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Ein mysteriöser Reisender, der sich in eine schöne Tänzerin verliebt. Ein junger Staatsanwalt, der einem gefährlichen Mörder auf der Spur ist. Ein Gelehrter, der ein uraltes Geheimnis der Stadt erforscht. Ein Schriftsteller, der alle Fäden in den Händen hält. Sie alle wandeln auf den Spuren Boccaccios. Die Geschichte einer Gefahr, die die Stadt am Arno dem Untergang weiht.
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Seitenzahl: 409
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Niclas F. Sturm, Jahrgang 1997, studiert Rechtswissenschaften in Heidelberg. In seiner Freizeit liest er gerne und unternimmt Spaziergänge durch die malerische Altstadt. Inspiration findet er unter den schattigen Bäumen des Tessins. 2015 erschien sein erster Roman: »Das Feuer des Himmels«.
Für meine Familie
Der Stadt Florenz und ihren Bewohnern
Buch: Der Reisende
Exposition
Im Himmel über Florenz
Das Mädchen mit der Violine
Das Fest
Die Straße des Schriftstellers
Schwanensee
Die Tänzerin
Amarettini
Elena
Träume
Der Keller
Nemo me impune lacessit
Ein Mysterium
Der Tanz
Der Gehängte
Totenmal
Feuer
Zeichen
Ferragosto
Buch: Der Staatsanwalt
Exposition
Ekstase
Weit geschlossene Augen
Bündnisse
Enthüllungen
Experimente
Der große Brand
Apokalypse
Epilog – Persephones Garten
1. Buch
Viele Menschen fliehen vor anderen, doch manche fliehen vor sich selbst.
Schriftsteller sind Schöpfer und Zerstörer zugleich. Der Mann stand einsam am Fenster. Er beobachtete den Arno, der sich langsam wie eine silberne Schlange durch die Nacht zog. Er lächelte und nippte an einem Glas Whisky seines Geburtsjahrgangs. Im Hintergrund spielte klassische Musik, eine Klaviersonate von Chopin. Der Teppich seiner Bibliothek verschluckte vollkommen die Schritte, die er zum großen Bücherregal zurücklegte. Dort war eine ganze Reihe schwerer Bände einsortiert, ordentlich nach Farbe und Alter geordnet. Akkurat und korrekt war er, eine fast schon zwanghafte Veranlagung. Die in edles Leder eingebundenen Bücher waren mit einfachen, wenngleich wohlklingenden Namen wie »Schwanenmord« beschriftet und standen direkt neben großen Werken der Weltliteratur, neben dem »Decamerone« Giovanni Boccaccios, der manischen Literatur von Balzac und der dichten Prosa Hemingways, so, als besäßen sie einen natürlichen Platz neben diesen Büchern. Seine Werke hingegen waren seine persönlichen Schöpfungen. Jede einzelne davon war sorgfältig ausgearbeitet worden, zu einem Meisterstück großgezogen. Der Mann fuhr sanft über die weichen Buchrücken, in Erinnerungen schwelgend. In gewisser Weise waren sie seine Kinder. Sie entsprangen seinem Geist. Ja, in jedes Einzelne dieser Kostbarkeiten hatte er sehr viel Zeit und Mühe investiert und er hatte sich Zeit gelassen, um sie zu genießen. Immer wieder zog er einzelne Bücher hervor und las in ihnen. Sie waren besser als jede Literatur, denn was er in diesen Büchern geschrieben fand, war wirklich. Jedes Wort hatte sich so in der Wirklichkeit ereignet, jedes abscheuliche, einzelne Wort.
Doch er wusste, dass sein nächstes Werk sein Letztes werden würde, die Krönung all seiner Bemühungen. Es sollte etwas ganz Persönliches werden, das hatte er sich fest vorgenommen. Noch wusste er noch nicht ganz, was auf ihn zukäme, doch dies war ein Teil des Vergnügens. Bis dahin war es noch ein langer Weg, jedoch würde er jeden einzelnen Schritt in der Deckung genießen. Die Handlung trug er schon lange in der Innentasche seines Jacketts. Wie ein Raubtier lag er in den heißen Schatten der Stadt auf der Lauer und wartete auf den richtigen Moment, um anzugreifen. Es bedürfte nur einer einzigen, etwas zu neugierigen Natur und sie wäre gefangen.
Sein Opfer würde er langsam quälen, Stufe um Stufe würde er tiefer in dessen Seele eindringen, bis er zum Kern vorgestoßen war. Dort würde er ein solch fürchterliches Chaos anrichten, es mit Gewalt und Leiden überziehen, es mit seinen Krallen zerfleischen. Ein wohliger Schauer des Schreckens überlief ihn, wenn er daran dachte. Für eine Weile würde er untertauchen müssen, sich in einer scheinbaren Normalität verbergen. So sah es der Plan vor. Menschen waren doch so berechenbar. Sie zu täuschen war seine Spezialität. Ruhig und geduldig würde er abwarten, bis sich eine Gelegenheit ergäbe. Ein gutes Weinfass brach man auch nicht verfrüht an.
Ein letztes Mal wandte er sich um, betrachtete die Stadt, die unter ihm glitzerte und holte das Büttenpapier aus dem Jackett. Brillant. Er konnte sich nur selbst gratulieren für die wahrhaftig genialen Einfälle. Nichts konnte schiefgehen. Er war ein Meister seines Fachs. Der Mann stellte das Glas Whisky auf seinem Schreibtisch ab, klopfte zweimal mit der Faust auf den Tisch, warf sich einen dünnen Abendmantel über die Schultern und verließ den Raum.
Er verließ das Gebäude durch einen geheimen Gang, den er nicht vor allzu langer Zeit entdeckt hatte. Dieser führte direkt bis in einen öffentlichen Park, der Eingang lag verborgen hinter dichten Rosmarinsträuchen.
Er zündete eine Fackel an und durchquerte den engen Gang, durch den er geduckt laufen musste. Oft wunderte er sich, wie viele diesen Gang schon durchquert hatten. Der nasse und moosbewachsene Stein verlieh dem Gang eine merkwürdige Schwüle. Jemand hatte ihn offensichtlich vor vielen Jahren für private Zwecke anlegen lassen. Vielleicht, um ungesehen fliehen zu können, im Fall von Gefahr. Besser gefiel ihm die Idee, dass dieser Gang dafür verwendet worden war, junge Geliebte in das Haus einzuschleusen, ohne die Unannehmlichkeiten und Störungen durch Öffentlichkeit zu riskieren. Ihm war, als könne er dumpf das Stöhnen und die leisen Einflüsterungen der Liebenden hören, die sich hier in diesen Gängen begegnet waren. Dramatisch und voller Gefühle. Jeder Ort, jeder Gegenstand hatte eine eigene Geschichte. Dem Mann gefielen solche kleinen, pikanten Details. Ein Gefühl von grausiger Wärme breitete sich in ihm aus.
Der Mann musste unwillkürlich lächeln. Dieser Gang wäre ein perfekter Schauplatz für seinen neuen Roman. Zu schade, dass er ein Geheimnis bleiben musste.
