAGD
ORIENTIERUNGSÜBUNGEN
ERIKS VERBORGENES REICH
SPURENSUCHE IN DER MENAGERIE
DIE ROTE MASKE
ALTE LEGENDEN
DER ZAUBER DER MUSIK
GESCHICHTE EINES UNGARISCHEN VAMPIRFORSCHERS
VERBRANNTE SÄRGE
TEUFELSBESCHWÖRUNG
NUR EIN HAUCH VON SCHWÄCHE
HAUTE COUTURE
VERDI IN DER OPER
LOGE FÜNF
ASCHE ZU ASCHE, STAUB ZU STAUB
SEIGNEUR THIBAUT
ORPHEUS IN DER UNTERWELT
BÜCHER DER MEDIZIN
ENDLICH FREI!
UNSICHTBARE FEINDE
ALCHEMIE
FLUCHT
MALCOLM UND LATONA
 
EPILOG: DER SCHATTEN
ANHANG – Glossar
DICHTUNG UND WAHRHEIT:
GASTSTARS
Danksagung
Copyright
Für Susi, Achim, Ann-Kathrin, Sven und Merle Weibrecht, bei denen Chakira und ich uns jeden Tag so wohlfühlen dürfen. Und für meinen geliebten Mann Peter Speemann.
PROLOG: DER MEISTER
Die Vampirin näherte sich mit gesenkten Lidern, und doch war ihr, als könne sie jede Einzelheit seiner machtvollen Gestalt sehen. Ein Schauder rann durch ihren Leib, als sein Blick über sie strich. Nein, er strich nicht nur über sie hinweg, blieb nicht an Spitzen, Taft und Tüll hängen. Er drang tief in sie ein und hätte ihre Seele entblößt, wenn sie eine besessen hätte. Er las ihre Gedanken und glitt durch ihre rasch wechselnden Gefühle. Es war wunderbar und schrecklich zugleich, so nackt vor ihm zu stehen.
»Was hast du mir zu berichten?«, fragte er, obwohl er die Antwort längst in ihrem zitternden Gemüt gelesen haben musste.
Sie verbeugte sich noch einmal tief und wagte noch immer nicht, den Blick zu heben. »Meister«, sagte sie mit bebender Stimme, »der Stein ist vernichtet.«
»Vernichtet? Man kann den cloch adhair, das Herz Irlands, nicht zerstören!«
Es ärgerte sie, dass sie sich so ungeschickt ausdrückte und ihm dadurch Gelegenheit gab, sie zu korrigieren, statt sie mit Lob zu überschütten.
»Zerstören konnte ich ihn nicht«, gab die Vampirin missmutig zu, »aber das ist auch nicht wichtig. Entscheidend ist, dass er für die Lycana nicht mehr erreichbar ist. Ich habe dafür gesorgt, dass er nun für alle Zeiten auf dem Grund des Lough Corrib ruht und Eure Pläne nicht mehr durchkreuzen kann.«
Das Gefühl von Triumph flammte wieder so stark in ihr auf, dass sie die Lider hob und ihn ansah.
Ganz gleich wie oft sie ihm begegnete oder ihn in ihren Träumen sah, überraschte sie doch jedes Mal die Woge von Größe und Macht, die ihn umgab und die ihr nun entgegenbrandete, als wollte sie die Vampirin verschlingen. Sie musste all ihre Kraft aufbieten, um ihre Miene von kühlem Stolz zu wahren und nicht zurückzuweichen.
»Ivy ist Euer! Tut mit ihr, was Ihr wollt. Greift sie Euch, löscht sie aus, vernichtet sie. Nichts wird Euch daran hindern können. Der uralte Schutzbann ist gebrochen.«
Der Meister hatte gewonnen und nun war auch sie am Ziel ihrer Wünsche angelangt. Sie hatte ihm gut gedient. Die Belohnung war ihr sicher. Nun endlich würde er ihr die Hand reichen und sie mit sich nehmen. Sie würde die Fürstin an seiner Seite sein.
Der Meister stand noch immer reglos da. Nur seine Augenbrauen hoben sich kaum merklich ein Stück und dennoch durchfuhr es die Vampirin heiß und kalt.
»So? Bist du dir ganz sicher?«
Natürlich hatte er wieder in ihren Gedanken gelesen. Wie leichtsinnig, ihre Wünsche Gestalt annehmen zu lassen. Doch warum nicht? Durfte sie jetzt nicht ihren Träumen freien Lauf lassen? Sie hatte ein Recht darauf. Sie hatte gesiegt!
»So?«, sagte der Meister noch einmal, und es war, als klirrten Eissplitter zu Boden. »Dann ist es den Besitzern der Armreifen also nicht gelungen, den cloch adhair noch einmal zu berühren und die Kräfte aufzufrischen, ehe du den Stein im See versenkt hast?« Seine Stimme war schneidend. Die Vampirin starrte den Meister fassungslos an. Sie schluckte trocken. Ihr Hochgefühl fiel in sich zusammen und machte verzweifeltem Schrecken Platz.
»Sie haben den Stein berührt, doch nur ganz kurz«, versuchte sie, sich zu verteidigen. Nun hätte sie den Blick gerne wieder von seiner furchtbaren Miene gelöst, doch er hielt ihn fest. Marterte sie, dass sie sich in innerer Qual wand.
»Nur ganz kurz? Stell dich nicht dumm. Darauf kommt es nicht an. Ivy hat mit ihrem Armreif den Stein berührt und den Schutzbann erneuert. Sie ist für mich so unangreifbar wie zuvor.«
»Ja, aber das war das letzte Mal«, winselte die Vampirin, die unter seinem Blick auf die Knie sank. »Jeder Tag, der verstreicht, wird den Schutzbann weiter schwächen. Und wenn sie Irland erst einmal verlässt, dann geht es ganz schnell. Was bedeutet Euch Zeit? Ihr werdet sehen, in nur wenigen Monaten …« Sie konnte nicht weitersprechen. Sie fürchtete, sein Groll werde sie zu Boden drücken und zerquetschen.
»Ja, Monate, wenn nicht Jahre! Warten und warten. Ich bin des Wartens überdrüssig!«, schrie er. Doch so unvermittelt, wie sein Zorn aufgelodert war, erlosch er wieder. Ein grimmiges Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Ja, was bedeutet mir Zeit, wenn nur kein Hindernis mehr zwischen mir und der Erfüllung meines Ziels steht. Steh auf!«
Er krümmte seine langen, knochigen Finger, und die Vampirin erhob sich wie von unsichtbaren Fäden gezogen. Er ließ sich sogar dazu herab, ihren Einfall, den Stein im See zu versenken, gutzuheißen. Die Vampirin spürte, wie ihre Wangen glühten.
»Ich danke Euch, mein Meister. Wie lauten Eure Befehle? Soll ich ihr weiter folgen und sie im Auge behalten?«
»Was würde das bewirken?«, wehrte er ab. »Ich kann sie noch nicht erreichen, aber sie entgeht mir nicht.«
»Dann kann ich mit Euch kommen?«, rief sie hoffnungsvoll. Wieder dieses Zucken der Augenbrauen. »Weshalb? Ich habe im Moment keine Verwendung für dich.«
Sie fühlte sich vernichtet, durch eine Handvoll Worte. »Meister!«
Er ignorierte ihr Flehen. »Kehre zurück zu den Deinen. Du solltest das Misstrauen nicht unnötig schüren.«
»Ja, ich gehorche«, versicherte sie eifrig. »Ich sorge dafür, dass niemand Verdacht schöpft. Ich halte mich bereit. Ihr braucht mich nur zu rufen, wenn Ihr meiner Hilfe bedürft. Ich freue mich darauf, Euch wieder dienen zu dürfen, und stehe für jeden Auftrag zur Verfügung …« Sie brach ab und schwieg unter seinem vernichtenden Blick.
»Geh jetzt!«
»Meister?«
Er streckte die Hand aus. Die Echse auf seinem Ring schimmerte im trüben Licht der Sterne. Die Vampirin trat einen Schritt vor und ließ sich auf ein Knie sinken. Ehrfurchtsvoll küsste sie den Ring. Die Rubinaugen brannten auf ihrer Lippe. Dann konnte sie den Abschied nicht länger hinauszögern. Von der Last des Augenblicks niedergedrückt, erhob sie sich schwerfällig. Es gelang ihr, einen letzten Blick auf die machtvolle, dunkle Gestalt zu erhaschen, dann verschwand er. Nur ein Hauch von Nebel blieb zurück, den der Nachtwind verwehte. Die Vampirin stand alleine auf dem nächtlichen Feld, über dem sich der Schatten eines halb zerfallenen Turmes erhob.
