4,99 €
Der reiche Geschäftsmann Maschmann wird in seinem Landhaus in Apensen tot aufgefunden, gestorben durch eine Kugel aus seiner eigenen Pistole, mit einem Stempelabdruck gebrandmarkt. Derselbe Stempelabdruck auf dem Bauch eines ehemaligen, dementen Richters weist auf eine Verbindung zwischen den beiden Männern hin. Hauptkommissar Michael Andersen und sein Team gehen jeder Spur nach. Als Oberkommissarin Janne Rosengart die Computerzentrale des Toten entdeckt, die Inschrift des Stempels enträtselt und zwei Fotos von einer Frau und ihren beiden Kindern auftauchen, bekommen die Ermittlungen neuen Schub. Die junge Frau, die mit Janne Rosengarts letztem Fall beim Drogendezernat Hamburg zusammenhängt, kontaktet sie und enttarnt ihren Freund als Drogendealer, nachdem sie mit dessen Geld geflüchtet ist. Da sie sich nun in Lebensgefahr befindet, werden auch das Drogendezernat und das Landeskriminalamt Hamburg eingeschaltet. Oberkommissarin Rosengart und ihr Partner geraten ins Visier der unbekannten Gegenspieler und die lassen nicht mit sich spaßen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 379
Veröffentlichungsjahr: 2020
Helgard Heins
Die erste Tochter
Kriminalroman
Copyright: © 2020 Helgard Heins
Umschlag & Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
978-3-347-04260-5 (Paperback)
978-3-347-04261-2 (Hardcover)
978-3-347-04262-9 (e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Buch:
Gerd Maschmann, ein reicher Buxtehuder Geschäftsmann und Wohltäter, wird in seinem Landhaus in Apensen tot aufgefunden, gestorben durch eine Kugel aus seiner eigenen Pistole. Der Gerichtsmediziner findet einen Stempelabdruck auf dem Bauch des Toten, der auf das Motiv hinweisen könnte. Selbst ein Phantombild und Spurenmaterial am Tatort bringen die Aufklärung dieses rätselhaften Falles nicht weiter. Eine Spur weist auf den ehemaligen Richter Venske, der an Demenz erkrankt ist, denn er hatte heimlichen Besuch und nun ebenfalls einen Stempelabdruck auf dem Bauch. Seine Tochter und sein Sohn führen ein Internat, das nicht wie eines aussieht, und die Familie, die früher darin gewohnt hat, ist verschwunden. Eine Spur führt zu dem Gerichtsgutachter und Inhaber einer psychiatrischen Privatklinik, Professor Doktor Großkorff.
Hauptkommissar Michael Andersen und sein Team gehen jeder Spur nach. Als Oberkommissarin Janne Rosengart die Inschrift des Stempels enträtselt und zwei Fotos von einer Frau und ihren beiden Kindern auftauchen, bekommen die Ermittlungen neuen Schub. Im Zusammenhang mit ihrem letzten Fall beim Drogendezernat Hamburg, fragt eine junge Frau, die offenbar nur Janne Rosengart vertraut, nach der Freigabe der Leiche des Drogentoten vom Hamburger Hauptbahnhof, ohne seine Identität preiszugeben. Richtig gefährlich wird es für diese, als sie ihren Freund als Drogendealer enttarnt und mit seinem Geld flieht. Nun werden auch das Drogendezernat und das LKA Hamburg eingeschaltet. Oberkommissarin Rosengart und ihr Partner Kommissar Vandenpol geraten ins Visier der unbekannten Gegenspieler und die lassen nicht mit sich spaßen.
Die Handlung spielt sich im Land westlich der Elbe in Buxtehude, in Apensen auf der Stader Geest, im Alten Land, im Land Kehdingen, in Otterndorf nahe Cuxhaven an der Nordsee und in Hamburg ab.
Dieses Buch ist ein Roman.
Alle Personen, die Handlung, bestimmte Gebäude und Handlungsorte sind frei erfunden
Die Autorin:
Helgard Heins, geboren und aufgewachsen in Buxtehude, lebt in Apensen, wo sie viele Jahre als Verwaltungsangestellte in der Kommunalverwaltung arbeitete. Noch während dieser Zeit hat sie über drei Jahre per Fernlehrgang das Handwerkszeug des Schreibens erlernt und ihn erfolgreich abgeschlossen. Romane zu schreiben war immer ihr Wunsch.
