Die Erben des Feenfluchs - Corinna Götte - E-Book

Die Erben des Feenfluchs E-Book

Corinna Götte

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Beschreibung

Ein besseres Leben – das ist es, wonach Katherine sich sehnt. Jenseits der Wälder, wo niemand weiß, dass sie die böse Stiefschwester des Aschenkindes ist. Heimlich verlässt sie ihr zu Hause, keinen Tag länger hält sie es bei ihrer grausamen Mutter aus, deren ehrgeiziger Plan gescheitert ist – denn nicht Katherine, sondern ihre Schwester hat den Prinzen geheiratet. Inmitten der Nordwälder trifft sie auf den rätselhaften November, der gerade aus den Diensten einer Zauberin befreit worden ist und nun auszieht, um Prinzessin Winter aus ihrem todesähnlichen Schlaf zu wecken. Trotz der Gefahr, sich nicht nur mit einer eifersüchtigen Königin, sondern auch mit einer rachsüchtigen Zauberin anzulegen, bleibt sie bei ihm. Ist das endlich ihre Chance, etwas Gutes zu tun? Während sie noch versucht, ihr Herz zu schützen und ihre wahre Identität zu verbergen, streckt die Vergangenheit bereits ihre Krallen nach ihr aus… Perfekter Lesestoff für Fans von "Die Dreizehnte Fee" von Julia Adrian und "Rosen und Knochen" von Christian Handel

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Seitenzahl: 709

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Die Erben des Feenfluchs

CORINNA GÖTTE

Copyright © 2024 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Nina Bellem & Nica Stevens

Korrektorat: Lillith Korn

Layout Ebook: Stephan Bellem

Umschlag- und Farbschnittdesign: Alexander Kopainski

www.kopainski.com

Bildmaterial: Shutterstock

Druck: Booksfactory

ISBN 978-3-95991-657-8

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Prolog

1. Nachtschatten

2. Im Kerker der Zwerge

3. Die Krone der Meerhexe

4. Greta und Hannes

5. Das Portal

6. Der Turm

7. Spindel, Haspel und Ring

8. Feuer

9. Bündnis

10. Nähe

11. Pläne

12. Blick in die Vergangenheit

13. Das Schloss im Schnee

14. Verbundenheit

15. Das Verlassene Dorf

16. Erlengrund

17. Offenbarungen

18. Rückkehr nach Hause

19. Kleid aus Mondlicht

20. Vor dem Ball

21. Der Winterball

22. Königin Aurelia

23. Der Jäger

24. Die Spiegelkammer

25. Das Gold der Fee

26. Vergebung

27. Schneewittchens Stiefmutter

28. Magie

29. Streit

30. Seele und Herz

31. Verschüttete Erinnerungen

32. Dornenschloss

33. Die Wahrheit über die Dornen

34. Weg durch die Dornen

35. Schneewittchen

36. Dornröschen

37. Novembers Schlaf

38. Schneewittchens Erwachen

39. Das Ende des Feenfluchs

40. Zweifel

41. Die Eschenfrau

42. Das Biest

43. Die dreizehn Feen

44. Die Hüterin des Spiegels

45. Magie

46. Weg in die Zukunft

Epilog

Danksagung

Drachenpost

Für Christian

Prolog

Fest schloss er die Faust um den kleinen Samtbeutel in seiner Hand. Die goldenen Schmuckstücke darin waren das Einzige, was ihm in den vergangenen Jahren Hoffnung gegeben hatte – und die Gewissheit, dass er geliebt wurde.

Ein Ring, eine Haspel und ein Spinnrad, so klein, sie hätten auch in ein Puppenhaus gepasst. Mit dem Spinnrad werden die Schicksalsfäden zweier Liebender untrennbar zu einem Faden versponnen, klang die Stimme seiner Mutter nach all der Zeit noch immer in seiner Erinnerung nach. Mit der Haspel wird dieser Faden bis zum Ende aller Tage aufgewickelt und der Ring ist das Symbol für ewige Liebe und Treue.

Wie jedes Mal, wenn die Zauberin ihn zwang, sie durch ein Portal auf einen neuen Auftrag zu begleiten, hatte er nach den Schmuckstücken gegriffen. Ein geheimes Ritual, das ihn daran erinnerte, ein Mensch zu bleiben und den Unterschied zwischen Gut und Böse nicht zu vergessen. Aber er kam nicht mehr dazu, die Schmuckstücke aus dem Samtbeutel zu nehmen und in seiner Handfläche zu bergen. Sie so fest zu umschließen, bis sich die Ecken und Kanten in seine Haut drückten, die Kälte das Gold verließ und das Wissen, geliebt zu werden, sein Herz erreichte.

In tiefschwarzer Nacht folgte er seiner Herrin durch die schimmernde Fläche des Portals an einen Ort, an dem es nur hohe Steinmauern aus dunklen Quadern und plattgetretene Erde gab. Er hörte das Schaben einer Klinge über Stein, das Knirschen von Leder und dumpfe Schritte. Gemurmel schwoll an, mehrere Gestalten stürzten auf sie zu.

Noch während sich das Portal hinter ihnen schloss, erhellte eine Explosion aus Licht die Nacht. Eine unsichtbare Kraft traf ihn und warf ihn auf den Rücken, der Aufprall presste ihm die Luft aus der Lunge. Fast verlor er den kleinen Beutel, doch im letzten Moment schlossen sich seine Finger darum. Rasch schob er ihn in seinen Stiefelschacht, bevor er sich geblendet eine Hand vor die Augen hielt. Blinzelnd erkannte er, dass es die Zauberin war, die wie ein Feuerwerk in farbige Sterne zerbarst. In solch einer funkelnden Pracht, obwohl ihr Inneres so hässlich gewesen war. Nie zuvor hatte er sie so schön gesehen, nie stumm. Ohne einen Fluch, gehässiges Lachen oder kratzende Worte.

War es vorbei? War es endlich vorbei?

Ein bärtiges Gesicht schob sich über ihn. Im nächsten Augenblick traf ihn etwas am Kopf und riss sein Bewusstsein in die Dunkelheit.

Kapitel1

Nachtschatten

Katherine schreckte auf. Einen Herzschlag lang blendete sie goldenes Licht und schickte Schmerz in ihren Schädel. Als sich ihre Augen jedoch an die Helligkeit gewöhnten, war da nur noch trüber Morgennebel, der im Unterholz hing. Durch die Baumkronen zog bereits die Dämmerung herauf, bald würden erste Sonnenstrahlen die letzten Nebelfetzen vertreiben. Das Feuer war verschwunden und Kälte kroch über den Waldboden unter ihre Wolldecke. Sie zitterte.

Was hatte sie geweckt? Reglos lag sie da und lauschte angestrengt. In ihrer Nähe raschelte es.

Langsam drehte sie sich auf die Seite, spähte zu den Ginsterbüschen hinüber und tastete nach einem Ast, um sich im Notfall damit zu verteidigen. Doch es war nur ein Reh, das den Kopf zwischen den Blättern hervorstreckte. Erleichtert sank Katherine zurück, die Anspannung hatte sich jedoch in ihren Gliedern festgesetzt und wollte nicht weichen.

Es war das erste Mal, dass sie eine Nacht unter freiem Himmel verbracht hatte, und es gefiel ihr nicht sonderlich. All die Geräusche um sie herum, die sie nicht deuten konnte. Die Feuchtigkeit spürte sie trotz der Wolldecke und ihrer Kleidung. Wurzeln und Steine bohrten sich durch den Stoff in ihre Haut. Käfer konnten der Wärme ihres Körpers nicht widerstehen.

War es ein Fehler, ihrem bisherigen Leben den Rücken zu kehren? Aber sie war nicht glücklich gewesen.

Mit ihrer Stiefschwester Mirabella hatte sie schon immer im Streit gelegen. Eine verlegte Haarspange, ein Riss in der Schürze, ein Fleck im Kleid – Anlässe hatten sich genug gefunden, um übereinander herzufallen. Dabei hatte Katherine gehofft, die neue Schwester würde ihre Einsamkeit vertreiben, nachdem damals, nur wenige Wochen vor Mirabellas Ankunft, Katherines jüngerer Bruder Benedikt spurlos verschwunden war.

Die beiden zehnjährigen Mädchen hätten Freundinnen werden können, aber das wurden sie nicht. Ihre Stiefschwester verbrachte ihre Zeit lieber in der Küche als mit ihr. Am Ofen war es zwar schmutzig, aber warm, und die Küchenmädchen hießen ihre Hilfe immer willkommen. Dank ihres lieblichen Lächelns waren alle ganz vernarrt in Mirabella, steckten ihr Leckereien zu und schimpften nicht, wenn sie ihnen im Weg war. Katherine dagegen erhielt statt Leckereien nur mitleidige Blicke und wurde schnell fortgescheucht. Was die Küchenmädchen über sie tuschelten, erfuhr sie nie.

Obwohl sie Mirabella nicht beneiden wollte, tat sie es, und über Neid und Trauer vergaß sie schließlich, wie sich Glück anfühlte.

Die Jahre vergingen und sie wurden erwachsen. Bald betrauerte Mirabella ihren Vater und sie beide mussten mit Katherines gefühlskalter Mutter zurechtkommen.

Seit dem königlichen Brautball, auf dem der begehrte Königssohn mit allerlei Brimborium ihre Stiefschwester als Braut erwählt hatte, war zwischen ihnen der letzte Funken Wärme erloschen. Sie würden niemals Freundinnen sein.

Dennoch hoffte sie, dass Mirabella glücklich wurde, auch wenn sie sich das nicht vorstellen konnte. Der Königssohn war ein Schürzenjäger. Dass er den Wohlstand des Landes nach dem Tod seines Vaters bewahren konnte, bezweifelte Katherine, dafür war er viel zu sehr an den Röcken der Mägde interessiert. War ihre Stiefschwester blind? Hatte sie sich durch seine charmante Werbung und die lächerlichen Prüfungen so arglos aufs Glatteis führen lassen?