ABSCHIED VON DER INSEL
Es ging auf Mitternacht zu. Der Mond hielt sich beharrlich hinter dichten Wolken versteckt. Nur ein paar vereinzelte Sterne sandten ihr Licht herab, wenn der stürmische Wind die Wolkendecke für einige Augenblicke zerriss. Dann umschmeichelte der Sternenglanz eine einsame Gestalt auf den schwarzen Klippen, die weit vorragten, um dann schroff in die schäumende Gischt abzubrechen. Es war die Gestalt eines jungen Mädchens, dessen Haar das silberne Licht widerspiegelte. Seit Stunden saß sie nun schon so da, den Blick auf das aufgewühlte Meer gerichtet. Sie schien so tief in Gedanken versunken, dass sie nichts um sich herum wahrnahm. Auch nicht den hellen Schatten, der sich auf vier Pfoten und im Wolfspelz über die Landzunge näherte. Zumindest regte sie sich nicht, als der Jäger neben sie trat. Er ließ sich auf den Hinterpfoten nieder. Das Mädchen schwieg noch immer.
»Gibt es Neuigkeiten?«, fragte sie endlich.
Es gibt immer Neuigkeiten, ertönte die Stimme des Wolfs in ihrem Bewusstsein. Die Zeit fließt und die Erde ist einem ständigen Wandel unterworfen. Schicksale und Ereignisse werfen ihre Schatten und geschehen.
Das Mädchen stieß einen ärgerlichen Laut aus. »Seymour, du weißt genau, was ich meine! Gibt es Neuigkeiten vom Festland? Von der Versammlung der Clans?«
Der Wolf schien sich an ihrer Ungeduld zu weiden. Er legte sich an ihre Seite und leckte sich ausgiebig die Vorderpfoten, ehe er erwähnte, dass ein Falke mit einer Botschaft eingetroffen sei.
»Was? Warum sagst du das nicht gleich?« Ivy sprang auf die Füße. »Weißt du, wie sie lautet?«
Gewiss.
»Ja, und? Willst du es mir nicht sagen?«
Der Wolf öffnete das Maul und ließ die Zunge heraushängen. Es sah aus, als würde er lachen. Ach, kleine Schwester, lass mich diesen Moment noch ein wenig auskosten. Untersteh dich, mir einen Tritt zu verpassen. Ich werde dich beißen!, drohte er.
Ivy seufzte und ließ sich wieder neben ihn auf einen schwarzen Steinbrocken sinken. »Du verstehst mich nicht mehr. Wir waren uns doch stets so nah. Was ist nur geschehen?«
An mir liegt es nicht! Ich habe mich nicht geändert. Du benimmst dich plötzlich wie ein liebeskrankes Jungmädchen.
»Ich bin ein junges Mädchen – wenn auch nicht liebeskrank.« Das Bild eines Vampirs mit dunklem Haar und edlen Gesichtszügen, so schön, dass sein Anblick wehtat, stieg in ihr auf. Franz Leopold de Dracas.
Nicht liebeskrank?, spottete Seymour bitter.
»Nein«, bestätigte Ivy ernst. »Nur eine vorübergehende Verwirrung der Gefühle. Er ist ein Freund, ein guter, sehr geschätzter Freund, der mir nahesteht und dem ich vertraue, so wie Alisa und Luciano auch. Und was das junge Mädchen betrifft. Ich bin ein junges Mädchen, das sich auf ein weiteres Jahr gemeinsamer Ausbildung mit den Erben der anderen Clans an unserer Akademie freut.«
Ein junges Mädchen?, wiederholte der Wolf. Auch wenn du noch immer so aussiehst, das ist lange vorbei. Das warst du einmal vor einhundert Jahren, als der Biss eines Vampirs dich gewandelt hat. Wen willst du täuschen? Dich selbst?
»Meine Freunde jedenfalls nicht länger«, erwiderte Ivy trotzig. »Sie wissen, dass ich früher einmal ein Mensch war, bis ich zum Vampir gemacht wurde – und du zu einem Werwolf.«
Ja, zu einer Servientin oder Unreinen, wie die Dracas in Wien sagen. Nicht wert, an der Akademie der Erben reinen Blutes zu studieren.
»Die Täuschung habe nicht ich beschlossen«, wehrte Ivy ab. »Das war die Entscheidung unseres Clanführers. Und solange ich der Akademie nicht offiziell verwiesen werde, nehme ich die Chance wahr, von den Fähigkeiten der anderen Clans zu lernen.«
Nun, dann hoffe, dass sich deine Freunde als vertrauenswürdig erweisen und dich keiner verrät. Dass er dabei an den Dracas dachte, konnte Ivy in seinen Gedanken lesen.
»Franz Leopold wird mich nicht verraten!«, rief sie leidenschaftlich aus.
Ich hoffe für dich, dass dein Urteilsvermögen so klar und scharf ist, wie es nach einhundert Jahren Erfahrung sein sollte. Und dass die anderen noch lange genug zu blind sind, um zu sehen, dass sich alle Erben weiterentwickeln, du dagegen immer dreizehn Jahre alt bleibst.
Ivy runzelte besorgt die Stirn. »Ja, das hoffe ich auch.«
Plötzlich erinnerte sie sich wieder daran, dass Seymour ihre erste Frage noch immer nicht beantwortet hatte. »Was für Nachrichten hat der Falke gebracht? Wohin werden wir fahren?«
Der Wolf ließ seine gelben Augen über sie wandern und forschte in ihren Gedanken und Gefühlen. Du freust dich wirklich sehr, die Heimat zu verlassen. Kein Schmerz des Abschieds, keine Trauer darüber, die Wiesen und Hügel, die Klippen und das Meer, die weiten Moore ein Jahr lang nicht zu sehen.
Ivy überlegte kurz, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, ich empfinde keinen Trennungsschmerz, denn was bekomme ich stattdessen alles zum Tausch? Und nun sag, wohin geht es?«
Ivy las die Antwort in seinen Gedanken und ein Lächeln ließ ihr Gesicht erstrahlen. »Wann werden wir reisen?«
Unser Schiff wird in See stechen, sobald heute Abend die Sonne untergegangen ist.
Alisa bog um die Ecke und blieb unvermittelt stehen. Die Galerie, die an dieser Stelle in einen Korridor überging, war zu beiden Seiten von Türen gesäumt, wobei die letzte aus zwei Flügeln bestand und mit kunstvollen Zierbeschlägen versehen war, um schon von Weitem kundzutun, dass hinter ihr das Oberhaupt des Clans der Hamburger Vamalia zu finden war: Dame Elina. Vor der geschlossenen Tür stand Alisas jüngerer Bruder Tammo, das Ohr gegen das Holz gepresst.
Alisa blieb stehen. Wen belauschte er hier bloß? Dame Elina war mit zwei der Altehrwürdigen zum Treffen der Clans gereist. Das Zimmer war leer – oder etwa nicht? Alisa hatte die vergangenen drei Stunden damit zugebracht, durch die nächtliche Innenstadt Hamburgs zu streichen und nach weggeworfenen Zeitungen Ausschau zu halten. Ihre reichhaltige Beute trug sie zusammengerollt unter dem Arm.
Tammo gab seinen Lauschposten auf und huschte zu seiner Schwester, schwieg jedoch, bis sie die Galerie verlassen hatten, die sich um das großzügige Treppenhaus des herrschaftlichen Hauses zog, das einst einer reichen Hamburger Kaufmannsfamilie gehört hatte und nun zusammen mit einem weiteren Gebäude am alten Binnenhafen von den Vamalia bewohnt wurde. In diesem Haus, das größer und prächtiger als das andere war, hatten die Vamalia reinen Blutes und die Altehrwürdigen ihre Gemächer, im Nebenhaus wohnten die Servienten, jene Clanmitglieder, die einst Menschen gewesen und erst durch einen Biss zum Vampir geworden waren. Im Gegensatz zu den Reinen, die wie Tammo, Alisa und ihr Vetter Sören vom Kleinkind zum Erwachsenen heranwuchsen und sich veränderten, blieb das Äußere der Unreinen stets wie am Tag ihrer Wandlung. Egal was sie über Nacht taten, ob sie sich die Haare schnitten oder sich gar verwundeten, über Tag kehrte ihr Körper stets zu seinem ursprünglichen Zustand zurück. Das war zuweilen lästig, meist aber von Vorteil. Gerade wenn es um Verletzungen ging. Zwar schlossen sich Wunden bei reinen Vampiren auch viel schneller als bei M enschen, doch es dauerte einige Tage und Nächte, bis sie sich von einem starken Blutverlust erholt hatten oder ein Knochenbruch geheilt war.
Tammo ließ sich auf die oberste Stufe sinken und legte den Kopf in beide Hände.
»Was ist los?«, drängte seine Schwester. »Ist Dame Elina zurück?«
Tammo nickte stumm mit tragischer Miene.