Nach einer Weile beinahe völliger Stille hatte der Mann den unterirdischen Tunnel durchquert. Von Ferne hörte er Glockengeläut. Noch eine Viertelstunde bis Mitternacht. Er musste sich beeilen. Hastig und doch elegant wie ein Panther schlüpfte er aus dem winzigen Ausgang und sah sich vorsichtig um. Niemand durfte ihn beobachten. Doch der Park war wie ausgestorben. Einzig die Bäume schienen zu leben. Mystisch rauschten sie im kalten Nachtwind. Die Straßenlaternen warfen ein bleiches Licht. Der Mann durchquerte so schnell er konnte die vom Nachtlicht in grau getauchten Gärten des Palazzo Boboli. Im Sommer und im Frühling ging der Mann hier gerne spazieren, genoss die Aussicht auf Florenz im Morgengrauen. In dieser Nacht jedoch war sein Ziel eine kleine, kaum beachtete Kapelle in der Nähe des Palazzo. Sie lag am Ende einer engen Seitengasse, die vom Palazzo her nach links abknickte. Sie war derart schmal gebaut, dass der gewöhnliche Flaneur sie leicht für einen normalen, vielleicht etwas zu groß geratenen Spalt zwischen zwei Häusern halten konnte. Der Mann zwängte sich eilig hindurch. Staub und Putz rieselten von oben auf ihn hinab und als er auf die Eingangspforte der Kapelle zuging, klopfte er sich kurz den Staub von der Kleidung. Immer gepflegt musste er sein, egal wohin er sich begab. Anstand war eines seiner obersten Prinzipien. Er stellte sich vor die Pforte der Kapelle und flüsterte gedämpft das Wort »Pater«. Seine Stimme war kaum hörbar, doch jemand, der hinter der Tür der Kapelle stand, war sehr wohl imstande diese Parole zu vernehmen. Sodann wurde die Tür leise geöffnet. Dahinter stand eine in eine schwarze Kutte gehüllte Person. Das Gesicht lag im Schatten. Der Mann trat ein.
Weitere Gestalten traten an ihn heran. Der Mann übergab einer Person seinen Mantel. Eine Person hielt eine rauschende Fackel und gebot dem Mann, ihm die Treppe herunter zu folgen. Er wurde exakt sieben Stufen hinab in die Katakomben der kleinen Kapelle geführt, einen engen, stickigen Raum, in dem es nach feuchtem Stein und Staub roch. Aus einer großen Lampe in der Mitte des Raumes strömte jedoch der wohltuend betäubende, beinahe narkotische Geruch von Weihrauch. Der Mann ließ sich andächtig auf die Knie sinken, den Kopf hatte er gesenkt. Nach und nach entblößte er sich jeder Kleidung, bis er nur noch ein weißes Tuch um seinen Unterkörper trug. Er hörte eine fremde Stimme, die Worte in einer fremden Sprache sprach. Sie schienen zunächst von weit entfernt zu kommen, doch sie drangen immer näher an sein Ohr, bis er das Gefühl hatte, der Sprecher stünde unmittelbar neben ihm. Dann vernahm er einen Schrei, der sein eigener war. Er spürte einen plötzlichen, schmerzlosen Stoß in seinen Rücken. Eine warme Flüssigkeit ergoss sich über seinen Körper. Es war Blut. Nicht sein eigenes, doch es fühlte sich genauso an.
»Erwache« hörte er die Stimme nun sagen. Der Mann erhob sich bedächtig und sah nach oben. Dort hing ein toter Stier, dessen Bauch kunstvoll aufgeschlitzt war. Blut tropfte hinunter. In der Ecke des Raumes wachte eine überlebensgroße Statue, die ihn mit roten, glühenden Augen anschaute.
Der Mann lachte laut auf. Er war verändert. Seine Haltung, seine Mimik. Er kam sich verjüngt vor. Der Mann fühlte sich prächtig. Dann hörte er die Glocken. Mitternacht war soeben vorüber. Das Spiel konnte beginnen.
Der Himmel über der Stadt klarte langsam auf. Die zarten Wolkenschleier glitten auseinander und gaben den Blick auf Florenz frei. Wie ein Relikt aus einer vergangenen Zeit thronte die Stadt in der Landschaft, umgeben von sanft geschwungenen Hügeln und kleinen Tälern. Von hier oben konnte man die vielen Weingüter außerhalb der Stadt beobachten und die sanft abfallenden Hügel, an denen die kostbaren Reben gepflanzt waren.
Das Leben, das sich unter ihm abspielte, schien ihm ein Glückliches zu sein. Die Anschnallzeichen unter den Gepäckklappen leuchteten auf und aus den Sitzreihen war das metallische Klicken zu hören. Das Flugzeug begann mit dem Sinkflug und glitt elegant wie ein Vogel hinab. Der Reisende lächelte. Er hatte es geschafft, er war geflohen. Unter ihm eröffneten sich neue Perspektiven. Vor ihm lag ein italienischer Sommer. Unter schattigen Arkaden sitzen, durch die Landschaft der Toskana flanieren, endlose Möglichkeiten lagen vor ihm. Wo er herkam, hatte er sich selbst zerstört. Sie würden nur ein leeres Haus vorfinden und nicht den geringsten Hinweis darauf, wohin er gegangen war. Er hatte alles arrangiert. Offiziell war er tot. Vom einen auf den anderen Tag war er zu einem Phantom geworden.
Eine neue Identität sollte ihn vor den Gefahren des Lebens beschützen. Er ballte die Fäuste. Dabei war er unschuldig. Unter ihm regte sich die Stadt. Der Morgen war angebrochen und die Menschen wagten sich wieder auf die Straßen. Träge setzten sie sich in Bewegung. Er würde eins mit ihnen werden. Selten hatte er sich so befreit gefühlt. Neben ihm rührte sich jemand. Sein Sitznachbar, der beinahe den gesamten Flug über geschlafen hatte. Der Reisende war überzeugt davon, dass er immer wieder beobachtet worden war. Selten sprach er auf Reisen mit anderen Passagieren; er fürchtete, sich zu verraten. Misstrauisch beäugte er den etwas unförmigen Mann, der sich neben ihm in den Sitz gekrallt hatte und dabei fast von seinem Sitz gerutscht war. Er trug eine Schlafmaske und erwachte schmatzend aus dem Schlaf.
»Wo sind wir? Sind wir schon da?«, fragte er, seine Arme knackend von sich streckend.
»Allerdings«, erwiderte der Reisende knapp und wandte sich wieder dem Fenster zu. Er spürte wie die Augen des Fremden in seinen Rücken stachen. Noch immer konnte er es nicht ertragen, anderen Leuten für eine längere Zeit in die Augen zu sehen. Es war, als ob Fremde erkennen könnten, dass er nicht echt war, sondern nur ein Geschöpf seiner eigenen Phantasie. Mit einem flauen Gefühl im Magen sehnte der Reisende die Landung herbei. Ohne weitere Schwierigkeiten setzte die Maschine am Boden auf. Der Reisende verließ als einer der ersten das Flugzeug und setzte seine Sonnenbrille auf. Seine Glieder waren durch den langen Transatlantikflug steif geworden. Es war beinahe unerträglich heiß. Die Wolkendecke hatten sich vollständig aufgelöst. Eine schwache Brise zog auf. Sein sandfarbener Anzug knatterte im Wind. Schnell eilte er zu einem der bereitstehenden Busse. Er konnte seinen Sitznachbar nicht sehen und er ihn hoffentlich auch nicht. Mit hektischen Schritten holte er sein Gepäck und verließ das Flughafengebäude, nicht ohne sich jedoch vorher eine aktuelle Tageszeitung zu besorgen. Seine Flucht war bis ins kleinste Detail geplant, auch wenn dies eigentlich nicht sein Stil war. Da er mittlerweile ein sehr akzeptables, beinahe akzentfreies Italienisch sprach, fiel es ihm leichter, mit den Menschen zu reden, und da er ihre Sprache sprach, nahmen sie ihn als einen der Ihrigen an. So konnte er sich verbergen, bis genügend Zeit vergangen war und niemand mehr wusste, wer er einmal gewesen war. Zufrieden mit sich selbst schlug er die erste Seite der Zeitung auf: Mord in Florenz. Täter und Motiv unbekannt. Der Reisende lächelte. Dies waren Neuigkeiten nach seinem Geschmack, denn er liebte die Gefahr. Ohne den langen Schatten einer Bedrohung fühlte er sich nicht wohl. Er ging hinüber zu einem der wartenden Taxen. Sein Fahrer war ein sehr gesprächsbereiter Mann mittleren Alters, der vermutlich aus Einsamkeit mit seinen Fahrgästen plauderte und darüber hinaus erstaunlich gut informiert war.
