Die Erben des Thrones - Viola M. Meyer - E-Book

Die Erben des Thrones E-Book

Viola M. Meyer

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Beschreibung

Ein gespaltenes Königreich. Ein König ohne Erben. Eine Königin die nach dem Thron trachtet. Abgeschieden von den Geschehnissen des Landes, lebt Philine in einem kleinen Dorf in den Vihreas. Als eines Tages Männer der Königin in das Haus ihrer Eltern eindringen und sie entführen, wird sie aus ihrem behüteten Leben gerissen. Gegen ihren Willen wird sie in ein Leben am Königshof gezwungen und gerät zwischen die Fronten der beiden Herrscher. Ihre einzige Hoffnung wieder zurück in ihre Heimat zu kommen, setzt sie in einen Brief, der das Siegel des Königs trägt. Um seine Gültigkeit zu beweisen muss sie ihn in die Hauptstadt zur Hohen Elster, dem höchsten Gericht des Landes, bringen. Doch ohne Hilfe wird sie die Flucht nicht schaffen und wem könnte sie am Hof der Königin trauen?

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Für meine Mama

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil 1: Vihreas

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Teil 2: Eluned

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Teil 3: Falcon

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Prolog

Im Raum herrschte Schweigen.

Die drei Männer, die sich darin befanden, verhielten sich ruhig. Der Jüngste unter ihnen hatte sich neben einer der beiden Türen postiert, während der Älteste sich gelassen in einem Sessel zurücklehnte. Der werdende Vater, der auf der Couch Platz genommen hatte, hielt ein Glas Whiskey in der Hand, das er unruhig zwischen seinen Händen hin und her drehte.

Die Tür zum angrenzenden Raum öffnete sich und der Vater fuhr von der Couch auf. Ein alter Mann mit Brille und eine junge Frau betraten den Raum. Die Frau hielt ein kleines Bündel aus Stoff in ihren Armen. Ihr Gesicht war gerötet, als habe sie geweint und ihr Blick war unsicher. Suchend huschte er von einem der Anwesenden zum Nächsten.

Der Mann im Sessel war der Erste, der sprach. Er erhob sich und kam mit großen, kräftigen Schritten auf die junge Frau und den Arzt zu. Kurz vor ihnen blieb er stehen und blickte auf das Kind in ihren Armen hinab, das friedlich schlief.

„Es sieht gesund aus“, meinte er leise.

Nun trat auch der Vater hinzu. Er hatte das Whiskeyglas abgesetzt und starrte auf das Kind hinab: „Was ist es?“

Die Hebamme löste vorsichtig einen Zipfel der Decke und offenbarte so das Geschlecht des Kindes, bevor sie es wieder in die warme Decke hüllte. Der ältere Mann hob den Blick, um die Reaktion des Vaters mitzubekommen, doch dieser zeigte keinerlei Regungen.

„Was ist mit der Mutter?“, fragte er nun und blickte die Frau an. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie langsam den Kopf schüttelte. Der Ehemann seufzte leise. „Vielleicht ist es besser so.“

Der Mann an der Tür räusperte sich leise. „Wir sollten nicht länger warten.“

Alle Anwesenden drehten sich zu ihm um und schließlich machten der frisch gebackene Vater und der ältere Herr der jungen Frau Platz. Unsicher taumelte diese auf den Offizier zu, der noch einmal kurz den drei anderen Männern zunickte. „Ich kümmere mich um sie. Niemand wird sie sehen. Niemand wird etwas von dem Kind wissen. Wir halten uns an den Plan. Jeder in diesem Raum hält sich an das Schweigegelübde, bis die Zeit reif ist.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, öffnete der Soldat die Tür hinter sich und schob die junge Hebamme aus dem Raum. Er führte sie durch unbeleuchtete, schmale Gänge, durch verborgene Türen und gewundene Treppen hinab, bis sie nach langer, langer Zeit ins Freie traten.

Der sanfte Schein eines sichelförmigen Mondes empfing sie und ein warmer Sommerwind spielte mit dem Saum des Kleides der Frau.

„Von hier aus schaffe ich es allein“, flüsterte die Frau atemlos und presste das kleine Bündel an ihr wild klopfendes Herz. Der Offizier musterte sie misstrauisch von oben herab und nickte dann. „Gut. Mein Vater vertraut dir, aber ich werde dich im Blick behalten. Du hast die Zukunft und das Heil des ganzen Landes in deinen Armen. Wenn dem Kind etwas zustößt, wirst du die Erste sein, die es bereut.“

Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand zwischen den Felsen, durch die sie ins freie getreten waren. Die junge Frau sah, wie er von der Dunkelheit verschluckt wurde. Ihr Herz raste in ihrer Brust, als sie den Blick auf das Neugeborene senkte, das friedlich in ihren Armen schlief und nichts von der Last wusste, die einmal auf seinen Schultern ruhen würde.

Dann drehte sie sich um und eilte mit dem Kind in die dunkle Nacht davon.

Teil 1 Vihreas

Kapitel 1

Das Sonnenlicht wärmt meine Haut und ich schließe für einen kurzen magischen Moment die Augen. Das Lachen meiner jüngeren Schwestern und Cousine, die sich über das Blumenfeld jagen, mischt sich mit der Melodie der Vögel vom nahen Waldrand und lässt mich lächeln. Dieser kurze Moment der Ruhe ist wertvoll und schön und ich weiß, dass ich niemals hier weg möchte.

„Philine, träumst du etwa schon wieder?“, erklingt die Stimme meiner Mutter lachend neben mir und ich öffne hastig die Augen, um nach der erstbesten Blume zu greifen. Schleierkraut.

„Nein, natürlich nicht“, gebe ich unschuldig zurück und reiße das Kraut aus dem Boden, um es zu den anderen Blumen in meinen Korb zu legen. Das Weiß passt gut zum roten Klatschmohn, den gelben Butterblumen und den blauen Kornblumen. Die Pflanzenpracht in meinem Korb nimmt es mit den Körben meiner Mutter und meiner Tante auf, während die Körbe meiner Schwestern und meiner Cousine noch sehr karg bestückt sind. Ich folge mit dem Blick den drei kleinen Mädchen, als in diesem Moment ein Ruf vom Dorf her erklingt.

Wir heben die Köpfe und sehen, dass mein Bruder Evander zusammen mit meinem Cousin angelaufen kommt. Der Junge schließt sich sofort der Hetzjagd der gleichaltrigen Mädchen an, während Evander auf uns zuschlendert und sich zu meiner Mutter ins Gras setzt.

Meine Mutter lächelt Evander liebevoll an und drückt ihm einen Kuss auf die Schläfe. „Hast du Jarus hergebracht, Liebling? Wie sieht es im Dorf aus? Sind Lotham und Jaromir fertig mit dem Aufbau?“

Evander macht eine Grimasse und schüttelt wild den Kopf: „Nein, nein! Es fehlen noch die Bierfässer und die Lampions müssen in die Bäume gehängt werden. Aber die Tische und Bänke stehen bereits. Und die Bühne. Die Musiker haben auch geübt. Das war lustig.“

„Was ist mit den Trommeln? Sind die auch aufgebaut?“, frage ich nach und blicke meinen Bruder herausfordernd an. Obwohl er nur ein knappes Jahr jünger ist als ich, ist er anders. Sein bereits jugendlicher Körper passt nicht zu seinem immer noch kindlichen Verhalten. Aber das stört niemanden in unserem Dorf und schon gar nicht meine Familie.

„Ja, aber ich habe ihnen gesagt, dass sie die wieder abbauen müssen“, erklärt Evander und sieht mich ernst an. Mama und ich lachen auf. Evander hat jedes Jahr unglaubliche Angst vor dem Lärm, den die Trommeln bei unserem jährlichen Sommernachtsfest verursachen. Bisher ist er immer mit Mama und den zwei kleinen Mädchen vor Mitternacht nach Hause gegangen, doch dieses Jahr bleibt Mama zum ersten Mal mit den Kindern die ganze Nacht auf dem Fest. Evander muss deshalb auch bleiben und sich seiner Angst stellen.

„Enya und River freuen sich auf die Trommeln.“ Ich lächele ihn ermutigend an, aber Evander erwidert meinen Blick nur misstrauisch. Die Nachricht auf dem Fest bleiben zu müssen, hat er wohl noch nicht ganz verarbeitet.

„Ich glaube, sie werden bitter enttäuscht sein. Trommeln sind nicht schön“, verkündet er und ich sehe die Furcht in seinen Augen.