Bisher erschienen:
Das alte Haus im Schneesturm, ISBN Nr. 978-3-939442-71-4, Roman
Prolog
Ansagen hallten durch das Bahnhofsgebäude. Züge rollten ein und kamen mit kreischenden Bremsen und Rädern zum Stehen, Türen klappten zischend zu und Züge fuhren langsam ab. In der Wandelhalle über den Gleisanlagen hasteten oder bummelten Reisende an Zeitungskiosken, Blumenständen, Cafés und Läden vorbei.
Kaum jemand beachtete die junge Frau, die suchend an den Passanten vorbei rannte, obwohl sie von ungewöhnlicher Schönheit war. Sie trug kniehohe, beige Stiefel, Jeans und eine helle, kurze Jacke mit Kunstfellbesatz. Ihre weißblonden, glatten Haare flossen wie ein glänzender Wasserfall bei jedem Schritt auf und nieder. Flink erspähte sie eine Gruppe auffälliger Jugendlicher, die in einer dunklen Ecke neben einer Bierstube standen, stoppte ihren raschen Lauf und sprach mit ihnen. Eines der Mädchen, die einige Jahre jünger war, und deren eine Seite des Schädels kahl geschoren war, während auf der anderen Hälfte mit Gel gestylte rot-schwarze Haare wild in alle Richtungen stachen, wies mit dem Arm nach rechts und redete Kaugummi kauend mit ihr. Daraufhin stürzte die junge Frau in die angezeigte Richtung und riss die Tür zur Herrentoilette auf.
Ein gut gekleideter Mann wandte seinen Kopf herum und rief verblüfft: „He.“ Ehe er jedoch reagieren konnte, riss sie bereits sämtliche Türen der Kabinen auf.
„Benni“, schrie sie verzweifelt. Alle Kabinen waren leer, bis auf eine. Sie ließ sich auf die Knie nieder und schaute unter der Tür durch. Ein qualvolles Stöhnen, wie von einem verwundeten Tier, kam tief aus ihrer Brust. Wie ein Blitz kletterte sie in der Nebenkabine auf den Toilettensitz, zog sich über die Trennwand und machte die Toilettentür von innen auf.
„Benni, Benni“, schluchzte sie, während sie ihre Wange an sein Gesicht schmiegte und ihre Haare, die von gleicher Farbe waren, flossen ineinander.
Der Mann trocknete seine Hände ab und kam näher. Seine erste Empörung war verflogen angesichts der beiden schönen, jungen Menschen, die auf dem schmutzigen Boden der Bahnhofstoilette lagen und er sah die Verzweiflung der jungen Frau. Er fühlte den Puls bei dem Jungen und nahm sanft ihre Hand. „Es tut mir leid. Ich glaube, er ist tot.“ Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte den Notruf. „Die Polizei kommt gleich“, sagte er und zog sie hoch, die sich nur zögernd von dem Jungen löste.
Ihre Empfindungen von Liebe, Trauer, Zorn und Angst liefen wie Wellen über ihr tränenverschmiertes Gesicht und sie lief ruhelos, wie ein Raubtier in seinem zu engen Käfig, von der Tür zu dem Toten, umarmte ihn noch einmal, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und verschwand, bevor die Polizei eintraf.
Kapitel 1
1. Tag – 15.12.
Mit einer neuen Leichtigkeit eilte Janne Rosengart die Stufen zum roten Backsteingebäude der Polizei hinauf, da gleich zwei Bürden von ihr abgefallen waren, und zwar war sie ihr Hühnerauge sowie dessen Verursacher und ihren Mann losgeworden. Und ihre neuen Stiefel waren ganz nach ihrem Geschmack, lautlos, leicht, elastisch und somit bestens geeignet, die Stufen förmlich hinauf zu schweben.
Drinnen streifte sie die Kapuze zurück und ihre kastanienroten Locken quollen befreit hervor. Sie nahm die schmale, schwarzrandige Brille ab und putzte sie eifrig mit einem Papiertaschentuch. Trotz ihres für Rothaarige ungewöhnlichen leicht bräunlichen Teints waren vorwitzige Sommersprossen über die feine Nase und die klaren Konturen ihrer Wangen verteilt. Schließlich setzte sie die Brille auf, ging zu der jungen Polizeibeamtin in der Wache und fragte nach dem Zimmer des Chefs, worauf sogleich die unvermeidliche Frage folgte, ob sie einen Termin habe.