»Sind Sie zum ersten Mal in Firenze, Signore?«, fragte er und wandte seinen Kopf dem Reisenden zu, während er scheinbar blind in den Verkehr hineinsteuerte.
»Ja«, gab der Reisende zurück und wandte sich wieder seiner Zeitung zu. Dann sprang ihn der Gedanke an, dass er sich etwas verdächtig verhielte und schob schnell nach:
»Das ist mein erstes Mal in Florenz.«
Der Taxifahrer lächelte freundlich. »Florenz ist eine wunderschöne Stadt, Signore, manchmal denke ich, ohne sie könnte ich nicht atmen. Sie ist so voller Geschichte, wunderschöner Gärten, ein Ort zum Verlieben, glauben Sie mir. Im Moment jedoch…«, sein Gesicht verfinsterte sich schlagartig, »schleicht ein dunkler Schatten durch die Stadt. Seien Sie vorsichtig. Sicher haben sie davon schon in der Gazetta gelesen.«
»Meinen Sie den Mord? Das ist doch nichts Ungewöhnliches. Verrückte gibt es überall«, winkte der Reisende gespielt lässig ab, obwohl er von Euphorie geflutet wurde.
»Manchmal sind es nicht Verrückte, sondern ganz normale Menschen, die dazu werden, aus Not, aus Zwang oder aus purer Lust, glauben Sie mir. Ich habe die Geschichte um das Monster von Florenz damals in den Achtzigern mit eigenen Augen erlebt. Diese Morde jedoch sind anders, als alles, was ich bisher erlebt habe.«
»Was hat es genau damit auf sich? In der Zeitung standen keine Details.«
Der Taxifahrer schluckte und sprach zögerlich. »Es geht um den Bildermörder. Er tötet immer nur junge Paare, meistens kaum mehr als dreißig Jahre alt. Er tötet die Frau mit einem einfachen Stich in den Hals. Der Mann wird brutal misshandelt. Beiden Opfern reißt er die Augen aus. Am Tatort lässt er immer ein Bild von den beiden zurück, das er anscheinend vor dem Mord aufgenommen hat. Er hinterlässt keine Spuren.«
Danach schwieg der Mann für die weitere Fahrt. Der Reisende sah aus dem Fenster und die Häuser an sich vorbeiziehen. Eine Kakophonie aus hupenden Autos, quietschenden Reifen, läutenden Kirchenglocken drang in seine Ohren. Dies war die Stadt, die durch ihre Geschichte lebte. Immer wieder fuhren sie an dunklen Seitenstraßen vorbei, die derart dicht bebaut waren, dass sie auch tagsüber vollkommen im Dunklen lagen. Die Fahrt dauerte eine knappe Stunde, während die Straßen zusehends leerer wurden und in der Ferne bereits die lockenden Hügelkuppen der Toskana warteten. Der Reisende war auf dem Rücksitz eingeschlafen. Die lange Reise zollte ihren Tribut. Der Fahrer bog in die Via del Risorgimento ein, eine von Zitronenbäumen gesäumte Allee, die geradewegs auf einen kleinen Palazzo zuführte. Der Taxifahrer hielt direkt vor dem schmiedeeisernen Eingangsportal.
»Ist das Ihrer?«, fragte er mit unverhohlener Bewunderung. Der Reisende nickte und stieg aus. Den Blick auf das Gebäude gerichtet, hob er sein Gepäck aus dem Kofferraum und gab dem Taxifahrer ein großzügiges Trinkgeld. Dieser sagte ihm noch:
»Denken Sie an meine Worte. Florenz ist vielleicht eine Stadt der Kunst, aber auch eine Stadt der Nacht.« Mit diesen Worten wendete er und fuhr die Allee zurück. Der Mann war seltsam. Wusste er vielleicht, wer er wirklich war? Der Reisende verwarf diesen Gedanken, es war komplett ausgeschlossen. Die Welt war riesig, wie sollte ihn ein einfacher Taxifahrer in Florenz erkennen? Der Reisende war noch nie ein Freund der Unmöglichkeit gewesen, aber er musste realistisch bleiben. Er durfte sich nicht unverwundbar fühlen. Kurz vor Mittag hatte er einen Termin mit dem Vorbesitzer des Palazzos, einem alleinstehenden, älteren Herrn, der zu alt geworden war, um sich noch um das Anwesen zu kümmern. Er betätigte die Klingel und wartete geduldig. Es dauerte nicht allzu lange, ehe die schwere, hölzerne Eingangstür aufgezogen wurde. Ein weißhaariger Herr mit kurzer Shorts, etwas ausgetretenen Lederslippern und buntem Polohemd trat heraus und ging dem Reisenden freudig entgegen.
»Mister, auf die Minute pünktlich. Fantastico! Kommen Sie doch herein. Venga, venga.« Ein wenig übereifrig bat der ältere Herr den Reisenden herein. Die Lachfältchen um seinen Mund deuteten an, dass er ein lebensfroher Mann war und schon viele heitere Abende erlebt hatte. Er besaß eine gesunde Gesichtsbräune und einen kräftigen Händedruck.
»Sie müssen Signor Folcia sein, nehme ich an?« Der alte Mann lachte mit rauchiger Stimme auf.
»Das nehmen Sie ganz richtig an. Folgen Sie mir doch, ich zeige Ihnen meinen Schatz.«
Der Reisende merkte ihm an, dass er den Palazzo nur ungern aufgab. Mit melancholischer Stimme beschrieb er die vielen Facetten des Hauses. Der über die Jahre verwahrloste Vorgarten sandte die köstlichsten Gerüche aus, die er je gerochen hatte. Der Duft von Zitronen- und Frangipanibäumen erfüllten die Luft. Der Mann konnte seine Gedanken anscheinend lesen und sagte:
»Ein wunderschönes Fleckchen Erde. Ich bin mir sicher, Sie werden gut damit umgehen. Behandeln Sie ihn gut, behandelt er sie gut, der Palazzo. Seit dem Tod meiner Frau ist mir das Haus zu groß geworden, zu viele Räume für einen alten Mann.« Der Reisende folgte ihm weiter in das Innere des Hauses. Im Inneren war die Luft etwas staubig und es roch nach altem Zedernholz. In der Mitte des Raumes stapelten sich Umzugskartons.
»Hier sind Ihre persönlichen Gegenstände, sie wurden heute morgen angeliefert.« Der Reisende quittierte diese Bemerkung mit einem Nicken, schenkte jedoch der Eingangshalle größere Beachtung. Einige abgedeckte Möbel standen wahllos im Raum. Sie schienen lange nicht benutzt worden zu sein. Der Boden war mit dickem, von Motten zerfressenem Teppich belegt. An den Wänden löste sich langsam die Tapete ab und gab den Blick auf uraltes Fundament frei, das an vielen Stellen verschimmelt oder zerbröckelt war. Der Reisende sah sich um. Das diffuse Sonnenlicht fiel durch beinahe blinde Fenster. Einige Ecken und Winkel des Raumes blieben ganz im Dunklen. Ein allgegenwärtiger Geruch von stickiger Luft durchzog das Haus.