»Was hast du gehört? Ist etwas passiert? Warum ist sie so früh zurückgekehrt? Nun sag schon!«
»Wir werden hierbleiben müssen«, stieß ihr Bruder hervor. »Das ganze, lange Jahr über.«
»Was? Sie schließen die Akademie? Wir werden keinen Unterricht mehr bekommen?« Alisa stöhnte und rang die Hände. »Das ist ja entsetzlich!«
Tammo schüttelte fassungslos den Kopf. »Das ist wieder einmal typisch für dich. Ist das das Einzige, was dir dazu einfällt?«
Alisa riss die Augen auf. »Wir werden die anderen nicht wiedersehen!« Ein kalter Schmerz durchfuhr sie. »Ivy und Seymour, Malcolm und Luciano – ja selbst Franz Leopold werde ich vermutlich vermissen. Nein, wie furchtbar!« Sie sank neben Tammo auf die Treppenstufe.
»Furchtbar, wenn es denn wahr wäre«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Alisa und Tammo fuhren herum. Es war der Servient Hindrik, dem es wie immer gelungen war, sich unbemerkt zu nähern. Es tröstete Alisa nur wenig, dass er zweihundert Jahre Erfahrung für sich verbuchen konnte. Dennoch sah er aus wie am ersten Tag nach seiner Wandlung: ein junger Mann mit schulterlangem blonden Haar und Dreitagebart.
»Wenn du schon lauschst, dann solltest du wenigstens richtig hinhören«, fuhr er, zu Tammo gewandt, fort.
»Wieso? Ich habe nur gesagt, dass wir hierbleiben müssen, nicht mehr. Und das ist ja wohl die Wahrheit. Ist nicht meine Schuld, wenn Alisa das falsch versteht.« Er konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Alisa sah von ihrem Bruder zu Hindrik, dann verstand sie.
»Das Los ist auf die Vamalia gefallen? Sie kommen alle hierher nach Hamburg?« Sie stieß einen Freudenschrei aus, als Hindrik nickte. Dann allerdings verblasste ihre Begeisterung. »Ich bin erleichtert, dass wir die anderen wiedersehen und die Akademie fortbesteht, dennoch wäre es mir lieber, die Wahl wäre auf einen anderen Clan gefallen.«
»Auf die Vyrad in London zum Beispiel«, warf Tammo mit betont unschuldigem Blick ein.
»Ja, oder auch auf die Pyras – ja selbst eine Reise nach Wien zu den Dracas scheint mir erstrebenswerter. Die Familie ist zwar unerträglich arrogant, ihre geistigen Kräfte jedoch sind beeindruckend, und ich kann es kaum erwarten, bis ich es Franz Leopold und seiner Bande mit ihren eigenen Mitteln heimzahlen kann! Hier in Hamburg werden wir auf wenig neue Herausforderungen treffen. Das kennen wir ja schon alles«, fügte sie enttäuscht hinzu. Die Miene ihres Bruders hellte sich dagegen auf.
»Ha, dann haben wir dieses Jahr endlich alle Vorteile auf unserer Seite und können die Sache ein wenig entspannter angehen.«
Alisa warf ihm einen strafenden Blick zu. »Als ob es darum ginge, seine Faulheit zu pflegen.« Sie sah Tammo verächtlich an, der nachdenklich den Kopf wiegte.
»Es ist nicht das Schlechteste, hier in Hamburg zu bleiben. Ich weiß einige interessante Ecken, die ich Jeanne und Fernand zeigen möchte, aber du hast schon recht, noch lieber würde ich das Labyrinth der Pyras unter Paris erkunden. Das klingt aufregend.« Resignierend hob Tammo die Schultern. »Nun gut, dann eben ein anderes Mal.«
Alisa sah, wie Hindrik abfällig das Gesicht verzog. »Zu den Pyras!«, sagte er und schnaubte. »Es hätte nicht viel gefehlt und es wäre so weit gekommen. Was solltet ihr von diesem Franzosenpack lernen, das in seinen unterirdischen Schmutzlöchern herumkriecht? Nein, ich bin froh, dass Dame Elina so geistesgegenwärtig war. Und so geschickt, dass es die anderen nicht bemerkt haben.«
Alisa betrachtete Hindrik nachdenklich. Seine ersten Worte beschäftigten sie so sehr, dass sie auf den Rest gar nicht achtete. Das war nicht seine Art. Er, der immer so besonnen und tolerant reagierte. Warum hegte er eine solche Abneigung gegen die Franzosen?
»Sprich nicht über Dinge, von denen du nichts verstehst!«, entgegnete er ungewohnt harsch, als Alisa ihn in einem vorwurfsvollen Ton danach fragte. »Dabei hätte ich gedacht, gerade du müsstest trotz deiner fünfzehn Jahre begriffen haben, dass der Franzose eine Bestie ist, stets bereit, alles an sich zu raffen, was er mit seinen Klauen erreichen kann. Du liest doch jede Nacht die Zeitungen!« Sichtlich erregt ging er davon.
Tammo hob die Schultern. »Die Streitereien der Menschen – was gehen die uns an?«
Alisa überlegte. »Meinst du, es ist Napoleon, den er noch immer nicht verwunden hat? Auch in den Zeitungen und auf den Straßen wird noch über ihn und die Zeit der Besatzung gesprochen, obwohl das bereits siebzig Jahre her ist. Für Menschen eine verdammt lange Zeit!«
Ihr Bruder zuckte wieder mit den Achseln. »Ist mir egal. Viel interessanter scheint mir, dass wir dieses Jahr fast in Paris gelandet wären, wenn Dame Elina es nicht zu verhindern gewusst hätte. Meinst du, sie hat bei der Auslosung ein wenig nachgeholfen?«
Alisa war schockiert. »Dame Elina doch nicht!«
Die drei Vamalia mussten noch bis zur nächsten Nacht warten, bis Dame Elina sie zu sich rief und ihnen offiziell verkündete, was sie bereits erfahren hatten: Die Akademie für die Erben aller Clans würde in diesem Jahr in Hamburg abgehalten werden. Weder Tammo noch Sören schenkten der Führerin der Vamalia große Aufmerksamkeit, und auch Alisas Gedanken schweiften ab, während Dame Elina ausgiebig von der großen Verantwortung und den Aufgaben eines Gastgebers sprach. Anneke und Hindrik standen mit unbeweglichen Mienen an ihrer Seite. Tammo dagegen gähnte unverhohlen. Alisa versuchte wenigstens, den Anschein von Interesse zu wahren, während ihre Gedanken durch Europa zu ihren Freunden eilten, die sie schon bald begrüßen durfte.
Plötzlich hielt Dame Elina inne. Ihr Blick wanderte zur Tür. Die Augen verengten sich. Nun nahm auch Alisa den eiligen Schritt auf dem Gang draußen wahr, ehe hart an die Tür geklopft wurde. Die Vamalia klang wenig erfreut, als sie den Störenfried hereinrief. Es war Reint, ein Vampir reinen Blutes und Vetter von Dame Elina, den diese sehr schätzte. Nun aber war ihre Stirn umwölkt.
»Du wünschst?«, fragte sie knapp.
»Entschuldige, dass ich störe, aber ich denke, das solltest du dir sofort ansehen!« Er reichte ihr ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Es lag ein solches Drängen in seiner Stimme, dass selbst Tammo aufhorchte und den Hals reckte. Dame Elina strich das Blatt glatt und starrte dann mit wachsendem Erstaunen darauf. Alisa rückte unauffällig ein Stück näher, konnte jedoch nicht ein Wort erkennen.
»Reint, wo hast du das her?«
»Ich traf den Herrn vor der Börse und folgte ihm zur Alster, wo ich beschloss, eine kleine Mahlzeit zu mir zu nehmen. Das hier flatterte aus seiner Brusttasche, als ich ihn auf einer Bank absetzte. Ich weiß nicht, was mich trieb, einen Blick auf das Papier zu werfen. Dieser genügte allerdings, um mir seine Brisanz klarzumachen.«
Worum ging es hier? Alisa stellte sich auf die Zehenspitzen, doch alles, was sie damit erreichte, war, Dame Elina auf ihre Anwesenheit aufmerksam zu machen.
»Alisa, Sören, Tammo, ihr könnt gehen. Wir sprechen später weiter.«
Dass das ein Befehl und nicht als höflicher Vorschlag gemeint war, den sie ablehnen konnten, war ihnen klar. Missmutig tappten die drei auf den Gang hinaus. Tammo schloss die Tür mit einem Knall und blieb dann, statt zum Treppenhaus weiterzugehen, bewegungslos stehen. Sie mussten sich nur durch einen kurzen Blick verständigen. Dann pressten sie die Ohren gegen das Holz. Mit angehaltenem Atem lauschten sie.