„Aber, aber“, ertönt eine tiefe Stimme hinter uns und wir drehen uns um. Großvater ist so leise aufgetaucht, dass wir ihn gar nicht haben kommen hören. „Ich habe dir doch bereits so oft die Geschichte von den hundert Bergkriegern erzählt, die tausend Mann in die Flucht geschlagen haben, nur mit ihren Trommeln.“

Evander sieht ihn mit großen Augen an und überlegt scharf. Schließlich schüttelt er den Kopf. „Nein. Das waren doch keine Trommeln! Das waren Fackeln. Ich bin mir ganz sicher! Du doch auch Philine, oder?“ Er blickt zu mir und ich zucke grinsend mit den Schultern. Issi macht sich oft den Spaß, eine Geschichte mehrmals zu erzählen und sie als komplett neue Geschichte hinzustellen, indem er nur ein paar Details daran verändert. Ich will ihn nicht auffliegen lassen und zwinkere ihm zu.

Issi zwinkert zurück und meint dann: „Wenn du mir nicht glaubst, kann ich sie dir ja heute Nacht erzählen. Wir machen es uns gemütlich und lassen deine Schwestern und Eltern auf dem Fest trommeln, ja?“

Ich blicke Großvater erstaunt an, aber Evander jubelt laut los. „Ja! Das wird ein Spaß!“

„Aber willst du gar nicht auf das Fest Emric?“, mischt sich nun meine Mutter in die Unterhaltung ein. Großvater zuckt mit den Schultern. „Das ist schon in Ordnung.“

„Das kommt gar nicht in Frage, Issi“, schimpfe ich laut. „Ich komme vor Mitternacht und bleibe bei Evander. Als einer der Dorfältesten musst du unbedingt die Trommeln schlagen!“

Großvater runzelt die Stirn. „Ich glaube nicht, dass …“

„Keine Widerrede!“, schneide ich ihm das Wort ab und er seufzt ergeben.

„Na gut, du freches Gör, dann machen wir es so“, gibt er nach.

„So. Genug geplaudert!“, Mama erhebt sich tatkräftig und ergreift ihren Korb. Gemeinsam machen wir uns auf den Rückweg ins Dorf. Ich lasse die anderen ein Stück vor mir hergehen, aber Issi lässt sich ebenfalls zurückfallen und bietet mir seinen Arm an. „Na, Sonnenblume? Freust du dich auf das Sommernachtsfest?“

„Ja natürlich. Wie kann man sich nicht darauf freuen? Es ist schließlich das größte Spektakel im ganzen Jahr.“ Ich lache laut und Großvater stimmt mit ein, aber sein Lachen hört sich irgendwie ein bisschen traurig an. Es ist nicht das echte Lachen, das er sonst so oft mit mir teilt.

„Was hast du; Issi?“, frage ich vorsichtig. Er sieht mich einen Moment an, als würde er durch mich hindurchblicken, doch dann lächelt er, sodass die Lachfältchen sich in die Haut um seine Augen graben. „Mir geht es gut, Sonnenblume.“

Kaum betreten wir unser Dorf, fällt die natürliche Ruhe der Wälder und Bergwiesen von uns ab. Hier herrscht ein emsiges Treiben, wie man es wohl sonst nur in einem Bienenschwarm vermutet. Die Leute bereiten sich alle auf das Fest vor, das in wenigen Stunden beginnen soll. Aus den offenstehenden Fenstern und Türen der Häuser duftet es herrlich nach Essen und man hört Frauen und Männer lachen und reden. Kinder springen durch die Straßen und zwei Frauen unterhalten sich durch die Fenster über die Straße hinweg. Ich genieße dieses fröhliche, laute Treiben ebenso wie vorher die Ruhe der Natur.

Das Sommernachtsfest wird immer am längsten Sommertag im Jahr gefeiert und das ganze Dorf kommt zusammen, um zu essen, zu tanzen und zu singen. Und um Mitternacht werden die Trommeln geschlagen und die Feuervorführung beginnt. Ich habe das Sommernachtsfest seit meiner Kindheit geliebt und, wie jeder andere im Dorf, schon Wochen vorher darauf hingefiebert.

Unser Haus steht fast am östlichen Dorfrand, wo morgens die Sonne als Erstes über die Berge strahlt und uns begrüßt. Es ist, wie die anderen Häuser im Dorf, aus robusten Baumstämmen gebaut und die blauen Fensterläden klappern in der sanften Brise des Windes. Durch die offenstehende Tür hören wir Papa und Onkel Jaromir lachen.

„Ich dachte, ihr seid im Dorf und arbeitet. Stattdessen finden wir euch schwatzend und mit einem Krug Bier vor“, zieht Mama Papa lachend auf. Jaromir hebt den Bierkrug, als wir eintreten und grinst, wie ein kleiner Junge, der etwas ausgeheckt hat. „Wir haben gearbeitet, bis der Schweiß uns in Bächen über den Rücken gelaufen ist.“

„Ich bin jetzt noch triefnass“, pflichtet mein Vater ihm bei und macht Anstalten, Mama in den Arm zu nehmen.

„Untersteh dich, Lotham!“, ruft sie und entwindet sich ihm mit einem Lachen. Wir anderen fallen in ihr Lachen mit ein. Doch Mama hat wie immer einen strikten Zeitplan, an den wir uns halten müssen. Sie klatscht zwei Mal in die Hände. „So, genug gescherzt. Jetzt wird gearbeitet. Philine und Evander, ihr helft uns in der Küche. River, Nadora und Enya, ihr zieht euch um. Sobald ihr fertig seid, wird Philine euch die Haare flechten. Und vergesst die Blumen nicht!“

„Und was ist mit uns?“, fragt Papa unschuldig. Mama gibt ihm einen Klaps auf den Hintern und erwidert spitzzüngig: „Ihr steht hier nur im Weg herum. Seht zu, dass ihr rauskommt.“

Lachend verlassen Lotham, Issi und Jaromir das überfüllte Haus.

Eigentlich wohnen sonst nur meine Eltern, Issi und meine Geschwister hier. Doch vor zwei Wochen ist Onkel Jaromir mit seiner Familie zu Besuch gekommen. Sie wollen morgen nach dem Sommernachtsfest wieder nach Falcon, in die Hauptstadt des Landes, zurückreisen. Die mehrwöchige Reise in die Berge im Norden haben sie erst ein Mal zuvor auf sich genommen. Damals war ich noch ein kleines Mädchen und meine Schwestern und Jaromirs Kinder gab es noch nicht einmal.

Vater ist der Einzige seiner Geschwister, der nicht im Landesinneren lebt. Doch Mamas Familie hat schon immer in den Bergen gewohnt. Und ich selbst kenne auch nur die Dörfer und Berge in der Umgebung. Das macht mir jedoch nichts aus. Hier bin ich glücklich und werde es auch immer sein!

Den restlichen Nachmittag helfe ich Mama in der Küche und den Mädchen mit den Haaren, bevor auch ich mir mein neues Kleid anziehe, dass Onkel Jaromir aus der Stadt mitgebracht hat. Es ist hellblau und hat am Saum gelbe, weiße und rote Blumen eingestickt, die perfekt zu den Blumen vom Feld passen, die Mama mir in die Haare geflochten hat.

Zusammen mit Evander schlendere ich so am Abend auf den geschmückten Dorfplatz. In den Bäumen hängen bunte Lampions und über den Platz sind Bänder mit Wimpeln gespannt. Auf den Tischen stehen die Blumenkränze, die wir heute Morgen gebunden haben. Der größte Teil der Dorfbewohner sitzt bereits an den langen Tischen und unterhält sich lautstark.

„Philine!“ Mein bester Freund Corbin sitzt mit ein paar Mädchen und Jungen in unserem Alter an einem Tisch und winkt mir zu. Ich ziehe Evander von unserer Familie fort und setze ihn neben mich an den Tisch.

„Hi ihr beiden, wie geht es euch?“ Corbin lächelt erst mich und dann Evander an.

„Gut, aber ich freue mich nicht auf die Trommeln“, verkündet Evander. Ich grinse. „Mir geht es fantastisch. Ich habe mich schon so lange auf diese Nacht gefreut. Und selbst?“

Corbin nickt. „Mir geht’s super. Hübsches Kleid. Ist das neu?“

Ich nicke stolz. „Hat mir Onkel Jaromir aus Falcon mitgebracht. Fühl mal, wie weich der Stoff ist.“ Ich hebe den Saum etwas an und Corbin reibt ihn zwischen den Fingern.

„Wow! Das ist ja verrückt. Aus was wurde der gewebt?“ Corbin blickt mich begeistert an.

„Das ist Baumwolle. Meine Tante meint, dass es kein besonderer Stoff ist. Aber er ist nicht so kratzig wie unsere Schaf- und Alpakawolle. Leider kann ich es wahrscheinlich nur im Sommer anziehen, weil es so kurz ist.“

Bald darauf wird das Buffet eröffnet und die Bierfässer angezapft. Die Zeit vergeht wie im Flug. Und einige Zeit später wird auch die Tanzfläche eröffnet. Gemeinsam mit Forest, Corbins Schwester, bin ich eine der Ersten, die den Reigen beginnt, und auch bei den Paartänzen setze ich so gut wie nie aus. Wenn ich mal nicht mit Corbin tanze, tanze ich mit Evander, meinem Vater, Onkel Jaromir oder sogar Issi.