Folcia ließ ihn den Raum gründlich betrachten und führte ihn in den nächsten Raum, die alte Bibliothek. In den Regalen stapelten sich alte Bücher, oftmals Unikate, wie Folcia wiederholt betonte. Am meisten faszinierte ihn jedoch die ausgedehnte Gartenanlage. Skulpturen und Statuen zierten den von schmalen Kieswegen durchgezogenen Garten, dessen Ränder mit hoch aufragenden Pinien bepflanzt war, die in den heißen Sommermonaten Schatten spendeten. Am Ende des Grundstücks befand sich eine halb zerfallene Laube, deren einst kunstvoll verziertes Dach ausgeblichen und brüchig geworden war und erste Risse zeigte. Kühl glitzernd lag in der Mitte des Gartens ein Swimmingpool, der verlockend funkelte. Es war Mittag geworden. Die Sonne stand an ihrem höchsten Punkt und schien wie ein Wächter über dem Reisenden zu hängen. Die beiden Männer betrachteten den Garten. Folcia seufzte wehmutsvoll.
»Sie müssen wissen, dass es mir nicht leichtfällt, diesen Ort herzugeben. Ich habe hier viele glückliche Stunden verbracht. Ich bin mit diesem Haus auf eine eigenartige Weise verbunden, wenn ich auf Reisen war, schien es mich zu rufen. Es verlangte mir viel ab, ihn aufzugeben, Sie sehen, was die Schönheit dieses Ortes ausmacht.« Er wies auf die Parkanlage. Der Reisende nickte.
»Ich bin überzeugt. Ich kaufe den Palazzo. Ich werde ihn gut behandeln, das versichere ich.« Er reichte Folcia seine Hand. Dieser ergriff sie ebenfalls und sie besiegelten den Kauf. Sodann überreichte er dem Reisenden einen antik aussehenden Schlüsselbund. Die Vielzahl der daran befestigten Schlüssel bedurften selbst einer ausführlichen Erklärung, doch Folcia zog nur zwei Schlüssel hervor und erläuterte ihre Funktion. »Haupteingang und Schlafzimmer. Den Rest dürfen sie für sich herausfinden«, sagte er mit einem schelmischen und seltsam geheimnisvollen Lächeln.
»Ist das alles, was ich wissen muss?«, fragte der Reisende skeptisch.
»Nicht ganz, da wäre noch eine Sache. Hat weniger mit dem Haus zu tun, als mit der Stadt selbst. Schließen Sie nachts Ihre Zimmertür ab. Es sind unruhige Zeiten hier. Florenz hatte schon immer eine düstere Geschichte. Eine reine Vorsichtsmaßnahme.« Der Reisende begleitete Folcia noch bis zum Eingangsportal. Der alte Mann blickte noch ein letztes Mal zurück auf das Haus und ging durch das Portal. Der Reisende sah zu, wie der Mann in seinen alten Jaguar stieg und den Motor anwarf. Ihm schien es anscheinend wichtig zu sein, sich schnell von dem Ort zu entfernen, zu dem er über viele Jahre eine emotionale Verbindung aufgebaut hatte, um nicht doch der Versuchung zu erliegen, ihn zu behalten. Dröhnend beschleunigte er und fuhr die Allee hinunter. Der Reisende sah Folcia solange nach, bis dieser hinter einer Straßenbiegung verschwunden war und auch das Motorengeräusch allmählich verstummt und mit der Umgebung verschmolzen waren. Mit der Stille schwiegen auch die Vögel in den Baumwipfeln. Nun war er allein.
Der alte Palazzo konnte sich noch nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass nunmehr ein Fremder der neue Eigentümer war. Die Bodendielen ächzten unter seinen Schritten. Das ganze Haus schien zu leben, Treppen knarzten, obwohl sich sonst niemand im Haus aufhielt. Der Reisende erkundete weiter das Haus und stieg die engen Treppenstufen in den Keller hinab. Dort entdeckte er mit Spinnweben überzogene, jedoch ungeöffnete Weinflaschen eines alten Jahrgangs, die in einem schattigen Gewölbe gelagert wurden. Ein nettes Geschenk, dachte sich der Reisende und nahm einige der Flaschen mit. Das Haus war tatsächlich, wie es Signor Folcia gesagt hatte, erstaunlich groß. Es gab vier Schlafzimmer, von denen nur eines länger benutzt worden war. In diesem befand sich ein wunderschönes Himmelbett, das Füße aus goldüberzogenen Löwenköpfen besaß. In die Stangen, auf denen das Baldachin ruhte, waren mythische Motive eingearbeitet. Die anderen Zimmer dagegen waren seit Jahren nicht mehr gelüftet worden und die Luft war staubig. Die Betten darin waren auch kleiner. Es waren wohl die Kinderzimmer von Folcias Kindern, die vor vielen Jahren ausgezogen sein mussten. Als erste Maßnahme öffnete der Reisende sämtliche Fenster, um den Muff der vergangenen Jahre zu entfernen. In den nächsten Tagen würde er ein wenig aufräumen und das Haus vom Staub befreien. Vielleicht. Er hatte Zeit. Ihm gefiel das Haus, so wie es war. Er begnügte sich mit drei Zimmern sowie der Küche und dem Bad.
Solange es dort einigermaßen sauber war, war er zufrieden. Der Staub verlieh dem Palazzo seinen eigenen Charme, eine Geschichte, nach der er so dringend suchte. Der Ort, an dem man lebte, verlieh der eigenen Biographie ein besonderes Narrativ und stiftete Sinn. Abends setzte er sich mit einer Flasche des gefundenen Rotweins auf die Terrasse und entzündete stark rußende Fackeln, die interessante Schattenspiele erzeugten. Er packte aus einem der Umzugskartons einen alten Plattenspieler aus. Sein wertvollster Besitz.
Er legte eine Schallplatte seines Lieblingskomponisten Francesco Nicoletti auf. Nicoletti war eine mysteriöse Gestalt der italienischen Geschichte, ein Mann voller Widersprüche. Er lebte um die Zeit der italienischen Einigungskriege, die er stark ablehnte und die Rolle Italiens als Geburtsort der Renaissance betonte, die vor allem durch den Wettbewerb der Stadtstaaten ermöglicht worden war. Mit der Moderne habe die antike Einheit Italiens ihre Berechtigung verloren. Als Sohn eines verarmten Tuchhändlers im Veneto geboren, hatte er jeden Grund zu einem Revolutionär zu werden, der er jedoch nie wurde. Nicoletti hatte selbst ein romantisches Bild von seinem eigenen Land, das er nie unter einer einzigen Flagge vereint sehen wollte. Die Schwermut und das süße Leben wollte er um jeden Preis erhalten und damit auch die Teilung der italienischen Halbinsel. Seine Kompositionen und Opern, die er verfasste, waren manchmal wild und aufbrausend, ungemütlich zum Hören.
Sie luden zum Handeln ein, zu einer Revolte. Gleichzeitig aber komponierte er Opern über Natur, über das Landleben, über vergangene Jahrhunderte. Oft griff er geschichtliche Ereignisse auf und komponierte Symphonien, in denen einzelne Teile des Orchesters in eine Art Wettkampf gegeneinander traten. Nicoletti selbst litt zeitlebens darunter, im Schatten des großen Giuseppe Verdis zu stehen, der alles andere unter sich begrub.