»Weißt du, wer der Mann war?«, fragte Hindrik gerade.
»Einer der Bänker von Warburg, würde ich sagen. Und so wie er gekleidet war, und nach dem Umfang seiner Brieftasche zu schließen, keiner von den kleinen Schalterangestellten.«
»Ich glaube nicht, dass das uns betrifft«, erklang nun Annekes Stimme, eine Cousine zweiten Grades von Dame Elina. »Wenn er vom Wandrahm spricht, meint er sicher nur die Gängeviertel an den Fleeten.«
»Vielleicht«, brummte Hindrik.
»Und wer ist dieser Franz Andreas Meyer, der dort unterschrieben hat?«, erklang Dame Elinas Stimme. Schweigen.
»Ich werde es herausfinden«, sagte Hindrik bestimmt und war so schnell an der Tür, dass die drei Lauscher keine Zeit mehr fanden, sich zurückzuziehen. Während es Alisa und Sören gerade noch schafften, einen Schritt zurückzuspringen, bekam Tammo die Türklinke so hart ins Gesicht, dass er zu Boden fiel.
»Ach, ihr seid noch da?«, heuchelte Hindrik Überraschung und sah mitleidslos auf Tammo hinab, der sich sein Auge hielt, das bereits zuzuschwellen begann.
»Ja, wir sind noch da. Denn es geht etwas vor sich, das auch uns betrifft!«, rief ihm Alisa erbost nach. Doch Hindrik antwortete nicht, sondern lief die Treppe hinunter und verschwand.
Alisa wartete die ganze Nacht auf seine Rückkehr und lungerte auf der Straße vor dem barocken Kaufmannshaus herum, doch er ließ sich nicht blicken, und schließlich musste sie dem Ruf der Servientin folgen, die sie zu ihrem Sarg führte und den Deckel über ihr schloss. Missmutig grübelte Alisa vor sich hin, was das alles bedeuten mochte, bis mit dem Sonnenaufgang die Todesstarre von ihr Besitz ergriff.
Am späten Morgen trafen sich in einem nach dem großen Brand errichteten Geschäftshaus der Innenstadt einige Männer. Nach und nach führte der Portier sie durch das repräsentative Treppenhaus in den ersten Stock und meldete Name, Firma und Position des Neuankömmlings den bereits Anwesenden. Da waren ein Direktor vom Bankhaus Godeffroy, drei Senatoren der Stadt, einige leitende Angestellte der Norddeutschen Bank und Kaufmänner in Vertretung der neu gegründeten Finanzdeputation. Namen wie: Siegmund Hinrichsen, Direktor Rauers und Freiherr Albertus von Ohlendorf rief der alte Portier in die Runde, verbeugte sich tief und nahm Mantel, Stock und Handschuhe entgegen. Endlich ergriff ein Mann das Wort, der die vierzig kaum überschritten haben mochte. Im Gegensatz zu den meisten anderen im Raum bewegte er sich mit jugendlichem Elan.
»Wollen wir anfangen, meine Herren«, rief er, trat an den großen Tisch in der Mitte und rollte schwungvoll einen Plan auf. Mit weit ausholender Geste deutete er auf die Zeichnung, die weitgehend von seiner Hand stammte, und der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Hier ist sie: Ihre Vision, die Hamburg in eine neue Zeit führen wird. Treten Sie näher, damit ich Ihnen die Einzelheiten erläutern kann.«
»Hat Herr Tietgens vom Bankhaus Warburg sein Kommen nicht auch zugesagt?«, wagte Direktor Rauers zu unterbrechen.
Der Oberingenieur der Baudeputation wurde ein wenig rot. »Äh, ja, einer seiner Dienstboten war in aller Frühe schon bei mir und hat seinen Herrn entschuldigt. Er ist – äh – indisponiert.«
»Ein Schutzmann hat ihn im Morgengrauen auf einer Parkbank an der Alster aufgegriffen«, raunte Siegmund Hinrichsen dem Freiherrn neben sich zu. »Das Hemd zerrissen und beschmutzt.«
»Ein Überfall?«, erkundigte sich von Ohlendorf.
»Anscheinend nicht. Seine Brieftasche hatte er noch bei sich, doch er litt an einer seltsamen Schwäche und Verwirrung, die er sich und auch dem Schutzmann nicht recht erklären konnte.«
»Sein Weg hat ihn am Abend zuvor nicht zufällig zu den einschlägigen Häusern am Spielbudenplatz geführt?«, vermutete der Freiherr, und die beiden Herren tauschten vielsagende Blicke, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Oberingenieur und seinem Plan zuwandten, der sich vorteilhaft auf die Bankkonten der Anwesenden und das Gesicht Hamburgs auswirken sollte.
»Was sind das für Linien?«, fragte Karl Georg Münchmeyer, Gründer des Handels- und Privatbankhauses Münchmeyer & Co, der mit seinem Sohn Alwin gekommen war. Kurzsichtig beugte er sich über die Pläne. »Ist das Blaue Wasser?«
Einige der Herren warfen sich belustigte Blicke zu. Jemand ließ ein unterdrücktes Kichern hören.
Der Oberingenieur war für einige Augenblicke aus dem Konzept gebracht, dann wiederholte er seine letzten Sätze und fuhr zur Verdeutlichung mit dem Zeigefinger an einer roten Umrisslinie entlang. Plötzlich hielt er inne und begann, den Plan wieder zusammenzurollen.
»Ah, jetzt gibt es ein frisches Bier«, sagte jemand in der hinteren Reihe, doch Franz Andreas Meyer ignorierte den Einwurf.
»Meine Herren, machen wir einen kleinen Ausflug und sehen wir uns den Schauplatz des Geschehens an. Ich werde Ihnen die Pläne vor Ort erläutern.«
Der Vorschlag fand allgemeine Zustimmung. Mäntel, Hüte und Stöcke wurden gebracht und Droschken bestellt. Kurz darauf rollten die Herren aus der Innenstadt heraus und über die Brücke zum Wandrahm hinüber.
Die Bewohner des Gängeviertels staunten nicht schlecht über den Besuch von so vornehm gekleideten Herren. So etwas bekamen die Menschen, die hier zusammengedrängt in den kleinen dunklen Buden lebten, nicht häufig zu sehen. Die in Lumpen gehüllten Kinder rotteten sich in Gruppen zusammen und folgten den Männern in respektvollem Abstand. Sie rissen Augen und Münder auf und spitzten die Ohren, doch sie verstanden nichts von dem, was der Mann mit der großen Papierrolle sagte. Die Herren gingen durch die engen Gassen, betraten die schmutzigen Hinterhöfe und legten die Köpfe in den Nacken, um den Blick zu dem winzigen blauen Rechteck hinaufwandern zu lassen, was alles war, was die Bewohner dieses Viertels jemals vom Himmel zu sehen bekamen.
Dann verschwanden die Männer wieder, überquerten das Fleet bei St. Annen und machten sich auf den Weg zum Kehrwieder auf.
DIE KAUFMANNSHÄUSER AM BINNENHAFEN
»Sie kommen! Heute Nacht!«
Tammo barg den Kopf in den Händen. »Schwesterherz, du gehst mir auf die Nerven. Wenn du das noch einmal sagst, muss ich ernsthafte Maßnahmen gegen dich ergreifen.«
»Was für Maßnahmen denn? Sollte ich jetzt etwa Angst vor dir haben, Kleiner? Sie kommen! Heute Nacht!«, rief Alisa überschwänglich und rannte die Treppe hinunter. Unten stieß sie mit Hindrik zusammen, der mit Mantel und Hut ungewöhnlich feierlich wirkte.
»Fährst du zum Bahnhof? Darf ich mitkommen?«
»Nur wenn du dir einen Umhang holst.«
Wie ein Wirbelwind war sie davon und schon wieder zurück, ehe Hindrik, Marieke und Reint die Kutschen bestiegen. Zu ihrer Überraschung waren auch Tammo und Sören zur Stelle, um die Erben der anderen Clans abzuholen.