„Ja, ich habe mich leider verspätet“, sagte sie und stellte sich vor. Die Polizeimeisterin Anja Weinhardt begrüßte sie freundlich und wies ihr den Weg.
Der Polizeirat blickte auf die Uhr, als Janne an seine Tür klopfte und kurz darauf eintrat. Sie fasste es sogleich als Ermahnung auf und so war es auch gemeint. Er war zurückhaltend gegenüber seinem Team, was sie bald erfahren sollte. Disziplin und Effizienz, das betonte er bei jeder Gelegenheit, waren für ihn das höchste Gebot. Mit Verachtung dachte er an seinen Vorgänger Richard Bauer und seinen allzu vertraulichen Umgang mit seinen Untergebenen. Und der hatte seiner Meinung nach viel zu lange auf dem Posten gesessen, den er, Dierk Jansen, seit Jahren besser ausgefüllt hätte.
Er überließ es nach kurzen Begrüßungsworten der Personalamtsleiterin Pfeiffer, die üblichen Einstellungsformalitäten zu erledigen und sie im Haus bekannt zu machen.
Während sie sich mit den Spezialisten der Spurensicherung, Stefan Utterson und Ludwig Kessner, unterhielten, hörten sie vom Parkplatz mehrere Streifenwagen mit Sirenengeheul abfahren. Das Geräusch entfernte sich schnell.
Aus dem Büro von Oberkommissarin Cornelia Seefeld und Hauptkommissar Klaus Danner dröhnte eine tiefe, schimpfende Stimme. Dennoch klopfte Frau Pfeiffer kurz an und machte die Tür einen Spalt auf. Janne erspähte einen kräftigen, blonden Mann mit beängstigend roter Gesichtsfarbe, der den beiden Gestalten, die mit dem Rücken zur Tür saßen, gerade eine Wohnungsdurchsuchung androhte. Der kleine Mann beschwerte sich daraufhin über die ständigen Beschuldigungen und beteuerte ihre Unschuld. Der große, breite Mann nickte zustimmend. Cornelia Seefeld kam zu ihnen heraus. Sie war im Kommissariat beliebt und wurde von allen nur Nellie genannt. „Schön, dass Sie da sind“, begrüßte sie Janne herzlich und erklärte ihr, womit sie sich gerade beschäftigten: „Wir haben im Moment mit einer Einbruchsserie zu tun, die äußerst arbeitsaufwendig ist, und weil wir auf der Stelle treten, hat Klaus mal wieder unsere beiden Experten vorgeladen. Patrick Mielke und Guido Lehmann kennen sich aus ihrer Sandkistenzeit und haben den anderen Kindern schon damals ihre Plastikeimer und - schaufeln geklaut. Seitdem haben sie oft gesessen, aber sie sind eben unverbesserlich. An diesem letzten Einbruch sind sie wahrscheinlich unschuldig. Na, wir sehen uns.“ Im Hineingehen wies sie mit dem Kopf auf das nächste Büro. “Da braucht ihr nicht zu klopfen, unser Frischling ist noch im Außendienst, müsste aber bald wieder da sein.“ Der Frischling namens Thomas Vandenpol würde ihr Partner sein. Er hatte vor nicht allzu langer Zeit seine kriminalistische Ausbildung abgeschlossen und war kurz von ihrem Vorgänger eingearbeitet worden, bevor der vor einem Monat in Pension gegangen war.
Der Polizeirat und Hauptkommissar Michael Andersen unterbrachen ihr Gespräch, als Janne eintrat. Andersen begrüßte sie und bat sie, sich einen Augenblick zu setzen. Sie nutzte die Gelegenheit, ihn heimlich zu beobachten, denn die beiden Männer vertieften sich wieder in ihr Gespräch. Sie waren fast gleich groß, aber Michael Andersen hatte breitere Schultern und war um einiges jünger. Einige Strähnen seines braunen Haares fielen in die Stirn und verliehen seinem schmalen Gesicht ein lässiges Aussehen. Aber auch er schaute zu ihr hinüber und als ihre Augen sich trafen, wandte er sie schnell wieder ab. Dieser Blick aus dunklen, blauen Augen traf sie bis ins Innerste und verwundert gestand sie sich ein, dass sie so ein Gefühl der Wärme lange nicht mehr verspürt hatte. Sie stellte sich sein Lächeln vor, aber er blieb ernst.