Katherine seufzte, wie so oft, wenn sie darüber nachdachte. Es stand ihr nicht zu, Mirabella zu verurteilen. Ihr selbst hatte der Brautball die Augen über ihn geöffnet und ihre Träume von einem Platz an seiner Seite ausgelöscht. Einen Mann, der ihr unsittliche Angebote machte, während er um ihre Stiefschwester warb, wollte sie nicht.

Du wirst den Prinzen heiraten, so schön wie du bist, hallte die tägliche Litanei ihrer Mutter immer noch in ihrem Kopf wider. Aber nach seiner Hochzeit mit der falschen Tochter waren ihre Locken auf einmal zu struppig, ihre Hüften nicht schmal genug, ihre Nase ein wenig zu breit, ihr Gang nicht grazil. Dass sie nicht mehr anmutig wie eine Prinzessin daherschreiten konnte, war gewiss nicht ihre Schuld. Die längst nicht verheilte Verletzung an ihrem Fuß zwang sie zum Humpeln. Meist nur leicht, aber oft genug stieß sie gegen Wurzeln und Steine und der Schmerz jagte dann so heftig ihr Bein hinauf, dass sie ihre Beeinträchtigung kaum verbergen konnte.

Die Tage nach dem Brautball waren fürchterlich gewesen. Gerüchte hatten sich verbreitet, dass Katherine angeblich durch ihr blutiges Opfer den Königssohn für sich hatte gewinnen wollen und versagt hatte. Dass sie später auf der Hochzeit hatte die spöttischen Blicke und das höhnische Getuschel der anderen Gäste ertragen können, verdankte sie nur ihrem jahrelangen Dasein als Außenseiterin. Hochmut, der fällt, war eben spannender anzuschauen als eine Hochzeitszeremonie, deren Prunk auf Dauer ermüdete. Erst die Festtafel hatte es geschafft, die Aufmerksamkeit von ihr abzulenken – und die Lieder der Barden, die interessanter waren als Katherines vermeintliches Unglück.

Ihre Mutter fand sich nicht damit ab, dass es nicht ihre leibliche Tochter gewesen war, die den Königssohn für sich gewonnen hatte.

»Er war für dich bestimmt!« Jeden Tag derselbe Vorwurf.

Es war richtig gewesen, fortzugehen, um ihrem Leben eine neue Richtung zu geben. Sie hätte es nur schon viel früher tun sollen. Dann wäre ihr Gang vielleicht noch grazil.

Das Reh trat wieder in ihr Sichtfeld und riss sie aus ihren Gedanken. Katherine setzte sich auf und beobachtete, wie es an einigen Grasbüscheln knabberte. Ein anmutiges Tier, sanft und unschuldig, das sie bereits häufiger gesehen hatte. Mit rötlichem Fell, aber pechschwarzem Geweih. Sie schälte sich aus der Decke und erhob sich. In der Kälte konnte sie ohnehin nicht länger schlafen. Bedauernd sah sie auf die Asche der Feuerstelle, bevor sie ihre Kleidung richtete und ihre wenigen Sachen zusammenpackte. Die Decke, ein paar Münzen und Schwefelhölzer, mehr hatte sie nicht eingesteckt, zu überstürzt war sie aufgebrochen.

Mirabella hätte längst ein fröhliches Liedchen geträllert, munter wie sie morgens stets war. Ihr wäre das Feuer sicherlich nicht ausgegangen. Sie hätte gewusst, welche Vögel ihr Morgenlied zwitscherten und ob sie sich vor dem Geraschel im Unterholz fürchten sollte.

Katherine schluckte ihren Neid hinunter und schnallte sich mit einem halblauten Ächzen das Bündel auf den Rücken. Wann sie das nächste Mal an einem Feuer sitzen würde, wusste sie nicht. Der Herbst war angebrochen, die ersten Blätter verfärbten sich bereits. Holz und Laub waren feucht und ließen sich nur schwer entzünden. Dass sie es am Abend zuvor geschafft hatte, war eher Glück als Können gewesen. Noch wärmte die Sonne sie, sofern sie sich hinter den Wolken hervorwagte. Die Tage wurden kühler.

Sie musste sich eine Unterkunft suchen – und Arbeit. Irgendetwas gab es bestimmt, das sie konnte, wenn man ihr nur eine Chance gab. An einem Ort, an dem sie morgens ein Frühstück erhielt. Ihr Magen knurrte. Der Proviant war aufgebraucht und jagen konnte und wollte sie nicht. Mit etwas Glück fand sie wilde Beeren oder ein paar essbare Pilze, die sie als ungiftig erkannte. Falls sie sich irrte, würde sie sich über ihr nächstes Mahl jedenfalls keine Gedanken mehr machen müssen.

Das Reh verschwand im Unterholz und ließ sie allein zurück. Höchste Zeit, ihren Weg fortzusetzen. Humpelnd folgte sie einem schmalen Trampelpfad, der sie hoffentlich durch den Wald bis ins nächste Dorf führte.

Dass sie sich verlaufen hatte, gestand sie sich am frühen Nachmittag ein. Auf eine Siedlung oder wenigstens einen kleinen Hof wagte sie nicht mehr zu hoffen. Wenigstens konnte sie ihren Hunger durch ein paar spät gereifte Brombeeren stillen.

Der Wald wurde nicht lichter, sondern finsterer. Die Düsternis lag nicht am dichter werdenden Blätterdach und dem Fehlen von schmalen Pfaden. Vielmehr waren die Bäume dunkler geworden. Die Stämme, Äste und Zweige erschienen grau, einige fast schwarz. Den Blättern fehlte das satte Grün.

Statt undurchdringlichem Buschwerk oder zu eng beisammenstehenden Bäumen war sie bald gezwungen, Anhäufungen von Felsen und steinige Brocken zu umgehen. Obwohl sie auf dem harten Untergrund besser vorwärtskam und es eine Wohltat war, nicht mehr mit ihren durchfeuchteten Schuhen in den weichen Waldboden einzusinken, spürte sie dennoch, dass etwas nicht stimmte. Schweiß rann ihr den Rücken hinab, und doch fröstelte sie. Auch die Geräusche veränderten sich. Kein Vogelgezwitscher mehr, keine Hasen und Eichhörnchen, die im raschelnden Laub vor ihr Reißaus nahmen. Nur noch unheimliches Knacken durchbrach die Stille, wenn eine Windböe durch das Geäst fuhr oder sie versehentlich auf einen trockenen Zweig trat. Felswände ragten links und rechts ihres Weges empor. Wald und Stein wirkten wie tot. Brennnesseln und Sträucher mit schwarzen Beeren waren irgendwann die einzigen Pflanzen, die sie zwischen den Bäumen und Felsen erkennen konnte. Sie legte keinen Wert darauf, mit den Brennnesseln auf Tuchfühlung zu gehen.

Einige Jahre war es her, dass sie von einem Mädchen hörte, das Nesselhemden knüpfte, wobei ihr Unglauben darüber sie in ein Brennnesselfeld getrieben hatte. Ihre Skepsis war dank schmerzhafter Pusteln an Beinen und Armen nicht gewichen. Vielmehr war sie sich danach sicher, dass niemand ein Hemd aus diesen beißenden Pflanzen knüpfen konnte. Wozu denn auch?

Ein Weg, der sie aus dem tiefen Wald hinausführte, war jedoch weiterhin nicht zu finden. Umkehren kam nicht infrage, das käme einer Niederlage gleich. Aber sie musste sich entscheiden, in welche Richtung sie weitergehen sollte. Dieser Teil des Waldes gefiel ihr nicht und auf eine weitere Übernachtung auf dem Erdboden konnte sie gut verzichten.

Als sich der Nachmittag dem Abend zuneigte, stieß sie auf eine ausgebrannte Hütte. Deren Überreste jagten ihr eisige Schauer über den Rücken. Nur noch verkohlte Balken ragten gebrochenen Rippen gleich in die Luft, in ihrer Mitte stand ein gusseiserner Ofen – wie ein düsteres Herz, das alles rundherum vergiftete. Aschegeruch drang in ihre Nase und ihr war, als würde schwarzer Nebel über den Boden bis zu ihren Schuhspitzen wallen. Sie erschauderte.

Hier musste sie schleunigst fort, bevor die Nacht anbrach.

Fürchte die Dunkelheit nicht, hatte ihre Mutter immer wieder betont, als Katherine noch ein Kind gewesen war. Erfreuliche Dinge passieren in der Nacht: Prinzessinnen tanzen auf Bällen, Prinzen erblicken das Licht der Welt, Träume werden wahr!

Aber Katherine hatte früh gelernt, dass die Nacht nicht harmlos war, und fast zu spät kam die Erkenntnis, dass hinter den Worten der Mutter der zwanghafte Drang stand, die eigene Vergangenheit heraufzubeschwören.

Sie lief weiter, kam vorbei an einem stinkenden Tümpel, in den sie fast gestolpert wäre, und undurchdringlichem Dickicht, das sie gar nicht erst zu überwinden versuchte. Irgendwann beschlich sie das Gefühl, wieder einem ausgetretenen Pfad zu folgen, der sie zu ihrem Ärger nicht weiter als bis zu einer Lichtung führte, die von blattlosen, knorrigen Bäumen umgeben war. Pilze siedelten an einigen Stämmen und Ästen, das Holz wirkte brüchig.

Bevor sie weiter Meile um Meile in die falsche Richtung lief, oder schlimmer noch, am Ende wieder vor den verkohlten Überresten der Hütte stand, musste sie sich dringend einen Überblick verschaffen.

Eine Kletterpartie war unausweichlich.