Schließlich dämmert es und als in der anbrechenden Dunkelheit die ersten Lampions angezündet werden, blicke ich mich nach meinem Bruder um. Er muss bereits mit Issi nach Hause gegangen sein und ich sollte bald folgen, wenn ich möchte, dass Großvater rechtzeitig um Mitternacht wieder hier ist. Doch als Corbin mich zu einem weiteren Tanz auffordert, kann ich nicht widerstehen und komme seiner Bitte nach. Als das Musikstück endet und alle applaudieren, ist es bereits so dunkel, dass die hohen Feuerkörbe und Fackeln entzündet werden und den Platz in warmes, flackerndes Licht tauchen.

„Jetzt geht es bald los“, freut sich Corbin und legt mir einen Arm um die Schulter. Ich blicke zu den großen Trommeln, die links von der Empore aufgebaut sind. Sie sind so riesig, dass mehrere Personen um die Trommeln stehen und mit Stöcken auf die Häute schlagen können. Ein wehmütiges Gefühl beschleicht mich, aber ich schüttele es sogleich ab. Ich habe mich dafür entschieden, nach Evander zu schauen, und das Sommernachtsfest habe ich oft genug miterlebt.

„Ich muss jetzt nach Hause, Corbin“, wende ich mich an meinen besten Freund. Die Musiker haben bereits wieder angefangen, zu spielen und Corbin versteht mich wohl nicht, denn er brüllt laut: „Was?“

Ich grinse, nehme ihn bei der Hand und führe ihn an den Rand des Dorfplatzes, wo die Fackeln nicht mehr so hell scheinen und der Lärm des Festes nicht so laut ist.

„Ich gehe jetzt nach Hause. Evander fürchtet sich vor den Trommeln und Issi muss unbedingt mitspielen“, erkläre ich. Corbin verzieht enttäuscht das Gesicht. „Was ist mit deiner Mutter?“

Ich zucke entschuldigend mit den Schultern. „Die ist bei den Mädchen …“

„Aber kann Evander nicht allein zuhause bleiben?“, versucht es Corbin. Ich schüttele vehement den Kopf. „Nein, du weißt doch, wie er ist. Ich will ihn nicht allein lassen, wenn er so Angst hat.“

„Vielleicht kannst du ihn ja überreden, doch noch aufs Fest zu gehen“, schlägt Corbin vor. Ich schmunzele leicht. „Was meinst du, was meine Familie die ganze letzte Woche versucht hat. Da ist nichts zu machen. Warum willst du, dass ich unbedingt dableibe? Wir waren doch schon so oft bei den Sommernachtsfesten dabei.“

Corbin knabbert an seiner Unterlippe, was er immer macht, wenn er nervös ist, und sein Blick huscht über mein Gesicht, bevor er leise sagt: „Ich wollte dich um Mitternacht küssen.“

Einen kurzen Augenblick schweben die Worte wie eine Feder vor uns durch die Luft. Sein Blick auf meinem und jeder von uns hält den Atem an, doch dann spüre ich, wie mir die Hitze ins Gesicht steigt und ich langsam die Luft ausstoße, während sich ein flaues Gefühl in meinem Magen ausbreitet.

Es gibt beim Sommernachtsfest den Aberglauben, dass es einem für das nächste Jahr Glück bringt, wenn man eine Person um Mitternacht küsst. Ich habe von diesem Aberglauben noch nie viel gehalten, geschweige denn davon Gebrauch gemacht und Corbin hat sich bisher auch noch nie darum geschert.

„Du kannst doch Fenja küssen. Das bringt auch Glück“, schlage ich vor und wünsche mich insgeheim aus dieser Situation heraus. Natürlich weiß ich, dass Corbin eigentlich nicht wegen dem Brauch jemanden küssen will, sondern dass es wohl um mich geht, aber das bereitet mir aus irgendeinem Grund Unbehagen. Corbin und ich waren seit unserer Kindheit unzertrennlich, aber seit ein paar Monaten scheint er mehr für mich zu empfinden als nur Freundschaft. Und das bringt mich ganz durcheinander.

Ich mag Corbin und ich könnte mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen, aber ob ich ihn wirklich liebe, das weiß ich nicht. Bisher konnte ich das beschleichende Gefühl immer abschütteln, dass da mehr für Corbin ist, weil er es nie so offensichtlich angesprochen hat. Doch das jetzt … Was wäre passiert, wenn ich um Mitternacht da gewesen wäre, hätte er mich dann überraschend genommen und geküsst? Ein Schauer läuft mir den Rücken hinab und ich bin erleichtert, dieser Überrumpelung entkommen zu sein.

„Mich würde es glücklicher machen, wenn ich dich küsse“, erklärt Corbin leise und ich halte seinem Blick nicht mehr stand. Ich sehe zu den Tanzenden hinüber, in die Baumkronen zu den bunten Lampions und dann auf den Boden.

„Aber ich glaube, Fenja würde es glücklicher machen, wenn du sie küsst“, antworte ich schließlich ebenso leise. Dann hebe ich den Blick wieder und sehe Corbin in die Augen. „Hör zu Corbin, ich muss jetzt echt gehen. Wir reden ein anderes Mal darüber, ja?“

Ich drehe mich auf dem Absatz um und fliehe in die dunkle Gasse hinter mir. Ich renne die kurze Strecke bis nach Hause. Zum einen, weil ich bereits spät dran bin, und zum anderen, weil ich Angst habe, Corbin könnte mir folgen. Doch hinter mir höre ich keine Schritte und als ich in die Gasse zu unserem Haus abbiege, atme ich erleichtert auf und werde langsamer.

Die Häuser liegen alle düster und leer in der Dunkelheit und außer der Musik des Festes in der Ferne ist es angenehm still. Feuerlicht flackert durch das Fenster unseres Hauses auf die Straße. Wahrscheinlich haben sich Evander und Issi vor den Kamin gekuschelt und Großvater erzählt seine Geschichte mit den hundert trommelnden Kriegern. Bei dem Gedanken an die beiden lächele ich.

Doch als ich mich unserem Haus nähere, schrecke ich zusammen. Das Licht dringt nicht nur aus dem Fenster, sondern auch durch die Tür, die offen steht. Ich beschleunige meine Schritte und als ich auf die Türschwelle trete und nach Issi und Evander rufen möchte, stockt mir der Atem.

Die Tür steht nicht einfach nur offen, nein, sie muss gewaltsam aufgebrochen worden sein. Ich ziehe scharf die Luft ein und betrete zögernd das Haus.

Alles ist verwüstet. Der Esstisch wurde umgeworfen, der Inhalt der Schränke liegt verteilt auf dem Boden. Teller und Tassen liegen zerbrochen da und vor dem Kamin sehe ich eine große, zusammengesunkene Gestalt.

„Issi!“, schreie ich und stürze auf den Mann zu. Hastig drehe ich ihn auf den Rücken und er stöhnt leise auf. Seine Augen öffnen sich einen Spaltbreit und seine Hand tastet nach mir. Ich ergreife sie und beuge mich über den alten Mann. „Issi, was ist passiert? Geht es dir gut?“

Großvater hustet und Blut tropft in seinen Bart. Ich starre ihn entsetzt an, aber da röchelt er schon leise. „Du musst … Dort.“ Er deutet auf einen der Steine am Boden vor dem Kamin. Ich blicke ihn verwirrt an. „Issi was ist mit dir? Wer hat das gemacht? Wo ist Evander?“

„Der Stein … nimm ihn weg“, Issi versucht, sich auf den Bauch zu drehen und die Stelle zu erreichen. Hastig lasse ich ihn los. Mit den Fingern fasse ich zwischen die Ritzen und ziehe an dem Stein. Erstaunlich leicht lässt er sich vom Boden lösen. Und als ich in das entstandene Loch blicke, sehe ich einen Brief mit einem roten, ungebrochenen Siegel.

„Was ist das?“, frage ich und hole ihn aus dem Loch, bevor ich den Stein wieder hineinsetze. Großvater seufzt erleichtert auf. „Schnell! Nimm ihn an dich. Versteck ihn so, dass ihn niemand findet.“ Er hustet und weiteres Blut tropft in seinen Bart, bevor er röchelnd wieder Luft holt. „Das Siegel darf niemals gebrochen werden. Hast du gehört? Nur die Hohe Elster darf es brechen. Hast du verstanden? Niemand sonst! Gib es Jaromir oder deinem Vater. Sie wissen davon!“

Verständnislos blicke ich auf Issi hinab. „Aber warum? Was ist los? Was ist hier passiert?“ Tränen schießen mir in die Augen, aber zeitgleich schiebe ich den Brief, so weit es geht, in meinen Schuh hinein. Dann greife ich nach Großvaters Hand und blicke mich ängstlich nach allen Seiten um. Wo um Himmels Willen ist Evander?

