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Schlank zu sein gilt heute als Ideal – als Zeichen von Disziplin, Schönheit, Gesundheit und Erfolg. Doch dieser vermeintliche Maßstab ist keine naturgegebene Wahrheit, sondern ein kulturelles Konstrukt mit langer Geschichte und weitreichenden Folgen. Dieses Buch spürt dem Ursprung des Schlankheitswahns nach: von ersten Schönheitsidealen über Modeextreme wie die Wespentaille bis hin zur modernen Fitness- und Diätindustrie. Es zeigt, wie sich Körperbilder verändern, wie soziale Normen entstehen und wie sich der Wunsch nach Anerkennung in Zwang verwandelt. Dabei geht es nicht nur um Äußerlichkeiten – sondern um gesellschaftliche Machtverhältnisse, ökonomische Interessen und psychologische Abhängigkeiten. Wer bestimmt, was als schön gilt? Wer profitiert vom Schlankheitsideal? Und wie krank kann dieses Ideal tatsächlich machen? ›Die Erfindung des Schlankheitswahns‹ ist eine kritische Kulturgeschichte des Körpers – faktenreich, vielschichtig und entlarvend. Es macht sichtbar, wie aus einem ästhetischen Wunsch ein gesellschaftlicher Imperativ wurde – und warum es Zeit ist, diesen zu hinterfragen. Ein Buch für alle, die sich nicht länger von Zahlen auf der Waage definieren lassen wollen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Eine Betrachtung
von
Lutz Spilker
DIE ERFINDUNG DES SCHLANKHEITSWAHNS
SCHLANK, DÜNN UND MANGELERSCHEINUNGEN
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio-nalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Softcover ISBN: 978-3-384-59789-2
E-Book ISBN: 978-3-384-59790-8
© 2025 by Lutz Spilker
https://www.webbstar.de
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
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Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Lutz Spilker, Römerstraße 54, 56130 Bad Ems, Germany .
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Inhalt
Inhalt
Das Prinzip der Erfindung
Vorwort
Keine Zeit für Eitelkeit
Fruchtbarkeit statt Schlankheit
Schwere als Würde
Fasten als Gottesdienst
Von der Leibesfülle zur Leibeszucht
Die Geburt der Korsage
Wespentaille und Repräsentation
Körperzucht und Tugend
Der Leib als Projekt der Vernunft
Bürgerliche Distanz zum Adel
Diätetik als pädagogisches Prinzip
Der Körper als Spiegel der Seele
Diät als soziales Unterscheidungsmerkmal
Der Schlankheitswahn in seinen bürgerlichen Wurzeln
Körper im Korsett der Aufklärung
Der medizinische Blick
Der Kalorienbegriff und die Entzauberung des Essens
Schlankheit als Moral
Das viktorianische Ideal
Ernährungsschriften, Ratgeber und Hausfrauenideale um 1900
Hollywoods Einfluss
Der flache Bauch der 1920er
Fleisch auf den Rippen
Nachkriegshunger und Wiederaufbaukörper
Der Bikini-Effekt
Twiggy und die Wendung ins Magere
Jane Fonda und der Aerobic-Wahn
Essstörungen im Schatten des Ideals
Modelmaße als globale Norm
Digitaler Spiegel
Appetitzügler, Diätpillen und die Pharmaindustrie
Der vermessene Körper
Die asketische Eleganz
Zwischen Asphalt und Ackerboden
Die Rückeroberung des Körpers
Der Körper als Bühne gesellschaftlicher Zwänge
Wenn das Ideal zur Krankheit wird
Die Pathologisierung des Normalen
Die Wirtschaft der Unzufriedenheit
Zwischen Rebellion und Resignation
Fazit: Das Maß aller Dinge neu denken
Über den Autor
In dieser Reihe sind bisher erschienen
Die wichtigste Schlankheitsregel: Alles Gute ist schlecht.
Anna Nym
Anna Nym (auch: Nühm) eigentlich Klaus Klages, (1938 - 2022), deutscher
Gebrauchsphilosoph und Abreißkalenderverleger
Das Prinzip der Erfindung
Eine Erfindung ist etwas Erdachtes.
Jemand denkt sich etwas aus und stellt es zunächst erzählend vor. Das Erfundene lässt sich nicht anfassen, es existiert also nicht real – es ist ein Hirngespinst. Man kann es aufschreiben, wodurch es jedoch nicht real wird, sondern lediglich den Anschein von Realität erweckt.