Während der Revolutionskriege verhielt er sich neutral und war so weder ein Nutznießer noch ein Verlierer der Einigung Italiens, in dieser Zeit verlor sich auch größtenteils seine Spur. Gegen Ende seines Lebens zog er sich vereinsamt und verarmt in die Berge der Apenninen zurück. Sein Tod wurde erst Wochen später bemerkt, als einem Schäfer der Verwesungsgeruch aufgefallen war. Er war vergessen worden. Zurück blieb nur seine Musik, die auch in Fachkreisen kaum bekannt war. Zufällig war der Reisende in den Besitz einer der wenigen Schallplatten gekommen, auf denen Nicolettis Musik zu hören war. Die Notenbücher waren nach seinem Tod in alle Winde zerstreut worden. Viele Exemplare hatte der Reisende auf Antiquitätenmärkten erworben. Es existierten nur wenige Abschriften, die selten vollständig waren. Der Reisende war sofort von den außergewöhnlichen Symphonien eingenommen gewesen. Er schloss die Augen und genoss die Toscana No. 1, eine der bekannteren Werke. Der uralte Rotwein wog schwer auf seiner Zunge und ließ ihn in rauschhafte Tagträume absinken. Er besaß ein rauchigeres Aroma, als er es gewöhnt war. Vor ihm versank die Sonne langsam hinter den Hügeln der Toskana. Ihr Licht tauchte den Garten in ein herbstrot, als sei der Sommer schon vorüber. Ein Gefühl von Zufriedenheit breitete sich in ihm aus. Hier fühlte er sich willkommen.
Erst sehr spät löschte er die Fackeln, schloss die Türen so gut es ging ab und begab sich in sein Schlafzimmer. Die Nacht hindurch schlief er unruhig. Unerwartet kalter Wind wehte in das Zimmer und die Vorhänge tanzten im eiskalten Atem des Himmels. Ohnehin schien die Temperatur im Haus nachts stark abzusinken. Der Reisende zog sich die schwere Bettdecke bis an Kinn und versuchte zu schlafen. Durch die Fenster hindurch schien das orangene Licht der Laternen. Erst gegen Mitternacht erloschen diese und mit ihnen das letzte, menschliche Leben in den Straßen. Es wurde totenstill. Als er es endlich geschafft hatte, einzuschlafen, hörte er plötzlich das Klingeln eines Telefons. Er schreckte aus dem Schlaf hoch, setzte sich auf und eilte ins Erdgeschoss. Eine entnervte Wut stieg in ihm auf. Wer wagte es, ihn zu derart später Stunde anzurufen? Er ging zum Telefon, das auf einer Kommode in der Nähe der Eingangstür stand. Er kniff die Augen wegen des schummrigen Lichtes zusammen, um die Nummer lesen zu können. Überrascht riss er die Augen auf. Er kannte diese Nummer, nur wie war es möglich, dass die am anderen Ende wussten, wo er sich befand? Vielleicht war es auch eine andere Nummer, sie war nur schwer zu entziffern. Er wartete bis das Klingeln verstummt war. Gleich am nächsten Tag würde er veranlassen, die Telefonnummern ändern zu lassen. Kein weiterer Anruf folgte. Beruhigt legte sich der Reisende wieder ins Bett und fiel in einen unruhigen Schlaf.
Am nächsten Morgen brach der Reisende in die Stadt auf, um einen alten Freund zu treffen, der hier seit vielen Jahren lebte. Als einer der wenigen hatte der Reisende ihn über sein Verschwinden unterrichtet und hierfür absolutes Stillschweigen eingefordert. Er hatte sich ein Fahrrad ausgeliehen und fuhr damit in Richtung Innenstadt. Der große Dom von Bruneschelli überragte alle anderen Gebäude und stach wie ein weißes Monument aus dem Gewimmel von mediterranen Häusern und RenaissancePalästen hervor. Aus der Ferne betrachtet erschien die Stadt noch immer in einer anderen Zeit gefangen. Er sah geschäftiges Treiben auf den Straßen. Die Ponte Vecchio brummte vor Leben. Der Reisende durchquerte staunend die Straßen, die oftmals noch mit Pflastersteinen belegt waren.
Bereits jetzt war es unerträglich warm. Der Arno führte eine ungesunde grüne Farbe und der Geruch von brackigem Wasser stieg dem Reisenden in die Nase. Er hatte noch etwa eine halbe Stunde Zeit bis zu seinem Treffen und so nahm er sich die Zeit, sich die Stadt etwas anzusehen. Die Architektur von Florenz unterschied sich zum Teil beträchtlich. Es fanden sich Renaissance-Palazzi mit klaren, geometrischen Formen und den charakteristischen Pilastern an den Fensterbögen, aber auch einfache, kastenförmige Wohnhäuser mit stilistisch praktischen Elementen. An einem Brunnen hielt er kurz an und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Es tat gut, hier zu sein. Der Reisende trug möglichst unauffällige Kleidung. Ein wenig Paranoia hatte noch niemandem geschadet. Seine Sonnenbrille schirmte ihn vor fremden Blicken ab, dazu hatte er seinen Panamahut tief ins Gesicht gezogen, sodass es im Schatten lag. Er liebte es, Menschen zu beobachten. Er ließ sich am Fuß des Brunnens nieder und schaute in die Menschenmenge, die vor ihm vorbeizog. Dort entdeckte er einen hektischen Geschäftsmann, dessen wilde Gestik und angespanntes Gesicht auf eine harte Verhandlung hindeuteten. Ein wenig rechts von ihm entdeckte der Reisende zwei junge Touristen, die scheinbar orientierungslos die Stadt erkundeten. Ihr weit aufgefalteter Stadtplan war dabei offenbar nur von geringem Nutzen. Er musste unwillkürlich lächeln, verschluckte es jedoch sofort wieder. Man sollte sich nicht über ihn wundern. Was ihn schon immer an diesem Land fasziniert hatte, war die spielerische Lebenslust seiner Bewohner, die ohne ein Karrierestreben, von Erfolg oder Misserfolg, niemals einem Lebensüberdruss erlagen, sondern stets eine Frische und Eleganz behielten. Ihr modischer Standard war selten übertroffen, noch seltener erreicht. Ihre Würde speiste sich nicht nur aus ihrem Verhalten, ihrer Kleidung, sondern auch aus ihrer gemeinsamen Geschichte als Begründer der Renaissance.
Trotz dieser vermeintlichen Ruhe fühlte sich der Reisende beobachtet. Es war wie eine Krankheit. Seine Haut fing an zu kratzen, er verspürte einen plötzlichen Bewegungsdrang. Ihm wurde schwindelig. Er sprang auf und schwang sich auf sein Fahrrad und legte strampelnd die wenigen Kilometer bis zur Piazza della Signoria zurück, dem Herzen der Stadt nahe der alten Festung, dem Palazzo Vecchio. Sobald er wieder in Bewegung war, verschwand das mulmige Gefühl. Der Reisende kettete sein Fahrrad an einer Straßenlaterne an und ging hinüber zur Piazza. Ein Absperrgitter vor dem Palazzo Vecchio deutete an, dass hochrangiger Besuch zu Gast in Florenz war. Umso besser, das lenkte von ihm ab. Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor Mittag. Jeden Moment müsste die alte Turmuhr im Campanile läuten. Irgendwo in der Menschenmenge um ihn müsste sein Freund auf ihn warten. Ihm war unwohl. Er mochte keine große Menschenmenge. Zu viele Elemente, auf die er keinen Einfluss hatte. Eine gesellschaftliche Gleichung, die niemand zu lösen vermochte. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Etwas stimmte hier nicht. Abrupt drehte er sich um und schaute in das freundliche Gesicht von George Wellesley, seinem alten Studienfreund, der ihn etwas entrückt ansah. Die Turmuhr schlug Zwölf. George sagte etwas, es ging aber im Läuten der Glocke unter.
