Die Erfindung des Dosenöffners - Tarkan Bagci - E-Book
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Die Erfindung des Dosenöffners E-Book

Tarkan Bagci

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Beschreibung

»Ein sehr gutes Buch – und ich muss es ja wohl wissen.« Klaas Heufer-Umlauf »Eine Geschichte, auf die wirklich niemand gewartet hat, die dann aber eine Familienpizza mit Käse im Rand dabei hat und vier verschiedene Sorten Monster Slush für alle. Das sind mir die liebsten Gäste.« Giulia Becker Als Star-Journalist über die ganz großen Themen berichten, das ist Timur Aslans Traum. Statt Karriere zu machen, steckt er in der Lokalredaktion einer Kleinstadtzeitung fest. Hier schreibt er Artikel über Hühnerzüchter und Rentner-Kegelclubs und hasst jeden Buchstaben, den er dazu tippen muss. Auf der Suche nach eine großen Story, trifft er auf die 70-jährige Annette, die behauptet, dass sie den Dosenöffner erfunden hat. Was als Recherche beginnt, endet in einer ungewöhnlichen Freundschaft. Denn Timur muss feststellen, dass Erfolg und Glück zwei ganz unterschiedliche Dinge sind.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Die Erfindung des Dosenöffners

Der Autor

Tarkan Bagci (*1995) ist Comedy-Autor, Podcaster und Journalist. Er hat bereits für zahlreiche Fernsehformate geschrieben, darunter preisgekrönte Sendungen wie das Neo Magazin Royale (ZDF), Kroymann (WDR), Lass dich überwachen (ZDF) und Knallerfrauen (Sat.1). Sein Impro-Comedy-Podcast „Gefühlte Fakten“ ist konstant in der Spitze der deutschen Podcast-Charts vertreten.Twitter: @TarkanBagciInstagram: @tarkanbagci

Das Buch

>> EIN SEHR GUTES BUCH – UND ICH MUSS ES JA WOHL WISSEN.<<KLAAS HEUFER-UMLAUF

Als Star-Journalist über die ganz großen Themen berichten, das ist Timur Aslans Traum. Statt Karriere zu machen steckt er in der Lokalredaktion einer Kleinstadtzeitung fest. Hier schreibt er Artikel über Hühnerzüchter und Rentner-Kegelclubs und hasst jeden Buchstaben, den er dazu tippen muss. Auf der Suche nach einer großen Story trifft er auf die 70-jährige Annette, die behauptet, dass sie den Dosenöffner erfunden hat. Was als Recherche beginnt, endet in einer ungewöhnlichen Freundschaft. Denn Timur muss feststellen, dass Erfolg und Glück zwei ganz unterschiedliche Dinge sind.

»Eine Geschichte, auf die wirklich niemand gewartet hat, die dann aber eine Familienpizza mit Käse im Rand dabei hat und vier verschiedene Sorten Monster Slush für alle. Das sind mir die liebsten Gäste.«GIULIA BECKER

Tarkan Bagci

Die Erfindung des Dosenöffners

Roman

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-2372-5Originalausgabe im Ullstein Paperback© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021Alle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: ZERO Media GmbH – Simone MellarTitelabbildung: © FinePic®, MünchenE-Book-Konvertierung powerded by pepyrus

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

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Cover

Titelseite

Inhalt

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Ein aufrechter Gang führt bloß vor die Hunde. Ich wollte dem Obdachlosen meinen Gedanken aufmunternd zurufen, aber er sah nicht so aus, als würde er sich dafür interessieren. Er saß in der Gosse, als wäre sie ein Logenplatz, und wühlte beschäftigt in einer weggeworfenen Zeitung. War es unsere Zeitung? Ich lehnte mich aus dem Fenster, um besser sehen zu können. Es war tatsächlich eine Ausgabe des Westfälischen Kuriers. Vielleicht las er sogar gerade einen meiner Artikel. Ich lehnte mich wieder zurück und zog noch einmal so kräftig an meiner Zigarette, dass es knisterte.

