Heartbreak - Tarkan Bagci - E-Book
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Tarkan Bagci

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Beschreibung

Lieber zu zweit einsam als alleine Marie, die nur schwer Zugang zu anderen Menschen findet, bricht eine Welt zusammen. Tom, der eigentlich Thomas Rahmani heißt (aber das verkauft sich schlechter), ist ein aufstrebender Musiker auf dem Weg zur A-Prominenz. Aber als es bei einem Filmdreh mit Deutschlands Lieblingshund »Bello« zum Skandal kommt, ist auch er plötzlich alleine. "Unbedingt Lesen!" Tommi Schmitt  "Eine herzergreifende Geschichte" Giulia Becker  Die Lebenswege der beiden kreuzen sich in Validanti, einer kleinen Stadt in der Toskana. Mit verträumten Gassen, fantastischem Essen und unglaublichen Landschaften. Eine Stadt fürs Herz. Und für Herzbrüche. Mit entlarvendem Humor und voller Wärme erzählt »Heartbreak« eine moderne Lovestory in Social Media Zeiten In Validanti begeben sich Tom und Marie auf die Suche nach dem, was sie verloren haben. Doch diese Suche führt sie direkt auf eine kleine Katastrophe zu. Der neue Roman des Bestsellerautors, Fernsehmoderators und Podcast-Stars Tarkan Bagci: Für Leser von Christian Huber (›Man vergisst nicht, wie man schwimmt‹) und Fans von Felix Lobrecht (›Sonne und Beton‹)

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 322

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Über das Buch

Von einem Tag auf den anderen bricht Maries Freund den Kontakt ab. Nach einem Jahr Beziehung. Ohne Begründung. Sie versucht ihn ausfindig zu machen und zur Rede zu stellen, doch das gestaltet sich schwieriger als gedacht …

Tom, der eigentlich Thomas Rahmani heißt (aber das verkauft sich schlechter), ist ein aufstrebender Musiker auf dem Weg zur A-Prominenz. Als es bei einem Filmdreh mit Deutschlands Lieblingshund »Bello« zum Skandal kommt, ist auch er plötzlich alleine.

Die Lebenswege der beiden kreuzen sich in Validanti, einer kleinen Stadt in der Toskana. Mit verträumten Gassen, fantastischem Essen und unglaublichen Landschaften. Eine Stadt fürs Herz.

Und für Herzbrüche.

TARKAN BAGCI

HEART BREAK

ROMAN

 

 

Für S.

1

Aus unerklärlichen Gründen landet sie immer wieder in der Küche, wenn es passiert. Auf dem kalten Boden, zwischen Herd und Küchentisch. Sie weiß nicht, warum, es zieht sie dort einfach hin. So wie Katzen instinktiv einen abgelegenen Ort finden, an den sie sich zurückziehen, wenn sie spüren, dass sie sterben.

Natürlich weiß Marie, dass sie gerade nicht stirbt. Leider hilft ihr das nicht sonderlich, denn es fühlt sich trotzdem so an. Ihre Atmung geht flach und schnell, ohne dass sie ausreichend Luft bekommt, und ihr Herz pocht so heftig gegen den Brustkorb, als wollte es ausbrechen. Marie kauert sich angstvoll zusammen, ohne sagen zu können, wovor sie eigentlich Angst hat. 

Ihr Hausarzt hat das, was sie durchmacht, als Panikattacken attestiert, aber Marie findet, das passt nicht ganz. Eine Attacke ist etwas, das einen angreift, den Normalzustand bedroht. Doch was Marie gerade erlebt, greift sie nicht an, es enttarnt sie. Das ist ihr Normalzustand. Panik, Angst und vor allem: Hoffnungslosigkeit. 

Dabei ist Hoffnungslosigkeit ein Gefühl, das gar nicht mehr existieren dürfte, denn es geht komplett wider die Evolution. Höhlenmenschen, die sich beim ersten Anzeichen von Säbelzahntigern auf den Boden kauern und aufgeben, leben schließlich nicht lange genug, um ihre DNA weiterzugeben. Wenn man heutzutage ein Gefühl echter Hoffnungslosigkeit empfindet, muss die Lage also so schlimm sein, dass selbst Millionen Jahre evolutionären Aussiebens nicht dagegen ankommen. Oder man ist Marie. Dann reicht unter Umständen eine etwas schärfer formulierte Mail vom Chef.

Zum Glück ist sie zu Hause, im Homeoffice, wo sie niemand weinen hören kann. Das Schluchzen lässt nicht nach und zieht ihr die Luft aus der Lunge. Marie krümmt sich zusammen und möchte einfach nur verschwinden. Das Schlimme, vielleicht sogar das Schlimmste an diesen Momenten ist, dass sie unendlich sind. Ungefähr so, wie ein Raum unendlich groß wird, wenn es stockdunkel ist. Für Marie gibt es kein Vorher, kein Nachher, es gibt nur das Jetzt, den Schmerz, für immer. 

Solche Schübe kommen meistens dann, wenn sich etwas in ihrem Leben drastisch verändert hat. Wie vor knapp zwei Jahren, als sie aus dem Studentenwohnheim in ihre erste eigene Wohnung nach Köln gezogen ist. Sie liebt diese Wohnung, denn mittlerweile ist es wirklich ihre. Aber als sie zum ersten Mal in dem leeren, zwanzig Quadratmeter großen Zimmer stand, kam es ihr so vor, als könnte sie sich hier nie zu Hause fühlen. Und da reichte es bereits aus, dass etwas später die Couch in einer anderen Farbe geliefert wurde als bestellt, um sie in die Knie zu zwingen. Oder damals, als ihre Hauskatze Pompom starb, da war Marie gerade mal zwölf. In der Zeit brach sie beim kleinsten Ärger so heftig in Tränen aus, dass selbst ihre Mutter, die sie ständig kritisiert, den Spaß am Schimpfen verlor. Alles, was die gewohnte Ordnung umwirft, trifft auch die fragile Stütze, an der sich Maries Psyche anlehnt. Und wenn diese Stütze fehlt, dann reicht der kleinste Stressfaktor, damit sie umfällt. Das kann alles Mögliche sein, die falsche Couchfarbe, die Standpauke der Mutter oder eben eine Mail. Ursache und Auslöser – das eine nimmt ihr die Stütze weg, das andere haut sie um.