„Hey, Sonnenblume“, flüstert Issi und ich richte meinen Blick wieder auf ihn. Tränen schimmern in seinen Augenwinkeln, aber ich kann nicht sagen, ob wegen der Schmerzen, die er hat, oder wegen etwas anderem. Seine große raue Hand umklammert meine. „Es tut mir leid. Wirklich so unendlich leid, Sonnenblümchen.“

„Aber was denn?“, rufe ich aus und die Tränen treten mir erneut in die Augen. „Was ist passiert?“ Großvater hustet und dieses Mal spuckt er so viel Blut aus, dass es bis auf den Boden tropft. Ich lasse ihn los und springe auf. „Ich hole Hilfe.“

„Nein!“, seine Stimme ist so bestimmt, dass ich innehalte und ihn verzweifelt ansehe. Er sieht schrecklich aus. Sein Gesicht ist angeschwollen, als hätte ihn jemand geschlagen. Sonst scheint er keine äußeren Blessuren zu haben. Trotzdem krümmt er sich auf dem Boden zusammen, als könne er nicht mehr richtig atmen. Es tut mir im Herzen weh, ihn so gequält zu sehen und nichts dagegen tun zu können. Ihm nicht helfen zu können.

„Evander!“, stößt er schließlich atemlos hervor und zieht rasselnd die Luft ein.

Es läuft mir eiskalt den Rücken hinab und Panik steigt in mir auf. In dem Moment poltert etwas über mir und ich wirbele herum. Niemand ist im Haus, aber auf dem Dachboden, wo wir schlafen … „Evander!“, rufe ich laut und eile auf die Leiter zu, die zur zweiten Ebene führt, auf der unsere Strohbetten sind. Evander ist ein Meister darin, sich unsichtbar zu machen, vielleicht hat er sich dort rechtzeitig verstecken können.

„Philine!“, erklingt da auch schon seine ängstliche Stimme. Ich höre es poltern, als er über die Holzplanken der Ebene läuft und greife nach der Leiter. Ich setze meinen Fuß auf die unterste Sprosse, als ich hart an der Schulter gepackt und herumgerissen werde.

Ich schreie auf, als ich das Gleichgewicht verliere und auf den Boden knalle. Sofort rappele ich mich wieder auf. In Sekundenschnelle überblicke ich die Situation. Vor mir stehen drei Männer. Einer von ihnen hat ein Schwert in der Hand, während einer der beiden Unbewaffneten nach mir greift. Ich blicke mich hastig nach einer Waffe um, bücke mich unter den Armen des ersten Mannes durch und greife nach einer am Boden liegenden Scherbe.

Zugegeben wäre mir in diesem Moment unsere Axt oder Vaters Jagdbogen lieber, aber beides befindet sich in dem kleinen Schuppen neben dem Haus.

„Was wollt ihr von uns? Verschwindet!“, rufe ich und weiche einen Schritt zurück.

„Ist sie das?“, fragt der Mann mit dem Schwert. Der Mann, der nach mir greifen wollte, knurrt zurück: „Natürlich ist sie das! Auf was wartet ihr? Braucht ihr eine Extraeinladung? Ergreift sie!“

Sofort springen die Männer auf mich zu. In einer lächerlichen Verteidigung versuche ich sie mit der Scherbe abzuwehren. Doch noch bevor ich auch nur in ihre Reichweite gekommen bin, haben sie meine Arme gepackt und schmerzvoll auf den Rücken gedreht. Ich schreie auf und lasse die Scherbe fallen, die klirrend auf dem Boden landet.

„Philine!“ Ich sehe Evander über den Rand der Ebene hinabblicken. Die Augen vor Angst und Panik weit aufgerissen. „Evander! Schnell, hau ab und versteck dich!“, kreische ich und versuche, mich gegen die harten Griffe der Männer zu wehren.

„Was ist mit dem Jungen?“, höre ich einen von ihnen hinter mir.

„Lasst ihn, der ist schwachsinnig“, schimpft der andere Mann. „Los, fesselt sie und schlagt sie bewusstlos, dann sind wir schneller.“

Ich schreie auf und versuche, mich noch mehr gegen die brutalen Hände um meine Arme zu wehren. Dann spüre ich einen harten Schlag am Kopf und die Welt verschwimmt vor meinen Augen.

Kapitel 2

Als ich erwache, ist das Erste das ich spüre, der unsagbar heftige Schmerz in meinem Schädel, der von einer gleichmäßigen, ruckartigen Bewegung, die meinen Körper durchschüttelt, verstärkt wird. Ich stöhne leise auf und will die Arme heben, um mir an den schmerzenden Kopf zu fassen, aber irgendetwas hindert mich daran. Ich blinzele, aber es ist noch dunkel um mich her. Ich sehe Schatten an mir vorbeirasen und das einzige Geräusch sind die Hufe einiger galoppierender Pferde.

In dem Moment fällt es mir alles wieder ein. Das verwüstete Haus, Großvater, wie er verletzt auf dem Boden lag, und dann die Männer, die mich niedergeschlagen haben. Augenblicklich überfällt mich Panik und mir wird bewusst, dass ich mich tatsächlich noch bei ihnen befinde und sie mich auf ihren Pferden weit wegbringen. Mit einem Mal ist mein vernebelter Geist wie weggewischt und ich reiße die Augen weit auf.

Ich sehe die Bäume eines Nadelwaldes an uns vorbeifliegen und am Himmel verblassen bereits die Sterne. Wir müssen schon stundenlang geritten sein. Die Fesseln an meinen Handgelenken stechen mir in die Haut, wenn ich daran zerre, und hinter mir sitzt eine Person auf einem Pferd, die mich festhält, damit ich nicht abstürze. Vor uns sind noch drei weitere Pferde und hinter uns höre ich noch einige mehr.

Ich schreie auf und lasse mich zur Seite kippen. Mein Entführer, der wohl nicht mitbekommen hat, dass ich aufgewacht bin, reagiert nicht und so nähert sich mir der Waldboden schneller als erwartet. Ich schreie erneut, aber als ich auf dem Boden auftreffe, entweicht mir alle Luft. Meine Rippen schmerzen, wo ich aufgekommen bin, und ein Ziehen schießt durch meinen Kopf, sodass mir eine Sekunde schwarz vor Augen wird. Ich höre die Männer wie in weiter Ferne rufen.

Ich muss aufstehen und ins Dickicht fliehen, wenn ich eine Chance haben will. Obwohl sich immer noch alles um mich herum dreht, versuche ich, mich aufzurappeln, und stolpere blindlings drauflos. Doch ich komme keine drei Schritte weit, da packt mich jemand am Arm und zieht mich zurück.

„Lass mich los!“, schreie ich panisch und reiße an meinem Arm, aber er lässt mich natürlich nicht los. Was wollen die Männer nur von mir? Warum wurde ich entführt?

„Bist du eigentlich bescheuert, dich einfach so vom Pferd fallen zu lassen? Du hättest dir genauso gut das Genick brechen können!“, donnert die Stimme eines Mannes, der auf uns zukommt. Er ist fast zwei Meter groß und sein bärtiges Gesicht blickt so grimmig drein, dass ich sofort jeden Widerstand aufgebe. Weitere Männer kommen angelaufen und als ich mich umblicke, erkenne ich die drei Männer von gestern Abend unter ihnen wieder. Es ist auch eine Frau dabei. Sie ist hochgewachsen, drahtig und trägt die gleiche lederne Kleidung wie ihre Gefährten.

„Was ist passiert Timur?“ Der Mann, der spricht, ist auch gestern dabei gewesen und hat die Befehle erteilt. Er ist breit gebaut und hat einen rötlichen Bart, eine braune Mütze auf dem Kopf und trägt auf dem Rücken zwei armlange Äxte.

Timur ist wohl der Zwei-Meter-Mann, denn dieser deutet anklagend auf mich. „Sie hat sich einfach fallen lassen, das Miststück.“ Der Rotbärtige versetzt ihm einen heftigen Schlag in die Seite. „Nenn sie nicht so! Und pass gefälligst auf! Wenn sie sich das Genick gebrochen hätte, hätte die Königin dasselbe mit dir gemacht.“

Ich versuche mich, trotz der Schmerzen, auf ihre Worte zu konzentrieren. Die Königin? Sind das etwa Männer der Königin?! Aber was wollen sie von mir?

„Lass sie los, Dante“, befiehlt der Anführer und der Mann, der mich festhält, lässt mich los. Ich kann sowieso nicht fliehen, wenn sie alle um mich herumstehen und jede meiner Bewegungen verfolgen. Ich reibe mit dem Unterarm über meine Rippen, die immer noch höllisch schmerzen und frage mich, ob ich sie mir vielleicht gebrochen habe.