Ich stand jetzt seit einer halben Stunde im Archiv herum und hatte bereits so viele Kippen geraucht, dass ich keine Angst mehr vor Lungenkrebs haben musste, weil selbst mein potenzieller Lungenkrebs wahrscheinlich schon an Lungenkrebs gestorben war. Ich hatte die gesamte Luft im Archiv verqualmt, das offene Fenster half nicht viel. Genau deswegen war Rauchen in der Redaktion eigentlich verboten. An den Wänden stapelten sich alte Zeitungsausgaben, die auf mich herabblickten. In einer Ecke stand ein Drucker, der so alt war, dass er Gutenberg wahrscheinlich persönlich kannte. Ich horchte in den Flur, ob jemand kam, aber es gab nicht viel zu hören. Nur das Glucksen der Kaffeemaschine. Unsere fleißigste Mitarbeiterin, dachte ich.

Meine Zigarette war fast bis zum Filter heruntergebrannt, und ich tastete nach der Schachtel, um nachzuladen, ließ es dann aber sein. Ich konnte mich nicht noch länger davor drücken, meinen Artikel über den örtlichen Geflügelzüchterverein zu Ende zu schreiben. Die Redaktion wollte unbedingt siebzig Zeilen haben. Aber ich wusste wirklich nicht, was ich siebzig Zeilen lang über Johannes Bichler und seine Hühner schreiben sollte. Da gab es absolut nichts Berichtenswertes. Johannes Bichler züchtete die Dinger halt. In einem Verein. Ende. Wenn Johannes Bichler heute starb und all seine Hühner mit ihm, würde das nichts am Lauf der Geschichte ändern. Es wäre egal. Moses waren die vollständigen moralischen Regeln der menschlichen Existenz gerade mal zehn Zeilen wert gewesen. Johannes Bichler und seine Hühner bekamen siebzig. So viel würde ich nicht einmal zusammen bekommen, wenn ich einen Artikel über mein gesamtes Leben schreiben müsste. Das wären dann maximal zwei:

Timur Aslan (20), geboren mit Ambitionen.

Seitdem ist nicht viel passiert.

Und damit wäre dann auch alles erzählt. Mein Leben war absolut langweilig.

Ich zog den letzten Rest Tabakrauch aus meiner Zigarette und schmiss sie aus dem Fenster. Scheiß Johannes Bichler.

Um auf siebzig Zeilen zu kommen, blieb mir nichts anderes übrig, als silbenlastige Adjektive zu erfinden und mir Beschreibungen aus den Fingern zu saugen, die nichts anderes beschrieben als die leeren Zeilen. Ich hasste das. Es war eine demotivierende, sinnlose Arbeit. Aber so ist Lokaljournalismus eben, dachte ich, Bedeutungslosigkeit auf siebzig Zeilen gestreckt.

Es war nicht so, dass ich meinen Job als Lokaljournalist grundsätzlich nicht ernst nahm oder sogar verachtete. Aber für mich war Lokaljournalismus nur eine Sprosse in meiner langen Karriereleiter. Und Sprossen tritt man nun mal mit Füßen. Zumindest wenn man vorhat aufzusteigen. Ich ließ das Fenster offen und ging rüber in die Redaktion.

Die Redaktion bestand aus ein paar zusammengeschobenen Tischen und drei alten Rechnern. Der traurigste Newsroom der Welt. Die Decken hingen tief wie Galgen, und alles sah irgendwie abgesessen aus. Als hätte sich jemand jahrzehntelang auf jedes einzelne Möbelstück gefläzt und es so lange angepupst, bis alles eingesackt und vergilbt war. Der ganze Raum hatte eine Trägheit, die seinem eigentlichen Sinn komplett entgegenstand.

Walter saß an seiner Ecke des großen, zusammengeschobenen Schreibtisches und blätterte durch die Zeitung. Als er mich sah, schreckte er auf und legte das Blatt schnell beiseite. Das war wohl das analoge Äquivalent zu schnell-seinen-Tab-schließen-und-so-tun-als-würde-man-sich-mit-der-Startseite-von-Google-beschäftigen, wenn ein Kollege auf den Bildschirm schaut. Dabei waren wir in einer Zeitungsredaktion. Das Letzte, was man hier verstecken sollte, war, dass man Zeitung liest.