»Wie bitte?«, entgegnete der Reisende.
»Willkommen in Florenz, alter Freund«, sagte George und gab dem Reisenden eine freundschaftliche Umarmung. »Die Stadt wird dir gefallen. Für mich als Kunstfreund ist es das Jerusalem-Syndrom der etwas anderen Art. Ich sehe, du hast dir auch deinen Bart abrasiert. Du gefällst mir besser so«, meinte er schelmisch und zwinkerte. Als der Reisende nicht reagiert, sondern starr in Richtung des Campaniles sah, rüttelte er ihn an der Schulter. »Alles in Ordnung, du wirkst so blass.« Jegliche Farbe war aus dem Gesicht des Reisenden gewichen und sein Gesicht bebte.
»Raben…«, murmelte er und wies auf die Spitze des Turms. Ein Schwarm von Raben erhob sich in jenem Moment krächzend vom Sims und zerstob just dann, als der Reisende darauf wies.
»Ich glaube, du könntest einen Espresso vertragen. Eher zwei.«
Die beiden steuerten auf das Café della Libertà, eines der bekanntesten Cafés der Stadt, das vermutlich den besten Espresso der ganzen Stadt servierte, was einiges zu heißen hatte, in dem Land, das nachweislich diese Kaffeesorte erfunden hatte, wie George ausdrücklich beteuerte. Die beiden setzten sich nach draußen und ließen sich auf bequemen Korbstühlen nieder. Nachdem der Reisende zwei doppelte Espressi sowie ein großes Stück Kuchen verspeist hatte, gewann sein Gesicht an Farbe zurück. »Ich weiß nicht, was eben über mich gekommen ist. Es war wie eine schreckliche Eingebung«, sagte er und bestellte sogleich ein Glas stilles Wasser. George sah ihm direkt in die Augen.
»Verrate mir bitte eines, ist sie tot?«, fragte er bestimmt und legte die Finger abwartend aneinander. Der Reisende nickte langsam.
»Sie ist tot. Und wird auch nicht zurückkehren. Das ist jetzt vorbei. Ich dagegen, lebe. Man wird mich nicht finden. Ich habe alle Spuren verwischt«, der Reisende seufzte. »Ich bin hierhergekommen, um mich zu bessern, weißt du? Ich möchte nicht mein ganzes Leben gefangen sein. Auf Dauer würde ich es nicht aushalten.«
»Ich verstehe…«, sagte George. »Tröste dich damit, dass du weißt, dass es sein musste. Es gab keinen anderen Ausweg. Verstehst du? Es ging nicht anders. Die Notwendigkeit war zwingend.«
Der Reisende nickte langsam. Er nahm einen Schluck Espresso und gab ein erfrischtes Zischen von sich. Er schien nicht weiter darüber reden zu wollen. »Sag mir, George, wie geht es dir in Florenz? Es muss doch wirklich großartig sein hier zu leben. Das Wetter, die beinahe mittelalterlichen Straßen…« George zögerte ein wenig, bevor er antwortete.
»Unterschätze sie nicht. Sie ist sehr störrisch und wehrt sich gegen alles Neue, was hier eindringt. Du hast von den Morden gehört. Seit Wochen halten sie die Stadt in Atem. Für gewöhnlich versinkt die Stadt in einem schwermütigen Trott, doch sobald etwas passiert, ändert sich dies. Sie wird launisch, schlägt um sich, tritt wild aus. Ich lebe schon sehr lange hier, ich kenne viele Mysterien dieses Ortes.«
George Wellesley kannte den Reisenden bereits sehr lange. Er pflegte zu sagen, dass sie sich schon kannten, als sie sich noch nie begegnet waren. George war jemand, der das ruhige, geistig erfüllte Leben einem aufreibenden, fordernden Leben vorzog und seine Zeit lieber in seiner eigenen Welt des Geistes verbrachte. Seine selbst gewählte Armut rührte aber noch von einem ganz anderen Ereignis her, das sich vor vielen Jahren an der Universität ereignet hatte. Für eine Zeitlang war George Wellesley ein gesuchter Kunstdieb gewesen, der kostbare Gegenstände unter der Mithilfe des Reisenden stahl. Ming-Vasen, römische Diatretgläser und andere Artefakte hatte er höchstbietend verkauft. Es war wie ein Zwang. Er selbst studierte die Kultur der Gegenstände, die er stahl und heimlich verkaufte und doch musste er sie der Öffentlichkeit entziehen. Irgendwann hatte ihn seine Schuld eingeholt, er hatte sein Vermögen verschenkt und hatte sich dem Leben eines armen Gelehrten zugewandt. Nur ein einziges Stück hatte er behalten: Einen Papyrusband mit Schriften Hypatias, Platos und vieler anderer antiker Denker. Dies war sein persönliches Tor zur Vergangenheit.
Der Reisende dagegen hatte sich für ein anderes Leben entschieden. Doch auch er hatte seine Neigungen nicht unterdrücken können. Er lebte recht spärlich ausgestattet und ohne ausladenden Luxus in einer Wohnung nahe des Arno, vielleicht auch, um seinen Schuldkomplex zu verarbeiten.
Nachts konnte er nicht nur das leise Rauschen des Flusses hören, sondern auch die Phantome der Nacht, Liebende, die sich in der Nähe des Wassers trafen, Kriminelle, die nur im Schein der Straßenlaternen dunkle Geschäfte abschlossen und sonstige Wesen, die die Nacht dem Tag vorzogen.
George lehrte an der Universität von Florenz Antike Geschichte, eine Entscheidung, für die ihn der Reisende oft kritisiert hatte. »Kultur sollten wir in uns tragen und nicht nach außen zur Schau stellen«, pflegte dieser zu sagen. Georges Spezialgebiet waren die antiken Mysterien, religiöse Kultgemeinschaften, die bis zum Ende der Antike wegen Verfolgung und Schweigepflicht nahezu aussterben sollten. Er wohnte je ein halbes Jahr in Florenz und die andere Jahreshälfte verbrachte er in Rom. Seine eher schlechte Gesundheit ließ nicht zu, dass er viel reisen konnte. Kein Arzt hatte ihm jemals sagen können, woran er genau litt. Geradezu mit gespenstischer Pünktlichkeit überfielen ihn jedes Jahr um die Herbstzeit starke Krämpfe und hohes Fieber peinigte ihn, welches ihn tagelang an sein Bett fesselte. Er delirierte wie im Wahnsinn. Nach zwei Wochen dann war alles wieder vorbei. Der Reisende merkte ihm an, dass er mittlerweile stark durch die Krankheit gezeichnet war. Sein Gesicht besaß keine gesunde Bräune, sondern war eingefallen und fahl. Er aß nur sehr wenig. Sein linkes Augenlid zuckte beständig, ein eigenartiger Tick, der ebenso wenig erklärbar war. In einem nervösen Waschzwang gefangen, umgab ihn stets eine duftende Wolke aus Limetten und frisch geschnittenem Zitronengras.
George wirkte seltsam aus der Zeit gefallen. Wenn Sie in der Stadt unterwegs waren, hielt er an nahezu jeder Straßenecke an und spulte enzyklopädisches Wissen über dieses historische Gebäude oder jenes Denkmal ab, eine irritierende Angewohnheit. Sich selbst umgab er mit Gegenständen aus der Vergangenheit, seine Abstammung aus einem alten, jedoch unbedeutenden Adelsgeschlecht aus der Grenzregion zu Schottland tat ihr Übriges. Traditionen waren ihm sehr wichtig und er trank jeden Tag seinen Nachmittagstee, ungeachtet der unbeschreiblichen Hitze und stickigen Luft, die in den engen Seitengassen von Florenz im Sommer herrschte.