Sie legte ihren Beutel neben einem Baum ab, raffte ihren Rock und stopfte den Stoff unter ihren Gürtel, sodass er sie nicht behinderte. Darunter trug sie eine dünne Wollstrumpfhose, die bereits mehrere ausgefranste Löcher aufwies.

»Als ob in dieser Wildnis jemand auf meine Beine achtet«, murmelte sie, ehe sie zu den Baumwipfeln hinaufstarrte und überlegte, welcher Baum ihr die beste Aussicht bieten würde.

Geräuschvoll stieß sie ihren Atem aus und wählte den Stamm, von dem die meisten dicken Äste abstanden und den sie erreichen konnte, ohne sich mit dem stacheligen Unterholz anzulegen. Sie sprang in die Höhe und griff nach dem untersten Ast.

Zur Hausarbeit war sie nicht zu gebrauchen, aber Klettern lag ihr. Und Laufen. Niemand war so flink wie sie. In ihrer Kindheit war sie gegen sämtliche Jungen aus ihrem Dorf angetreten. Ihre Mutter hatte zwar höhnisch gelacht und behauptet, sie würden sie gewinnen lassen, Katherine wusste es jedoch besser. Die ständigen Niederlagen hatten einen verbissenen Ehrgeiz in ihren Konkurrenten geweckt. Von einem Mädchen, das nicht einmal schlank war, wurde keiner gern bezwungen. Neue Freunde fand sie durch ihre Siege nicht, ihr Bruder war stets ihr einziger Gefährte geblieben, bis er verschwunden und sie mit der schmerzenden Unwissenheit zurückgeblieben war.

Sie spannte die Armmuskeln an und zog sich hinauf, bis sich ihre Beine um den Ast schlossen. Ein wenig war sie dennoch aus der Übung. Durch ihren schmerzenden Fuß hatte sie sich seit Tagen nur verkrampft bewegt, sie fühlte sich steif und eingerostet. Aber sie hatte mit ihrem Aufbruch nicht warten wollen, bis die Wunde vollständig verheilt war. Die Steifheit in den Morgenstunden und die Gewissheit, sich bei allem mehr anstrengen zu müssen, nahm sie gern in Kauf.

Unter leisem Keuchen erklomm sie Ast für Ast. Die Rinde war rau, schnitt in ihre Hände und riss neue Löcher in ihre Strumpfhose. Die Äste knarrten.

»Verflucht!«, knurrte sie, als sie die Baumspitze erreichte und weit und breit nichts als dunklen Wald erkennen konnte, dazwischen Felsen.

Aber dann erblickte sie in der Ferne hohe Mauern. Ein Turm? Sie kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn. Nein, kein Turm, das war eine Burg! Mauerwerk erhob sich über den Wald, aus der Entfernung kaum von den Bäumen zu unterscheiden.

Die Beine fest um den Stamm geklammert lehnte sie sich weiter vor, gewann jedoch keine bessere Sicht. Von einer Burg inmitten des Waldes wusste sie nichts, was nicht verwunderlich war, da sie seit jeher geringes Interesse an allem zeigte, was außerhalb ihres Zuhauses geschah. Ein Fehler, aber wie hätte sie ahnen sollen, dass sie einmal von dort fliehen und mehr Wissen hilfreich sein würde?

Noch eine Weile starrte sie hinüber und kletterte schließlich hinab.

Höre auf dein Bauchgefühl, hatte ihr Benedikt häufig geraten, und das schrie förmlich danach, sich besser von diesem Gemäuer fernzuhalten.

Rasch lockerte sie ihren Gürtel, zog den Rock zurecht und schulterte ihr Bündel.

»Eine beeindruckende Kletterpartie«, erklang eine Stimme hinter ihr.

Erschrocken wirbelte sie herum, prallte dabei mit dem verletzten Fuß gegen eine Wurzel und konnte einen Schmerzenslaut nicht unterdrücken.

»Du hast mich erschreckt!«, schimpfte sie und musterte den jungen Mann, der ihr gegenüberstand. Ein Jäger, vermutete sie, ganz in Schwarz gekleidet. Nicht viel älter als sie selbst. In einer Hand hielt er eine Armbrust und in seinem Gürtel steckte ein Dolch neben einem kleinen Messer. Ihr Blick wanderte über sein Gesicht, entlang der kantigen Wangenknochen und schmalen Lippen, bevor er sich ein wenig provokant in seine grünen Augen bohrte.

Die Sommersprossen auf seiner Nase passten hervorragend zu seinem spöttischen Gesichtsausdruck und hellten sein düsteres Erscheinungsbild etwas auf.

»Tragen Jäger nicht grüne Kleidung, um sich im Wald besser verbergen zu können?« Ihre Unsicherheit ließ sie patzig werden, sie wurde nicht gern überrumpelt.

»Kommt auf den Wald an«, gab er zurück, streifte sich die Kapuze vom dunklen Haar, schulterte die Armbrust und kam einen Schritt näher. »Dir wird aufgefallen sein, dass dieser hier anders ist als andere Wälder.«

Mit seinen Fingerkuppen strich er beiläufig über die knorpelige Borke eines Baumes und brach einen Zweig vom Stamm, den er achtlos zur Seite warf. Als er seine Hand über den Griff seines Dolches legte, der in seinem Gürtel steckte, wich Katherine zurück. Beschwichtigend hob er die Hände.

»Du musst keine Angst vor mir haben.«

»Angst? Vor dir? Die habe ich nicht.« Sie straffte sich und trat wieder vor. »Was willst du?«

Ein Lächeln zuckte in seinen Mundwinkeln, das seine Augen jedoch nicht erreichte. »Mich bemerkbar machen, sollten wir denselben Weg haben.«

»Und welcher wäre das?«

Als würden sie ein Duell ausfechten, starrten sie sich an, bis er aufgab und nach Süden zeigte. »Ich muss dort entlang.«

»Gut«, sagte sie. »Mir ist sehr wohl aufgefallen, dass dieser Wald anders ist. Daher gehe ich in diese Richtung.« Sie deutete nach Osten. Zwar würde sie so der Burg näherkommen, dabei aber weder ihr Bauchgefühl zu stark vernachlässigen noch Gefahr laufen, mehr Zeit als nötig mit diesem merkwürdigen Jäger zu verbringen. Bedroht fühlte sie sich nicht von ihm. Er hatte allerdings irgendetwas an sich, das sie verunsicherte. Es war sicherlich besser, ihn so schnell wie möglich loszuwerden.

Stell dich deiner Angst, erinnerte sie sich an Benedikts Rat. Und wenn dir etwas nicht behagt, finde heraus, warum!

Es war definitiv leichter, die Worte ihres Bruders zu ignorieren.

»Wenn dir aufgefallen ist, dass dieser Teil des Waldes anders ist, warum wählst du dann ausgerechnet den Weg, der dich tiefer hineinführt?«, wollte der junge Jäger wissen und vertrieb Benedikt mit seiner Frage aus ihren Gedanken.

»Das geht dich nichts an.« Dass sie die Gesellschaft toter Bäume der seinen vorzog, würde sie ihm gewiss nicht auf die Nase binden. Wenn er allerdings die Wahrheit sagte und der Wald noch schauriger wurde, hatte sie ein Problem.

»Du trägst nicht einmal einen Dolch bei dir.« Mit dem Griff voran streckte er ihr seinen entgegen. »Nimm!«

»Ich mag keine Waffen.«

»Und wie stehst du zu deiner Unversehrtheit?«

»Die schätze ich sehr, daher werde ich deinen Dolch nicht annehmen.«

»Willst du mir etwa weismachen, dass du dich damit nur selbst verletzten würdest?« Als sie weder antwortete noch Anstalten machte, ihn zu nehmen, steckte er ihn mit einem grummeligen Laut zurück in den Gürtel. »Weißt du überhaupt, wie gefährlich es hier ist?«

»Natürlich!«, behauptete sie frech, wandte sich ab und streckte ihre Hand nach ein paar Beeren aus, die an einem Strauch wuchsen, allerdings mehr aus Verlegenheit als aus dem Wunsch, ihren Hunger zu stillen.

»Schwarzer Nachtschatten«, erklärte er. »Wächst hier überall, lass bloß die Finger davon, wenn du keinen Wert auf Magenkrämpfe oder einen qualvollen Tod legst! Hier gibt es recht viel, das dir gefährlich werden kann: giftige Pflanzen, Stolperfallen, Abhänge, Steinschläge, Treibsand –«

»Treibsand? Das glaube ich nicht.«

»Unterschätze die Natur nicht, sie ist mitunter eigenwillig, außerdem …«

»Das ist mir bewusst!«, unterbrach sie ihn und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie erst durch seine Warnung begriffen hatte, wo sie sich befand: Inmitten der sagenumwobenen Nachtschattenfelsen, die von den weitläufigen und um einiges harmloseren Nordwäldern umschlossen wurden. Nur wenige, die sie betraten, kehrten unversehrt zurück. Die meisten verschwanden und wurden nie wieder gesehen. Gerüchte, denen sie keinen Glauben schenkte, auch jetzt nicht. Katherine war gewiss nicht die Einzige, die die Wälder mit der Absicht durchquerte, nie wieder zurückzukehren. Nicht die Nachtschattenfelsen, sondern eine solche Entscheidung trug Schuld an ihrem Verschwinden.

Aber wenigstens wusste sie nun, warum dieser Teil des Waldes so düster und ungastlich war.

»Wir werden uns bestimmt eines Tages wiedersehen und ich hoffe, dass dir bis dahin kein Leid widerfährt.«

»Ich passe schon auf mich auf«, versprach sie und verkniff sich eine schroffe Erwiderung. Immerhin schien er sich wirklich um sie zu sorgen, obwohl ihr die Gründe dafür schleierhaft waren. Sollte sie ihm verraten, dass sie ihn bedrohlicher als alles fand, dem sie bisher begegnet war? Daran änderte auch sein starres Lächeln nichts, mit dem er sich zu ihrer Erleichterung kurz darauf von ihr verabschiedete. Die Anspannung wich allerdings erst aus ihren Gliedern, als er zwischen den Bäumen verschwand.