Vor etwa 20.000 Jahren begann der Mensch sesshaft zu werden. Der Homo sapiens überlebte seine eigene Evolution allein durch zwei grundlegende Bedürfnisse: Nahrung und Paarung. Alle anderen, mittlerweile existierenden Bedürfnisse, Umstände und Institutionen sind Erfindungen – also etwas Erdachtes.
Auf dieser Prämisse basiert die Lesereihe ›Die Erfindung …‹ und sollte in diesem Sinne verstanden werden.
Vorwort
Schlank zu sein gilt heute als ein Zeichen von Selbstdisziplin, Gesundheit, Attraktivität und Erfolg. Dieses Ideal hat sich tief in das kollektive Bewusstsein moderner Gesellschaften eingegraben – so tief, dass es kaum mehr hinterfragt wird. Doch woher kommt dieses Ideal? Wer hat es definiert, etabliert, aufrechterhalten? Und vor allem: Wieso hat sich aus einem ästhetischen Vorzug ein allgegenwärtiger Zwang entwickelt – ein Wahn, der Millionen von Menschen ihr Leben, ihre Selbstwahrnehmung und letztlich auch ihre Gesundheit diktiert?
Dieses Buch versteht sich als Spurensuche. Es fragt nach den historischen, gesellschaftlichen und symbolischen Ursprüngen eines Phänomens, das in seiner Wirkmächtigkeit kaum überschätzt werden kann – des Schlankheitswahns. Dabei geht es weder um Diäten noch um Ernährungstipps, weder um Sportprogramme noch um moralische Wertungen, sondern um eine präzise, aufklärende und zugleich kritische Rekonstruktion eines menschengemachten Ideals, das längst zum kulturellen Dogma geworden ist.
Die Reise beginnt weit zurück – nicht, um in der Steinzeit bereits eine Erklärung zu finden, sondern um aufzuzeigen, dass der Schlankheitswahn keineswegs ein anthropologisches Grundmotiv darstellt. Im Gegenteil: In der frühmenschlichen Lebenswelt existierte kein Begriff von Übergewicht, weil es keinen Überfluss gab. Nahrungsverzicht war keine Tugend, sondern eine Notwendigkeit, wenn das Jagen oder Sammeln erfolglos blieb. Fettreserven galten als Zeichen von Stärke, Vorrat und Überlebensfähigkeit – nicht als Makel.
Der eigentliche kulturelle Nährboden für den Schlankheitswahn entstand erst mit der Sesshaftwerdung, mit gesellschaftlicher Differenzierung, mit der Entstehung von Machtstrukturen, von Besitz, von Mode und vor allem: von Beobachtung. Erst in einer Welt, in der Menschen einander bewerten konnten – und mussten –, entwickelten sich Maßstäbe für das äußere Erscheinungsbild. Diese Maßstäbe waren nie statisch, sondern unterlagen starken kulturellen Schwankungen: Während in der Antike kräftige Körper vielfach als Ausdruck von Wohlstand galten, setzte sich spätestens im 19. Jahrhundert ein neues Paradigma durch – die Reduktion des Körpers auf ein Idealbild, das zunehmend mit Askese, Verzicht und Kontrolle assoziiert wurde.
Mit der Wespentaille, der Korsage und später der Kalorientabelle wurde der weibliche Körper systematisch reglementiert – und in der Folge auch der männliche. Die Industrialisierung, die Verstädterung und die zunehmende Sichtbarkeit von Körpern im öffentlichen Raum – ob in der Mode, in der Kunst, in der Werbung oder auf der Straße – trugen dazu bei, dass körperliche Normen nicht nur formuliert, sondern auch durchgesetzt wurden. Wer diesen Normen nicht entsprach, galt nicht nur als unattraktiv, sondern mitunter als charakterlich mangelhaft, willensschwach, ungebildet oder gar krank.