Der Kutscher schwang die Peitsche und die Pferde zogen an. Das Klappern der Hufe hallte von den Häuserwänden wider. Die Räder rollten über die Brücke, querten die Wandrahminsel und eine weitere Brücke. Dann fuhren sie am Dovenfleet entlang und folgten schließlich der Wallstraße, wo einst Befestigungsmauern Hamburg umschlossen hatten, bis sie den Bahnhof erreichten. Zuerst kam der Nachtzug aus Paris. Marieke und Reint begrüßten die beiden Pyras höflich. Doch Hindriks Worte klangen zu steif, um für freundlich gehalten werden zu können, was die Vampire aus Paris jedoch nicht zu stören schien. Sie winkten Alisa und Sören zu und klopften Tammo auf den Rücken. Jeanne grinste, dass man ihre Zahnlücke sehen konnte, und Fernand ließ es großzügig zu, dass sich Tammo seine Ratte auf die Schulter setzte. Aufgeregt tauschten sie sich über die Ereignisse des Sommers aus, während sie auf den Zug warteten, der die Nosferas aus Rom bringen sollte. Hindrik sorgte derweil dafür, dass die Särge der beiden Pyras auf einen Wagen verladen wurden. Endlich stieg eine Dampfwolke im Südwesten auf, dann war ein Pfeifen zu hören. Mit Zischen und Getöse fuhr der Zug in den Bahnhof ein. Türen wurden aufgestoßen, Reisende von ihren Angehörigen begrüßt, Gepäckträger luden Koffer, Taschen und Hutschachteln auf ihre Karren, Kavaliere boten müden Damen den Arm. Erst als sich der Bahnsteig vollständig von Menschen geleert hatte, wurde eine Tür am hinteren Gepäckwagen aufgeschoben, und ein rundes Gesicht erschien, mit kurzem schwarzen Haar, das an die Stacheln eines Igels erinnerte. Ein Lächeln erhellte die weichen Züge, als Alisa mit gerafftem Rock den Bahnsteig entlanggelaufen kam.
»Luciano! Endlich kommt ihr. Ich habe so auf euch gewartet.« Sie umarmte ihn stürmisch. Luciano grinste verlegen und befreite sich aus ihren gerüschten Ärmeln.
»Haben wir Verspätung? Das wusste ich gar nicht.«
»Aber ja. Einen ganzen Sommer lang«, sagte Alisa mit einem Lächeln.
Hinter dem Nosferas tauchten nun seine Cousine Chiara und sein Vetter Maurizio mit seinem Kater auf, der genauso dick war wie sein Herr. Auch Chiara hatte über den Sommer noch ein wenig zugelegt und strahlte über ihr rundes Gesicht. Trotz ihrer Körperfülle sah sie wieder einmal hinreißend aus. Sören starrte auf ihren üppigen Busen, den das eng geschnürte Mieder mehr enthüllte als verdeckte. Alisa begrüßte die beiden fröhlich. Als Letztes stiegen ihre Schatten aus: Leonarda, die Chiara diente und für immer im Körper einer mageren Dreizehnjährigen gefangen war, und Pietro, Maurizios Schatten. Den dritten Servienten kannte Alisa nicht. Er stellte sich stumm hinter Luciano und rief ihr Francescos Vernichtung schmerzlich ins Gedächtnis. Wie hatte es nur geschehen können, dass er bei dem Kampf um das Kloster von einer silbernen Kugel getroffen worden war? Direkt ins Herz. Es hatte keine Rettung für ihn gegeben. Sein Geist war verweht, der Körper zu Staub zerfallen.
»Ist das dein neuer Schatten?«, fragte Alisa ein wenig scheu. »Willst du ihn uns nicht vorstellen?«
Luciano hob die Schultern. »Ich habe keinen Schatten mehr. Das ist Dario. Der Conte hat gesagt, er soll uns begleiten. Zuletzt hat er dem altehrwürdigen Giuseppe gedient.«
Noch ein Nosferas, den es nicht mehr gab: Conte Claudios Großvater, der ehemalige Clanführer der Römer, den das Schwert eines Vampirjägers niedergestreckt hatte. Alisa wechselte schnell das Thema.
»Jedenfalls bin ich froh, dass ihr nun da seid. Der Sommer war schrecklich langweilig.«
»Ach, haben dir die neusten Errungenschaften der Menschheit nicht genügt?«, neckte Luciano. Alisa schüttelte den Kopf.
»Nein, es ist nichts passiert, das der Rede wert wäre.«
»Was? Hamburg hat nichts Aufregendes zu bieten? Ich bin entsetzt! Nach unseren Verfolgungsjagden in Rom und den Kämpfen in Irland müsst ihr euch anstrengen, uns etwas Spannendes vorzusetzen!«
»Das fürchte ich auch«, sagte sie in kläglichem Ton, und beide mussten lachen.
»Nun, vielleicht ist ein ruhiges Jahr an der Akademie, in dem wir uns auf das konzentrieren, wozu wir eigentlich zusammenkommen, gar nicht schlecht«, sagte Luciano und erntete von Tammo einen Blick des Abscheus.
Alisa wollte etwas dazu sagen, doch ein Kribbeln in ihrem Nacken ließ sie herumfahren. Sie öffnete und schloss tonlos den Mund, als ihr Blick dem des wunderschönen, jungen Vampirs begegnete, der sie mit gleichgültiger Miene musterte. Wie machte er das nur? Er war noch schöner geworden, als sie ihn in Erinnerung hatte. Ein Strahlen ging von seinem anmutigen Körper und dem ebenmäßigen Antlitz aus. Nur der jetzt spöttisch gekräuselte Mund trübte das Bild ein wenig.
Alisa holte zweimal Luft, dann sagte sie kühl und mit leicht erhobenen Augenbrauen, ganz im Stil von Dame Elina: »Ach, die Dracas sind auch angekommen.«
Ein Lächeln teilte seine Lippen und ließ ihn noch schöner erscheinen, wenn das überhaupt möglich war. »Du hast viel von mir gelernt, Alisa de Vamalia.«
»Hatte ich das nötig, Franz Leopold de Dracas?«, gab sie zurück. »Aber sicher doch!«
Die keifende Stimme seiner Cousine unterbrach das Geplänkel. »Wo ist der Gepäckträger? Ich verlange, dass meine Kisten ausgeladen werden. Aber vorsichtig, wenn ich bitten darf! Und dass mir keiner meine Hutschachteln beschädigt.«
Das Lächeln auf den Gesichtern von Alisa und Franz Leopold erlosch.
»Was will denn die hier?«, sagte Luciano missmutig. »Ich denke, Anna Christina ist jetzt achtzehn und hat das Ritual hinter sich? Was will sie dann noch in der Akademie?«
»Halte den Mund, Dicker, und geh mir aus dem Weg«, herrschte die schöne Vampirin den Nosferas an und rauschte an ihm vorbei, ihre Cousine Marie Luise wie gewöhnlich in ihrem Schlepptau. Luciano sah ihr nach.
»Puh, die ist ja noch zickiger geworden, wenn das überhaupt möglich ist.«
Franz Leopold wiegte den Kopf hin und her. »Möglicherweise liegt es daran, dass du – wie wir es nicht anders von dir kennen – direkt den wunden Punkt getroffen hast. Der Baron hat ihr das Ritual verweigert, solange die Baronesse auf Reisen weilte, und die kam erst so kurz vor unserer Abreise zurück, dass es ihr zu viel erschien, sogleich ein Ritual zu feiern. Sie beschlossen also, dass es Anna Christina nicht schaden würde, uns noch ein weiteres Jahr auf die Akademie zu begleiten.« Er konnte seine Schadenfreude nur ungenügend unterdrücken.
»Das heißt, sie darf noch immer kein Menschenblut trinken wie wir anderen auch?«, wollte Tammo mit einem breiten Grinsen wissen. Franz Leopold nickte.
»Und wir haben sie ein weiteres Jahr am Hals«, murrte Luciano. »Ich hatte gehofft, ihr Gekeife ein für alle Mal los zu sein.«
»Mach dir nichts draus«, riet Franz Leopold. »Marie Luise übt schon kräftig, sie voll und ganz zu ersetzen, wenn sie nicht mehr ist. Und sie ist gerade erst vierzehn geworden!«
Die jungen Vampire schlenderten den Bahnsteig entlang und stiegen in die wartenden Kutschen. Inzwischen waren auch die Särge und das Gepäck der Neuankömmlinge verstaut und so gab Hindrik das Zeichen zur Abfahrt. Gemächlich fuhren sie zum Hafen zurück.