Das Gespräch war immer noch nicht zu Ende und so nahm sie gelangweilt die Zeitung von Andersens Tisch, schlug sie auf und stutzte, als sie den Artikel mit einem großen Foto sah, in dessen oberer Ecke sich eine Verkleinerung des Fotos befand, mit dem sie selbst noch bei ihrer letzten Dienststelle die Bevölkerung um Mithilfe bei der Identifizierung des jungen Mannes gebeten hatte, der tot in der Herrentoilette des Hauptbahnhofs gefunden worden war. Das große Foto kannte sie bisher nicht, es war ziemlich dunkel und verschwommen und zeigte eine laufende Frau mit heller Jacke und langen, blonden Haaren. Bei diesem Artikel handelte es sich um einen weiteren Aufruf an die Bevölkerung. Als hätte er es geahnt, rief in diesem Moment Hauptkommissar Forner vom Drogendezernat in Hamburg sie auf ihrem Handy an.
Janne legte die Zeitung ab und fragte: „Wolfgang, was gibt’s?“
„Schon angekommen?“
„So halb, in meinem Büro war ich noch nicht. Aber ich habe gerade euren Aufruf gesehen. Woher habt ihr das Foto?“
„Hat ein Passant zufällig geschossen. Ich glaube, die Frau auf dem Foto hat angerufen und wollte dich sprechen. Als ich ihr sagte, dass du nicht mehr hier bist, hat sie nach der Freigabe des toten Jungen gefragt. Und obwohl ich ihr gesagt habe, dass der Tod des Jungen nicht so ohne weiteres beurkundet werden kann, wenn wir nicht wissen, wer er war, hat sie nach einer Minute des Überlegens einfach aufgelegt. Aber deswegen rufe ich nicht an. Hühnchen jammert mir die Ohren voll, weil sie einen Fehler gemacht hat und ich es dir unbedingt irgendwie beibringen soll.“ Janne lachte. Frau Henne alias Hühnchen war seine Dezernatssekretärin.
„Was hat sie denn angestellt?“
„Sie hat deine Handy-Nummer an eine angebliche Freundin von dir herausgegeben, die dich nicht erreichen kann, weil sie ihr Handy und somit deine Nummer verloren hat. Hühnchen hat sich in ihrer Leichtgläubigkeit erweichen lassen und erst Panik gekriegt, als ich ihr weisgemacht habe, dass die Anruferin vielleicht die gesuchte Frau war.“
Jansen hatte inzwischen das Büro verlassen und Janne beendete das Gespräch, als Nellie ihren Kopf in die Tür steckte und einen Toten in Apensen meldete. „Luke und Stefan sind schon los, Vandenpol ist noch nicht zurück.“
„Dann wartest du und kommst mit ihm nach. Ich nehme Frau Rosengart mit. Alles weitere nachher.“
Die Straße „Schmaler Weg“ war bis zur Bebauungsgrenze links und rechts mit neuen Einfamilienhäusern bestanden und war, wie der Name besagte, eine schmale, asphaltierte Straße, die zu einem großen Gebäudekomplex etwa einen Kilometer außerhalb des Dorfes führte und dahinter in einem Sandweg auslief, der irgendwo in der Landschaft endete. Der Tatort war bereits großflächig mit weißrotem Flatterband abgesperrt und durch Streifenwagen zugeparkt. Vor dem Wohnhaus und den daneben liegenden Garagen befand sich ein mit verblühten Rosen bepflanztes Rondell, um das man herumfahren konnte. Hinter dem Haus erstreckten sich ausgedehnte Stallungen, eine große Scheune, zwei Reithallen, ein Springplatz und ein Dressurviereck. Die Koppeln waren mit weißen, hohen Lattenzäunen versehen, die einen stabilen Eindruck machten. Das ganze Anwesen machte einen soliden Eindruck und zeugte von Reichtum. Die Zufahrt zum Reiterhof war abgesperrt. Janne erkannte von weitem Anja Weinhardt, die mit einem Kollegen die eintreffenden Pferdebesitzer abfing.