Diese Entwicklung ist eng verwoben mit anderen Phänomenen der Moderne: mit der Entstehung von Schönheitsindustrien, mit dem Aufstieg von Massendruckerzeugnissen und Bildmedien, mit dem Siegeszug von Fitnesskulturen und Selbstoptimierungsstrategien. Der Körper wurde zum Projekt, das zu disziplinieren war – und Abweichungen von der Norm galten zunehmend als persönliche Niederlagen. Der Schlankheitswahn, so zeigt sich, ist keine Laune der Natur und keine neutrale Modeerscheinung, sondern ein sozial konstruierter Mechanismus mit enormer psychologischer, medizinischer und ökonomischer Reichweite.
Dieses Buch verfolgt den Weg dieses Wahns von seinen kulturgeschichtlichen Anfängen bis in die Gegenwart. Es beleuchtet seine vielfältigen Erscheinungsformen, seine ideologischen Hintergründe und seine fatalen Auswirkungen. Es dokumentiert, wie aus einem ästhetischen Wunsch eine kollektive Obsession wurde – eine Obsession, die nicht nur Körper, sondern auch Identitäten formt. Dabei wird sichtbar, dass ›Schlanksein‹ mehr ist als eine äußere Form: Es ist ein Symbol geworden – für Disziplin, für Zugehörigkeit, für gesellschaftlichen Status. Und doch bleibt es ein Symbol, das ständig Gefahr läuft, in sich selbst zu kippen: Was einst ›rank und schlank‹ hieß, droht heute immer öfter zu ›krank und schlank‹ zu werden.
›Die Erfindung des Schlankheitswahns‹ will aufklären, ohne zu belehren. Es will enthüllen, ohne zu entlarven. Es will zeigen, dass der Wahn nicht alternativlos ist – und dass ein Blick hinter seine Fassade mehr über unsere Zeit aussagt als jede Diätanleitung. Wer dieses Buch liest, wird nicht schlanker, aber vielleicht klarer sehen.
Keine Zeit für Eitelkeit
Körper im Überlebensmodus der Vorzeit
In einer Welt, in der der Mensch kaum mehr als ein Bestandteil der natürlichen Nahrungskette war, in der es keine Spiegel, keine Mode und keine sozialen Netzwerke gab, war der menschliche Körper ein reines Werkzeug – ein Instrument des Überlebens. Schönheit, im heutigen Sinne, war weder definiert noch von Bedeutung. Der Körper musste funktionieren, nicht gefallen. Sein Daseinszweck war nicht Repräsentation, sondern Effizienz. Das war die Realität der Vorzeit – einer Ära, in der Eitelkeit keinen Platz hatte.
In jenen Jahrtausenden, bevor der Mensch sesshaft wurde, war sein Leben geprägt von ständiger Bewegung, unvorhersehbarem Nahrungsangebot, klimatischen Extremen und dem andauernden Risiko, zum Opfer eines größeren, schnelleren oder listigeren Tieres zu werden. Der menschliche Körper war auf Leistung und Anpassungsfähigkeit ausgelegt. Muskeln, Fettdepots, Hautbeschaffenheit und Stoffwechsel waren keine Ausdrucksformen ästhetischer Vorlieben, sondern Produkte einer natürlichen Selektion, die kompromisslos nach dem Prinzip des ›Survival of the Fittest‹ arbeitete. Die ›Fitness‹, um die es hier ging, war eine biologische Überlebenskompetenz – nicht zu verwechseln mit dem heutigen Begriff, der oftmals bloß einen gestählten Körper meint, dem man ansieht, dass er Zeit im Fitnessstudio verbracht hat.
Das Körperbild, das sich aus dieser Zeit rekonstruieren lässt, war funktional. Ein kräftiger Körper konnte lange Strecken zurücklegen, sich gegen Angreifer wehren, klettern, schwimmen, jagen und tragen. Fett war ein Überlebensvorrat, nicht ein Makel. In klimatisch unwirtlichen Regionen bedeuteten Fettpolster Wärme und Energie. Besonders bei Frauen war ein gewisser Fettanteil essenziell, um Fruchtbarkeit zu sichern und eine Schwangerschaft trotz knapper Nahrungslage zu ermöglichen. Die vielzitierte ›Venus von Willendorf›, eine kleine Steinfigur aus der Altsteinzeit, die mit übertriebenen weiblichen Rundungen dargestellt wird, ist kein Beweis für ein frühzeitliches Schönheitsideal im modernen Sinne, sondern vielmehr ein Symbol für Fruchtbarkeit, Überleben und die Verehrung jener Eigenschaften, die Leben sichern konnten.