Einige Minuten wartete sie noch, bevor sie nach einem letzten skeptischen Blick auf die Beeren, die ihrer Meinung nach eher wie dunkle Johannisbeeren aussahen, ebenfalls weiterzog. Nicht, dass sie sich erneut verlief und am Ende ein weiteres Mal seinen Weg kreuzte.

Allzu lange dauerte es nicht, bis das Grün um Katherine herum wieder satter wurde. Die Helligkeit kehrte gemeinsam mit den Geräuschen zurück und endlich stieß sie wieder auf einen Pfad, dem sie folgen konnte. Recht schmal zwar, durchsetzt von Wurzeln und mit von Moos zerfransten Rändern, trotzdem ein deutliches Zeichen dafür, dass Menschen diesen Teil des Waldes durchquerten. Die Hoffnung, noch vor der Nacht ein Dorf zu erreichen, kam zurück und beflügelte sie. Zu ihrer Überraschung war auch das Reh mit dem schwarzen Geweih wieder da. Es gaffte sie an, fast menschlich, wären da nicht die im Tageslicht goldglitzernden Augen, die sie einige Herzschläge lang bannten. Mühsam schüttelte sie die Beklommenheit ab und folgte dem holprigen Pfad aus dem Unterholz heraus in eine Senke. Felsbrocken säumten ihren Weg, dazwischen kahle Bäume, die sich gespenstisch zum Himmel emporstreckten.

Vorsicht war geboten, denn Wurzeln hatten sich bis an die Oberfläche gekämpft. Einmal stolperte sie, als sie über die Schulter zurückgeblickte. Ein weiteres Mal lenkte sie das durchdringende Krächzen eines Vogels ab. Eine Schar Raben flog hoch über sie hinweg. Aus schmalen Augen beobachtete sie, wie sie verschwanden, und wurde sofort wegen ihrer Unachtsamkeit bestraft. Mit dem verletzten Fuß stieß sie gegen einen Stein und keuchte auf, als scharfer Schmerz bis zu ihrem Oberschenkel hinaufschnellte. Sie sollte wirklich aufmerksamer sein!

Dieser Wald blieb merkwürdig. Wo war das weiche Moos, auf dem sie die Nacht verbracht hatte, wo die hübschen Blumen unter den Bäumen, die sie am Waldrand noch für selbstverständlich gehalten hatte? Zwar war das Laub wieder grün und die Stämme heller geworden, trotzdem stand sie erneut zwischen kahlen Felsen auf harter Erde. Hoffentlich war es kein Fehler gewesen, auf den Geleitschutz und das Wissen des Jägers zu verzichten.

Als Stimmen an ihr Ohr drangen, blieb sie stehen. Wütende, ungeduldige Baritone, die eindeutig zu mehreren Personen gehörten. Hektisch sah sie sich um, einer streitenden Männerschar wollte sie nun wirklich nicht in die Arme laufen.

Kurz überlegte sie, die Böschung hinaufzuklettern, aber dafür war es zu spät. Die Stimmen wurden lauter, der Trupp kam in ihre Richtung. Nur noch eine Kurve und sie würden Katherine entdecken.

So schnell sie konnte, hetzte sie zurück, bis links und rechts des Weges Sträucher und Buschwerk die Felsen ablösten. Hinter einem der Büsche wollte sie warten, bis die Gruppe fort war, um dann eilig die Senke zu durchqueren.

Ob die Männer aus einem Dorf kamen? War es möglich, dass sie ihrem unbestimmten Ziel näher war als erhofft? Sie konnte es kaum erwarten, den Wald hinter sich zu lassen, sehnte sich nach dem Anblick von hübschen Hütten mit roten Dächern. Die Vorfreude auf eine vernünftige Mahlzeit stieg in ihr auf, während sie sich versteckte und mit angehaltenem Atem wartete.

Eine klein gewachsene Gestalt erschien auf dem Weg. Katherine riss die Augen auf.

»Benedikt.« Ihr Herz geriet für einen hoffnungsvollen Schlag aus dem Takt, als sie das grüne Hemd und die braune Weste darüber erkannte.

Unsinn, schalt sie sich im nächsten Moment. Der Mann war zwar ähnlich gekleidet, besaß aber nicht wie ihr Bruder rotes, sondern dunkles Haar.

»Ich habe euch gesagt, dass es eine schlechte Idee ist, diesen Weg zu nehmen«, zeterte der Fremde und stapfte sichtlich erbost den Pfad entlang. »Dreimal bin ich bereits gestolpert.«

»Dies ist aber der kürzeste Weg«, drang eine ebenso grimmige Antwort an ihr Ohr. »Ein Umweg hätte uns zu viel Zeit gekostet.«

»Sie verfault schon nicht, nur weil wir zwei Stunden länger unterwegs sind.«

Sechs weitere untersetzte Männer bogen um die Kurve und kamen somit in ihr Blickfeld. Sie alle trugen Tuniken, die ihnen bis zu den Knien reichten, darüber Lederwesten mit mattglänzenden Schnallen. Auf ihren Schultern transportierten sie, begleitet von Ächzen und Stöhnen, einen großen rechteckigen Kasten aus Glas.

Katherine kniff die Augen zusammen, verlagerte ihr Gewicht und schnappte nach Luft, als sie darin eine Person erkannte. Langes dunkles Haar. Ein Handrücken, der sich gegen die Seite presste. Der Kasten war ein Sarg! Wollten sie die Tote etwa durch das Glas anstarren? Verstorbene gehörten in einen Holzsarg und unter die Erde. Wer auch immer dieses Mädchen war, sie verdiente ihre letzte Ruhe.

»Pass gefälligst auf, wohin du trittst!«

»Diese Wurzeln schieben sich mit voller Absicht vor meine Stiefel!«

Katherine zählte mittlerweile sieben, nein, acht Männer, von denen sechs den gläsernen Sarg auf den Schultern trugen.

Eine merkwürdige Gruppe! Sie sollte besser in ihrem Versteck ausharren, bis sie verschwand.

»Vielleicht hätten wir sie doch bei uns behalten sollen«, rief einer der Männer. »Dann müssten wir jetzt nicht durch den Wald stapfen.«

»Die Zwergenfeste ist aber kein geeigneter Ort.«

Gemurmel setzte ein.

Zwergenfeste, wiederholte Katherine in Gedanken. Zwerge! Sie hatte von ihnen gehört, aber nie welche getroffen. Bis heute.

»Ruhe«, donnerte der Zwerg, der voranging, und der Trupp blieb stehen.

»Wir haben sie alle geschätzt, und wenn es eine Möglichkeit gibt, sie aus diesem Todesschlaf zu wecken, finden wir sie.«

Gänsehaut kroch über Katherines Körper. Wollten sie etwa eine Tote wieder ins Leben zurückholen?

»Bis auf Greta.«

»Genau, Greta mag sie nicht.«

»Von Anfang an nicht.«

Schweigen.

»Hannes mag sie auch nicht.«

»Das spielt jetzt keine Rolle!«, zeterte der Erste. »Seid, um Himmels willen, etwas respektvoller!«

Die kleine Schar setzte sich wieder in Bewegung. Nur noch wenige Meter und sie konnte einen genaueren Blick in das Innere des Sarges erhaschen. Einen Blick auf die Frau, die dort lag und nicht erwachen wollte.

Aber da entdeckte sie eine dicke Baumwurzel, die sich über den Pfad zog. Tatsächlich erweckte sie den Eindruck, sie wäre eben erst durch die Erde gebrochen, um Wandernde zum Stolpern zu bringen.

Die vorderen Träger traten mit einem großen Schritt über sie hinweg. Einer der mittleren ließ sich allerdings durch die Nachhut ablenken und achtete nicht auf die Beschaffenheit des Weges.

Katherine sah das Unglück kommen. Die schlurfenden Schritte des Zwerges näherten sich der nächsten Wurzel. Oder war es dieses Mal ein Stein? Mit seinem klobigen Stiefel würde er …

»Vorsicht!«, rief sie und sprang auf. »Da ist ein Hindernis …«

Ein Geräusch hinter ihr ließ sie zusammenfahren, erschrocken wirbelte sie herum. Ein neunter Zwerg stand da, mit grimmigem Gesicht und einer Keule, fast so groß wie er selbst. Wo war er so plötzlich hergekommen? Mit einem gewaltigen Stoß schlug er ihr die Beine weg, sodass sie hart auf den Boden prallte. Mit einem Ächzen drang die Luft aus ihrer Lunge. Schmerz explodierte in ihrem Kopf und riss sie in die Dunkelheit.

Kapitel2

Im Kerker der Zwerge

Bevor Katherine die Augen aufschlug, betastete sie vorsichtig ihren Hinterkopf. Ihr Schädel dröhnte. Er war nicht gebrochen, welch Wunder, obwohl etwas Blut ihre Haare verklebte. Allerdings ertastete sie noch etwas anderes, der strenge Geruch nach Kräutern ließ sie vermuten, dass ihre Wunde behandelt worden war. Trotz ihrer Kopfschmerzen loderte Zorn wegen des ungerechtfertigten Angriffs in ihr.

Wäre sie doch nur in ihrem Versteck geblieben! Aber hätte sie zulassen sollen, dass einer von ihnen stolperte und der Sarg beim Aufprall in unzählige Splitter zersprang? Ein schöner Dank war das!