„Kannst du reiten, Mädchen?“, fragt der Rotbart und kommt einen Schritt auf mich zu. Ich starre auf den Boden vor mir, nur um ihnen nicht die Genugtuung zu geben, die Angst und die Tränen in meinen Augen zu sehen.

„Ich habe gefragt, ob du reiten kannst?“, der Mann packt mich hart am Unterarm. Ich kann ein leises Schluchzen nicht unterdrücken. Mein Körper beginnt unkontrolliert zu zucken, aber ich zwinge mich, die bebenden Lippen zu öffnen und ein geflüstertes „Ja“ zu hauchen. Corbins Familie gehört ein großer, stämmiger Kaltblüter, der ihnen bei der Waldarbeit hilft. Corbins großer Bruder hat mir und Evander das Reiten auf ihm beigebracht. Aber das Tier war zahm und gutmütig und ich bin nie galoppiert. Doch lieber will ich auf einem eigenen Pferd sitzen, als bei einem der Männer mitreiten zu müssen.

„Gut. Schneidet ihr die Fesseln durch und setzt sie auf ein Pferd. Wir reiten weiter“, befiehlt der Mann und stapft davon. Die anderen tun es ihm gleich. Timur bleibt als Einziger bei mir. Er zieht ein Messer aus dem Gürtel. Als ich die kalte Klinge an meiner nackten Haut spüre, bekomme ich eine Gänsehaut. Mit einem Ruck hat der Hüne die Fesseln durchtrennt und kühle Luft legt sich auf die aufgescheuerten Handgelenke und lindert den Schmerz. Ich atme erleichtert auf und schüttele die Arme aus, bevor ich die roten Striemen betrachte.

Dann taste ich meine Seite ab. Die Berührung schmerzt, aber meine Rippen sind, soweit ich das beurteilen kann, nicht gebrochen. Ich atme erleichtert auf und fasse mir an den schmerzenden Kopf. Meine dunklen Locken haben sich aus der Frisur gelöst und hängen mir wirr ins Gesicht. Ich ertaste einige verwelkte Blumen darin und ein klammes Gefühl breitet sich in meinem Magen aus. Vor ein paar Stunden habe ich noch überglücklich auf dem Sommernachtsfest getanzt und jetzt befinde ich mich in den Händen einer Entführerbande.

Meine Schläfe pocht, wo ich getroffen wurde, aber als ich danach taste, spüre ich, dass ich wohl nicht geblutet habe. Trotzdem lässt mich die Berührung fast wieder bewusstlos werden und meine Knie geben nach.

Zwei Hände greifen nach mir und halten mich davon ab, zu fallen. Es ist Timur und als er mich wieder aufgerichtet und losgelassen hat, knurrt er nur leise. „Lass den Scheiß, Mädchen!“

Ich nicke beklommen und beginne stattdessen nervös und mit zitternden Händen die verwelkten Blumen aus meinen dicken Haaren zu ziehen. Nach und nach schweben Schleierkraut, Butterblumen und die übriggeblieben Stängel des Klatschmohns vor mir auf den Boden. Aus dem Augenwinkel beobachte ich dabei, wie die Männer und die Frau sich in die Sättel der Pferde schwingen. Es sind große, schlanke und starke Pferde und passen zu den kräftigen, gut bewaffneten Männern, die auf ihnen reiten. Insgesamt sind sie acht. Der rotbärtige Anführer, die Frau, Timur, die zwei Männer, die gestern auch mit dem Rotbart im Haus waren, ein Mann mit grauem, schulterlangem Haar und zwei junge Männer. Die meisten von ihnen tragen Schwerter. Nur der grauhaarige hat einen Bogen und der Anführer seine Äxte.

Einer der jungen Männer kommt mit zwei Pferden am Zügel herüber. Er hat blonde Haare, die ihm strähnig ins Gesicht hängen und strahlend, blaue Augen die mich tatsächlich freundlich anblicken. „Hier ist dein Pferd. Ihr Name ist Sanne und sie ist sehr zahm und freundlich“, erklärt er und streicht der grauweiß gesprenkelten Stute über die Nüstern.

Ich trete zögernd auf den Apfelschimmel zu. Sie ist nicht so groß wie der Kaltblüter, auf dem ich früher geritten bin, und ihre dunklen Augen blicken mich ruhig und abwartend an. Ich hebe langsam die Hand und streiche ihr über den Hals.

„Wir müssen los“, bestimmt Timur und greift so unerwartet nach mir, dass ich einen Aufschrei nur mit Mühe unterdrücken kann. Bevor ich es schaffe mich zu wehren, hat er mich an der Taille gepackt und in den Sattel des Pferdes gesetzt, als wiege ich nicht mehr als ein Kleinkind. Zum ersten Mal fällt mir auf, wie unpraktisch es ist, das neue Kleid zu tragen, das mein Onkel mir geschenkt hat. Schnell schiebe ich den Rock, so gut es geht, über meine nackten Knie und hoffe, dass er beim Reiten nicht weiter hoch rutscht.

„Hier, deine Zügel“, der blonde Mann schwingt die Zügel über den Kopf der Stute und hält sie mir mit aufforderndem Blick hin. Ich greife zögernd danach. Das Leder fühlt sich rau und abgenutzt an.

Als Timur und der junge Mann sich ebenfalls in die Sättel geschwungen haben, gibt der Rotbart ein Zeichen und die Gruppe setzt sich in Bewegung. Ich muss meiner Stute gar keinen Befehl erteilen. Wie von selbst reiht sie sich zwischen die Reiter ein und schnell erhöhen sie ihr Tempo. Wir folgen einem Trampelpfad im Trab, der durch die dicht stehenden Bäume führt.

Wir reiten nach Osten stelle ich schnell fest, als die ersten Sonnenstrahlen durch die Baumwipfel fallen und mich blinzeln lassen.

Im Kopf rechne ich kurz aus, wie lange ich wohl bewusstlos war. Um Mitternacht haben sie mich gefangen genommen und die Sonne geht im Hochsommer bereits um vier Uhr morgens wieder auf. Was bedeutet, dass wir schon vier Stunden von meinem Dorf entfernt sind. Das ist weit. Und dann erkenne ich auch die Gegend wieder, in der wir uns befinden. Der Trampelpfad, die dichten Nadelbäume. Wir befinden uns auf dem Weg zu einem befreundeten Dorf. In einer knappen Stunde sollten wir auf eine breite Straße treffen, die nach Norden den Berg hinaufführt.

Wenn diese Männer zur Königin wollen, nehmen sie mit Sicherheit den Weg den Berg hinab, aber ich könnte eventuell an dieser Stelle entkommen. Auf dem breiteren Weg ist es nur noch anderthalb Stunden in das Dorf. Dort wohnen Cousins meiner Mutter, bei denen ich Zuflucht finden könnte und die mich sicher wieder zurück nach Hause begleiten werden.

Während ich noch an dem Plan für meine Flucht arbeite, gibt der Anführer an der Spitze des Zuges ein Zeichen und treibt sein Pferd laut schnalzend an. Ein Ruck geht durch meine Stute, als sie plötzlich die Gangart wechselt und ich greife verkrampft nach den Zügeln, während sie losgaloppiert. Ich beobachte, wie die Frau, die vor mir reitet, sich den Bewegungen des Pferdes anpasst und versuche, es ihr gleich zu tun. Wahrscheinlich sieht es lächerlich aus, aber es fällt mir erstaunlich leicht, mit dem Pferd mitzugehen.

Die Bäume fliegen links und rechts an mir vorbei und der Wind reißt mir die restlichen Haare aus der lockeren Flechtfrisur. Die Pferde sind eindeutig schneller als der Kaltblüter von Corbins Familie und als wir eine Viertelstunde später auf den breiten Weg treffen, fällt mir auf, dass ich einen Denkfehler in meinem Plan habe. Bisher waren wir immer zu Fuß unterwegs gewesen, wenn wir unsere Freunde und Verwandten in den anderen Dörfern besucht haben. Mit dem Pferd erreiche ich meine Verwandten bereits in einer halben Stunde. Aber gleichzeitig begreife ich auch, wie sinnlos dieser Fluchtversuch ist.

Meine Entführer sind viel bessere Reiter als ich und selbst wenn ich es schaffe, meine Stute von der Gruppe zu trennen, würden sie mich auf der breiten Straße bereits nach kurzer Zeit einholen. Trotzdem! Ich muss es einfach versuchen!

Der Hauptmann verlangsamt sein Tempo, als alle aus dem Wald heraus auf die staubige Straße traben. Die Männer lenken ihre Pferde nach Süden und das ist meine Chance. Ich reiße grob die Zügel meiner Stute herum und drücke ihr meine Schenkel in die Flanken. Sie wiehert erschrocken von der unerwarteten Wendung, trabt aber gehorsam an und fällt auch sofort in Galopp als ich sie weiter ansporne. Hinter mir höre ich die Männer rufen und kurz darauf auch die donnernden Hufe ihrer Pferde.