Der vorzeitliche Mensch lebte in Gruppen, in denen soziale Rollen primär durch Fähigkeiten definiert wurden – der schnelle Läufer, die geschickte Sammlerin, der kräftige Jäger oder die weise Alte. Die Bewertung von Körpern erfolgte in Relation zur Aufgabe, nicht zum Ideal. Es gab keine Werbung, keine Kleidung zur Zierde, keine vorgeschriebenen Maße. Jeder Körper war das, was er war – ein Spiegel des Lebenswandels, nicht des persönlichen Geschmacks oder gesellschaftlicher Erwartung.
Das Ideal des ›Schlankseins‹ im heutigen Sinn – als Zeichen von Disziplin, Attraktivität oder Erfolg – war vollkommen bedeutungslos. Schlankheit konnte sogar ein Risiko darstellen: Wer zu wenig Reserven hatte, war in Hungerperioden gefährdet. Mangel an Fett bedeutete Kälteempfindlichkeit, Energiemangel und bei Frauen Unfruchtbarkeit. Der Körper war ein Speicherorgan, ein wandelndes Archiv vergangener Nahrungszufuhr und zukünftiger Sicherheit. Man verzichtete nicht freiwillig auf Essen, schon gar nicht aus ästhetischen Gründen. Nahrung war kostbar, schwer zu beschaffen und niemals garantiert. Wer Zugriff auf Nahrung hatte, aß – und wurde nicht getadelt, sondern beneidet.
Es gab auch keine ständige Verfügbarkeit von Nahrung, keine Lagerhäuser, keine Kühlketten. Die tägliche Nahrungsaufnahme war abhängig vom Jagdglück, vom Sammelerfolg oder vom Wetter. Hungerperioden waren normal, keine Ausnahme. Der menschliche Organismus entwickelte sich unter diesen Bedingungen zu einem Meister der Anpassung: mit einem Stoffwechsel, der Reserven effizient speicherte, mit Hormonsystemen, die den Appetit regulierten, und mit einem Belohnungssystem, das Nahrungsaufnahme als lustvoll erscheinen ließ – all das diente nur einem Zweck: dem Überleben in einer Welt, in der Essen eine Frage des Zufalls war.
Auch Kleidung hatte in dieser Zeit keinen modischen Aspekt. Sie diente ausschließlich dem Schutz – vor Kälte, Hitze, Insekten, Verletzungen. Kleidung war funktional und entstand aus Tierhäuten, Pflanzenfasern oder anderen verfügbaren Materialien. Wer mehr Kleidung hatte, war nicht eleganter, sondern besser geschützt. Das Konzept, durch Kleidung Figur zu formen oder gar zu verschlanken, war nicht existent. Korsette, Taillenformer, Mieder – all diese Utensilien würden erst Jahrtausende später auftauchen, als die Nützlichkeit des Körpers vom Ideal des Körpers abgelöst wurde.
Ein weiteres Merkmal der vorzeitlichen Körperkultur war die Unmittelbarkeit zwischen Tun und Wirkung. Bewegung war kein freiwilliges Freizeitprogramm, sondern alltägliche Notwendigkeit. Wer Wasser brauchte, ging kilometerweit. Wer Nahrung wollte, sammelte oder jagte. Der Bewegungsradius eines Menschen war oft der einzige Garant für sein Überleben. Stillstand bedeutete Gefahr – durch Raubtiere, durch Feinde, durch Verhungern. Der Körper war in ständiger Benutzung – nicht weil man ihn trainieren wollte, sondern weil er als Arbeitsgerät gebraucht wurde. Muskeln entstanden nicht durch gezieltes Training, sondern durch Notwendigkeit.
Die Vorstellung, man könne oder solle den Körper optimieren, wäre einem Menschen der Vorzeit fremd gewesen. Es gab kein Ideal, auf das man hinarbeiten konnte, und keine Freizeit, in der man daran hätte arbeiten können. Die Verbesserung des Körpers ergab sich durch Erfahrung, nicht durch Planung: Wer oft kletterte, wurde besser darin. Wer lange lief, hielt länger durch. Der Körper war kein Objekt, sondern ein Subjekt – kein Werkstück, das geformt wird, sondern ein Akteur im täglichen Existenzkampf.