Die Unendlichkeit dauert diesmal etwa zehn Minuten. Marie japst noch einmal nach Luft und kriegt endlich etwas mehr zu fassen. Ihre Atmung beruhigt sich langsam, ihr Schluchzen wird lautlos, und sie kann wieder einigermaßen zusammenhängende Gedanken formen. Die ersten drehen sich sofort um Emil. Immer wieder Emil. Es ist eine Erinnerung. 

Sie sind im Restaurant, es ist ihr Jahrestag …

Marie hat ein paar Tomaten auf ihrem Nudelgericht. Emil hebt bereits die Gabel, um sie von dem Gemüse zu befreien. Vor genau zwölf Monaten haben sie dieses Ritual begonnen. Damals, bei ihrem ersten Date, bestellte Marie einen Salat, in dem jede Menge Tomaten waren. Marie liebt Tomaten. Darum schob sie alle beiseite, um sie sich bis zum Schluss aufzuheben. Emil verstand das falsch und schnappte sich mit einem »Wenn du die nicht magst, ess ich die gerne!« den Teller. Und weil er sich über die extra Tomaten freute, korrigierte Marie das Missverständnis nicht, sondern gab ihm von da an immer kommentarlos ihre Tomaten ab. Außer heute. Marie ist in Gedanken vertieft, spießt eine Tomate auf und fängt einfach an zu essen.

»Warte mal«, sagt Emil verblüfft, »ich dachte, du magst keine Tomaten?«

Marie schaut auf ihren Teller. »Doch«, sagt sie ertappt, »total gerne sogar.«

»Warum hast du sie mir dann immer abgegeben?«

»Weil du dich so sehr drüber freust.«

Emil fängt an zu lachen. »Zwölf Monate«, sagt er. »Zwölf Monate hast du so getan, als würdest du keine Tomaten mögen, bloß um mir eine Freude zu machen?« Marie zuckt beschämt mit den Schultern und fängt ebenfalls an zu lachen. Emil lehnt sich vor und gibt ihr einen Kuss. »Ich liebe dich«, sagt er und stibitzt eine Tomate von ihrem Teller.

Marie schüttelt die Erinnerung ab. Heute keine Gedanken an Emil mehr, nimmt sie sich vor. Und erst recht keine Erinnerungen! 

Der »Anfall«, oder wie auch immer man es nennen möchte, ist nicht vorbei, er ist nur in eine andere Phase übergegangen. Wie ein Feuer, das mit dem Ende der Stichflammen nicht sofort erlischt, sondern noch stundenlang glühen kann. Manchmal sogar tagelang. Morgen wird es ihr nicht wieder gut gehen, nur anders schlecht. Statt verzweifelt wird sie apathisch, statt aufgewühlt komplett leer sein. Die Hoffnungslosigkeit bleibt, sie schlüpft nur in ein anderes Gewand. Wie soll sie es so schaffen, morgen zu arbeiten? Oder überhaupt aufzustehen? Wenn sie nur daran denkt, dass sie aufwacht und immer noch sie selbst ist, kriegt sie Krämpfe. Aber sie ist erschöpft genug, um dem Gedanken nicht folgen zu müssen. Um gar nichts mehr denken zu müssen. Um sich einfach nur auf den Boden zu kauern und auf die Säbelzahntiger zu warten. 

Sie reißt ein längeres Stück Papier von der Küchenrolle ab, mit dem sie sich die Augen trocken tupft. Ihre Wangen glühen, aber sind mit Sicherheit wie immer schneeweiß. »Käsig« nannte ihre Mutter Maries Hautton oft abschätzig. Marie fand das immer verletzend und verteidigte sich irgendwann. Ihre Haut sei nicht gelb, protestierte sie, nur blass. Stimmt, sah ihre Mutter ein und sprach seitdem von »Totenblässe«. Nicht viel besser, aber Marie war einfach froh, nicht mehr ihr »Käsekind« zu sein, und beließ es dabei. 

Sie atmet noch einmal tief durch, kämmt sich mit den Fingern den dicken schwarzen Pony zurecht und steht auf. Im Flur vermeidet sie den Blick in den Spiegel. Sie weiß, was sie sehen würde. Ein spitzes Kinn (mag sie nicht). Hohe Wangenknochen (mag sie). Glatte, schulterlange schwarze Haare (mal o.k., mal schrecklich, je nach Tagesform). Und wahrscheinlich sind ihre blauen Augen gerade sehr hell. Denn Marie könnte schwören, dass das Blau ihrer Augen frühmorgens und nach dem Weinen immer viel heller ist als sonst. Vielleicht wirken sie auch nur im Kontrast zu dem geröteten Weiß um ihre Augen und den dunklen Augenringen so. Jedenfalls: nichts, was sie sehen möchte. Sie lässt den Spiegel hinter sich und schlurft mühsam in Richtung Bett. 

Obwohl sie körperlich komplett erschöpft ist, kann sie noch nicht schlafen, erst muss auch ihr Kopf zur Ruhe kommen. Dafür braucht sie etwas, das sie ablenkt und ihr ein gutes Gefühl gibt. Etwas, das ihrem Hirn erlaubt, Pause zu machen und sich zurückzulehnen. Sie greift sich ihren Laptop und entscheidet sich für Modern Family. Sie kennt bereits jede Folge auswendig, aber genau darum geht es. Sie kennt die Serie, wie man einen guten Freund kennt. Es ist etwas Vertrautes, das sie umarmt und beruhigt. Wie Tee fürs Hirn. Sie dreht sich in ihre Decke und klappt den Laptop auf. Es dauert etwa zwei Folgen, bis sie überhaupt merkt, dass sie guckt. Nach fünf Folgen ist sie wieder einigermaßen da, und in der sechsten Folge gibt es sogar einen Moment, in dem sie beinahe gelächelt hätte. Noch etwa drei Folgen, und sie kann vielleicht schlafen. Körperlich ist sie längst dazu bereit, die Hoffnungslosigkeit hat sie völlig erschöpft. Sie ist sich nicht ganz sicher, wie viele Kalorien so ein Anfall verbrennt, aber es sind bestimmt einige. Vielleicht sollte man das in Kardio-Trainings einbauen, denkt sie. Dreißig Sit-ups, zwanzig Liegestütze und zehn Minuten absolute Hoffnungslosigkeit, das wäre mal ein Workout. Der Gedanke sorgt wieder beinahe für ein Lächeln. Aber nur beinahe.