Ich treibe meine Stute nach links in das dichte, wilde Unterholz des Waldes. Das ist meine einzige Möglichkeit zu entkommen. Im Wald kennen sie sich nicht so gut aus wie ich und können mich schwerer fassen.

Ich wage es nicht zurückzuschauen und treibe Sanne immer schneller an. Die tief hängenden Äste der Nadelbäume peitschen mir ins Gesicht und ich hoffe, dass sich meine Stute auf dem unebenen Boden nicht den Fuß verknackst oder stolpert. Hinter mir höre ich immer noch die Männer rufen, aber mir scheint, ihre Stimmen werden leiser. Trotzdem erkenne ich schwere, donnernde Hufe dicht hinter mir und sie kommen schnell näher.

Als mein Pferd eine Ebene erreicht, wo die Bäume nicht ganz so dicht stehen, jagt mein Verfolger sein Pferd an meinem vorbei und drängt Sanne zur Seite, bis sie sich gezwungen sieht, langsamer zu werden. Tränen der Wut und Verzweiflung steigen mir in die Augen. In meiner Not sehe ich keinen anderen Ausweg, als das Tier unerwartet an den Zügeln herumzureißen und nach rechts ins dichte Unterholz zu lenken.

Die Stute macht einen erschrockenen Satz über einige am Boden liegende Äste und ich verliere gänzlich den Halt. Mit einem Schrei stürze ich heute zum zweiten Mal von einem Pferd und lande hart auf dem Rücken. Der weiche Nadelboden federt meinen Sturz ab und so spüre ich nur den Schmerz meiner bereits verletzten Seite und meines dröhnenden Kopfs.

Ich höre wie der Reiter, der mich verfolgt hat, sein Pferd anhält und aus dem Sattel springt, aber ich bleibe einfach nur regungslos liegen. Über mir ragen die hohen Nadelbäume dicht in den Himmel und das wenige Sonnenlicht, das durch die Zweige fällt, lässt sie dunkelgrün leuchten wie einen Waldsee. Es ist wunderschön, aber ich kann es nicht genießen.

Tränen lösen sich stumm aus meinen Augenwinkeln, kullern die Schläfen hinab und versickern in meinem krausen Haar, in dem sich wohl mittlerweile jede Menge Laub und Nadeln verfangen haben müssen.

Ein Gesicht schiebt sich in mein Blickfeld und am liebsten würde ich die Augen schließen, um es nicht ansehen zu müssen und die Illusion der Ruhe meines geliebten Waldes zu wahren.

„Geht es dir gut?“ Seine kurzen braunen Haare sind fast so dunkel wie meine und sein schmales Kinn ist schattiert von seinem kurzen Bart. Seine braun gesprenkelten Augen erinnern mich an die von Corbin, auch wenn sie etwas heller sind, aber in ihnen liegt der gleiche neckische Ausdruck, mit dem mich mein bester Freund oft angesehen hat. Doch ansonsten hat er mit seiner hellen Haut und den fehlenden Locken keine Ähnlichkeit mit Corbin.

Am liebsten würde ich den Kopf schütteln oder gar nicht erst antworten. Doch stattdessen flüstere ich mit erstickter Stimme: „J-ja.“

„Gut.“ Der junge Mann lächelt belustigt und hält mir dann auffordernd eine Hand entgegen. Zögernd ergreife ich sie und lasse mich von ihm auf die Beine ziehen. Sein schwarzer Hengst steht neben ihm und schnaubt ungeduldig, während meine Stute ein paar Meter weiter stehengeblieben ist und nervös mit den Ohren zuckt.

„Du bist keine gute Reiterin“, meint der junge Mann und greift nach dem Zügel seines Pferdes. Ich zucke nur mit den Schultern und schlinge mir meine Arme um den Oberkörper. Mir ist kalt und der gescheiterte Fluchtversuch hat mir alle Kraft geraubt, die ich noch gehabt habe.

„Hol dein Pferd“, befiehlt er in einem Ton, der keine Widerworte zulässt. Ich nicke stumm und stapfe unter seinem wachsamen Blick zu meinem Apfelschimmel. In dem Moment kommen die anderen Reiter bei uns an.

Rotbart springt aus dem Sattel und kommt mit wütenden Schritten auf mich zu. Sein Blick ist so finster, dass ich ängstlich den Kopf zwischen die Schultern ziehe, als er noch einige Schritte von mir entfernt ist. Er hebt die Hand, als wolle er mich schlagen, packt mich dann jedoch stattdessen grob am Genick und zischt mir wütend ins Gesicht: „Hör mal zu, Prinzessin. Wenn du glaubst, du kannst mich austricksen, hast du dich geirrt. Beim nächsten Fluchtversuch lasse ich dich wieder fesseln und binde dich an deinem Pferd fest. Hast du verstanden?“

Ich nicke fast unmerklich mit dem Kopf, schaffe es aber dennoch, trotzig seinem Blick standzuhalten. Der Mann schnaubt wütend, lässt mich ruckartig los und brüllt seine Männer an: „Weiter geht’s! Timur, hilf ihr aufs Pferd. Rowan, Jorine, ihr reitet links und rechts von ihr. Timur und Azriel hinter ihr. Wenn sie uns noch einmal entwischt, rollen Köpfe, habt ihr verstanden?“

Zustimmendes Gemurmel ist unter den Männern zu hören. Timur springt vom Pferd und will mich schon wieder packen, aber ich ergreife schnell die Initiative und schwinge mich selbst in den Sattel meiner Stute, bevor er auch nur in meine Nähe kommt.

Unter den wachsamen Augen aller Männer reihe ich mich in die Gruppe ein und als wir auf die Straße kommen, nehmen mich die Frau und der Dunkelhaarige in die Mitte.

Wir galoppieren eine gute Strecke den breiten Weg hinab und mit jedem Schritt, den mein Pferd macht, schwindet meine Hoffnung, dass ich jemals wieder zu meiner Familie zurückkomme. Und diese Tatsache macht mein Herz noch schwerer und immer wieder muss ich mir über die Augen reiben, um die aufkommenden Tränen zurückzuhalten.

Irgendwann lenkt der Rotbart die Gruppe links vom Weg auf einen weiteren Trampelpfad, auf dem wir nicht nur gezwungen sind, langsamer zu reiten, sondern auch hintereinander. Als die Sonne bereits den Zenit überschritten hat und ich das Gefühl habe, vor Müdigkeit und Schmerzen einfach vom Pferd zu fallen oder zu verdursten, kommen wir an einen schnell fließenden Bergbach, an dem wir anhalten.

„Wir machen Pause für ein paar Stunden. Ihr könnt schlafen und euch im Stundentakt mit der Wache abwechseln. Dante beginnt“, erklärt der Anführer laut. „Jorine und Jacobi ihr begleitet mich. Wir kundschaften die Gegend aus und gehen jagen.“

Während Timur und der blonde Kerl die Pferde zum Tränken an den Fluss führen, verschwinden der Rotbart, die Frau und der Grauhaarige mit dem Bogen im Unterholz. Ich lasse mich auf den Boden sinken und lehne mich erschöpft gegen einen Baum. Während ich mir immer wieder vorsichtig über die Rippen streiche, beobachte ich wie die Männer sich neben den Pferden an den Bach knien und das Wasser daraus schöpfen, um es gierig zu trinken und ihre Wasserschläuche damit zu füllen.

Dann binden sie die Pferde fest, die genüsslich das grüne Gras fressen. Die Männer reden und lachen dabei miteinander und beachten mich nicht weiter. Meine trockene Kehle sehnt sich ebenfalls nach der kühlen Erfrischung ein paar Meter von mir entfernt, aber meine Beine und mein Hintern fühlen sich so steif und wund an, dass ich mich keinen Millimeter mehr bewegen möchte. Ich blinzele zu den Männern hinüber, die sich etwas von mir entfernt auf dem Boden niedergelassen haben und taste so unauffällig wie möglich unter meinen Rock. Meine Oberschenkel haben den ganzen Ritt über nackt auf dem Sattel gescheuert und als ich vorsichtig die Haut berühre, durchzuckt mich ein brennender Schmerz. Sie ist warm, fast heiß und an manchen Stellen feucht.

Schritte nähern sich mir und ich ziehe schnell die Hand unter dem Rock hervor. Als ich den Blick hebe, kommt der blonde junge Mann vor mir zum Stehen. Er geht vor mir in die Hocke und hält mir einen Wasserschlauch entgegen. Misstrauisch blicke ich ihn an, aber dann siegt mein Durst und ich greife danach und trinke so gierig, dass ich etwas davon auf mein Kleid verschütte.

„Geht es dir gut?“, erkundigt er sich, als ich ihm den Schlauch zurückgebe. Ich antworte nicht, sondern blicke ihn nur anklagend an.