Am Morgen legte eine englische Bark am Kai längs des Kaiserspeichers an. Kräne schwenkten über die Ladeluken, griffen in die Maschen der Netze, die Säcke und Kisten mit Waren zusammenhielten, und hievten sie an Land oder ließen sie in die längsseits festgemachten Schuten hinab, die sich sogleich auf den Weg machten, die Waren zu ihrem Bestimmungsort zu bringen: die Speicher im Dachgeschoss der Kaufmannshäuser längs der Fleete. Nur einer der Laderäume wurde – nach Weisung des Kapitäns – nicht gelöscht. Längliche Kisten reihten sich im Dunkeln des kleinen Raumes und warteten auf den Abend. Dann würde der Empfänger persönlich dafür sorgen, dass sie von Bord gebracht wurden, spät am Abend, wenn die Heuer ausgezahlt worden war und die Matrosen sich bereits im Vergnügungsviertel am Hamburger Berg den Freuden des Nachtlebens hingaben und nur noch die beiden Bordwachen zurückblieben. Dem Kapitän war der Grund für diesen ungewöhnlichen Wunsch egal, solange es sich für ihn lohnte. Er warf noch einen Blick in die Kammer mit den seltsamen Kisten, die wie Särge anmuteten und über denen der leicht süßliche Gestank von Verwesung, aber auch ein Hauch von Raubtiergeruch hing. Einige der Kisten stammten aus London, die anderen waren von einer Brigg umgeladen worden, die zuletzt in Dublin vor Anker gelegen hatte. Eine Ratte lugte zwischen den Kisten hervor und zog sich rasch zurück, als der Lichtschein der Lampe sie erfasste. Der Kapitän stieß mit dem Fuß in ihre Richtung, ohne sie zu treffen. »Widerliche Viecher«, murmelte er. Noch einen Augenblick betrachtete er die seltsame Fracht, dann schloss er mit einem Schulterzucken die Tür. Er wollte gar nicht so genau wissen, was er für seine Kunden transportierte. Seine Aufgabe war es nur, die Fracht von einem Hafen zum anderen zu geleiten und sie unversehrt in die Hände ihres Eigentümers zu übergeben.
Unversehrt? Der Kapitän hätte sich gewundert, wäre er noch einmal umgekehrt, denn kaum berührte die Sonne den Horizont, als Nägel aus ihren Löchern gedrückt wurden und mit leisem Klappern zu Boden fielen. Dann klappte ein hölzerner Deckel auf und eine Gestalt erhob sich aus der Kiste. Ein Knurren erklang.
»Ja Seymour, ich weiß, dass du es hasst, in einer Kiste eingesperrt zu sein. Wäre dir der Gitterkäfig eines wilden Tieres lieber? Du glaubst doch nicht etwa, der Kapitän hätte dich als neuen Schoßhund mit auf die Brücke genommen?«
Wieder knurrte der weiße Wolf. Mit einem riesigen Satz sprang er über die Bretterwand zu Boden, schüttelte und streckte sich. Ivy legte ihm die Hand auf den Nacken. »Jetzt haben wir es geschafft.«
Sie trat an die Tür des Frachtraumes, während sich hinter ihr noch mehr Kisten öffneten. Aus der ersten stieg ihr Vetter Mervyn, der ebenfalls zum irischen Clan der Lycana gehörte. Neben ihm kletterten ein Mann und eine Frau aus ihren Särgen. Die Geschwister Niall und Bridget waren beide klein und von kräftigem Körperbau, hatten rötliches, lockiges Haar, einen Hauch von Sommersprossen auf ihrer bleichen Haut und dunkle Augen. Sie gehörten zu den unreinen Clanmitgliedern der Lycana. Obwohl sie sich still im Hintergrund hielten, warf Ivy ihnen einen missmutigen Blick zu. Niemand hatte etwas dagegen einzuwenden gehabt, als sie nur mit Mervyn und natürlich Seymour nach Rom gereist war, um das erste Jahr auf der Akademie zu absolvieren. Doch diesmal hatten Donnchadh und Catriona und selbst ihre Mutter, die Druidin Tara, darauf bestanden, dass sie zwei Servienten zum Schutz nach Hamburg mitnahmen. Auch Seymour war davon nicht begeistert.
Ich kann sehr wohl auf dich achtgeben, kleine Schwester, brummte er. Ivy hob die Schultern. »Nach dem, was das Jahr über alles auf der Insel geschehen ist, meinen sie wohl nicht zu Unrecht, wir könnten in Gefahr sein.«
Du könntest in Gefahr sein, berichtigte er, doch Ivy ging nicht darauf ein. Sie wandte sich den anderen Kisten zu, die ein Schild vom Londoner Hafen trugen und aus denen nun die Erben der Vyrad stiegen: die fünfzehnjährige Rowena, ihr siebzehnjähriger Vetter Raymond und Malcolm, der Älteste, der in diesem Sommer bereits achtzehn geworden war. Schloss er sich freiwillig ein weiteres Jahr der Akademie an, um nach den Nosferas und den Lycana auch von den Vamalia zu lernen? Oder hatte Lord Milton ihn zum Schutz der jüngeren Erben mitgeschickt, nachdem die Vyrad in Irland auf so tragische Weise eines ihrer Kinder für immer verloren hatten? Ireen war vernichtet und nur noch die Erinnerung an die junge Vampirin lebte weiter.
Ivy sah zu Malcolm hinüber. Seltsam. Wenn sie sich nicht täuschte, dann hatte er das Ritual noch nicht vollzogen und ernährte sich noch immer von Tierblut wie die anderen jungen Erben, für die es noch zu gefährlich war, sich an einem Menschen zu laben. Junge Vampire mussten erst eine gewisse Reife und mentale Stärke entwickeln, um sich gegen den Sog zur Wehr setzen zu können, den der Rausch des Blutes entfachte. Wie leicht konnte man sich in der Ekstase verlieren und den Moment verpassen, ehe der letzte Herzschlag des Opfers verklang, und mit in die Finsternis gerissen werden. Ein Vampir, der von totem Blut trank, wurde zwar nicht vernichtet, wie etwa von den Strahlen der Sonne, aber er konnte seinen Geist verlieren und zu einem stumpfsinnigen Untoten ohne eigenen Willen werden.
Hatte Malcolm diese Entscheidung freiwillig getroffen?
Hinter den Erben aus England erhoben sich ihre Begleiter: die beiden Servientinnen Tamaris und Abigail und der kindliche Vincent, der wieder einmal mit schwerem Gepäck unterwegs war. Ohne seine Sammlung düsterer Literatur ging er nicht auf Reisen!
Die Vampire begrüßten sich höflich, doch ohne Überschwang. Das Jahr in Irland hatte nicht gerade dazu beigetragen, die Ressentiments zwischen den irischen und englischen Vampiren aus dem Weg zu räumen. Nur Malcolm schenkte Ivy ein Lächeln. Sie erwiderte es, obwohl Seymour an ihrer Seite missmutig mit dem Schwanz schlug.
»Wie geht es jetzt weiter?«, wollte Malcolm wissen, der neben Ivy an die Tür trat. »Werden wir abgeholt?«
»Ich nehme es an – nein, ich bin mir sicher!«
Nun vernahmen auch die anderen die leichten Schritte auf dem Gang draußen, die nicht von Menschen stammen konnten. Und schon wurde die Tür aufgerissen. Ein strahlendes Gesicht leuchtete ihnen entgegen. Die Vampirin hatte eine offene, freundliche Ausstrahlung, war groß und schlank, die Figur allerdings eher burschikos als weiblich zu nennen. Das lange blonde Haar mit dem Kupferschimmer hatte sie nachlässig zu einem Zopf geflochten. So wie Ivy sie in ihrer Erinnerung stets gesehen hatte, stand Alisa nun vor ihr. Ihr Blick huschte zu Malcolm, verharrte dort einen Augenblick, kehrte dann jedoch zu der irischen Freundin zurück.
»Ivy, wie schön. Ich habe dich vermisst.« Sie umarmte die Lycana stürmisch, der in diesem Moment wieder einmal bewusst wurde, dass sie nun einen ganzen Kopf kleiner als Alisa war und mit ihrer zierlichen Figur fast zerbrechlich und jünger als die anderen wirken musste. Ivy erwiderte die Begrüßung.
»Alisa, ich freue mich auch, endlich deine Heimat kennenzulernen.«
»Ich hoffe, es gefällt euch hier. So viel Aufregendes wie in Irland haben wir in Hamburg allerdings nicht zu bieten«, sagte sie mit einem leichten Lächeln.
»Das hoffe ich sehr!«, gab Ivy zurück. »Wie wäre es mit einem ruhigen, lehrreichen Jahr ohne Kämpfe und Verfolgungsjagden?«
»Wie langweilig!«, stöhnte Tammo, der hinter Alisa eingetreten war.
Alisa ließ den Blick wieder zu Malcolm schweifen, wandte ihn dann aber dem weißen Wolf zu.
»Seymour, wie schön, dich wiederzusehen«, sagte sie und verzichtete dieses Mal darauf, ihm zur Begrüßung das Fell zu zausen. Die menschlich wilde und sehr männliche Gestalt des Werwolfes stand ihr deutlich vor Augen und verbot solche Zärtlichkeiten. Er war viel mehr als nur ein Haustier an Ivys Seite!
Alisa richtete das Wort an Mervyn und die beiden jüngeren Vyrad, dann an die Servienten, die mit angereist waren. Schließlich stand sie wieder vor Malcolm, den Blick gesenkt. Es wäre sehr unhöflich gewesen, ihn nicht willkommen zu heißen, ja, vermutlich betrachtete er es bereits als Affront, dass sie die Servienten vor ihm begrüßt hatte. Was aber sollte sie ihm sagen? Jedes Wort fühlte sich falsch an.