Auf ihrem Laptop hat die Dunphy-Familie sich gerade für Thanksgiving zusammengefunden. Cam reißt seiner Schwester Claire die Medaille vom Hals, nachdem klar wird, dass sie nicht wirklich das Rennen gewonnen hat. Woraufhin Cam, der Mann von Mitchell, offenbart, dass dieser sich nicht in einer heroischen Konfrontation mit Einbrechern verletzt hat, sondern sich aus Versehen selbst mit Nunchakus ins Gesicht gehauen hat. Woraufhin wiederum Mitchell allen erzählt, dass Cam als Trainer geschummelt hat, um seine Mannschaft zum Sieg zu führen, und endgültig Chaos ausbricht. Ein Gedanke an ihre eigene Familie drängt sich ihr auf, aber Marie schiebt ihn beiseite. Der nächste Gedanke in der Schlange ist leider nicht besser. Als »eine Familie« bezeichnet ihr Chef Heiner auch ständig die Firma. Und damit ist sie wieder beim letzten Satz der (ansonsten belanglosen) Mail. Dem Auslöser. 

Bis morgen, dann endlich mal wieder persönlich.

Heiner

Es ist das Wort »endlich«. Es bedeutet, dass ihr Chef denkt, sie sei viel zu oft im Homeoffice. Dass er weiß, wie wenig sie die Arbeit mag. Dass sie viel zu wenig arbeitet, faul ist, sich drückt. Dass alle anderen es auch wissen und …

Marie hält inne und stemmt sich mit dem letzten bisschen Kraft, das sie noch hat, gegen den Gedankenzug, um ihn zu stoppen. So, wie sie es in der Therapie gelernt hat. Sie sagt sich ganz deutlich »Stopp« und verbietet sich weiterzudenken. Extrem banal. Aber diesmal funktioniert es auch. Theoretisch müsste sie diesen Moment nun komplett nacharbeiten. Sich intensiv mit ihm beschäftigen. Um welches Schema handelt es sich? Was wären produktive Gedanken? Sie müsste ganz tief in sich graben, was mehr Schmerz bedeutet. Aber das schafft sie jetzt nicht. Ihr Energiespeicher ist leer, ihre Schmerzgrenze völlig überschritten. Wie soll das gehen? Wie soll sie das jemals schaffen? Warum kann sie nicht einfach ein neues Gehirn bekommen? Beschädigte Ware, bitte einmal umtauschen. Reparieren klappt ja anscheinend nicht.

Marie hat irgendwo gelesen, dass wir Menschen mehr über die Zusammensetzung des Universums wissen als über unser eigenes Gehirn. Das klingt erst mal unglaubwürdig. Das Universum ist unendlich groß, dagegen wirken Gehirne geradezu handlich. Bei manchen Menschen ist sich Marie sogar sicher, dass sie winzig sind. So viel kann es da doch nicht zu erforschen geben? Vor allem nicht im Vergleich zum Universum. Vielleicht liegt die Krux aber auch darin, dass menschliche Gehirne menschliche Gehirne untersuchen. Sie müssen sich selbst verstehen. Egal, wie groß das Universum ist, es ist eher möglich, einen Elefanten aus einem Sumpf zu ziehen als sich selbst am eigenen Schopf. Und vielleicht ist es Menschen darum möglich, eine Rakete ins All zu schießen und ganz genau zu berechnen, wo sie wann ankommt, während es bei Medikamenten, die im Gehirn wirken, immer noch heißt: »Keine Ahnung, ob das funktioniert, müssen wir mal ausprobieren.« 

Marie nimmt seit etwas mehr als einem Jahr jeden Morgen das Antidepressivum Escitalopram. Es war das erste Antidepressivum, das ihr neuer (und erster) Psychiater, Herr Reinhardt, verschrieben hatte. Und zum Glück hilft es ohne große Nebenwirkungen. Erst hat sie zehn Milligramm genommen, seit einigen Monaten nun zwanzig. Eigentlich ist Marie damit sehr zufrieden. Das Medikament stützt sie zwar nicht so, dass sie nie mehr hinfällt, aber es hilft ihr dabei, schnell wieder auf die Beine zu kommen. Gerade hat sie allerdings das Gefühl, im freien Fall zu sein. 

Denn so etwas Banales wie die Mail von Heiner würde ihr eigentlich nichts anhaben, wenn hinter diesem Auslöser nicht eine schreckliche Ursache stecken würde. Eine Ursache, die seit ungefähr vierundzwanzig Stunden Maries Stützen gewaltig zum Wackeln bringt und droht, ihr Leben ganz drastisch zu ändern. Eine Ursache, die den Namen Emil trägt.

Sie nimmt ihr Handy und wählt seinen Kontakt aus. Tu es nicht, denkt Marie, aber kann sich nicht gegen den Impuls wehren, zum hundertsten Mal die letzte Nachricht, die sie von ihm bekommen hat, anzugucken. 

Es ist ein Foto. Ein Selfie von ihnen beiden im Restaurant. Gestern Abend, als Marie zum ersten Mal ihre Tomaten nicht mit ihm geteilt hat. Auf dem Foto küsst sie Emil auf die Wange, und er kneift spielerisch eines seiner smaragdgrünen Augen zu und grinst breit. Emil hat das Foto geschickt mit der Bemerkung: Danke für das Jahr. Und für die Tomaten! Seitdem kann Marie ihn nicht mehr erreichen. Als er auf ihre ersten Nachrichten nicht reagierte, dachte sie sich nichts dabei. Aber dann war heute Morgen plötzlich sein Profilbild verschwunden, und ihre Nachrichten kamen gar nicht mehr bei ihm an. Sie hat versucht, ihn anzurufen, doch das Telefon hat nur ein einziges Mal geklingelt und dann sofort beteuert, dass die angerufene Nummer nicht erreichbar sei. Soziale Netzwerke nutzt er nicht, ohne die »angerufene Nummer« ist er also wirklich nicht erreichbar.