Ein verlegenes Lächeln zuckt über seine Lippen. „Tut mir leid, natürlich geht es dir nicht gut. Ich meinte auch eigentlich deine Prellungen und Beulen. Die an der Schläfe sieht harmlos aus, aber wahrscheinlich bereitet sie dir Kopfschmerzen. Ich hatte derartige Blessuren schon oft. Ich weiß, wie das ist. Und deine Rippen? Ich habe gesehen, dass du nach deinem ersten Sturz öfters hingefasst hast. Sie sind doch wohl nicht gebrochen, oder?“

Ich schüttele den Kopf und antworte leise: „Nein, sind sie nicht. Es ist wohl nur eine Prellung.“

Der Mann verzieht mitleidig das Gesicht. „Ich kann Jorine bitten, dass sie es sich einmal anguckt, wenn sie zurückkommt. Und vielleicht auch deine Beine …“

Ich zucke mit den Schultern. Ich weiß nicht, ob ich will, dass Jorine mich anguckt. Es wird schon nicht so schlimm sein. Aber der Mann scheint sich wenigstens ein bisschen um mich zu sorgen, im Gegensatz zu den anderen.

„Warte mal“, meint er und stapft zu den Sätteln hinüber, die die Männer den Pferden abgenommen haben. Er wühlt in einer der Satteltaschen und kommt wieder zu mir zurück. In der Hand ein dunkles Stoffbündel. Wieder geht er vor mir in die Hocke und hält mir den Stoff hin. „Sie wird dir wahrscheinlich viel zu groß sein, aber besser als mit bloßer Haut im Sattel zu sitzen.“

Ich spüre, wie mir heiß im Gesicht wird, aber ich greife nach der Hose. Einen Moment sagt keiner von uns mehr etwas, dann flüstere ich leise: „Warum bist du so nett?“

Der blonde Mann grinst leicht. „Die anderen sind eigentlich auch alle nett. Ihnen fällt es nur ein bisschen schwerer, das zu zeigen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie Lúvocs sind. Wie heißt du?“

Ich weiß nicht, was Lúvocs sind, aber ich will auch nicht nachfragen. Stattdessen reagiere ich auf seine Frage. „Mein Name ist Philine.“

Wieder lächelt der junge Mann freundlich. „Freut mich. Ich bin Azriel. Wenn du was brauchst, kannst du dich jederzeit bei mir melden.“ Mit diesen Worten steht Azriel auf und schlendert wieder hinüber zu den anderen Männern, die sich auf dem weichen Grasboden ausgebreitet haben. Ich betrachte die feste braune Stoffhose auf meinem Schoß und lehne mich erschöpft an meinen Baum. Obwohl ich nicht vorhabe, einzuschlafen, fallen mir doch kurz darauf die Augen zu.

Kapitel 3

Als ich aufwache, sind nur ein paar Stunden vergangen, aber trotzdem sind die Männer dabei, die Pferde zu satteln. Der Rotbart ist mit dem Bogenschützen und der Frau zurückgekommen und gibt lauthals Befehle. Als er sieht, dass ich nicht mehr schlafe, kommt er auf mich zu. Ich rappele mich hastig auf und stehe bereits, als er bei mir ankommt. Er mustert mich einen Moment von oben bis unten und macht dann eine Kopfbewegung zu den Pferden. „Wir gehen weiter, Prinzessin. Steig auf dein Pferd.“

Ich blicke ihn stumm an und drücke die Hose an mich, die Azriel mir gegeben hat. Einen Augenblick starren wir uns an, dann seufzt der Rotbart. „Hast du was auf den Ohren? Aufsteigen habe ich gesagt.“

Ich schüttele den Kopf. „Ich muss mal.“

„Okay, na gut“, schimpft der Mann und wendet sich von mir ab, um den anderen etwas zuzubrüllen. „Jorine!“

Die Frau kommt mit unzufriedenem Gesichtsausdruck zu uns herüber und würdigt mich keines Blickes. „Ja Chef?“

Der Rotbart macht eine Kopfbewegung in meine Richtung. „Sie muss mal. Begleite sie ein Stück in den Wald. Fünf Minuten!“ Mit diesen Worten stapft er davon und sieht so nicht, wie die Frau die Augen verdreht. Doch sie fügt sich ihrem Schicksal, packt mich grob am Arm und zieht mich zwischen die Bäume. Kaum sind wir so weit weg, dass man die Männer nicht mehr sehen kann, hält sie an und lässt mich los.

„Aber beeil dich“, sagt sie nur schlecht gelaunt. Ich drehe mich von ihr weg, ziehe meine Unterwäsche runter und gehe in die Hocke.

„Azriel hat gesagt, ich soll mir deine Hüfte und deine Beine ansehen“, höre ich die Frau hinter mir sagen. Ich reagiere nicht darauf, sondern erledige in Seelenruhe mein Geschäft. Dann ziehe ich das Höschen wieder hoch und drehe mich zu ihr um. „Nein danke“, sage ich mit Nachdruck und drehe mich erneut von ihr weg.

„Wie du willst“, antwortet Jorine.

Ich kneife die Lippen fest aufeinander und schlüpfe in die Hose, die Azriel mir gegeben hat. Es brennt höllisch, als der Stoff meine Oberschenkel berührt, und ich weiß, dass es nachher eine Qual sein wird, wieder in den Sattel zu steigen. Ich stopfe den Rock des Kleides in die Hose und schließe den Knopf. So passt die Hose fast, auch wenn es ein bisschen seltsam aussieht.

Zum Schluss bücke ich mich, um die Hosenbeine hochzuschlagen, und ignoriere den Schmerz in meiner Seite.

„Bist du jetzt endlich fertig?“, fragt Jorine, als ich mich wieder zu ihr umdrehe. Sie hat die Arme verschränkt, lehnt am Baum und mustert mich gelangweilt. Ich ziehe die Schultern zurück und atme tief durch. „Ja.“ Bevor sie nach mir greifen kann, um mich erneut durch den Wald zu schleifen, laufe ich an ihr vorbei. Ich höre sie hinter mir schnippisch zischen.

Als wir bei den anderen ankommen, die bereits in den Sätteln sitzen, schwinge ich mich in den Sattel meiner Stute Sanne, ohne das Gesicht auch nur zu verziehen, doch sowohl die Muskeln in meinen Oberschenkeln und Hintern, als auch meine Schürfwunden fühlen sich an, als würden sie in Flammen stehen.

„Timur, du bist für sie verantwortlich!“, ordnet der Rotbart an, dessen Namen ich immer noch nicht in Erfahrung gebracht habe.

Wir folgen in einem gemächlichen Tempo dem Bachlauf, der sich wild durch den Mischwald schlängelt und stetig bergab fließt. Timur weicht mir nicht von der Seite, macht jedoch keine Anstalten ein Gespräch zu starten. So kann ich mir besser die Gegend einprägen, durch die wir reiten. Längst haben wir den Umkreis um mein Dorf, in dem ich mich auskenne, überschritten und reiten immer weiter in östliche Richtung. Und solange das der Fall ist, bleiben wir in den Vihreas. Ich beschließe, meine Taktik zu ändern.

Sobald sich eine Möglichkeit bietet, werde ich fliehen, doch solange kann ich auch mehr darüber in Erfahrung bringen, wer diese Männer sind und was sie mit mir vorhaben. Und Timur scheint mir ein passender Kandidat zu sein, um auf meine etwas verpackten Fragen eine Antwort zu kriegen.

„Wie viel bekommt ihr eigentlich für mich?“, frage ich Timur also.

Der große Mann zuckt unmerklich zusammen, als ich ihn so unerwartet anspreche.

„Bekommen? Wir werden nicht bezahlt, Mädchen“, antwortet der Hühne auch schon prompt und sieht mich drohend an. Ich lasse mich jedoch nicht einschüchtern und hake unschuldig nach. „Ach nicht? Aber Jorine hat doch gemeint, dass ihr für mich vielleicht mehr bekommt als sonst. Ich dachte eigentlich, Menschenhandel wurde verboten. Ihr schafft mich doch nicht etwa über die Grenzen?!“

Timur wirkt nun vollends verwirrt. Er grunzt etwas und mustert mich von oben herab. Schließlich zuckt er mit den Schultern. „Jorine muss dir einen Bären aufgebunden haben. Wir verkaufen dich nicht. Weder hier noch in sonst einem Land.“

Ich atme unauffällig auf, doch dann runzele ich die Stirn. „Aber was habt ihr dann mit mir vor?“

Einen Moment sieht mich Timur zögernd an. Doch dann schüttelt er bestimmt den Kopf. „Früher oder später wirst du es erfahren, aber nicht von mir. Manwe wird mich einen Kopf kürzer machen, Mädchen.“

Ich unterdrücke ein Seufzen. Eigentlich hatte ich gedacht, Timur würde mir noch am ehesten in die Falle tappen und alles ungewollt ausplaudern, aber anscheinend hat der Rotbart, der wohl Manwe heißt, seine Leute gut abgerichtet. Also verwerfe ich diese Taktik und greife auf Plan B zurück.