Ich nickte Walter kurz zu, pflanzte mich an meinen Rechner und ignorierte ihn erfolgreich. Der unfertige Artikel starrte mich eindringlich an. Ich starrte tapfer zurück. Fünfzig Zeilen noch, mal sehen, was sich da machen ließ. Das Wort »Hühner« fiel mir sofort auf. Nur sechs Buchstaben. Da ging noch was. Ich machte »ausgesprochen ansehnliches Gefieder-Exemplar« daraus. Das nächste »Huhn« verwandelte ich in ein »glücklich gackerndes Federvieh«, und aus dem »jährlichen Wettkampf« machte ich »ein sich jedes Jahr wiederholendes Kräftemessen der Hühnerliebhaber«. Nach ein paar gewonnenen Zeilen griff ich zum Handy, um Insta­gram zu checken. Es ist erstaunlich, wie tief dieser Reflex sitzt, sich sofort mit dem Handy abzulenken, sobald man das Gefühl hat, man hätte auch nur die kleinste Kleinigkeit an Arbeit vollbracht.

Auf Instagram war alles wie immer. Eine Flut lächelnder Gesichter sah mich aus besseren Leben an. Özlem posierte mit Surfern an einem australischen Strand, und Flo war gerade beim #Studying in der Uni-Bibliothek. Meine Freunde lebten ihr Leben, schöpften ihr Potenzial voll aus. Und ich? Was war mit mir? Ich sah mir mein Leben an. Vor mir saß Walter, die Hände in den Schoß gefaltet, das Kinn auf der Brust. Seine Brillengläser waren so dick mit Staub bedeckt, dass ich nicht sehen konnte, ob seine Augen offen oder geschlossen waren. Schlief er? Das Licht der viel zu alten Deckenlampe hing in der abgestandenen Luft. Selbst die Kaffeemaschine hatte aufgehört zu glucksen – hier war nichts los. Nichts. Ich saß in dieser toten Lokalredaktion fest und schrieb belanglose Artikel über belanglose Menschen in einem belanglosen Kaff. Demselben belanglosen Kaff, in dem ich geboren worden war, in dem ich mein Abitur gemacht hatte. Steinfeld. Einwohner 20 000, davon mindestens die Hälfte Kühe.

Meine Freunde waren alle längst raus aus diesem Kaff. Flo war mittlerweile in Hamburg, Özlem in Australien, alle waren weiter, alle waren besser. Ich musste endlich nachziehen, aber ich hing in der Lokalredaktion fest, klebte an diesem Punkt in meinem Lebenslauf. Ich wechselte von Instagram auf Facebook und suchte nach Benjamin. Benjamin war auf derselben Schule wie ich gewesen, einige Jahrgänge über mir. Er hatte bereits für die ganz Großen geschrieben, taz, SZ, FAZ, und schrieb jetzt vor allem für die Haupt­redaktion des Westfälischen Kuriers. Die Hauptredaktion war für den Mantelteil der Zeitung zuständig. Der Mantelteil »ummantelt« den aus Lokalnachrichten bestehenden Kern der Zeitung. Also den Teil, den wir herstellten. Den Teil, in dem es die Artikel über Geflügelzüchter gab und der nur deswegen der »Kern« der Zeitung war, damit man ihn ohne Probleme angewidert rausfischen konnte, wie die Gurken aus einem Cheeseburger.

Die einzigen Menschen, die Lokalzeitung lesen, sind Menschen, die in der Lokalzeitung stehen, und deren peinlich stolze Verwandte, die das gesamte Umfeld anrufen: »Hast du schon gesehen, der Johannes steht mit seinem Geflügelzüchterverein in der Zeitung!« Im Mantelteil hingegen findet man die wirklich wichtigen Nachrichten. Innenpolitik, Außenpolitik, Weltgeschehen. Die Hauptredaktion war nicht das Ende der Leiter, aber definitiv einige Sprossen weiter.