Marie zwingt sich weiterhin, ruhig zu bleiben, und sagt sich dasselbe, was sie sich seit heute Morgen, als das Profilbild verschwunden war, immer wieder sagt: Es ist nichts passiert. Jeden Moment wird eine Nachricht kommen: Hier ist Emil, sorry, mein Handy ist ins Klo gefallen und kaputt. Das ist meine neue Nummer, oder so etwas in der Art. Alles ist gut.

Doch was heute Morgen noch vernünftig klang, beruhigt sie nun überhaupt nicht mehr. Mittlerweile ist schließlich ein ganzer Tag vergangen, ohne dass sie etwas von ihm gehört hat. Und plötzlich ist sich Marie sicher, dass sie auch niemals wieder etwas von ihm hören wird. Ihr Magen wird unangenehm schwerelos, wie am höchsten Punkt beim Schaukeln. Emil wird sich nie wieder melden. Emil ist tot. Ihre Haare stellen sich auf.

»Nein!«, flüstert Marie. »Natürlich ist er nicht tot.«

»Na, dann eben schwer verletzt!«, versucht es ihr Gehirn. »Im Krankenhaus! Im Koma!«

Marie schafft es erneut, zu widersprechen und ruhig zu bleiben, was aber auch nur an der Erschöpfung infolge des letzten Anfalls liegen kann. Er ist nicht tot und nicht schwer verletzt. Aber was dann, warum meldet er sich nicht?

Sie ist die Erinnerung an ihr letztes Treffen tausendmal durchgegangen, hat auf jedes Detail geachtet, hat die letzte Nachricht immer und immer wieder gelesen wie ein Gebet, aber sie kommt einfach nicht drauf. Was übersieht sie? Warum hat er von einem Tag auf den anderen den Kontakt abgebrochen? Was ist passiert? Warum ist er plötzlich verschwunden? Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie sagen, er wurde entführt. Aber sie weiß es besser, es ist erst ein Tag vergangen. Noch kein Grund zur Sorge. Vielleicht hat er gar nicht gemerkt, dass sein Handy kaputt ist und keine Nachrichten mehr durchstellt? Wenn er sich morgen nicht bei ihr meldet, geht sie einfach bei ihm vorbei und klingelt. Kein Grund, in Panik zu verfallen. Doch dann kommt ihr ein anderer Gedanke. Ein grässlicher Gedanke, der nur auf sie gewartet hat: Was, wenn Emil einfach nicht will, dass sie Kontakt haben? Wenn weder seinem Handy noch ihm etwas passiert ist? Wenn die Beziehung vorbei ist? Aber wer beendet denn so eine Beziehung? Und warum? Es gab keinen Streit, kein … irgendwas. Sie hatten einen wunderschönen Jahrestag zusammen im Restaurant. Es gab in letzter Zeit auch keinen größeren Streit, verdammt – es hat nie einen größeren Streit gegeben. Nur manchmal diese … Distanz. Diese Kluft, die plötzlich zwischen ihnen auftauchte, wo eigentlich ein Streit hätte sein sollen. Aber das hatte nichts zu bedeuten, oder? So ist Emil eben. Wenn ihm die Emotionen zu viel werden, sperrt er sie ganz aus. Dann wird er kalt und abweisend, statt sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Und Marie war das bisher insgeheim immer recht. Sie geht Streits gerne aus dem Weg. Das ist bei sehr vielen Paaren bestimmt auch so. Das ist kein Grund, eine Beziehung plötzlich zu beenden, kein Grund, von heute auf Morgen zu verschwinden. Also, was ist dann los? Wo ist er?

Marie dreht sich tiefer in ihre Decke. Hör auf, ermahnt sie sich. Nichts ist los. Morgen wird er sich melden. Handy kaputt, viel zu tun gehabt, irgend so etwas, irgendwas Banales. Und dann wirst du dich für all die Gedankenspiralen und die übertriebene Panik schämen.

Endlich kapituliert ihr Kopf für den Tag und gibt Ruhe. Auf ihrem Laptop hat sich die Dunphy-Familie nach einem spektakulären Zaubertrick von Phil, Claires Mann, versöhnt. Alles ist wieder gut, alle haben sich lieb, sind bereit für die nächste Folge. Noch bevor Folge acht von Modern Family per Autoplay gestartet wird, driftet Marie in einen kalten, leeren Schlaf. Dabei waren ihre Ängste berechtigt. Emil wird sich nie wieder bei ihr melden.

2

»Du bist jetzt offiziell als Marke eingetragen«, sagt Faruk stolz. Tom fährt mit dem Finger über die Rückseite seines neuen Personalausweises. Neben »Augenfarbe: grün« und »Größe: 1,86« ist auch die Zeile unter »Künstlername« ausgefüllt: »Tom« steht da. Sein Spitzname, jetzt befördert zum Künstlernamen. Er steckt den Ausweis ins Portemonnaie zwischen Kreditkarte und BahnCard.

Um sie herum schmatzen Münder und klappert Besteck. Ihr Tisch ist zwar recht weit hinten, aber wer spontan abends im Lanzingers auftaucht und überhaupt einen Platz bekommt, kann sich was drauf einbilden. Vielleicht wurde für sie ja sogar eine Reservierung storniert. Irgendein Anwalt oder Arzt, der bereits Monate im Voraus diesen Tisch ergattert hatte und ihn jetzt doch nicht kriegt. Oder noch schlimmer, vom Platz wieder verscheucht wurde: »Ist mir egal, ob Sie gerade einen Heiratsantrag machen, wir brauchen den Tisch, Tom ist hier! Husch!«

Vor allem freitags ist das Restaurant so voll wie ein Wimmelbild. Aber statt Waldo versteckt sich im Gewusel immer mindestens ein Promi, nach dem man suchen kann. Möglicherweise sieht gerade jemand Tom und denkt sich: Da ist er ja! Die Vorstellung bringt ihn zum Lächeln, wofür er sich sofort schämt.