„Du heißt Timur, nicht wahr?“, wechsele ich also das Thema. Der Mann nickt stumm und ich fahre fort. „Und wie heißen deine Reisegefährten? Ich weiß, dass das Mädchen Jorine heißt. Und der Blonde ist Azriel. Der mit den dunklen Haaren ist Rowan, oder?“

„Ja genau“, stimmt mir Timur zu und deutet dann auf den Rotbart. „Unser Hauptmann heißt Manwe und der Alte mit dem Bogen ist Jacobi. Dann gibt es noch Dante. Das ist der Kleine dort. Und der mit den Tattoos im Gesicht und auf der Glatze ist Mingus.“

„Bist du ein Falconer?“

Timur lacht laut auf. „Ich ein Falconer? Niemals! Ich stamme gebürtig aus Eluned. Aber Jacobi ist, soweit ich weiß, ein Falconer.“

Und schon habe ich eine Antwort mehr. Innerlich jubele ich über den Erfolg. Denn so abwertend, wie Timur über die Falconer gesprochen hat und so viel Stolz, wie er zeigt, wenn er sagt, dass er aus Eluned stammt, weiß ich jetzt, dass sie mich zur Schwester des Königs bringen und nicht zu dessen Frau.

Denn der König selbst hat seinen Wohnsitz auf Burg Falcon und die Anwohner der Falcon-Stadt nennt man im ganzen Land die Falconer. Sie sind dem König treu ergeben. Während die Bewohner von Eluned der Schwester des Königs dienen. Sie behauptet seit über zwanzig Jahren, dass König Xanthus ihren gemeinsamen Bruder, den eigentlichen Thronerben, umgebracht hat und stellt Ansprüche auf den Thron. Über die Jahre hat sie viele Anhänger gesammelt und in Eluned ihr Imperium gestartet. Obwohl sie keinerlei Befugnis im Land hat, nennt sie sich selbst Königin und fordert ihren Bruder in aller Öffentlichkeit auf, ihr den Thron zu überlassen.

Wir Bewohner der Vihreas leben zum größten Teil zurückgezogen und interessieren uns nicht für derlei politische Dinge. Solange wir unbehelligt bleiben, können sich die Könige unseres Landes um den Thron streiten so viel sie wollen. Wir sind zufrieden mit dem, was wir haben und leben in Ruhe und Frieden mit unseren Nachbardörfern.

Issi ist Falconer, genauso wie mein Vater und seine Geschwister. Doch mein Vater hat in jungen Jahren meine Mutter kennengelernt und ist zu ihr in die Vihreas gezogen.

„Du stammst aus Eluned? Ich habe schon so viel Schönes von der Stadt gehört. Stimmt es wirklich, dass die Stadtmauer im Licht des Sonnenaufgangs golden glänzt?“, rufe ich begeistert aus.

Timur lächelt stolz und nickt. „Ja, das stimmt wirklich. Wenn die Sonne im Osten über den Horizont wandert und genau waagrecht auf die Mauer strahlt, glänzt und glitzert sie manchmal tatsächlich wie flüssiges Gold. Es ist traumhaft! Und das Essen wird dir sicher auch gefallen. Eine ganz besondere Spezialität in Eluned sind fluffige Waffeln gefüllt mit einer zarten Schokoladen- oder Vanillecreme. Ich werde persönlich dafür sorgen, dass du sie serviert bekommst. Versprochen.“

„Das hört sich köstlich an.“ Ich nicke begeistert und überlege krampfhaft, welche Frage ich stellen kann, damit ich noch mehr darüber in Erfahrung bringen kann, warum mich die Möchtegern-Königin entführt hat.

„Hat Eluned nicht auch ein Schloss? Oder eine Festung?“, frage ich unschuldig nach, um zumindest mal in die richtige Richtung zu lenken. Timur lehnt sich genüsslich im Sattel zurück. „Ja klar. In Eluned steht die gleichnamige Burg. Sie war früher die Winterresidenz der Königsfamilie, doch heute ist sie der Wohnsitz der rechtmäßigen Königin. Meine Familie dient ihr, seit ich denken kann. Sie ist die Großherzigkeit und Güte in Person und ganz Eluned liebt und verehrt sie.“

„Sie ist die Schwester von König Xanthus, nicht wahr?“, hake ich nach.

Timur grunzt und sieht mich finster an. „Xanthus kann man wohl kaum König nennen. Erbschleicher oder Sippenmörder passt wohl besser. Ich rate dir, nie wieder den Königstitel mit seinem Namen im gleichen Satz zu verwenden. Kein Eluner hört so etwas Erlogenes gerne.“

„Aber ist er nicht der rechtmäßige König?“, frage ich trotz besseren Wissens nach.

„Nein ist er nicht!“, grollt Timur laut auf und packt mich grob am Arm. Meine Stute Sanne weicht zurück als sein breites, muskulöses Pferd ihr zu nahe kommt. Aber Timur lässt nicht los und zieht mich so fast aus dem Sattel. Seine Augen glühen vor Zorn, als er laut und bestimmt knurrt: „Jeder der so etwas behauptet ist ein Lügner und gehört an den Galgen. Also überlege dir gut, was du sagst, Mädchen.“

„Timur!“ Ich habe gar nicht gemerkt, dass der Zug zum Stehen gekommen ist und alle uns anstarren. Timur lässt mich los. Ich reibe mir über den Unterarm, wo er mich gepackt hat.

„Was ist da los?“, brüllt Manwe von der Spitze des Zuges. Timur grunzt nur unwillig und blickt mit finsterem Gesichtsausdruck vor sich hin, wie ein schmollendes Kind. Ich sage ebenfalls nichts. Manwe ist wohl der Letzte dieser Gruppe, dem ich irgendetwas sagen wollen würde.

„Wir reiten, bis es dunkel wird. Dann machen wir Pause“, verkündet der Rotbart schließlich und wendet sich wieder um. Ich drücke Sanne die Fersen in die Flanke und sie trottet weiter. Timur neben mir schweigt und auch als ich ihm weitere, unverfänglichere Fragen stelle, antwortet er mir nicht mehr und so gebe ich es schließlich auf.

Nach einer Ewigkeit, in der wir abwechselnd über Trampelpfade traben oder durchs Dickicht reiten, lässt Manwe uns endlich auf einer kleinen Lichtung mit einem angestauten Quellsee anhalten. Der Himmel ist bereits dunkel und der Mondschein erhellt das kleine Tal.

Ich komme fast nicht aus dem Sattel, so sehr schmerzen meine Beine und mein Hintern und ich frage mich unwillkürlich, wie ich die Zeit im Sattel überstehen soll. Wenn ich nicht fliehen kann, werden wir mehrere Wochen unterwegs sein bis nach Eluned. Onkel Jaromir hat mit seiner Familie von Falcon bis in die Vihreas über vier Wochen gebraucht und Eluned ist ungefähr gleich weit entfernt. Vier Wochen im Sattel. Schon allein der Gedanke bereitet mir zusätzliche Schmerzen.

Nachdem ich Sanne selbst abgesattelt und angebunden habe, sodass sie gut an das frische Gras und das kühle Wasser kommt, setze ich mich auf einen der großen Felsen am See. Ich beobachte wie sich auf dem leicht schaukelnden Wasser die Sterne des Nachthimmels spiegeln und dadurch wie das Leuchten tausender Glühwürmchen aussehen. Ich atme die stickige Nachtluft ein. Seit Tagen hat sich das gute Wetter gehalten und sich die Hitze in den Bergen angestaut. Bald wird es ein Unwetter geben. Wenn nicht morgen, dann übermorgen.

Issi hat immer gesagt, dass das Wetter in den Vihreas nicht zu vergleichen ist mit dem Wetter in der Ebene. Es ist immer kühl und so wechselhaft wie die Hormone einer schwangeren Frau. Da ich kein Vergleich zu dem Wetter in der Ebene habe, habe ich ihm nie wirklich geglaubt. Der Sommer in den Vihreas ist zwar kurz, aber heiß und schwül.

Während ich mit den Gedanken zurück in mein Dorf wandere und mich frage, wie es Issi wohl mittlerweile geht, ob Vater und Mutter sich Sorgen um mich machen und was Corbin zu meinem plötzlichen Verschwinden sagt, beobachte ich aus dem Augenwinkel, wie die Männer ein Feuer machen, die gejagten Truthähne rupfen und ausnehmen und über dem Feuer zubereiten. Ihre Handgriffe sind geübt und geschickt und zeugen von Erfahrung. Dabei reden und lachen sie laut und freundschaftlich miteinander und scheinen mich ganz vergessen zu haben.