Die Gegenwart bildete seiner Meinung nach keine unüberwindliche Barriere zur Vergangenheit, sondern war ein aus ihr gewachsener Prozess. Ohne sie verstünden wir weder uns selbst, noch die Zukunft.
»Hast du Pläne für die Zeit hier?«, fragte George. Der Reisende setzte seine Sonnenbrille auf.
»Vielleicht wird es nicht nur ein kurzer Aufenthalt, George, vielleicht bleibe ich hier, so genau kann ich das noch nicht sagen. Ich möchte das tun, was ich anderswo nicht konnte: Leben. Genießen. Kultur erleben. Diesen Luxus konnte ich mir sonst nie leisten.«
George lächelte sanft. Er wusste, worauf der Reisende anspielte.
»Dann wirst du hier viel zu sehen wissen. Die Uffizien bieten eine große Auswahl an Meisterwerke italienischer Kunst. Ich hoffe, du fängst dir nicht das Stendhal-Syndrom ein«, er lächelte verschlagen.
»Die ganze Stadt ist wie ein riesiges Freilichtmuseum. Gerade morgen Abend habe ich etwas Interessantes für uns…«, er nestelte an der Tasche seines Jacketts herum. Er zog zwei, auf dickes Papier gedruckte Karten hervor. »In weiser Voraussicht. Die Rolle wird dir sicherlich gefallen«, meinte er zwinkernd und überreichte dem Reisenden eine davon. »Einladung zum Maskenball im Palazzo Amato. 20.00 Uhr. Príncipe Rosso« stand dort in golden perforierten Lettern. »Giovanni Amato ist Florenz reichster Bewohner. Ein Verleger, Philanthrop und Schriftsteller. Eine mysteriöse Person. Es kommt nur sehr selten vor, dass er sich der Öffentlichkeit zeigt. Er lebt sehr zurückgezogen.« Der Reisende schien sehr interessiert.
»Wenn das ein schwerreicher Upper-Class-Mann ist, wie bist du dann an die Karten gekommen? Die werden ja wohl nicht vom Himmel fallen.« George hob unschuldig die Hände. »Ich habe da so meine Kontakte an der Universität.« Seine Augen leuchteten. »Die Bälle im Palazzo Amato sind berühmt-berüchtigt. Maskierte Menschen, die ihre Hemmungen verlieren sind kein rein venezianisches Phänomen. Hier in der Toskana zelebrieren wir eine ganz besondere Form des Karnevals in der schwülen Hitze der Nacht.«
Der Reisende sah hinunter auf seine Einladung.
»Was hat es mit dem Príncipe Rosso auf sich, ist das Teil einer Folklore?«, fragte er skeptisch.
»Das wird deine Verkleidung für morgen sein. Ich bin der Erudito Azzurro, der blaue Gelehrte«, erwiderte George mit strahlendem Gesicht. Er liebte das Spiel aus Täuschung und Wahrheit und besaß die tief sitzende Überzeugung, dass es wirkliche Mysterien gebe, denen nur mit Staunen begegnet werden könne, nicht mit wissenschaftlicher Ratio. Die beiden unterhielten sich noch eine Weile über dieses und jenes und verabschiedeten sich anschließend. George überreichte dem Reisenden die Visitenkarte eines Kostümverleihs. »Der beste, den ich kenne«, wie er nachdrücklich hinzufügte.
»Wir treffen uns am besten auf der Piazza della Repubblica, sie liegt am zentralsten. Von dort können wir zu Fuß zur Kirche Sant'Ambrogio laufen. Der Palazzo Amato befindet sich dort ganz in der Nähe. Ist kaum zu übersehen. Ein gewaltiger Komplex.« Der Reisende war beeindruckt von Georges Lebenswillen. Die Stadt schien ihn zu einem besseren Menschen gemacht zu haben, als er es jemals war. Viel wurde über die kalmierende Wirkung von Bildung und Kultur geschrieben, als ein Weg jene Glückseligkeit zu erlangen, die von antiken Philosophen als das finale Ziel im Leben anzusehen sei. Er flanierte eine Zeit lang durch die Straßen und gönnte sich ein Caprese-Sandwich in einer kleinen Bar mit pittoresker Fassade. Einige Male ertappte er sich dabei, wie er entspannt seufzte. Es tat gut, die unnützen Sorgen hinter sich zu lassen. Er fühlte sich wie neugeboren und war sich sicher, in die richtige Stadt gereist zu sein. Sie hatte ihn in ihre marmornen Arme genommen und fest darin begraben.
Am Nachmittag suchte er dann den Kostümverleih auf, den George ihm empfohlen hatte. Es lag - wie die meisten guten Geschäfte - abseits der touristischen Ströme in einer Seitenstraße. Über der Eingangstür prangte in geschwungenen, silbernen Buchstaben der Name des Inhabers: Spalanzanis Kostüme.
Das Schaufenster war mit in barocke Gewänder gehüllten Puppen dekoriert. Der Reisende öffnete die Tür und trat ein. Als er über die Schwelle trat, erklang ein Glockenspiel. Er war erstaunt über die Unordnung des Geschäfts. Von außen wirkte es unscheinbar und beengt, doch im Inneren eröffneten sich Dimensionen ungeahnten, ja unmöglichen Maßes. Über und über schaute er auf Regale und Vitrinen voller Kostüme aller Epochen. Der Verkaufstresen ächzte unter den Bergen von Stoff und Seide, die sich auf ihm türmten. Eine enge Treppe führte hinauf in den ersten Stock. Vorsichtig erklomm der Reisende die fürchterlich quietschenden Stufen. Ein ätherisch riechender Nebel quoll ihm entgegen, sodass er husten musste. Seine Augen fingen an zu tränen. »Signor Spalanzani!«, rief er in den Nebel hinein. Plötzlich öffnete sich eine Tür und der Nebel klärte langsam auf. Ein Mann steckte den Kopf aus der Tür. Er trug einen langen, weißen Bart, der ihm weit unter die Brust reichte. Seine Augen waren klein, aber wach. Er trug einen fleckigen Kittel.
»Entschuldigen Sie, Signore. Ich habe Sie nicht gehört.« Spalanzani öffnete die Tür, dass der Reisende einen Blick in das Zimmer werfen konnte.
Dort standen allerlei Pflanzen sämtlicher Couleur, Glaszylinder und Brenner. Aus einem Gefäß quoll auch der angenehm riechende Nebel. Eine Flamme loderte zischend grün auf. Spalanzani fluchte und eilte hinüber. Er erstickte die Flamme mit einem Tuch. Als er den kleinen Brandherd gesichert hatte, wandte er sich endlich dem Reisenden zu. Er wischte sich die Stirn mit seinem Kittel ab.
»So, nun bin ich da. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich suche ein Kostüm für einen Ball«, sagte der Reisende. Spalanzani sah ihn neugierig an.
»Für welche Art Kostüm interessieren Sie sich denn? Ich bin ein Meister meines Fachs und habe in Venedig gelernt. Folgen Sie mir doch kurz herein.«
Er gebot dem Reisenden mit einer eindringlichen Handbewegung einzutreten. Er drehte die Brennerflamme unter einem blubbernden Glaszylinder herunter und setzte sich dann in einen Sessel am Fenster, das er, bevor er sich erschöpft niederließ, öffnete. Der Reisende versah die exotisch anmutenden Apparaturen mit einem skeptischen Blick.
»Ich bräuchte ein Kostüm als Príncipe Rosso.« Dieser nickte wissend.