Natürlich gefällt es ihm, dass er immer prominenter wird. Er ist schließlich nicht Prinz Harry, er hat hart für seine Prominenz gearbeitet. Sie hat sich nur anders eingestellt als erwartet. Denn Tom wird nicht allein für seine Musik immer bekannter, sondern vor allem wegen eines Mischlings mit geflecktem Fell und ewig grinsender Schnauze. Seit nämlich bekannt geworden ist, dass er als Schauspieler an der Seite von Hund Bello in dessen nächstem Film zu sehen sein wird, hat seine Karriere richtig Fahrt aufgenommen. Dabei würde er viel lieber durch lobende Album-Rezensionen in künstlerischen Feuilletons erkannt werden als durch Fotos aus der Klatschpresse.

»Das war ein wichtiger Schritt«, schwärmt Faruk noch immer über den Eintrag des Künstlernamens. »Den gehen alle großen Künstler irgendwann mal. Freddy Mercury hieß früher Farrokh Bulsara, wusstest du das? Die Familie stammt aus Indien. Oder Vanessa Mai, weißt du, wie die wirklich heißt?«

Tom zuckt mit den Schultern. »Irgendwas Ausländisches?« 

»Polnisch«, bestätigt Faruk. »Vanessa Mandekić, das hätte sich niemals verkauft. Als Carlos Irwin Estévez hätte Charlie Sheen nie Erfolg gehabt.«

»Vielleicht wäre das auch besser gewesen«, murmelt Tom.

Plötzlich brüllt ihm jemand in den Nacken: »Da ist ja mein Lieblingsmensch!«

Es ist Lanzinger höchstpersönlich. Der kleine Österreicher lächelt so breit, dass Tom Angst bekommt, seine Backen könnten platzen. Doch er mag den Mann.

»Lanni!«, ruft er darum erfreut und macht ihm Platz. Sie kennen sich eigentlich erst seit ein paar Wochen, doch Lanzinger ist so was von herzlich, dass er Tom inzwischen wie Familie vorkommt: etwas peinlich und immer leicht drüber, aber liebenswert. Familie eben.

Eine Kellnerin knallt ihnen eine Flasche Champagner auf den Tisch und verteilt Gläser.

»Geht aufs Haus«, sagt Lanzinger und setzt sich. »Brauchst du ein eigenes Glas, Faruk? Oder trinkst du einfach zwanzig Prozent aus Toms?« Als sein Manager bekommt Faruk zwanzig Prozent von Toms Einnahmen. Lanzinger lacht lauthals. »Ein Scherz! Ein Scherz!«, beteuert er. »Ich weiß doch, dass ihr zwei mehr seid als nur Manager und Künstler! Ich weiß doch, ich weiß doch!« Sein Zeigefinger schwingt zwischen den beiden hin und her wie ein Metronom. »Das mit euch, das ist wirklich was Besonderes! Du hast echt Glück mit dem, Tom!«

Tom hebt sein Glas und lächelt. »Ja, schon! Aber nicht so viel wie er mit mir!«

Lanzinger lacht wieder brüllend. Faruk verwuschelt mit einem herzlichen Grinsen Toms schwarze Locken, und dann stoßen sie an. Als Tom einen Schluck nehmen will, hält Faruk seine Hand fest. »Content …« 

»… immer mitdenken«, ergänzt Tom, und sie prosten sich noch einmal zu, aber diesmal macht er einen Schnappschuss für seine Social-Media-Kanäle. Dann endlich trinken sie.

»Ich bin ja so begeistert von dir!«, meint Lanzinger, den Mund noch feucht. Obwohl seine muskulösen Arme unter dem etwas zu weit aufgeknöpften schwarzen Hemd so perfekt rund sind, dass man mit einer Nadel hineinstechen möchte, wirkt er nicht gefährlich. Er würde keiner Fliege etwas zuleide tun, denkt Tom. Nicht nur das, er würde sie sogar beim Armdrücken gewinnen lassen. Insgesamt sieht er so aus wie der weniger erfolgreiche, aber wesentlich nettere Cousin von Meister Proper. 

»Erzählt mal! Wie laufen die Dreharbeiten? Wie ist der Hund so?«

»Ach«, meint Tom, »Bello ist halt ein Hund.«

»Der berühmteste Hund Deutschlands«, korrigiert Faruk ihn, und Lanzinger pflichtet ihm bei.

»Jetzt mal nicht so bescheiden«, schmatzt er. »Bello ist der größte Star, den es in Deutschland momentan gibt.« Er kneift Tom liebevoll in die Schulter und zwinkert. »Noch.« Er greift sich sein Glas und trinkt den letzten Schluck. Vom anderen Ende des Restaurants verlangt eine Kellnerin nach ihm. »Die Arbeit ruft«, meint er. »Aber ich wollte dir nur kurz sagen, dass du hier jederzeit willkommen bist, Tom. Und das meine ich so. Egal, wie’s läuft, ob du mit Bello drehst oder gar nicht, du bist ein Freund des Hauses!«

»Danke, Lanni!«, sagt Tom ehrlich berührt und trinkt sein Glas ebenfalls leer.

»Ach, übrigens«, meint Lanzinger beim Aufstehen, »mit lieben Grüßen von einem Fan.« Er steckt ihm einen Zettel in die Hemdtasche und deutet auf eine Frau einige Tische von ihnen entfernt. Sie schaut eine Millisekunde zu spät weg, und Tom kann kurz ihr bildhübsches Gesicht sehen, bevor sie ihm den Rücken zuwendet. Durch die rasche Bewegung wellen sich ihre langen roten Haare wie in einer Shampoo-Werbung. »Wobei … wenn ich die anderen Blicke um uns herum richtig deute«, sagt Lanzinger und schaut durch sein Restaurant, »hast du hier eine ganze Reihe von Fans. Mann, ey!« Er grinst und haut Tom im Weggehen wieder auf die Schulter. »Einen Tag lang Tom sein, das wär’s!«

Tom schaut verlegen in sein Glas, vor Faruk ist ihm das Thema Frauen peinlich. Der geht zum Glück jedoch nicht weiter darauf ein.