Selbst der Begriff ›Körperbild‹ ist in Bezug auf die Vorzeit nur mit äußerster Vorsicht zu verwenden. Ohne Spiegel, ohne standardisierte Darstellungen, ohne massenmediale Vergleichsgrößen entwickelte sich kein abstraktes Bild vom eigenen Körper. Die Selbsteinschätzung beruhte auf direkter Rückmeldung – auf körperlicher Leistungsfähigkeit, auf Reaktionen anderer Gruppenmitglieder, auf der erfolgreichen Bewältigung von Herausforderungen. Was zählte, war Funktion, nicht Form. Und Funktion war relativ – angepasst an Umwelt, Klima, Aufgaben.
Erst mit der Sesshaftwerdung des Menschen, der Entstehung von Vorratshaltung, von geregeltem Alltag und von sozialen Hierarchien begann sich das Verhältnis zum eigenen Körper zu verändern. Plötzlich konnten Menschen mit weniger Bewegung überleben, konnten sich spezialisieren, sich vergleichen, beurteilen – und beurteilt werden. Die Sesshaftigkeit war die Voraussetzung für die Entstehung von Muße, und mit der Muße kam das Nachdenken über sich selbst – auch über den eigenen Körper. Doch diese Entwicklung sollte erst viele Jahrhunderte nach der ersten Sesshaftwerdung in konkrete Körpernormen münden.
In der Vorzeit hingegen war kein Raum für Selbstinszenierung, kein Bedarf an ästhetischer Selbstkontrolle. Der Körper war nicht Feindbild, nicht Projektionsfläche, nicht Zielscheibe gesellschaftlicher Erwartungen. Er war ein Instrument des Überlebens. Es war eine Epoche der Unschuld des Körpers – eine Zeit, in der niemand sich zu dick, zu dünn, zu schön oder zu unattraktiv fühlte. Es zählte nur eines: zu leben.
Diese Vorzeit – archaisch, roh, aber ehrlich – markiert den Ausgangspunkt für eine Jahrtausende währende Entwicklung, an deren Ende eine Welt steht, in der der Körper nicht mehr Ausdruck des Lebens, sondern oft sein Ersatz ist. Eine Welt, in der nicht mehr das Überleben zählt, sondern das Abbild. Die Erfindung des Schlankheitswahns beginnt mit dem Ende dieser Unschuld – und damit mit dem Moment, in dem der Körper zum Gegenstand eines Vergleichs wird.
Dieses Kapitel ist der notwendige Kontrapunkt zu allem, was folgen wird. Es erinnert an eine Zeit, in der der Körper noch sich selbst gehörte. Eine Erinnerung, die nicht verklärt, sondern den Blick schärfen soll für das, was wir verloren haben – und was es vielleicht wiederzugewinnen gilt. Nicht in der Rückkehr zur Wildnis, sondern im Bewusstsein darüber, dass der Körper kein Feind ist. Sondern ein Überlebender.
Fruchtbarkeit statt Schlankheit
Körperideale in frühen Hochkulturen
Bevor sich der Schlankheitswahn in das kollektive Bewusstsein moderner Gesellschaften einprägte, existierte über Jahrtausende hinweg ein völlig anderes Verhältnis zum menschlichen Körper. Die Hochkulturen der Frühzeit – ob in Mesopotamien, Ägypten, Indien oder später in Mesoamerika – verstanden den Körper nicht als Projektionsfläche für asketische Ideale oder kontrollierte Ästhetik. Vielmehr war er Ausdruck von Lebenskraft, Fruchtbarkeit und göttlicher Ordnung. Das Ideal war nicht mager, sondern mächtig, nicht schmal, sondern rund, nicht enthaltsam, sondern lebensbejahend.
Diese frühen Zivilisationen, entstanden auf der Grundlage von Ackerbau, Viehzucht und wachsender Urbanisierung, kannten bereits differenzierte Vorstellungen von Schönheit. Doch diese Vorstellungen standen in engem Zusammenhang mit zyklischen Naturerfahrungen: Fruchtbarkeit der Erde, der Tiere und der Menschen war ein zentrales Thema. In einer Welt, in der Mangel, Hunger und Tod keine abstrakten Möglichkeiten, sondern alltägliche Begleiter waren, galten körperliche Fülle und sichtbare Vitalität als Garant für Überleben, Wohlstand und Kontinuität.