Dass sie sich nicht mehr unter freiem Himmel befand, war nicht zu übersehen. Steinwände umgaben sie und über ihr drang etwas Licht durch ein hohes Schlitzfenster in den Raum. Verwirrt sah sie sich um. Sie lag tatsächlich auf dem Boden einer Kerkerzelle.

Ächzend rappelte sie sich auf. Die Fugen der dicken Backsteine verschwammen, aber gleich darauf wurde die Welt wieder scharf.

»Aufmachen! Sofort aufmachen!«, brüllte sie und rüttelte an der Tür. Das alte Holz knarrte und beinahe riss sie sich einen Splitter in die Haut. Hinter dem vergitterten Sichtfenster blieb es jedoch ruhig. Mehr als weitere Steinwände, auf die schwacher Lichtschein fiel, erkannte sie nicht.

»Das hat keinen Sinn«, hörte sie eine Männerstimme. »Selbst wenn einer der lästigen Kerle hier wäre, würde er dich nicht einfach rauslassen.«

Suchend drehte sie sich um, sah jedoch nach wie vor nur Wände um sich herum. Sprach ein Geist zu ihr? »Wo und wer bist du?«

»Ich bin in der Nachbarzelle.«

»In der Nachbarzelle? Warum klingt es, als stündest du direkt neben mir?« Das war zugegebenermaßen etwas übertrieben und sein belustigtes Lachen drang keine Sekunde später an ihr Ohr. Ein wenig rauchig, dennoch kräftig.

»Höre ich da etwa Zweifel in deiner Stimme? Komm mal an die Wand!«

Sie folgte dem Befehl und tastete mit beiden Händen die Steine ab, kalt und rau.

»Siehst du die Lücken?«

Unter ihren Fingerkuppen spürte sie die Unebenheiten. Licht fiel durch die Löcher und Schlitze in ihre Zelle. Heller war es nicht, es besaß nur einen anderen Grauton.

»Ja, ich sehe sie. Unglaublich! Warum steht die Wand überhaupt noch?«

Er lachte erneut. »Wenn ich nicht angekettet wäre, hätte ich schon längst versucht, sie einzureißen.«

Katherine stutzte. »Angekettet? Ich bin nicht einmal gefesselt.«

»Bei dir gibt es auch keinen Grund dazu, nehme ich an.« Das Lachen wurde freudlos. »Du bist wahrscheinlich zu schwach, um ein Loch in die Mauer zu schlagen oder dergleichen.«

Gib nie auf, ohne es wenigstens versucht zu haben, drängte sich Benedikts Stimme in ihre Erinnerung. Die seltsamen Blicke der Menschen, wenn sie mit ihrem Bruder plaudernd ihren Weg kreuzte, hatte sie ignoriert. Hält sich für was Besseres! Eingebildete Göre! Faules Stück! Katherine hatte sich schnell daran gewöhnt, dass die Gehässigkeiten nur sie trafen.

Sie ließ ihre Schultern sinken. »Wie heißt du?«

»November«, erwiderte er.

»Das ist ein Männername?«

Er lachte. »Einen anderen werde ich jedenfalls nicht nennen.«

»Und warum bist du hier?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

»So wie es aussieht, habe ich gerade sehr viel Zeit zur Verfügung.«

»Eigentlich erzählt der Neuankömmling zuerst, wer er ist und was ihn in den Kerker der Zwerge brachte.«

Mit einem Seufzer setzte sie sich auf die schmale Pritsche. »Warum ich hier bin, weiß ich nicht so genau«, begann sie und lehnte sich mit dem Rücken an die Mauer, bevor sie in kurzen Worten zusammenfasste, was ihr widerfahren war.

»Wie viele Zwerge waren es?«

Katherine überlegte einen Moment. Acht Zwerge waren auf dem Weg gewesen, der neunte hatte sie überrascht und überwältigt. »Neun.«

Aus der Nachbarzelle ertönte Klirren, gefolgt von einem Stöhnen.

»Neun? Bist du sicher?« Seine Stimme war lauter geworden, anscheinend hatte er seine Position verlagert.

»Ja, bin ich. Wieso fragst du?«

Er antwortete nicht.

»Kennst du die Zwerge gut?«, wollte sie wissen.

»Bis zu meinem unerfreulichen Zusammentreffen mit ihnen habe ich nur von ihnen gehört«, erwiderte er und das Klirren ertönte erneut. »Mich haben sie niedergeschlagen, bevor ich überhaupt begriff, wen ich da vor mir hatte. Als ich wieder zu mir kam, habe ich natürlich sofort versucht, zu entkommen. Erfolglos, wie man sieht. Zu allem Überfluss haben sie mich in Ketten gelegt, sodass eine Flucht nicht mehr möglich war. Ich würde ja gern auf sie verzichten, aber sie legen gesteigerten Wert auf die lästigen Eisen. Drei Sekunden war ich frei …«

Er verfiel in Schweigen und sie wusste nicht so recht, was sie sagen sollte.

»Nimm dich vor ihnen in Acht. Vor allem im Moment, da die Trauer …« Er brach erneut ab.

»Du sprichst von der Frau im Sarg, stimmt’s? Wer war sie?«

»Sie wurde Schneewittchen genannt, hieß aber eigentlich Winter.«

»Schneewittchen«, wiederholte Katherine. »Prinzessin Winter. Haar so schwarz wie Ebenholz, Haut so weiß wie Schnee und Lippen so rot wie Blut. Man sagt, ihre Stiefmutter hat sie gehasst und töten lassen.«

»Erstaunlich, dass du davon weißt.«

Katherine verzog das Gesicht. Auf der Hochzeit hatte sie von den grausigen Geschehnissen erfahren. Barden zogen durch das Land, von Königreich zu Königreich, und präsentierten ihre Lieder und Geschichten mit Vorliebe auf Festlichkeiten. Seit der Prinz ihre Stiefschwester endlich aufgespürt, ihr den gläsernen Pantoffel zurück an den Fuß gesteckt und sie mit auf sein Schloss genommen hatte, liebte Mirabella solche Erzählungen, in denen es um beklagenswerte Töchter und ihre niederträchtigen Stiefmütter ging.

Das traurige Schicksal von Prinzessin Winter hatte Katherine an jenem Abend bestimmt ein halbes Dutzend Mal hören müssen. Das bedauernswerte Mädchen, von der Stiefmutter gemein behandelt und glühend beneidet wegen ihrer außergewöhnlichen Schönheit. Ein armer Jäger sollte ihrem Leid ein Ende bereiten. Er brachte sie in den Wald, um sie zu töten, und kehrte mit ihrem herausgeschnittenen Herzen als Beweis seiner Tat zurück. Mit dem leuchtenden Gesicht der Königin beim Anblick der blutigen Beute endete das Lied der Barden.

Noch deutlich stand Katherine vor Augen, wie sich ihre Stiefschwester und ihr frisch angetrauter Gemahl angesehen hatten. Voller Liebe und Dankbarkeit, weil sie gerettet worden war und nun den Platz an seiner Seite einnahm. Sie gehörte zu einem Prinzen, der einmal König werden würde, und war den Fängen ihrer bösen Stiefmutter entronnen, bevor diese ihr am Ende ähnlich Frevelhaftes antat.

Ein abfälliges Schnauben konnte Katherine nicht unterdrücken.

So furchtbar diese Hochzeit auch für sie gewesen war, mit dem Entschluss, ihre Heimat zu verlassen, hatte sie dennoch einen Zweck erfüllt.

»Ich kenne nur das Lied der Barden«, erklärte sie knapp und bemühte sich, Mirabella aus ihren Gedanken zu verbannen. »Hast du die Prinzessin denn jemals getroffen?«

»Nein, leider nicht«, gestand er. »Ich habe nur gehört, dass sie in Schwierigkeiten steckt, und wollte ihr helfen.«

»Einfach so?« Sie konnte ihre Skepsis kaum verbergen. »Oder warst du hinter einer Belohnung her?«

Sie glaubte schon, er würde nicht antworten, da fragte er: »Wie kommst du denn darauf?«

»Fordert der Retter für seine Hilfe nicht die Hand der Prinzessin oder wenigstens Gold? Sofern er Erfolg hat, natürlich.« Sein Schweigen deutete sie als Zustimmung. Warum sollte es beim ihm anders als in all den Liedern sein, die mit Hochzeiten endeten. Sie seufzte lautlos, massierte sich die Schläfen und fügte hinzu: »Dein Plan, ihr zu helfen, hat ja nicht so gut funktioniert. Sie ist tot und du im Kerker, und es gibt weder eine Hochzeit noch einen Beutel voller Gold für dich.«

Kein Laut war von ihm zu hören und sie bereute ihren Spott schon, aber dann sprach er endlich weiter. »Ich hatte nun wirklich nicht mit den Zwergen gerechnet.«

Katherine legte den Kopf in den Nacken und die Hände in den Schoß. »Ich hatte sie mir anders vorgestellt. Mit Bärten bis zu den Knien und ein gutes Stück kleiner.«

»Mir reichen sie kaum bis zur Schulter, ihre fehlende Größe machen sie allerdings durch ihre Muskelkraft und ihre Waffen wett. Wie kommst du denn darauf, dass sie lange Bärte haben? Haben die Barden das behauptet?«

»Ich weiß es nicht mehr«, gab sie zu und erhob sich, um ein paar Schritte auf und ab zu gehen. »Was hatten sie eigentlich mit der Prinzessin zu schaffen? Gehörte sie zu ihnen?«

»Ich weiß es nicht«, gestand er. »Meine Vermutung ist, dass sie Schneewittchen vor dem Jäger gerettet haben.«

»Bis irgendetwas oder irgendjemand sie später doch tötete?« Als ihr ein schrecklicher Gedanke kam, sank sie zurück auf die schmale Pritsche. »Befindet sich ihr Herz denn noch in ihrer Brust?«

»Ja, natürlich. Tot ist sie nicht, sie liegt nur in einem totenähnlichen Schlaf. Die Barden sollten endlich damit aufhören, dem Jäger der Königin diesen blutigen Mord anzulasten.«

Erleichterung vertrieb ihre Beklommenheit und brachte ein zittriges Lächeln in ihre Mundwinkel zurück. Den Tod wollten die Zwerge also nicht austricksen, auch der gläserne Sarg ergab plötzlich einen Sinn. Eine Lebende sperrte man eben nicht in einem dunklen Kasten ein. »Wo bringen sie die Prinzessin hin?«

»Das würde ich auch gern wissen. Eigentlich ist die Zwergenfeste ein sicherer Ort. Hier kommt niemand so schnell herein oder hinaus.«

Eine Weile schwiegen beide.