Ich hatte Benjamin damals einfach bei Facebook angeschrieben, erzählt, dass ich mein Abitur machte und danach Journalist werden wollte. Er hatte mich an die Lokalredaktion vermittelt, wo ich seitdem als »freier Journalist« arbeitete, was bedeutete, dass ich nicht wirklich bei der Zeitung angestellt war, sondern nur pro geschriebenem Artikel bezahlt wurde. Außerdem war ich nur die Hälfte der Woche vor Ort in der Redaktion und davon nur die Hälfte wirklich den ganzen Tag. Benjamin sagte, er habe genauso angefangen, und versprach, in kürzester Zeit für mich ein Volontariat in der Hauptredaktion zu klären. In Deutschland ist Journalist keine gesicherte Berufsbezeichnung. Das heißt, anders als bei Ärzten, wo ganz klar geregelt ist, welche Dinge sie machen müssen, um offiziell als Ärzte arbeiten zu dürfen, kann sich jeder Hanswurst Journalist nennen und als solcher arbeiten. So wie ich es gerade tat. Das Volontariat ist das, was einer offiziellen Ausbildung für Journalisten am nächsten kommt. Es war der Schritt, der meine Karriere endlich vernünftig starten würde. Außerdem saß die Hauptredaktion des Westfälischen Anzeigers nicht in Steinfeld, sondern in der benachbarten Großstadt, in einem richtigen Redaktionsgebäude mit mehreren Stockwerken. Das Volontariat würde mich also buchstäblich hier rausholen. Letztes Jahr hatte ich es nicht bekommen, dieses Jahr musste es klappen!

Benjamin hatte sich schon länger nicht mehr zurückgemeldet, und die Volontariate wurden bereits in den nächsten Wochen vergeben. Ich zögerte. Sollte ich Benjamin eine weitere Nachricht schreiben? Oder wirkte das zu drängend, zu verzweifelt? Vielleicht irgendwas Unverbindliches? Ich tippte: »Hey! Wie läufts? Gibts Neuigkeiten zu den Volos?«, und drückte auf Senden.

Walter schmatzte laut, als wäre er gerade aufgewacht. »Sach mal, Timur …«, nuschelte er, »hast du eigentlich schon ’ne Idee für die Rubrik?«

Ich schloss meine Tabs und wechselte zum Artikel. »Ähm – Rubrik?«, fragte ich.

Walter nahm seine Brille ab, um sie zu putzen. Er war wahrscheinlich erst Anfang vierzig, aber einer von diesen Menschen, die bereits fünfzig Jahre alt sind, wenn sie geboren werden. Seine Lippen hingen von seinem quadratischen Kopf dauerhaft herunter, als wären sie geschmolzen. Er trug ständig beige Westen und sah damit aus wie Angler und Fisch gleichzeitig.

»Na Unser Dorf – unsere Einwohner«, sagte er und setzte sich seine dicke Brille wieder auf. Ich stöhnte heimlich.

»Nee, da bin ich noch dran …«, sagte ich.

Unser Dorf – unsere Einwohner war eine Rubrik, in der wir als Lokalzeitung jeden Monat einen »besonderen« Einwohner aus dem Dorf vorstellten. Letzten Monat hatte Walter einen Artikel über die Eisverkäuferin Johanna Löw geschrieben. Das Besondere an ihr war, dass sie Eis verkauft. Hier im Dorf.

Diesen Monat sollte ich einen Einwohner porträtieren, den ich für besonders hielt. Leider hielt ich niemanden für besonders. Und allein beim Gedanken, siebzig Zeilen über jemanden wie Johanna und ihr Eis schreiben zu müssen, wurde mir übel.