Andersen und Janne zogen weiße Spezialoveralls an und streiften vor der Haustür Plastiküberzieher über die Stiefel. Halb saß, halb lag der Tote auf einem Sessel im Wohnzimmer in Richtung Fensterfront. Es war von draußen durch die bis nach unten reichenden Scheiben nicht zu übersehen gewesen, dass er eines unnatürlichen Todes gestorben war. Auf der weißen Hemdbrust prangte ein großer dunkelroter Blutfleck. Ein paar Knöpfe an Hemd und Hose waren geöffnet. Für die Spurensicherung war es ein Glück, dass die Sekretärin den Toten von draußen entdeckt und somit niemand vor ihnen den Tatort betreten hatte.
Das Zimmer war durch Strahler hell erleuchtet und zwei Beamte fotografierten und filmten den Tatort und jedes mit Spurentafeln gekennzeichnete Detail. Der Notarzt füllte bereits den Totenschein aus. Stefan und Luke hatten ihre Laborkoffer abgestellt und suchten nach Spurenmaterial und Fingerabdrücken. Janne spürte, wie ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief. Sie hatte schon viel schlimmer zugerichtete Opfer gesehen, aber das hatte sie nicht abstumpfen lassen. Sie rief sich zur Ordnung, schaltete die Gedanken der Bestürzung aus und begann, das Bild in sich aufzunehmen und sachlich zu betrachten.
„Wer hat ihn eigentlich gefunden, wer ist der Mann, wisst Ihr schon mehr?“, wandte Andersen sich an Luke, den erfahrenen Spezialisten für Spurensicherung.
„Gefunden hat ihn die Sekretärin des Geschäftsführers seiner Immobilienfirma, die zunächst so geschockt war, dass Anja Weinhardt sie mit Tee und Cognac beleben musste.“
„Gut zu wissen. Hat sie den immer dabei?“
Luke schmunzelte und fuhr fort: „Der Mann heißt Gerd Maschmann, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Dieses Anwesen gehört ihm und noch viel mehr. Er hat mehrere Fabriken, Immobilien und Beteiligungen an Firmen. Einzelheiten müssen wir noch herausfinden. Er soll sehr wohlhabend sein.“
„Das ist eine Aufgabe für Danner, Wirtschaft ist ja sein Spezialgebiet. Ich ruf ihn gleich an.“
Anja Weinhardt klingelte an der Haustür und berichtete, dass der Prokurist seine Sekretärin beauftragt hatte, nach dem Chef zu sehen, weil der weder telefonisch erreichbar, noch zu einer wichtigen Vertragsunterzeichnung erschienen war. Nachdem er auf ihr Klingeln nicht geöffnet hatte, war sie ums Haus gegangen und hatte den Toten entdeckt. Da hatte sie sofort die Polizei angerufen. „Das war’s“, schloss sie ihren Bericht und gab ihm einen Zettel mit dem derzeitigen Aufenthaltsort der Familie des Toten.
Sie berichtete noch, dass die Dorfbewohner eher zurückhaltend waren, nur ein paar zufällige Spaziergänger gingen trotz des ungemütlichen Wetters mit ihren Hunden vorbei. Keiner stellte sich neugierig an die Absperrung. Besucher der Reithalle und Leute, die ihre Pferde dort eingestellt hatten, mussten sich ausweisen und wurden nicht auf die Reitanlage vorgelassen. Einige zeigten Verständnis und Betroffenheit, andere waren nur ärgerlich, dass ihnen der Zutritt verwehrt wurde.
„Ihr macht eine Namensliste mit aktuellen Telefonnummern, oder? Und fragt sie gleich, ob sie gestern Abend hier waren und etwas Ungewöhnliches bemerkt haben, auch die Spaziergänger.“
„Ja, wir befragen sie sowieso. Können wir die Sekretärin nach Hause schicken? Sie ist völlig fertig.“
„Wenn sie wieder fahrtüchtig ist, dann ja. Sonst soll sie einer zurückfahren. Wir werden sie noch mal vorladen.“
„In Ordnung.“
Während Andersen mit ihr sprach, zog Janne Handschuhe an und untersuchte kurz alle Räume, um einen Überblick zu bekommen. Im Flur fand sie einen Waffenschrank, der Schlüssel steckte und die Tür war nur angelehnt, im Arbeitszimmer entdeckte sie ein Kabel, dass noch in der Dose steckte, aber es fehlte ein Computer oder Laptop. Alle anderen Räume waren unauffällig. Die Betten im ehelichen Schlafzimmer waren gemacht, der Hausherr hatte in der letzten Nacht nicht darin geschlafen. Nur im Gästebad entdeckte Janne eine Bürste mit kurzen, dunklen Haaren, die nicht zum Toten gehörten und nicht zu seiner Frau und den Kindern, denn die waren alle blond. Sie steckte Bürste und Seifenspender in Plastikbeutel, beschriftete sie und stellte sie in den Transportbehälter für die Asservaten, denn einige Wasserspritzer im Waschbecken und auf den Kacheln im ansonsten sauberen Raum wiesen auf eine einmalige Benutzung hin. Sie vermutete, dass der Täter das Gästebad benutzt hatte.