»Du darfst dich nicht so unter Wert verkaufen«, sagt er stattdessen. »Der erste Bello-Film ist jetzt schon Kult! Weißt du, was für ein Glück du hast, dass die Rolle frei geworden ist? In welche Fußstapfen du trittst?! Du bist der Neue, und alle wollen wissen, ob du die Fußstapfen füllen kannst. Dieser Film, diese Rolle sind den Leuten unfassbar wichtig!«

»Aber es ist doch nur ’ne billige Komödie«, klagt Tom, dankbar über den Themenwechsel. »Selbst der Name ist lächerlich. Bello! Wenn sie doch wenigstens genug Würde für einen anständigen Hundenamen gehabt hätten. Wie bei Beethoven«, Tom greift nach der Flasche Champagner. »Oder ist das nur ein Künstlername, und in Wirklichkeit heißt der Hund Perro Dolante de Pelaje oder so?« Er schenkt sich nach. »Ich bin doch eigentlich auch kein Schauspieler«, klagt er weiter, »ich mach das nur, weil du gesagt hast, dass es meiner Karriere als Musiker hilft. Aber dieser Film hat keinerlei künstlerischen Wert. Wenn ich schon Filme machen muss, warum dann nicht wenigstens anspruchsvolle?«

»Künstlerischer Wert«, grunzt Faruk abschätzig und gießt sich ebenfalls nach. »Kann ja sein, dass so was existiert, aber wir leben halt nicht in einer Welt, in der dieser Wert dir irgendwas bringt. Du kannst der beste Künstler der Welt sein. Aber wenn niemand dafür bezahlen will, was bringt dir der ›Wert‹ von Kunst dann? Nein, der einzige Wert, der etwas zählt, misst sich an der Frage: Wie viel sind Menschen bereit, dafür zu zahlen? Mehr nicht. Verstehst du? Das ist wichtig, merk dir das! Alles ist genau das wert, was Menschen dafür bezahlen. Und nach diesem Film werden sie bereit sein, sehr viel zu zahlen. Bello macht dich vom Drittligisten zu Cristiano Ronaldo. Was glaubst du, wie gut sich ein Album von Cristiano Ronaldo verkaufen würde?«

Der Schampus in Toms Glas prickelt wie Säure in Cartoons.

»Es ist ein Kompromiss«, lenkt Faruk ein. »Je besser du dich verkaufst, desto mehr künstlerische Freiheiten bekommst du. Bei ›Lieb dich wie kein Zweiter‹warst du auch skeptisch, und es wurde dein größter Hit!«

›Lieb dich wie kein Zweiter‹ist ein Song aus Toms zweitem Album, das vor einigen Monaten erschienen ist. Die Arbeit daran war extrem anstrengend, weil sich das Label dauernd einmischte. Zwei Lieder, die Tom sehr viel bedeuten, wurden erst gar nicht veröffentlicht: Ein Song über Einsamkeit, durch den Tom zum ersten Mal bewusst wurde, wie einsam er sich selbst manchmal fühlt, obwohl er von Menschen umgeben ist. Und ein Song über Freundschaft, in dem es eigentlich um genau dieselbe Einsamkeit geht. Stattdessen enthält das Album zwei generische Liebeslieder, die er zusammen mit einem Marketingteam am Reißbrett konzipieren musste. »Ein Song für vierzehn- bis achtzehnjährige Mädchen. Über deine große Liebe. Beschreibe sie aber bitte nicht zu genau, damit sich deine Fans da hineinversetzen können. Als wäre der Song für sie!« 

»Ich bin sechsundzwanzig und soll ein Liebeslied für ein vierzehnjähriges Mädchen singen? In jedem anderen Kontext wäre das ekelhaft.«

»In diesem Kontext ist es ein Hit«, erwiderte Faruk damals, und die Marketingleute nickten so heftig, dass Tom kurz dachte, sie hätten einen Anfall. Aber sie haben alle recht gehabt. ›Lieb dich wie kein Zweiter‹ ist der erfolgreichste Song des Albums geworden.

»Vertrau mir«, sagt Faruk. »Ich will nur das Beste für dich. Aber das weißt du, oder?«

»Natürlich weiß ich das.«

Ihr Essen wird serviert.

»Schau dich um, wie weit wir es gebracht haben«, sagt Faruk und nimmt sein Besteck. »Und jetzt stell dir vor, was noch alles kommen wird, wenn ich dir sage, das ist erst der Anfang.« Er sieht Tom an, und seine Augen glänzen. »Willst du mich stolz machen?«

Tom lächelt. »Natürlich«, sagt er, ohne zu zögern. »Natürlich will ich das!« 

Später am Abend klettert Tom die Stufen seines Treppenhauses hoch. Er ist erst vor ein paar Wochen hier eingezogen. Es war sein erster Umzug ohne lästige Wohnungssuche, Kisten schleppen, mit Freunden auf dem Boden Pizza essen und monatelang Kartons als Ablagefläche benutzen und dabei immer wieder betonen, dass man frisch eingezogen sei und sich ganz bald richtige Möbel kaufen werde. Das alles hat ihm sein Management erspart. Tom bekam die Schlüssel und musste nur noch aufschließen und anfangen zu wohnen. Das Schwerste an diesem Umzug ist, sich selbst davon zu überzeugen, dass das hier tatsächlich sein neues Zuhause ist. So richtig hat er das noch immer nicht geschafft.

Nur eine einzige Kiste steht ungeöffnet im Flur herum und erinnert überhaupt daran, dass ein Umzug stattgefunden hat. Sie ist befüllt mit CDs und Toms altem Discman. Dieser einst sehr wertvolle Schatz hatte mittlerweile nur noch einen emotionalen Wert. Zu groß, um den Kisteninhalt zu entsorgen, aber nicht groß genug, um ihn auszupacken. 

In seiner Etage angekommen, kramt er nach den Schlüsseln, als er hört, wie sich seine Nachbarn anschreien. Tom hält inne und horcht, doch er kann weder verstehen, worüber gestritten wird, noch, wer den Streit gewinnt. Nur, dass beide Seiten sehr wütend sind.

»Entschuldigung …«, sagt eine Stimme, und Tom entdeckt auf dem Treppenabsatz, eine Stufenwindung weiter, einen Jungen. Er ist höchstens zwölf. »Bist du nicht Tom, der Sänger?«

»Entschuldigung angenommen«, sagt Tom, geht ein paar Stufen hinauf und reicht dem Jungen die Hand. »Ja, genau, der bin ich.« Der Junge schlägt begeistert ein. Seine kleine Hand verschwindet in der von Tom.