»Sie haben Angst, dass sie hier verfault.«

»Was?«

»Einer der Zwerge sagte so etwas.«

Er lachte. »Du musst wissen, dass die Zwerge nicht gerade für ihren Optimismus bekannt sind. Jemand muss sie davon überzeugt haben, dass Schneewittchen selbst in ihrer Feste noch in Gefahr schwebt.«

»Das ist sie doch auch, immerhin liegt sie nicht grundlos in diesem Sarg.«

Sie hörte sein langes Seufzen. »Sie glauben, ich bin schuld an ihrem Zustand, aber das ist Unsinn. Als sie einschlief, war ich nicht einmal in ihrer Nähe.«

»Dann sind wir wohl beide ungerecht behandelt worden.«

»Du hast mir deinen Namen noch nicht verraten«, bemerkte er irgendwann.

»Katherine.«

»Und woher kommst du? Was ist so Besonderes an dir, dass sie dich in den Kerker geworfen haben?«

»Ich habe dir erzählt, was passiert ist. Hast du mir etwa nicht geglaubt?«

»Doch, natürlich, aber ich frage mich, warum sie ein normales Mädchen …« Er brach ab. »Es sei denn, du bist kein … Bist du vielleicht eine Hexe? Oder eine Prinzessin? Kannst du zaubern?«

Ihr Schweigen war zu lang, das merkte sie sogar selbst. »Sei nicht albern! Ich bin ein einfaches Mädchen, eine Frau. Mehr nicht.«

Einem Fremden würde sie gewiss nicht ihre Lebensgeschichte erzählen, auch wenn es ganz danach aussah, dass sie mehr als genug Zeit dafür hatte. Aber er brauchte nichts von dem Rinnsal adeligen Blutes zu wissen, das angeblich durch ihre Adern floss. Gerade so viel, dass ihre Mutter seit so vielen Jahren alles daransetzte, sie mit einem Prinzen zu verheiraten.

Ihr Fuß zuckte und Schmerz kroch ihr Bein hinauf. Sie hatte wahrlich genug gelitten.

»Heißt du wirklich November?«, hakte sie nach.

Er lachte. »Ein Mädchen namens Winter ist für dich in Ordnung und meinen Namen zweifelst du an?«

»Ein wenig, ja«, gab sie zu. »Ein neuer Name für einen Neuanfang, das würde mir auch gefallen.« Ohne die Schatten der Vergangenheit.

»Das funktioniert nicht. Was du verbrochen oder erlitten hast, weiß ich nicht, aber du kannst nicht einfach so tun, als ob all das niemals passiert wäre. Wenn ich dir einen Rat geben darf …«

»Später vielleicht«, unterbrach sie ihn unwillig. »Ich bleibe bei Katherine, schon verstanden.«

»Katherine. Kat.« Ein Schmunzeln lag in seiner Stimme und gab ihrem Namen einen besonderen Klang, der ihr den Atem nahm.

»Niemand nennt mich Kat.«

Wieder klirrten seine Ketten. »Kat«, wiederholte er sanft wie eine Liebkosung, dabei hatten sie sich nicht einmal in die Augen gesehen.

»Warum haben sie dich eigentlich an die Wand gekettet?«, schob sie die verwirrenden Gefühle mit ihrer Frage zur Seite.

»Das gehört zu meiner langen Geschichte, befürchte ich.«

»Ich sagte ja bereits, dass ich viel Zeit habe«, erwiderte sie und horchte auf, als sich Schritte näherten.

Ein Schlüsselbund klimperte, dicht gefolgt von dem unangenehmen Knarren einer Tür. Einen Augenblick dauerte es, bis sie bemerkte, dass es nicht ihre Zellentür war, die sich öffnete. Rasch sprang sie auf, eilte zur Tür und klammerte ihre Finger um die Eisenstäbe des Sichtfensters. Fackeln erleuchteten den Gang, die Helligkeit stach in ihre Augen.

Ächzen, ein Schmerzenslaut, lautes Poltern. Die Geräusche aus der Nachbarzelle jagten heiße und kalte Schauer ihre Wirbelsäule hinab, aber dann atmete sie erleichtert auf, als sie November brüllen hörte.

»Schon wieder? Ernsthaft? Ihr fallt mir auf die Nerven, ihr nichtsnutzigen Zwerge! Wann seht ihr endlich ein, dass … Autsch!«

Rumpeln und Klirren übertönten das verärgerte Gemurmel der Zwerge. Ein dumpfer Aufprall ließ sie schlucken. Ihre Knöchel traten weiß hervor, so fest umklammerte sie die Eisenstäbe, als zwei Zwerge ihren Zellennachbarn mit sich zerrten.

»Was habt ihr ihm angetan?«

Obwohl ihm die Zwerge tatsächlich kaum bis zur Schulter reichten, bereitete es ihnen keine Schwierigkeiten, ihn vorwärtszuziehen. Trotz der Schatten, die das Licht der Fackeln auf Wände und Personen warf, erkannte sie blondes Haar und dunkle Flecken auf seinem schmutzigen Hemd. Blut? Wahrscheinlich war es einst weiß gewesen, aber der Kerker hatte Spuren auf seiner Kleidung hinterlassen. Novembers Hände waren hinter seinem Rücken gefesselt, dennoch wehrte er sich gegen seine Bezwinger. Erfolglos.

Wenn er sich doch wenigstens einmal zu ihr umgedreht und ihr sein Gesicht gezeigt hätte … Aber er verschwand mit den Zwergen aus ihrem Blickfeld. Als ohne Vorwarnung eine bärtige Fratze vor dem Gitter erschien und sie grimmig anstarrte, schreckte sie zurück.

»Weg von der Tür! Mit dir beschäftigen wir uns noch früh genug«, knurrte der Zwerg und lief davon.

»Lasst mich raus! Ich habe nichts getan!«

Mit vor Wut klopfendem Herzen blieb Katherine zurück. Die einsame Stille machte ihr schnell bewusst, wie eisig der Kerker war. Unaufhaltsam kroch die Kälte in ihre Glieder, sodass sie sich auf der Pritsche zusammenrollte und die dünne Decke über sich zog. Wer schon alles darunter gelegen hatte, daran verschwendete sie besser keinen Gedanken.

Zuhause hätte sie ein weiches Bett, aber die Reue, fortgegangen zu sein, stellte sich trotz ihrer entmutigenden Lage noch immer nicht ein.

Solange ihr Herz beim Gedanken an ihre Mutter erkaltete und sie Tag für Tag das trügerische Glück ihrer Stiefschwester beobachten musste, war selbst der Kerker die bessere Wahl. Wenn sie hier endlich jemand anhörte, offenbarte sich gewiss alles als Missverständnis. Dann wäre sie wieder frei.

Ihre Gedanken wanderten zu Schneewittchen und den Liedern der Barden. Leise summte sie die Melodie und versuchte dabei, sich an den genauen Text zu erinnern. Die Melodie war viel zu fröhlich für die Beschreibung der königlichen Stiefmutter, die das blutige Herz ihrer Konkurrentin in ihren knochigen Fingern hielt. Überbracht vom grausamen Jäger, der die Unschuldige in den Wald geführt hatte, um sie hinterrücks zu ermorden.

Waren ihnen die Zwerge in die Quere gekommen? Angeblich war Schneewittchen bereits vor Monaten gestorben. Der Jäger hatte sie jedenfalls nicht getötet, das wusste sie nun, und es war ausgeschlossen, dass sie schon so lange in ihrem gläsernen Sarg lag. Ob die Königin erfahren hatte, dass ihre Stieftochter noch lebte? Hatte sie danach getrachtet, ihr Werk zu vollenden, und sie in diesen totenähnlichen Schlaf versetzt?

Und was war eigentlich mit der Stiefmutter geschehen? Immerhin hatte sie den Mord in Auftrag gegeben und müsste dafür verurteilt werden. Auch eine Königin konnte nicht einfach diejenigen beseitigen, die ihr in die Quere kamen, zumindest nicht auf legalem Wege.

Katherines Laune sank weiter. Wahrscheinlich hielten sich die Könige und Königinnen der angrenzenden Reiche mal wieder raus.

Seit vor über einem Jahrhundert eine Burg hinter einer Dornenhecke verschwunden war, hatte sich viel verändert. Die Auswirkungen dieses Ereignisses waren enorm gewesen.

In dem Gemäuer lag angeblich eine Prinzessin im Schlaf und unzählige Prinzen ließen ihr Leben in dem Versuch, sie zu retten. Erst Jahrzehnte später verboten Könige ihren Söhnen, den Dornen zu nahe zu kommen. In den Liedern der Barden wurde das Dornenschloss schließlich zur Legende, dessen Standort bald kein Mensch mehr kannte. Gleichzeitig verloren die Königreiche die engen Verbindungen zueinander. Rannen seltsame Gerüchte über Flüche und Schicksalsschläge durchs Land oder geriet ein Adelsspross in Not, eilte niemand mehr ungefragt zu Hilfe. Als hätte der Verlust der vielen Söhne die Reiche für immer vergiftet. Kein Helfer war gekommen, als der verrückte König seine Tochter heiraten wollte. Keiner war eingeschritten, als ein anderer Herrscher sein eigenes Kind mit einem Bettler verheiratete. Und alle schauten nur zu, als der selbstherrliche Prinz eine Zauberin gegen sich aufbrachte und sein Schloss in Schnee und Eis versank. Zur Strafe für seine Arroganz war er angeblich in ein Biest verwandelt worden, aber das glaubte Katherine nicht. Wie sollte so etwas möglich sein?