»Ach und noch etwas!«, sagte Walter, »Heut’ Abend feiert so ’n Kegelverein sein fünfzigstes Jubiläum. Goldene Hochzeit quasi. Schau da doch mal vorbei.«

Ich ahnte Böses. »Wie viele Zeilen sollen das werden?«, fragte ich. Walter überlegte kurz, dann sagte er entschlossen: »Na, so siebzig Zeilen mindestens!« Ich biss mir auf die Lippen. »Und mach auch ein paar schöne Fotos!«

Die Rentner warfen sich in Positur. »Haben Sie es?«, fragte mich einer. Ich ließ es noch einmal schnell blitzen, bevor ich nickte. »Ja, die sind alle spitze geworden!«, sagte ich. Ich musste mir die Fotos nicht angucken, um zu wissen, dass das eine Lüge war. Auf Gruppenfotos hat eigentlich immer irgendwer die Augen zu oder den Kopf verdreht. Und so, wie sich die Alten zurück an ihre Plätze mühten, war es ausgeschlossen, dass sie bei den Fotos eine gute Figur gemacht hatten.

»Wann kommt der Artikel denn?«, fragte mich derselbe Mann. »Morgen?« Er sah etwas wirr aus. Seine Haare waren zerzaust, tiefe Furchen gruben sich durch sein Gesicht.

Im Hintergrund klackerten schon wieder die Kegel, oder waren es die vielen falschen Zähne?

»Nee«, sagte ich, »der kommt erst übermorgen. Morgen muss ich ihn noch schreiben.« Der Mann sah mich zufrieden an. Vermutlich war es die Genugtuung, endlich etwas gefunden zu haben, das genauso langsam war wie er: Lokalzeitung. Nachrichten von vor zwei Tagen lesen, die man damals schon egal fand. Das sollte unser Motto sein, dachte ich und drehte mich weg, um meine Sachen zusammenzupacken. Da zerrte plötzlich eine kalte Hand an meiner Schulter. Ich zuckte zusammen und unterdrückte einen Schrei.

Es war der wirre alte Mann, er ließ nicht locker. »Dann können Sie ja noch ein Bier mit uns trinken!«, rief er, als hätte er mich ertappt. Die Kegelbrüder klopften zum Applaus auf den Tisch. Zumindest die drei, die es gehört hatten. Der Rest war entweder zu alt zum Hören oder zu alt, um zu verstehen. Ich lehnte erst ab, aber das akzeptierten die Rentner nicht. Der Wirre rief aufgebracht: »Zwischen Leber und Milz passt immer ein Pils!« Er hatte bereits ein zusätzliches Bier in der Hand, das er mir wütend entgegenstreckte. Ich nahm das Bier an. Ich glaube, wenn ich sein Angebot abgelehnt hätte, wäre er für den Rest seines Lebens sauer auf mich gewesen. Auch wenn das wahrscheinlich nicht mehr so lange war. Er nickte zufrieden und zog ab. Widerwillig setzte ich mich mit meinem Bier an den Tisch und trank in großen Zügen, um endlich nach Hause zu können. Vor mir saß eine alte Frau, die eigenartig gekleidet war. Sie trug eine dicke Sonnenbrille, obwohl wir drinnen waren, und hatte ein Tuch um ihren Kopf gewickelt. Sie holte ein paar Pillen aus einer Dose hervor, schmiss sie sich ein und spülte sie dann mit Bier herunter. Unter dem Kopftuch quollen ein paar kräftige Locken hervor, die zu ihren Schlucken im Takt wippten. Früher waren sie vielleicht blond gewesen, nun waren sie grau, wie alles andere an ihr. Sie leckte das letzte bisschen Bier von den Lippen, das es nicht ganz in ihren Mund geschafft hatte, und schaute mich mit ihrer dicken Brille an. »Was glotzt du denn so doof?«

Ich war beinahe peinlich berührt. Sie wandte sich verärgert von mir ab. Egal, dachte ich und nahm noch einen großen Schluck.