Es ist doch gar nichts zwischen uns vorgefallen, sagte sie sich, das Gefühl der Befangenheit schien jedoch nur noch stärker zu werden. Wieder einmal erlöste Malcolm sie und rettete die Situation. Er verbeugte sich galant, ergriff ihre Rechte und hauchte einen Kuss auf ihren Handrücken.
»Ihr Diener, Miss«, sagte er mit einem warmen, ein wenig spöttischen Klang in der Stimme. »Sei gegrüßt, Alisa.«
»Ich grüße dich auch, Malcolm, und heiße dich in Hamburg willkommen.«
Inzwischen hatten auch die anderen Vamalia den Frachtraum erreicht. Hindrik, Reint und Anneke halfen ihnen, ihre Särge und Vincents Bücherkisten von Bord zu bringen. Die Kisten verluden sie auf einem Karren, der sich sofort auf den Weg machte.
»Es ist nicht weit«, sagte Alisa, als sie die suchenden Blicke der Vyrad bemerkte. »Wir können zu Fuß gehen.«
Sie schlenderten am Hafenbecken entlang, an dem sich ein Schiff ans nächste reihte: Schoner, Briggs und Barken, eine Fregatte mit zahlreichen Kanonen und eine Kuff, eine Schnigge und einige Huker mit ihren langen Schleppnetzen. Tagsüber musste hier ein reges Gewimmel von Menschen, Karren und Lasttieren herrschen, das Stimmengewirr von Matrosen und Schauerleuten und ein endloser Reigen von Kränen, die nach einem nur für Eingeweihte erkennbaren Rhythmus Kisten, Säcke, Fässer und Vieh aus- und wieder einluden. Selbst in der Ruhe der Nacht bot der Hafen ein beeindruckendes Bild. Staunend sah sich Ivy um. Trotz ihres hohen Alters von einhundert Jahren war sie nicht oft von Irland fort gewesen und hatte die meiste Zeit ihres Daseins in den einsamen Bergen und Mooren im Westen der Insel zugebracht.
Im Osten schied sich im Hintergrund die Gasanstalt mit ihren riesigen, von Metallgittern umschlungenen Zylindern und den hohen, rauchenden Schornsteinen vom Nachthimmel, im Norden tauchte die Stadt zwischen Masten und Wanten auf. Häuser. Nichts als Häuser. Geschlossene Reihen an den Ufern des Flusses und der Fleete, zu beiden Seiten von Straßen und Gassen. Fünf, sechs Stockwerke mit hohen, steilen Dächern, die vielerorts den Kaufleuten als Lager dienten, erklärte Alisa. Überragt wurden sie von den Kirchtürmen von St. Katherinen, St. Nikolai und weiter im Westen dem Michel, wie Alisa ihn nannte.
»Sind die Dracas schon angekommen?«, fragte Ivy, als sie nach links in eine breite, von unzähligen schweren Karren zerfurchte Straße einbogen. Ihre Brust fühlte sich ein wenig eng an, als sich Franz Leopolds schöne Gestalt in ihren Gedanken formte.
»Oh ja«, bestätigte Alisa. »Liebenswürdig, höflich und feinfühlig wie immer! Marie Luise, Karl Philipp, Anna Christina und unser verehrter Franz Leopold.« Zum Glück schien sie nichts von Ivys Beklemmung zu bemerken. Wo war er? Warum war Leo nicht mitgekommen, sie zu begrüßen? Hatte er ihr nicht noch zum Abschied seine Freundschaft geschworen? Waren in den Monaten in Wien die alten Vorurteile wieder erwacht? Wie sollte sie seinen kalten Blick der Verachtung ertragen? Mit Mühe riss Ivy ihre Gedanken von ihm los.
»Sagtest du Anna Christina?«
Alisa nickte. »Ja, ich habe mich auch gewundert, doch es war unverkennbar unsere geliebte Dracas, die ich schon zetern hören konnte, noch ehe sie den Zug verlassen hatte. Ich dachte ja, sie würde im Sommer das Ritual feiern. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann würde sie jetzt zu den vollwertigen Clanmitgliedern der Dracas zählen und hätte die Akademie verlassen. Jedenfalls ist sie fuchsteufelswild und noch unausstehlicher als früher, wenn das überhaupt möglich ist.«
»Immerhin hat sie in Irland an unserer Seite gekämpft – und sie weiß mit einem Degen umzugehen!«
»Ja, das schon«, gab Alisa widerstrebend zu. »Aber ein Biest ist sie dennoch. Komm schon Ivy. Sei doch nicht immer so entsetzlich verständnisvoll!«
»Du meinst, ein wenig Intoleranz wäre gesund? Vielleicht mit einem Schuss Überheblichkeit und Verachtung?«
Alisa grinste. »So wie du das sagst, hört es sich recht widerlich an. Das klingt ja fast nach unserem Freund Leo.«
Ivy schwieg. Alisa hakte sich bei der Freundin unter. »Komm, wir sind gleich da. Luciano kann es sicher kaum erwarten, dich zu sehen. Er war richtig erbost, dass Dame Elina den anderen Erben nicht gestattet hat, das Empfangskomitee zu begleiten.«
»Ach, deshalb sind sie nicht mitgekommen«, sagte Ivy leichthin und spürte, wie der Druck in ihrer Kehle nachließ.
Die Hamburger Vampire führten ihre Gäste um das Hafenbecken herum und dann an den ärmlichen Häusern des Gängeviertels entlang auf die Landzunge des Kehrwieders hinaus, wo sich mit Blick auf den Binnenhafen die prächtigen barocken Kaufmannshäuser erhoben. Einladend öffnete Hindrik eine der zweiflügeligen Haustüren.
»Tretet ein«, forderte er die Gäste auf. »Dame Elina erwartet euch.«
Der Wagen schwankte, als der Kutscher in das Rondell vor der Oper einbog und dann zögernd vor der Freitreppe zum Halten kam.
»Haben die Herren eine Loge abonniert?«, fragte der Kutscher.
»Warum zum Teufel will er das wissen?«, fragte Oscar Wilde seinen Freund Bram Stoker.
»Es gibt auf der rechten Seite einen Pavillon zum Einlass der Abonnenten«, gab der Kutscher Auskunft. »Damit sie sich nicht mit dem Volk, das im Saal sitzt, hier im Eingang drängen müssen.« Er nickte in Richtung der immer dichter werdenden Menge auf den Stufen, die zum goldverzierten Haupteingang des neuen Opernbaus hinaufführten.
»Und der Pavillon auf der linken Seite?«, erkundigte sich Oscar, dessen Stimme noch immer mürrisch klang.
»Das ist der Zugang zur Kaiserloge, aber mangels eines französischen Kaisers heutzutage verschlossen. Als Garnier die Oper plante, hatten wir noch Napoleon III.«, fügte der Kutscher hinzu, so als müsse er sich bei den Gästen von der Insel dafür entschuldigen. »Wo soll ich die Herren nun rauslassen?«
»Hier, das ist schon recht«, beeilte sich Bram zu versichern und reichte dem Kutscher drei Sou. Während er sich seine Handschuhe wieder überstreifte, sprang der Kutscher vom Bock und riss den Wagenschlag auf.
»Ich wünsche den Herren einen vergnüglichen Abend.«
»Höflicher Kerl, dieser Franzose«, sagte Bram, der sich bei seinem Freund einhakte.
»Wir haben Karten für zehn Francs das Stück im Parkett beim Pöbel von Paris«, beschwerte sich Oscar.
»Sei unbesorgt, ich vermute, dass es den Pöbel nicht ins neue Opernhaus zieht. Der wird sich eher in den Schauspielhäusern herumtreiben, in den Vergnügungslokalen am Pigalle oder bei den Weinschenken vor der Zollschranke.« Oscar brummte nur.
»Und außerdem war keine Loge mehr zu haben, wie du weißt. Und ehrlich gesagt finde ich, dass die Preise schlichtweg unverschämt sind. Wusstest du, dass sie fünfundzwanzigtausend Francs Jahresmiete für eine Loge verlangen?«
»Zur Gesellschaft zu gehören, war noch nie billig. Man muss wissen, was es einem wert ist«, sagte Oscar, von dem sein Freund wusste, dass er sich ständig in Geldnöten befand und für den Schuldenmachen schon zur Gewohnheit geworden war.
Die beiden Iren ließen sich von der Menge ins große Vestibül treiben, von dem aus sich der Treppenaufgang erhob.