»Ich bin Simon … und ich mag deine Musik voll gerne!«

In dem Moment dringt ein lautes Klirren aus der Nachbarwohnung, gefolgt von einem noch lauteren: »TYPISCH! SOTYPISCH! DU!« Der Rest ist wieder nur unverständliches Geschrei. Das Lächeln des Jungen verschwindet.

»Das sind meine Eltern«, sagt er. »Die streiten manchmal. Ich komm dann auf die Treppe, weil man es hier nicht mehr hört … also meistens.«

»Meine Eltern haben sich früher auch oft gestritten«, sagt Tom. »Ich hab dann meine Kopfhörer aufgesetzt, meine Lieblings-CDs angemacht und so laut aufgedreht, bis ich sie nicht mehr gehört habe.«

Simon legt den Kopf schief. »Was sind noch mal CDs?«

Tom lacht. »Ernsthaft? CDs?« Simon zuckt beschämt mit den Schultern. »Okay, warte kurz!«, sagt Tom und flitzt in seine Wohnung. Wenig später kommt er mit der Umzugskiste zurück ins Treppenhaus und reicht Simon daraus einen Turm an CDs. Er zückt seinen Stift und signiert die oberste. Der Junge beobachtet ihn mit weit aufgerissenen Augen. »Hier, für dich. Das ist mein Album auf CD«, erklärt Tom.

Simon liest die Widmung laut vor: »›Für Simon, meinen allercoolsten Lieblingsnachbarn (aber pst, nicht den anderen Nachbarn sagen!)‹« Er lacht vor Freude.

»Aber die anderen CDs sind die eigentlichen Schätze!«, sagt Tom und setzt sich neben Simon auf die Treppenstufe, während er die CDs präsentiert. »Schau mal die da, das ist von jemandem, der heißt wie du. Simon. Von Simon and Garfunkel. Kennst du die?« Simon schüttelt den Kopf. »Kann ich nicht alle Songs von denen auch im Internet hören?«, fragt er vorsichtig.

»Die einzelnen Songs sind klasse«, meint Tom. »Aber erst im Zusammenhang als Album entfalten die so richtig ihre Wirkung. Das Album erzählt eine Geschichte und ist als Gesamtkunstwerk gedacht … zumindest war das früher so. Also wenn du dir die Zeit nimmst und das Album in der richtigen Reihenfolge von vorne bis hinten hörst, dann wirst du die Musik noch einmal ganz anders wahrnehmen, das verspreche ich dir. Das ist, wie wenn du ein Buch liest, aber nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen. Das spürst du richtig!« 

Simon betrachtet fasziniert das schwarz-weiß schattierte Gesicht von Elvis auf der nächsten CD vom Stapel.

»Das war sein erster Hit in den Pop-Charts, danach hat sich alles geändert«, erklärt Tom begeistert, erkennt dann allerdings, dass Simon keine Ahnung hat, wer Elvis ist. Trotzdem hat das Gesicht des King of Rock ’n’ Roll den Jungen wohl in den Bann gezogen. »Oh Mann, du hast echt was vor dir … genieß es! Ich wünschte, ich könnte Elvis wieder zum ersten Mal hören!«

»Aber unser Laptop hat keinen Schlitz für CDs«, sagt Simon und wirkt niedergeschlagen. 

Tom holt vorsichtig seinen Discman aus dem Karton hervor. Das alte Gerät hat keinen einzigen Kratzer, es sind sogar noch Batterien drin. »Den habe ich mit zwölf auf einem Flohmarkt gekauft.« Tom betrachtet den Discman eine Erinnerung lang. »Meine Eltern sind auch Musiker«, erzählt er, »sie sind ein Duo, wie Simon and Garfunkel. Gerade als sie etwas erfolgreicher wurden, haben sie sich zerstritten. Aber weil sie eben als Duo erfolgreich wurden, konnten sie sich nicht trennen, ohne den Erfolg wieder zu verlieren. Also blieben sie zusammen. Auf der Bühne gab es Musik, zu Hause gab es Streit. Ziemlich schlimmen Streit …«

Simons Augen springen zu seiner Wohnungstür, hinter der noch immer gebrüllt wird.

»Aber ich hatte ja diesen CD-Spieler, und überall in der Wohnung lagen CDs rum«, meint Tom. »Also habe ich mich immer, wenn sie sich gestritten haben, ins Bett gelegt, eine der CDs angemacht …«

»… und so laut aufgedreht, bis du sie nicht mehr gehört hast«, vollendet Simon den Satz.

»Exakt.«

»Haben sich deine Eltern wieder vertragen?«

»Sie haben sich vor ein paar Jahren getrennt, als klar war, dass die gemeinsame Karriere so oder so den Bach runtergeht«, sagt Tom. »Aber das war besser so. Meine Mutter macht weiterhin Musik. Und mein Vater ist jetzt ein Manager und hilft anderen, Musik zu machen. Wie mir. Er ist mein Manager.« Tom reicht Simon den Discman. »Hier. Ist deiner.«

Simon zögert. »Bist du dir sicher, dass ich den haben darf?«

»Wenn du dir sicher bist, dass du gut drauf aufpassen kannst?«

Simon nickt ernst und nimmt den Player dann so vorsichtig und konzentriert entgegen, als könnte er jeden Moment explodieren. 

»Mit dem Knopf hier machst du ihn an.« Tom drückt auf besagten Knopf, und tatsächlich springt das alte Gerät an. »Mit dem öffnet er sich«, auch das schafft der Discman. »Und da kannst du dann die CD reintun.« Tom greift zu Elvis’ erstem Chart-Hit, aber der Junge hat bereits das Album von Simon and Garfunkel in der Hand. Tom nimmt ihm die Hülle ab, zeigt ihm, wie sie sich öffnet, und legt die CD in den Discman. »Jetzt musst du nur noch auf Play drücken.«

Tom hält sich die Kopfhörer ans Ohr und wartet gebannt. Als tatsächlich Simon and Garfunkel erklingen, bereut er es kurz, dass er dabei ist, seinen alten Discman zu verschenken. Aber dann sieht er Simons gebannte Miene, erinnert sich daran, dass er bis vor wenigen Minuten nicht einmal wusste, ob der Discman noch funktioniert, und ist einfach froh, dass das alte Gerät ein zweites Leben bekommt. Tom streift Simon die Kopfhörer über, und der Junge ist direkt fasziniert von Simon und Garfunkels Gitarrenspiel. Tom zeigt ihm, wie er es lauter stellen kann, und Simon dreht den Regler sofort auf die höchste Stufe.