Mittlerweile gab es unzählige dunkle Punkte auf der Landkarte der Welt. Königreiche, in denen Unrecht geschehen war. Sperrgebiete, in die sich keine Seele mehr traute, bis die Zeit sie ins Vergessen drängte. Niemand lehnte sich freiwillig gegen Frevel auf, wenn er ihn selbst nicht traf.

Katherine zitterte und rieb sich die Oberarme. Die Decke spendete kaum Wärme und die Lieder der Barden mit all ihren schaurigen Schicksalen waren nicht dazu gemacht, optimistisch zu bleiben.

Ob es ihr gelingen würde, ein anderes Leben zu führen? Gab es irgendwo jemanden, für den sie bereit wäre, zu kämpfen? Trug sie den Mut in sich, gegen Unrecht vorzugehen?

Die vergangenen Jahre waren von einer dominanten Mutter geprägt gewesen, die ihr ihren Willen aufgezwungen hatte, und zu spät war ihr bewusst geworden, dass kein guter Mensch aus ihr geworden war.

Vergiss nie, wer du bist, hatte Benedikt gesagt, nachdem sie ein anderes Kind ausgelacht hatte, um nicht selbst zum Opfer zu werden. Sie vermisste sein Lächeln und seine Weisheit. Seit Jahren verdrängte sie ihn aus ihren Gedanken, um an ihrer Einsamkeit nicht zu verzweifeln, aber seitdem ihre Heimat hinter ihr lag und sie durch die Wälder lief, kehrte seine Stimme unaufhaltsam in ihren Kopf zurück.

Mirabella hätte ihn sicherlich gemocht. Katherines Fuß schmerzte wieder und sie drehte sich auf die andere Seite. Verdammte Verletzung! Immer, wenn sich Selbstzweifel in ihr regten, reagierte ihr Fuß darauf. Und in der Stille des Kerkers gelang es ihr nicht, das Unbehagen zu verdrängen. Du hast nie das Recht gehabt, deine Stiefschwester schlecht zu behandeln, flüsterte ihr Gewissen. Eines Tages wirst du sie für deine Taten um Verzeihung bitten müssen. Unmut vermischte sich mit Scham und ließ den Kerker noch kühler erscheinen, als er eh schon war.

Unruhig warf sie sich auf den Rücken und schüttelte ihr Bein aus. Wichtiger als alles andere war, diesem Kerker zu entkommen, und sobald sie frei war, würde sie eine Arbeit suchen und einen Ort, an dem sie unbehelligt leben konnte. Und dann endlich würde sie herausfinden, wer sie sein wollte. Was in ihr steckte.

Sie seufzte. Was war eigentlich mit dem königlichen Spross geschehen, der zu einer Salzsäule erstarrt war? Ihre Gedanken wanderten zurück zu dem Prinzen, der nun angeblich als Biest lebte. Gerüchte besagten, dass er nur erlöst werden konnte, wenn sich ein Mädchen mit einem reinen Herzen in ihn verliebte. Nach allem, was sie getan hatte, wäre sie das gewiss nicht. Für Rettungsaktionen war sie die Falsche.

Erneut rieb sie sich die Arme und gähnte. Allerdings … wenn jeder so dachte wie sie, gäbe es bald wirklich keine Rettungen mehr. War es nicht genau das, was sie den Königen eben erst vorgeworfen hatte?

Aber es gab immer noch einen Unterschied zwischen Untauglichkeit und im Stich lassen. Bevor sie in einen unruhigen Schlaf fiel, galt ihr letzter Gedanke November – und seinem Wunsch, die Prinzessin zu retten.

Kapitel3

Die Krone der Meerhexe

Katherine schreckte auf, als die Zwerge November geräuschvoll in seine Zelle zurückbrachten. Dem Knarren der Holztür und dem Reiben von Ketten folgten ein derber Fluch und wüste Beschimpfungen.

Sofort war sie hellwach, sprang auf und eilte zur Tür. Durch das Sichtfenster starrte sie in den Gang. Mehr als unruhige Schatten, die der Schein einer Fackel auf die Mauern warf, erkannte sie jedoch nicht. Minuten verstrichen, bis die Tür der Nachbarzelle mit einem dumpfen Laut ins Schloss fiel und drei Zwerge an ihrer Zelle vorbeipolterten.

»Wartet!«, rief sie ihnen zu. »Bleibt stehen und sagt mir endlich, warum ich eingesperrt bin!«

Die Zwerge ignorierten sie. Wenigstens die Fackel ließen sie in ihrer Halterung stecken, aber statt sich über die Helligkeit zu freuen, betrachtete sie missmutig die dunklen Ecken, die das Licht nicht erreichte, bevor sie aufgewühlt zur Kerkerwand lief, ihre Stirn dagegen lehnte und lauschte. Der Klang seines röchelnden Atems bescherte ihr eine Gänsehaut.

»November! Geht es dir gut? Hörst du mich?«

»Ja, mit mir ist alles in Ordnung«, erwiderte er sofort. So zügig hatte sie keine Antwort erwartet.

»Was haben sie mit dir gemacht?«

Sein bitteres Lachen ertönte. »Sie nennen es Befragung.«

»Und wie nennst du es?« Furcht regte sich in ihrem Magen, aber er lachte erneut, kurz und abgehackt. »Befragung ist eigentlich ein guter Ausdruck, obwohl ich es eher als Tortur – nein, als Belästigung bezeichnen würde. Immer wieder dieselben Fragen. Als ob ich zwei Tage später plötzlich andere Antworten gebe als am Anfang! Lächerlich!«

Katherine runzelte die Stirn. »Sie haben dich nicht verletzt?«

»Bis auf den Schlag gegen meinen Schädel, wofür ich, zugegeben, selbst schuld bin, haben sie mir nichts getan, nein. Ich hätte nicht auf sie losgehen sollen, als sie mich von den Ketten lösten, doch mich kampflos geschlagen geben? Auf keinen Fall!«

»Waren sie nicht zu dritt?«

»Und?«

Während sie noch überlegte, wie sie ihm am geschicktesten mitteilte, dass es in diesem Fall vernünftiger gewesen wäre, die eigene Unversehrtheit über irgendwelche Prinzipien zu stellen, lenkte er ein. »Ja, ich weiß, sonderlich klug war das nicht. Hast du dir etwa Sorgen gemacht?«

Sie atmete einmal tief durch. »Ja, natürlich habe ich das.«

Schweigen breitete sich aus, es war jedoch nicht unangenehm.

»Danke«, sagte er nach einer Weile und seine Stimme klang rau dabei. »Es tut mir leid, dass du dich geängstigt hast. Die Zwerge wirken zwar bedrohlich, ich glaube aber nicht, dass sie bösartig sind. Angeblich sollen sie sogar recht gutmütig sein, davon habe ich bisher allerdings noch nichts bemerkt. Das Wissen, nach dem sie trachten, kann ich ihnen nicht offenbaren. Ich weiß nicht, was sie damit anstellen würden, es wäre womöglich zu gefährlich.«

Katherine schluckte und spürte ein unangenehmes Flattern in der Magengrube. »Wer bist du, dass du über Kenntnisse verfügst, die bedrohlich sind?«

»Hattest du noch nie Geheimnisse?«, wich er ihr mit einer Gegenfrage aus.

Katherine überlegte. »Ich bin mir nicht sicher. Dass der Mann meiner Stiefschwester ein Schürzenjäger ist und sie anscheinend die Einzige ist, die es nicht bemerkt, gehört nicht in die Rubrik, von der du sprichst, oder?«

»Du glaubst also, er liebt sie nicht genug, um sich zu ändern?« Belustigung schwang in seiner Stimme mit.

»Er ist ein Widerling. Daran zumindest wird sich nichts ändern.«

Erneut drang sein Lachen an ihr Ohr. »Ich bedaure, dass die Zwerge dich eingefangen haben, aber ich bin dennoch froh, dass du hier bist und wir uns unterhalten. Die Einsamkeit ist das Schlimmste. Diese drückende Stille hätte mich noch wahnsinnig gemacht.«

Katherine fühlte, wie ihre Wangen warm wurden. Nette Worte war sie nicht gewohnt. Vielleicht klopfte ihr Herz deshalb so heftig?

»Wie lange bist du schon hier?«

»Einer der Zwerge sagte, ich wäre nur ein paar Stunden bewusstlos gewesen, und seit ich wieder zu mir gekommen bin, sind zwei, vielleicht auch drei Tage vergangen.«

Katherine schluckte trocken. Wie lang diese Zeitspanne werden konnte, hatte ihr der Wald gezeigt. Solange November bereits im Kerker saß, hatte sie nichts als Bäume gesehen, einen merkwürdigen Jäger getroffen, ein Reh beobachtet, die Überreste einer gruseligen Hütte entdeckt, feuchte Kleidung bekommen, in der Nacht gefroren und darauf gehofft, ihren Mut nicht an ihre Zweifel zu verlieren.

»Ich bin ebenfalls froh, nicht allein zu sein.« Der Kohlenkeller kam ihr in den Sinn und die Finsternis, die sich über sie gelegt hatte, sobald sich die Tür hinter ihr schloss. Sie konnte den Kohlenstaub noch regelrecht auf den Fingern spüren und den Schlüssel im Schloss hören. Bei der Erinnerung rang sie nach Luft. »Es gibt schlimmere Strafen, als eingesperrt zu werden«, flüsterte sie und ignorierte den Schmerz in ihrem Fuß und ihrem Herzen.