Luke sagte zu Andersen: „Chef, ich glaube, damit bekommen wir nicht viel Arbeit, sieht ganz nach Selbstmord aus.“
Andersen zog die Stirn kraus und wiegte den Kopf hin und her, während Janne neben dem Toten stand und gedanklich Handbewegungen vollführte wie ein Cowboy, der seinen Revolver um den Zeigefinger kreisen lässt, zupackt und zielt. Schließlich sagte sie sehr bestimmt: „Der Mann hat keinen Selbstmord begangen.“ Alle sahen sie fragend und ein bisschen erstaunt an, so dass sie auf den gekrümmten Zeigefinger der rechten Hand wies, an dem die Pistole mit dem Lauf nach vorn hing. „Die Waffe hängt verkehrt herum. Wenn er sie so greifen würde, müsste er seine Hand unwahrscheinlich verrenken, um mit dem Zeigefinger abzudrücken. Bequemer wäre es dann mit dem Daumen. Ich vermute, dass die Waffe nach seinem Tod über den Zeigefinger gehängt wurde.“
Stefan fotografierte die Hand mit der Pistole im Detail. Alle sahen nun genau hin und mussten widerwillig ihre These vom Selbstmord fallen lassen.
Luke nahm vorsichtig die Pistole und ließ sie in einen Plastikbeutel gleiten. Der Arzt drehte die Hand um, sie sahen eine Narbe in der Handfläche und er erklärte ihnen: „Die scheint von einer Operation an der Sehne zu stammen. Je nach dem vorherigen Verlauf der Krankheit führen solche Operationen nicht immer zum gewünschten Erfolg und in diesem Fall blieb die Sehne verkürzt.“
Von Andersen erhielt Janne den Auftrag, um den sich alle gern drückten. „Frau Rosengart, Sie fahren bitte mit Vandenpol zu Frau Maschmann und bringen ihr schonend bei, dass ihr Mann tot ist.“ Er reichte ihr den Zettel mit der Adresse.
Tommy Vandenpol war mit Leib und Seele Polizist und sein größter Wunsch war es, erfolgreich darin zu sein, bedrohte Menschen zu schützen und Verbrecher zu überführen. Er war voller Idealismus, hatte wenig Erfahrung und es war das erste Mal, dass er bei der Überbringung einer Todesnachricht anwesend sein sollte. Groß und schlank, wie er vor ihr stand, wirkte er auf Janne wie ein großer Junge mit seinem offenen Ausdruck, den freundlichen, blauen Augen und schwarzen Haaren. Er musterte sie unauffällig. Ihre Anziehungskraft und katzenhafte Grazie zogen ihn in ihren Bann. Es war nur natürlich, dass er neugierig auf seine künftige Partnerin gewesen war und er hatte eifrig dem Klatsch, der im Kommissariat über ihre früheren Erfolge verbreitet worden war, gelauscht. Er konnte es sich nicht verkneifen, Janne darauf anzusprechen. Lächelnd winkte sie ab und sagte: „Ich bin da einfach so reingerutscht.“
Sie fuhren schon eine geraume Weile auf der Bundesstraße Richtung Cuxhaven. Der kalte, mit Schneeflocken vermischte Regen fiel unablässig aus dunklen Wolken, die den Himmel bedeckten und den trüben Tag noch trüber machten.
Wie üblich schlief sie beim Autofahren ein und wachte erst wieder auf, als Vandenpol sie leicht am Arm berührte, weil ihr Handy klingelte. Sie wühlte es aus der Jackentasche, meldete sich mit verschlafener Stimme und murmelte gähnend „Ach, du bist es.“.
Es war Daniel Rosengart, ihr Noch-Ehemann. Er fragte: „Bist du zu Hause?“
„Nein, äh, wir sind dienstlich unterwegs.“ Mist, warum habe ich gleich wieder ein schlechtes Gewissen, ärgerte sich Janne.