»Bei Gott!«, rief Bram. »Ich habe ja schon viel über die Pracht des Opernhauses von Garnier gehört und die Fassade war bereits beeindruckend, aber das ist jenseits aller Vorstellung!«
Selbst Oscar ließ sich zu einem: »Ja, es wird seinem Ruf gerecht« hinreißen.
Dieser Aufgang war nicht nur eine Treppe, um in das nächste Stockwerk zu gelangen. Der Raum mit seinen geschwungenen Stufen und Balustraden, Kronleuchtern und Säulen aus Marmor jeder erdenklichen Farbschattierung, den verspielten Kapitellen und der bemalten Kuppel, durch deren gläserne Mitte der Nachthimmel schimmerte, war selbst eine Bühne, auf der das Schauspiel der Gesellschaft Abend für Abend aufgeführt wurde.
Die beiden Herren im eleganten Frack erklommen bedächtig die Marmorstufen und ließen die Blicke schweifen. Oben angekommen bestaunten sie die Mosaiken in der Vorhalle und traten dann ins große Foyer, dessen Goldglanz – von den Spiegeln und Lüstern vervielfacht und verstärkt – sie blendete und ihnen einen weiteren Ausruf des Erstaunens entlockte.
»Nun verstehe ich, warum man den Entwurf eines so jungen Architekten wählte«, sagte Oscar. »Er hat das Entscheidende begriffen.«
»Und das wäre?«, wollte Bram wissen.
»Dass die Herren und Damen der Gesellschaft nicht in die Oper gehen, um der Sopranistin X zu lauschen oder dem Tenor Y Beifall zu spenden oder die Ballettratten durch das Opernglas zu mustern – ich gebe zu, das auch, aber das ist eher eine schöne Nebensache. Sie kommen, um sich selbst zu inszenieren. Sehen und gesehen werden, mein Freund, und dazu braucht man einen angemessenen Rahmen!«
Sie schlenderten noch eine Weile auf und ab und beschlossen dann, ihre Plätze aufzusuchen. Der erste Akt hatte längst begonnen und die Handlung nahm ihren dramatischen Lauf. Bram rutschte neben Oscar auf einen der mit Samt bezogenen Stühle.
»Dunkelrot, mein Freund, siehst du das? Nicht blau, wie man es allerorts in den Opernhäusern sieht. Garnier traut sich was, und ich sage dir, das wird Mode machen.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Bram über den schmetternden Sopran hinweg.
Oscar zog sein Opernglas hervor und ließ den Blick über die besetzten Logen wandern, aus denen – neben ihren befrackten Begleitern – von farbiger Seide umrankte und mit Juwelen geschmückte Dekolletés herableuchteten.
»Die Farbe schmeichelt dem Teint! Sieh dir die Pracht nur genauer an.«
Bram unterdrückte ein Lachen und wandte seine Aufmerksamkeit dem Halbrund der fünf Stockwerke aufragenden Logen zu. Schmunzelnd gab er seinem Freund recht. »Sehr vorteilhaft, ja, das muss ich sagen.«
Plötzlich stieß Oscar einen unterdrückten Fluch aus.
»Was ist?«, erkundigte sich Bram.
»Da, siehst du das?« Anklagend deutete er zu der fünften Loge im ersten Rang hinauf. »Leer! Kein einziger Besucher zu sehen. Und uns haben sie gesagt, es seien keine Logenplätze mehr zu haben. Es ist ein Skandal!«
»Beruhige dich, Oscar, von hier unten im Parkett kann man die Bühne viel besser sehen als von den Logen dort an der Seite.«
»Ha, als ob es darauf ankäme!«, widersprach Oscar, der sich nicht beruhigen wollte. »Du bist unverbesserlich, mein Freund. Aber ich sage dir, das wird ein Nachspiel haben. Nach der Pause sitzen wir dort oben!«
Bis der Vorhang zur ersten Umbaupause fiel, hatte Bram die Sache längst vergessen. Gut gelaunt folgte er Oscar ins Foyer.
»Was machen wir so lange? Sie werden wohl weit mehr als eine halbe Stunde mit den Aufzügen brauchen, bis es weitergeht. Ich habe gehört, in dem Salon drüben servieren sie Eis!«
»Für so etwas habe ich jetzt keine Zeit«, erwiderte Oscar kurzangebunden. »Ich muss mit dem Direktor sprechen.« Er ignorierte Brams halbherzige Proteste und schleppte ihn zur großen Treppe, wo Olivier Halanzier-Dufresnoy gerade mit einer jungen Dame am Arm erschien. Oscar überschüttete den verdutzt dreinschauenden Direktor des Opernhauses mit einer kunstvollen Beschwerderede. Wie ein Fisch auf dem Trockenen öffnete und schloss der Direktor den Mund. Ja, Oscars Talent, mit Worten umzugehen, musste Bram neidlos anerkennen. Darin war sein Freund ein Meister.
»Und? Würden Sie nun so freundlich sein, uns die Loge fünf zu überlassen?«, half Oscar nach, nachdem der Direktor noch immer nach Worten rang.
»Es tut mir schrecklich leid, aber nein, das ist völlig unmöglich, meine Herren.«
»So? Unmöglich? In einer leeren Loge Platz zu nehmen?« Oscar legte noch einmal los, während der Direktor sich vor Verlegenheit wand und sich die Schweißperlen von der Stirn tupfte.
»Sie ist vergeben, verstehen Sie, für alle Aufführungen«, würgte der Direktor hervor.
»Vergeben? An wen vergeben? Jedenfalls an jemanden, der durch Abwesenheit glänzt. Meinen Sie, der Eigentümer kommt noch zum zweiten oder dritten Akt? Nun gut, dann versprechen wir, uns höflich zurückzuziehen und ihm seinen Platz zu überlassen, sollte er noch auftauchen.«
»So einfach ist das nicht«, widersprach der Direktor, dessen Gesicht nun eine beunruhigend grünliche Farbe angenommen hatte. »Der Eigentümer würde sehr erzürnt sein. Er gestattet es nicht. Heilige Jungfrau, es wäre fürchterlich, sollte er Sie in seiner Loge finden. Und er würde Sie finden. Ihm entgeht nichts, was in diesem Theater geschieht, rein gar nichts.«
Bram fürchtete, der Mann müsse jeden Augenblick in sich zusammensinken und die herrliche Treppe hinunterstürzen. War er etwa krank? Anders konnte sich Bram diese heftige Reaktion nicht erklären.
Auch Oscar starrte den Direktor mit gerunzelter Stirn an. »Ich habe ja schon viele seltsame Zeitgenossen getroffen, aber dieser hier ist etwas Besonderes«, raunte er seinem Freund zu.
Plötzlich mischte sich die Dame in das Gespräch der Männer ein. »Sie gehört dem Phantom!«
»Wie bitte?«, erkundigten sich Bram und Oscar gleichzeitig. Der Direktor stöhnte und wankte.
»Ja, das weiß hier in der Oper jeder. Unser Operngeist, das Phantom der Oper, verlangt, dass diese Loge jederzeit für ihn bereitsteht, um sich die Aufführungen von dort anzusehen.«
»Der Geist des Hauses!«, rief Oscar empört. »Das ist die wildeste Geschichte, die man mir jemals aufgetischt hat. Herr Direktor …«
Doch der geplagte Herr verschwand – schneller, als Bram es ihm zugetraut hätte – mit der Dame am Arm in der nun dichter werdenden Menge.
»Hast du so etwas schon einmal erlebt, mein Freund? Bram – he, was ist mit dir? Du siehst aus, als hättest du eben diesen Geist gesehen!«
Bram Stoker schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht. Noch nicht! Aber dieses Gespräch gibt den Gerüchten, denen ich gefolgt bin, Nahrung. Es scheint dieses Phantom wirklich zu geben und ich werde es aufspüren!« Strahlend hakte er sich bei seinem Freund unter. »Oscar, komm mit mir. Ich werde dir eine Portion dieser neumodischen Eiscreme spendieren! Wie gut, dass wir zusammen nach Paris gereist sind.«
Oscar Wilde schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich mir über deinen Gesundheitszustand Sorgen machen soll, mein Lieber. Du leidest unter einer Besessenheit.« Dennoch ließ er sich in den Glaciersalon führen und bestellte die größte Eisportion, die es gab. Süßigkeiten taten ihm fast so gut wie schöne Worte.
cbt-C. Bertelsmann Taschenbuch Der Taschenbuchverlag für Jugendliche Verlagsgruppe Random House
 
 
1. Auflage Originalausgabe Oktober 2009
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform © 2009 cbt/cbj Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Alle Rechte vorbehalten unter Verwendung einer Illustration von Paolo Barbieri SE · Herstellung: ReD
eISBN : 978-3-641-03838-0
 
www.cbt-jugendbuch.de

www.randomhouse.de