»Danke, Herr Tom!«, ruft Simon viel zu laut, weil in seinen Ohren die Musik dröhnt. Tom lacht.

»Bitte, Herr Simon!«, sagt er. 

Der Streit seiner Eltern hat sich noch nicht beruhigt, aber Simon schlurft mit dem CD-Player in der einen und dem Stapel Alben in der anderen Hand zurück in die Wohnung. Tom grinst breit und überlegt sich schon, welche CDs er dem Kleinen noch besorgen kann, während er in seine eigene Wohnung geht. 

Er klappt die jetzt leere Umzugskiste zusammen und lässt sie in einem Schlitz zwischen Kleiderschrank und Wand verschwinden. Dann streift er sich die Kleidung ab und schlendert zum Kühlschrank. Die Oberfläche ist metallic matt, mit integriertem Display. Smart-Funktion, hat Faruk ihm versprochen. Aber was bitte ist ein Kühlschrank mit Smart-Funktion? Zeigt er bei jedem Öffnen an, wie viel Geld man mit einem normalen Kühlschrank, der dasselbe macht, hätte sparen können?

Tom weiß nicht genau, was drin ist, hofft jedoch auf Bier. Beim Öffnen klirren ein paar Flaschen, ein gutes Zeichen. Er findet ein Sechserpack Bier in der ersten Ablage, in der zweiten liegen eine Packung Käse und eine Packung Wurst, daneben Butter. Er reißt eine Flasche aus dem Karton, öffnet sie und setzt sich an den Küchentisch. Selbst unsere Kühlschränke sind mittlerweile smarter als wir, denkt er. Vielleicht eine gute Textzeile, die muss er sich merken. Tom versucht, eine Melodie zu den Worten zu finden, als ihm auffällt, dass die Luft in der Küche wie ein Neuwagen riecht. Er steht auf und öffnet ein Fenster, um sie zu vertreiben. 

Draußen liegt Köln in seinem eigenen Dreck und schläft. Die Häuser stehen dicht aneinandergequetscht Schlange, als würden sie darauf warten, dass endlich eine zweite Kasse eröffnet wird. Die wenigen freien Flächen zwischen den riesigen Betonblöcken werden von Autos verstopft. 

Was für eine hässliche Stadt, denkt er, so wie er es, seit er aus Hamburg hergezogen ist, mindestens einmal am Tag tut. Er nippt wieder an seinem Bier, aber verschluckt sich fast daran, als er die Werbetafel an der Hauswand gegenüber entdeckt. Gestern zeigte sie noch Werbung für eine Versicherung an. Doch jetzt erstrahlt auf ihr ein unterwürfig lächelnder Hund. Bello – Ein Hund für alle Fälle! Freitags 20:15 Uhr schreit das Plakat. Tom versteht einfach nicht, was alle an diesem Köter finden. Eine Fernsehserie zur besten Sendezeit und ein extrem erfolgreicher Kinofilm. Bald zwei … Wie Simon Bello wohl findet? Wahrscheinlich liebt der Junge den Hund noch mehr als Toms Musik. Alle lieben den Hund.

Er dreht die Bierflasche in der Hand. Einen Kompromiss hat Faruk es genannt. Und Kunst war schon immer kompromissbereit. Michelangelo hat schließlich nicht einen Haufen Kirchendecken bemalt, weil er die Kirche so geliebt hat, sondern weil die ihn bezahlt haben. Aber wie viel Geld muss Tom denn noch verdienen, bis sie es »geschafft haben«, bis Faruk zufrieden ist? Erst war es der Erfolg seines ersten Albums, dann der seines zweiten Albums, jetzt ist es der Film, irgendwas ist immer der nächste Schritt. Und je mehr Geld Tom macht, desto mehr Geld brauchen sie. Größere Wohnungen, größeres Team, das Einzige, das weniger wird, ist seine Verantwortung. Mit steigendem Einkommen hat Tom immer mehr Dinge einfach abgegeben. Mittlerweile gießt er nicht einmal mehr seine eigenen Blumen selbst. Tom mag Pflanzen, aber er schafft es nicht, sie am Leben zu halten. Sie sterben mit solch einer Sicherheit in seiner Obhut, dass es locker als Beihilfe zum Mord gewertet werden könnte, wenn jemand ihm eine Pflanze schenkt. Wahrscheinlich düngt er nicht genug oder zu viel oder gießt zu oft oder zu selten oder mit zu viel oder zu wenig Wasser. Er wird es nicht herausfinden, denn er muss es nicht mehr herausfinden. Die Putzkraft, die er engagiert hat, übernimmt das jetzt für ihn. Wenn er könnte, würde er sich um nichts mehr selbst kümmern, und sogar Menschen bezahlen, damit sie für ihn aufs Klo gehen, so wie Udo Lindenberg. Der hat zwar nicht wirklich fremde Klo-Gänger, aber er lebt seit über zwanzig Jahren in einem Hotel, und das ist schon sehr nah dran. Tom greift nach seinem Handy, da fällt ihm der Zettel in seiner Hemdtasche ein, den Lanzinger ihm zugesteckt hatte. Er fischt ihn wieder raus. Eine Handynummer, darunter steht Emma und ein kleines Herz. Tom lächelt beschämt. Worüber beschwert er sich eigentlich? Er darf Tom sein. Nicht nur für einen Tag, sondern für alle Tage. Was, bitte, könnte man sich mehr wünschen?

3

Eigentlich ist Marie nicht in der Verfassung zu arbeiten, sie ist immer noch völlig erschöpft von dem gestrigen Anfall. Aber das gesteht sie sich selbst nicht ein. So schlimm ging es ihr schließlich nicht. Außerdem ist sie ja nicht wirklich krank. Das sagt sie sich zumindest immer wieder, obwohl es dadurch nicht wahrer wird. Und so erscheint sie, trotz allem, pünktlich zu ihrem Job als Teamassistentin bei der Steuerberatung Gröhne.

Die Kanzlei beschreibt sich selbst als Familienunternehmen, dabei ist sie mit sechsundzwanzig Mitarbeitenden gar nicht so klein, und verwandt ist hier auch niemand.