Das Bier hatte es anscheinend ebenfalls eilig, es schoss direkt durch. Ich stand auf und ging zum Klo. Die Alten warfen lautstark Kugeln über die langen Holzbahnen, es knarzte, rollte, klackerte. Es wurde gejubelt und geschimpft. Alles hallte, alles roch nach Fett und nach Bier und nach Tod. Ich zwängte mich an den Rentnern vorbei zum Klo und schloss erleichtert die Tür. Endlich Ruhe. Ich atmete tief durch. Jetzt kurz aufs Klo und dann nichts wie weg, dachte ich. Ich benutzte das Pissoir und ging danach zum Waschbecken. Das Wasser plätscherte friedlich und war angenehm kühl. Ich ließ es über meine Hände laufen und hörte ihm ein wenig zu. Plötzlich knallte es laut hinter mir.

Eine Kabinentür war aufgeflogen. Ich schrie auf und fuhr herum. »SIE HAT EIN GEHEIMNIS!«, kreischte der alte, wirre Mann, der mich nach dem Foto gefragt hatte. Er kam aus der Klokabine gestürmt, die Hose noch halb geöffnet. Ich wich panisch zurück. »DIE FRAU VON EBEN!«, rief er und packte mich an den Schultern. Ich stieß mit dem Rücken ans Waschbecken, konnte nicht weiter zurück. Der Alte drückte sein Gesicht so nah an meins, dass ich seine Bartstoppeln fühlen konnte. »ANNETTE!«, rief er. Seine grauen Augen warfen sich auf mich. Ich stieß ihn von mir weg. »Hey!«, schrie ich. »Was soll denn das?!« Der Mann richtete seine Hose. »Aber Annette!«, sagte er.

Ich riss Papierhandtücher aus dem Spender und fuhr mir angewidert über das Gesicht. »Wer ist Annette?!«, fragte ich, um ihn auf Abstand zu halten.

»Na Annette, mit den Locken! Sie hat dich angesprochen! Sie hat ein Geheimnis, ein großes Geheimnis!« Der alte Mann wich zitternd noch einen Schritt zurück und war schon fast wieder in seiner Kabine. »Aber ich darf nicht sagen was! Das darf ich nicht!« Ich schmiss die Papierhandtücher wütend in den Müll.

»Das trifft sich gut, ich will’s auch gar nicht wissen!«, sagte ich und stürmte aus dem Klo. Der wirre Mann starrte mir hinterher.

»Warte!«, rief er, aber es war mir egal. Ich griff mir meine Sachen und verließ den Kegelclub, ohne mich umzudrehen.

Mir war gerade die wichtigste Geschichte meiner Karriere begegnet. Und ich hatte sie einfach ignoriert.

2

Daheim begrüßte mich ein leeres Haus. Ich rief ein lautes »Hallo!« hinein. Ein beschäftigtes »Hi!« kam aus der Garage zurück. Mein Vater schraubte an seinem Oldtimer rum, wie fast immer, wenn ich nach Hause kam. Ich verlor meine Sachen und schlenderte in die Küche. Es war Freitag, das hieß, es gab Fisch. Mein Vater war nicht religiös, und meine Mutter war schon lange nicht mehr bei uns, aber an dieser kirchlichen Tradition, die sie eingeführt hatte, hielt mein Vater aus irgendeinem Grund fest.

Das Lachsfilet wartete in der Küche auf mich. Ich warf es in die Mikrowelle und drehte den Timer auf sechs Minuten. In der Spüle stand dreckiges Geschirr. Ich überlegte kurz, es in die Spülmaschine zu räumen, aber die Küche war im Gesamtbild noch nicht so dreckig, als dass man was dagegen unternehmen musste, also ließ ich es bleiben. Mein Vater und ich putzten die Küche, damit sie benutzbar war, nicht um sie präsentieren zu können. Es war immer so sauber, dass man sich nicht beschweren konnte, und nicht sauber genug, um sich wohlzufühlen. Also genau richtig, um einfach das zu tun, wofür man gekommen war, und dann wieder zu gehen. Ein Gebrauchsgegenstand, kein Ausstellungsstück. Das galt eigentlich für das gesamte Haus.