Mit dem neuen Tag kehrte ein Teil der Wärme zurück. Tageslicht fiel schräg in die Zelle und auf ihr Gesicht. Katherine streifte die Decke ab, erhob sich und streckte ihre Glieder. Dass der Kerker nicht unter der Erde lag, erfüllte sie mit Dankbarkeit. Das Schlitzfenster lag zwar in unerreichbarer Höhe, doch sie war dankbar, zumindest Tag und Nacht unterscheiden zu können.

»Ich bin eingeschlafen«, murmelte sie und trat an die Mauer.

»Sei froh! Du wirst deine Kräfte brauchen, die Zwerge werden dich bestimmt bald holen, vielleicht lassen sie dich ja frei.«

»Und was passiert mit dir?«

»Ein paar Tage muss ich mich noch gedulden, aber danach …« Er ließ seinen Satz unbeendet und Katherine fragte sich, ob sie ihn falsch verstanden hatte. Er klang fast so, als würde er seine Gefangenschaft freiwillig zulassen.

Seine Worte minderten ihre Nervosität nicht. Als sich ihre Kerkertür öffnete, war sie jedoch wenigstens vorbereitet.

»Ich komme freiwillig mit«, beteuerte sie schnell und hob ihre Arme, die geöffneten Handflächen nach vorn gerichtet, bevor einer der Zwerge sie packte. Nur zwei von ihnen waren gekommen, beide waren mindestens doppelt so breit wie sie und betrachteten sie abschätzend. Schließlich nickte der eine und der andere sagte mit tiefer Stimme: »Einverstanden.«

Überraschend sanft legte er seine schwielige Hand auf ihre Schulter und schob sie zur Tür. Katherine bezwang den Impuls, ihn zur Seite zu stoßen, und bemühte sich, Novembers Ratschlag zu befolgen. Nacheinander sah sie ihnen in die Augen. Ein blaues und ein grünes Augenpaar erwiderten ihren Blick, umgeben von unzähligen Fältchen und kurzen, borstigen Wimpern. Das Alter und anscheinend auch Gelächter hatten die feinen Linien entstehen lassen. Wettergegerbte Haut, breite Nasen, darunter dichte, gepflegte Bärte, die ihnen bis auf die Brust reichten. Etwas ungewöhnlich waren die schimmernden Tätowierungen auf ihren Schläfen und Wangen, die Katherine an Schuppen erinnerten.

Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung und gab November recht: Bösartig wirkten sie nicht, nicht einmal verschlagen oder hinterhältig. Sie musste dringend verhindern, dass Panik sie übermannte und alles verkomplizierte.

Zwischen den Zwergen eingekeilt verließ sie ihre Zelle. Mit der Hoffnung, dass ihr Orientierungssinn ausreichte, versuchte sie, sich den Weg einzuprägen, der durch ein Labyrinth aus schmalen Gängen führte.

Wo war sie nur gelandet? Eine gewöhnliche Burg war diese Zwergenfeste kaum, zu verschlungen, eng und unübersichtlich waren Räume, Kammern und Flure angeordnet. Treppen verliefen hinauf und hinab und einige Male musste sie sich ducken, um sich an der niedrigen Decke nicht die Stirn anzuschlagen. Überall hing der Duft von Wildblumen in der Luft. Verwirrend, hätte sie doch eher mit dem Geruch von Waffenöl und Leder gerechnet.

Hin und wieder hörte sie ein grummeliges »Vorsicht, Mädchen!« oder »Zieh den Kopf ein!«, ansonsten waren die Männer schweigsam.

Hatten sie mit November denselben Weg genommen und ihn dabei vorwärts geschleift? Sie verkniff sich die Frage und bemühte sich, Schritt zu halten. Ungern wollte sie riskieren, dass der Zwerg hinter ihr zu dicht aufrückte und sie am Ende mit seiner Keule oder Axt vorantrieb.

Endlich lichtete sich das Labyrinth und sie betraten einen breiteren Gang. Der Schein von Laternen brach sich in den schimmernden Wänden, aus zwei schmalen Fenstern fiel Tageslicht herein und ließ die kahlen Flächen sogar einladend und freundlich erscheinen. Fasziniert sah Katherine sich um. Das schwache Glitzern, das sie umgab, war beeindruckender als jedes Gemälde.

Feenstaub, dachte sie, aber den gab es nur in den Geschichten, die ihr Stiefvater vorgelesen hatte, als sie noch ein Kind gewesen war. Gerade wollte sie danach fragen, als einer der Zwerge sie vorwärts schob, bis sie sich hinter der nächsten Biegung vor hohen Flügeltüren wiederfanden, die einen schmalen Spalt breit geöffnet waren. Der Zwerg vor ihr griff nach dem Knauf der rechten Tür und zog sie auf. Grelles Licht fiel durch ein Dutzend Fenster in den riesigen quadratischen Raum, der sich vor ihr erstreckte. Sie blinzelte. In seiner Mitte befand sich ein großer runder Tisch, um den Stühle gruppiert waren. Die Stirnseite nahm ein breiter Kamin ein, vor dem zwei gepolsterte Hocker und ein Beistelltisch standen. Auf einer langen Anrichte gegenüber der Fensterfront erkannte sie die Reste eines Frühstücks. Benutzte Teller stapelten sich ordentlich neben einem Korb mit Äpfeln. Ein dunkler Brotlaib und mehrere Platten mit Wurst und Käse nahmen die andere Seite des Tisches ein.

Während einer der Zwerge sie zum Kamin führte und dort auf einem der Hocker platzierte, schwoll näherkommender Lärm an. Beunruhigt wandte sie sich um und sah, wie Zwerge in den Raum polterten, sie neugierig betrachteten und sich um den Tisch niederließen. Ihr Magen zog sich vor Anspannung zusammen.

»Iss, Mädchen!«, befahl der Zwerg, der sie aus der Zelle geholt hatte. Der andere drückte ihr im gleichen Moment einen Teller mit einer dicken Scheibe Brot und verschiedenen würzig riechenden Käsestücken in die Hand.

Katherine sah ihn überrascht an, wartete aber nicht lange und begann zu essen. Mehr als drei Bisse brachte sie jedoch nicht hinunter, das Schlucken fiel ihr schwer. Irgendwann in der Nacht war der beißende Hunger verflogen.

Neun Augenpaare musterten sie. Unter ihnen erkannte sie denjenigen, den sie im Wald vor dem Stolpern hatte bewahren wollen. Wärme traf ihren Rücken, einer der Zwerge entfachte das Kaminfeuer hinter ihr, während ein anderer eine Krone auf den Beistelltisch neben ihr legte.

Katherine glaubte jedenfalls, dass es sich um eine Krone handelte. Die Form war ungewöhnlich, nicht symmetrisch, wie sie es kannte. Von einem Reif ragten breite und schmale, kleine und größere Zacken in unregelmäßigen Abständen in die Höhe. Wenn sie sich nicht irrte, bestand sie aus dunklem Glas und Silber und war mit unzähligen winzigen Edelsteinen und Perlen besetzt, in denen sich das Tageslicht brach und bunte Flecken an die Wände zauberte. Der Kopfschmuck besaß eine Leuchtkraft, die sie faszinierte. Am liebsten hätte sie die Hände danach ausgestreckt, bekämpfte den Drang aber und krallte ihre Finger stattdessen um den Eisenteller auf ihrem Schoß.

»Wie heißt du?«

»Mein Name ist Katherine.«

»Woher kommst du?«

»Aus einem Dorf im Nordwesten.«

»Name?«

»Katherine.«

»Der Name des Dorfes, Mädchen.«

»Pappelhain.«

Gemurmel folgte. Ob die Zwerge den Ort kannten? Pappelhain war immerhin das kleinste von drei Dörfern, die in der Nähe des Königsschlosses lagen, allerdings war es von allen den Wäldern am nächsten. Deshalb hatte des Prinzen Suche nach Mirabella auch so lange gedauert. Erst war er nach Eichendorf geritten, von dem es hieß, dass dort die hübschesten Mädchen lebten. Natürlich hatte er dort begonnen.

»Was wolltest du im Wald?«

»Ich bin von zu Hause weggegangen, um anderswo mein Glück zu finden«, erwiderte sie ehrlich und schob ihren Teller unter den Stuhl. Ihn neben die Krone zu stellen, kam ihr falsch vor.

»Du? Aber du bist eine Frau!«

Katherine sprang auf, sank jedoch sofort wieder auf den Hocker zurück, als sie sah, wie sich auch die Zwerge mit finsteren Mienen erhoben. Auf der Kante sitzend sagte sie barsch: »Und was hat das eine mit dem anderen zu tun? Glaubt ihr etwa, nur Männer dürfen ausziehen, um ihr Glück zu finden?«

Erneutes Gemurmel setzte ein, einige der Zwerge nickten, der Großteil wirkte skeptisch. Katherine meinte, den Namen Schneewittchen im Stimmengewirr zu erkennen.

»Genug!« Die Stimme des Bärtigsten legte sich über den Lärm und brachte alle zum Verstummen.

Das ist also ihr Anführer, dachte Katherine und richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihn. Die grauen Haare an seinen Schläfen waren zu dünnen Zöpfen geflochten, die sich hell von seinem sonst dunklen Haar absetzten.

»Ich gebe dir recht. Natürlich reisen auch Frauen durchs Land. Ihnen steht es wie jedem Mann zu, an einem Ort ihrer Wahl glücklich zu werden.« Er sah ihr geradewegs in die Augen. »Aber niemals würde ein Mensch unbewaffnet und allein die Nordwälder durchqueren.«

Einen Moment lang wurde es still.