»Ah, der Príncipe Rosso. Eine großartige Figur.« Der Kostümmacher schien das Kostüm zu kennen und hakte daher nach.
»Was hat es genau mit dieser Figur auf sich?« Spalanzanis Augen funkelten verschlagen und faltete die Hände.
»Nun, Sie sind wohl nicht von hier. Ich gehe davon aus, dass Sie einen Ball im Palazzo Amato besuchen…«, der Reisende nickte. »Das habe ich mir gedacht. Nun, Giovanni Amato ist nicht nur ein schwerreicher Mann und Kunstliebhaber, sondern auch ein erfolgreicher Schriftsteller. Einer seiner berühmtesten Werke war ein Theaterstück namens La Città Colorata. Jede Person darin besitzt eine bestimmte Farbe. Das Ganze hat über zweitausend Seiten und Dutzende von Figuren. Der rote Fürst ist ein reisender Adeliger, über den nicht viel bekannt ist. Viele Geheimnisse ranken sich um ihn und seine Maske ziert ein geheimnisvolles, aber zugleich irres Grinsen. Da die Stadtbewohner nicht über die Hintergründe der Figur nicht viel über den Fürsten wissen, beginnen sie wild zu spekulieren. Einige vermuten, er sei ein gemeiner Hochstapler, andere sehen in ihm einen gefallenen König und einige wenige meinen im Fürsten eine zutiefst zynische Figur zu erkennen, die die Oberflächlichkeit der Bewohner offenlegen möchte. Als die Gerüchte überhandnehmen und einige Bewohner versuchen, ihm die Maske vom Gesicht zu reißen, flieht er überstürzt aus der Stadt und hinterlässt einen eisernen Berg aus Rätseln und Geheimnissen«, erklärte Spalanzani.
»Jetzt, wo Sie es sagen, erinnere ich mich daran. Ich hatte davon gehört, es lief in allen großen Theatern der Welt. Sogar eine erfolgreiche Fernsehserie wurde daraus gemacht.« Der Kostümmacher nickte kurz.
»So ist es. Kommen Sie her, ich möchte Ihnen etwas zeigen.« Spalanzani geleitete den Reisenden zu einem Experimentiertisch, auf dem in langen Reihen kleine, akribisch beschriftete Reagenzgläser standen.
»Sehen Sie, es ist wie Magie.« Der alte Mann nahm eines der Gläschen heraus, entstöpselte es und breitete auf dem Tisch eine großes Stück Stoff auf. Vorsichtig, geradezu liebevoll tröpfelte er die rötlich schimmernde Flüssigkeit des Gläschens auf den Stoff. Zunächst geschah nichts, die Tropfen wurden gierig vom Stoff aufgesogen und der Reisende hätte sich desinteressiert abgewandt, wäre in diesem Moment nicht etwas Erstaunliches geschehen: In einer wilden Explosion der Farben entfaltete sich das wässrige Rot in ein Feuerwerk der kräftigen Rottöne. Wie ein Vater sein Kind betrachtete, so erfüllt von Stolz sah Spalanzani hinunter auf den Stoff, aus dem er Träume fertigte. Einem Fraktal gleich durchdrang die Flüssigkeit das Tuch und färbte es ein. Spalanzani seufzte.
»Das ist meine wahre Kunst. Ich erschaffe Kleidung aus vergangenen Zeiten, mit den gleichen Farben und Stoffen, denn nur so können ihre Träger überzeugend in ihre Rollen schlüpfen. In jedes Teil lege ich ein Stück von mir selbst. Diese Gewänder sind meine Kinder.«
Spalanzani vermaß den Reisenden gründlich von Kopf bis Fuß und versprach, das Kostüm bis zum nächsten Tag anzufertigen, da er immer einige Muster für den kurzfristigen Bedarf aufbewahrte.
»Sie werden sehr zufrieden sein«, versicherte der Kostümmacher. Der Reisende verließ zufrieden das Geschäft. Der Kleidermacher hatte ihm eine kolorierte Skizze des Kostüms mitgegeben, sodass er sich es bereits vorher ansehen konnte. Es war ein langes, rötliches Gewand mit einem dünnen, übergeworfenen Mantel, der an der Brust von einer Fibel zusammengehalten wurde. Das Gewand war mit spiralförmigen Ornamenten bestickt. Er begab sich in die nächste Buchhandlung und kaufte eine edel eingebundene Ausgabe von Amatos La Città Colorata, ein Werk, das durch seinen großen Seitenumfang schwer in der Hand wog. Ein wenig blätterte er durch die unzähligen Kapitel. Dann schlug er die letzte Seite auf, da sich dort meistens ein Bild oder Porträt des Autors befand. Hier jedoch nicht.
Nur eine kleine Notiz über Amatos Werdegang. Nicht einmal Geburtsort oder Geburtsjahr fand sich dort.
»Dieser Signore ist ein Phantom«, murmelte der Reisende und klappte das Buch zu. Er nahm sich vor, das Buch so bald wie möglich zu lesen.
Später am nächsten Tag holte er in Spalanzanis Geschäft sein Kostüm ab. Es sah wirklich nobel aus. Der Kostümmacher hatte nicht zu viel versprochen. Er probierte es direkt an und stellte zu seinem Vergnügen fest, dass es wie angegossen saß. Ihm war, als sei er tatsächlich eine andere Person, als legte sich eine fremde Haut über die seinige. Spalanzani packte ihm freudestrahlend das Kostüm in Seidenpapier ein, das er mit einer schwungvollen, roten Schleife dekorierte.
»Ich wünsche Ihnen einen großartigen Abend, Signore«, sagte Spalanzani und klopfte dem Reisenden jovial auf die Schulter.
»Den werde ich sicherlich haben«, versicherte der Reisende. Spalanzani geleitete ihn noch bis vor die Tür, wo er sich - eilig verneigend - verabschiedete. Es wartete noch Arbeit auf ihn. Die Nachfrage nach Mitteln der Kultur war ungebrochen. Der Reisende hatte vor, noch eine Runde im Pool schwimmen zu gehen, um sich zu erfrischen. Es war kaum ein Uhr nachmittags und die Straßen lagen wie ausgestorben vor ihm, wie Gräber aus totem Stein. Träge schlurften die Bewohner durch die Straßen, um sich in die Kühle ihrer Häuser und Wohnungen zu retten. Die Cafés und Geschäfte waren weitestgehend geschlossen. Er hatte recht schnell herausgefunden, dass die mittägliche Apathie und Trägheit zum Leben hier dazugehörte. Es war keineswegs verwerflich, sondern ließ diese Stadt aus Sandstein und Kultur ein wenig verschnaufen, um von Neuem zum Leben zu erwachen. Mit dem Ende der Mittagszeit geschah eine neue Renaissance.
Nun strömten die Menschen wieder auf die Straßen, lachend und schwebend. Der Reisende hatte Derartiges noch nirgendwo beobachtet.
In den großen Städten seiner Welt herrschte ein unruhiges, gedankenloses Chaos, eine Gesellschaft wie Treibsand. Wer erst einmal darin war und gegen das Absinken ankämpfte, wurde nur noch tiefer nach unten gezogen. Kultur brachte kein Geld, sondern kostete nur. Ein Luxus. Hier hingegen erschien dem Reisenden das Leben besser, intensiver und ästhetischer. Vergnügt pfeifend fuhr der Reisende auf seinem Fahrrad zurück zu seinem Palazzo, seiner ganz persönlichen Festung. Ihm schien, das Haus habe ihn endlich als Besitzer anerkannt. Die Fensterbögen schauten ihm nicht mehr