Mein Vater und ich wohnten in einem klassischen Einfamilienhaus, das viel zu groß für uns beide war. Es gab zwei Stockwerke und einen kleinen Garten. Auch ansonsten war nichts Aufregendes an dem Haus. Die Inneneinrichtung war so unauffällig und langweilig, dass man manchmal vergaß, dass es überhaupt eine gab. In der Küche zierte eine Reihe von Fotos die Wände. Darunter sehr häufig Bilder von Autos, die mein Vater toll fand. Am Kühlschrank hing außerdem klischeegemäß ein altes selbst gemaltes Bild von mir. Es wurde damals aus Reflex hingehangen, das macht man schließlich so, und seitdem hatte sich niemand mehr getraut, es abzunehmen. Es zeigte unser Haus, mich und meinen Vater. Meine Mutter war damals schon nicht mehr da. Unter dem selbst gemalten Bild von mir stand in der krakeligen Handschrift eines Siebenjährigen »TIMUЯ AsLAN«. Mein Vater hatte daneben »Klasse 2C« ergänzt. Auch seine Handschrift war krakelig. Warum hatte er »Klasse 2C« geschrieben, warum nicht einfach mein Alter? Ich öffnete den Kühlschrank und suchte nach etwas, das ich zu einem Beilagensalat verarbeiten konnte.

Der Kühlschrank surrte mich sofort wütend an, anscheinend war er nicht gerne offen. Klar, dachte ich, der Kühlschrank konnte es auch nicht mehr ertragen, jeden Tag dasselbe zu erleben. Jeden Tag Tür auf, Tür zu, manchmal kamen Eier rein, manchmal ging Milch raus, aber nie passierte mal irgendetwas Aufregendes oder Unerwartetes. Ich nahm mir vor, bei Gelegenheit mal einen Schuh reinzustellen, und holte zwei Tomaten und eine halbe Gurke heraus. Der Fisch schmorte währenddessen laut in der Mikrowelle. Es knackste und knallte, als würde in dem Gerät der dritte Weltkrieg ausgetragen. Das wäre mal eine Meldung! Dritter Weltkrieg findet in Timur Aslans Mikrowelle statt.

Ich ließ den Fisch in Ruhe kämpfen und fing an die Tomaten zu schneiden. »Fisch ist kein Fleisch, darum darf man ihn am Freitag essen, obwohl wir heute fasten«, hatte mir meine Mutter vor langer Zeit mal erklärt. Seitdem stellte ich mir beim Essen immer Gott im Himmel vor, wie er verärgert die Faust schüttelte und rief: »Verdammt, ihr habt mich schon wieder ausgetrickst!«

Damals bin ich sonntags auch häufig mit meiner Mutter und meinen Großeltern in die Kirche gegangen. Mein Vater kam nie mit. Er war nicht nur nicht religiös, ich glaube, er verachtete meine Mutter sogar ein bisschen dafür, dass sie es war. Und sie hatte ihn ein wenig dafür verachtet, dass er es nicht war. Meine Großeltern auf beiden Seiten hielten sich raus. Die einen waren wohl einfach nur froh, dass mein Vater trotz seiner »Herkunft« kein Moslem war, und die anderen waren tot.

Ich ging nicht gerne in die Kirche. Sie war mir zu groß, zu kalt, zu kompliziert. Einmal hatte sich meine Mutter vor der Kirche mit einem glatzköpfigen Mann um einen Parkplatz gestritten. Später hatten wir denselben Mann in der Kirche wiedergetroffen. Er saß einige Bänke vor uns und betete, genau wie wir. Zum selben Gott, mit denselben Worten. Wie konnten der Mann und meine Mutter sich über die größten Fragen der menschlichen Existenz und Moral in allen Punkten völlig einig sein, aber sich gleichzeitig nicht einmal auf einen Parkplatz einigen? Es ging mir einfach nicht in den Kopf. Damals nicht und heute nicht. Seit meine Mutter gestorben ist, war ich auch nicht mehr in der Kirche. Die Beerdigung vor dreizehn Jahren war das letzte Mal.