„Das ist doch immer dasselbe, der Dienst geht immer vor. Wie sollen die Männer vom Umzugsunternehmen denn die Möbel bringen, wenn du nicht mal zu Hause bist“, kritisierte er.
Daniel schaffte es immer wieder, sie zu reizen. Sie erwiderte kiebiger als beabsichtigt: „Ach, dann sag ihnen doch, sie sollen die Möbel im Flur abstellen, und den Zweitschlüssel, den du dir hast machen lassen, einfach in den Briefkasten werfen.“
Am anderen Ende herrschte einen Augenblick verblüfftes Schweigen. Wie und wann war nur ihre Liebe entschwunden, fragte sich Janne. Vielleicht haben wir zu wenig miteinander geredet, da bin ich auch nicht unschuldig. Aber er musste immer das letzte Wort haben und es hatte sie unbeschreiblich genervt, wenn sie müde von Überstunden nach Hause gekommen war, und er sie spüren ließ, dass er ihre Arbeit nicht anerkannte. Schlicht gesagt, hielt er es überhaupt für überflüssig, dass sie arbeitete. Früher hatten sie sich beide Kinder gewünscht, aber der Wunsch war mehr und mehr zu einer Manie geworden und sie hatte sich dadurch so erdrückt gefühlt, dass ihr zum Schluss das Atmen schwer gefallen war, sobald sie ihr Zuhause betreten hatte. Er hatte sich mit einer anderen Frau getröstet und unglücklicherweise hatte sie ausgerechnet zu der Zeit von seiner Geliebten erfahren, als sie unter Depressionen litt. Zwar war sie erleichtert gewesen, nachdem sie sich auf den Trennungswunsch ihres Mannes geeinigt hatten, aber sie fühlte sich auch abgeschoben. Er hatte es als Zufall dargestellt, dass die Mieter Anfang Dezember aus ihrem Elternhaus ausziehen würden. Er hatte ihr schmackhaft gemacht, sich versetzen lassen und wieder dort wohnen. Jetzt war sie nicht sicher, ob ihre Entscheidungen richtig gewesen waren.
Sie hörte Stimmen und Gelächter durchs Telefon und meinte, Daniels Freund Richard Thomsen, genannt Dickie, herauszuhören, den sie absolut nicht leiden konnte. Anscheinend flirtete er mit Daniels neuer Flamme.
Sie konnte es sich nicht verkneifen, zu sticheln. „Ist der Dicke auch schon wieder bei dir? Pass nur auf, dass er dir Sylvia nicht ausspannt, das ist doch seine Masche.“ Sie bedauerte ihre Worte augenblicklich.
„Ich weiß, dass du ihn nicht magst, aber warum bist du so gehässig?“
Darauf ging sie weiter nicht ein und nach einem kurzen Schweigen sagte sie: „Jedenfalls wünsche ich dir viel Glück. Wenn weiter nichts ist, dann Tschüs.“
„Tschüs“, sagte er halbwegs versöhnt und fügte noch wichtig hinzu: „Es gibt noch viel zu regeln. Wir hören wieder voneinander.“
Was hatte sie schon viel zu regeln, sie wollte nichts von ihm und die Scheidung könnte ihretwegen reibungslos über die Bühne gehen.
Es würde ein langer Tag werden und ihr grauste schon davor, in ihr kaltes, leeres Haus einzuziehen. Bisher hatte ihr Mann sich um so banale Dinge, wie Kochen, Wohnung sanieren und einrichten gekümmert. Sie dachte an ihr Auto, das wahllos vollgestopft mit Wäschekörben, Kartons, Koffern und Plastiktüten auf dem Parkplatz stand und darauf wartete, von ihr ausgeräumt zu werden. Nicht zu vergessen, die große Hutschachtel, die ganz oben unter dem Dach eingeklemmt war, mit ihrem prächtigen, lindgrünen Hut, der zu einem ebenso lindgrünen Ensemble gehörte, das sie beim letzten Derby in Hamburg Horn zum Entzücken ihres Schwiegervaters getragen hatte. Daran mochte sie gar nicht denken. Es wäre das Schlimmste, wenn Aaron Rosengart sich von ihr abwenden würde. Sie liebte ihn mehr als ihren eigenen Vater, der nach dem Tod ihrer Mutter wieder in seiner Heimat in Schottland lebte. Janne seufzte tief und Vandenpol warf ihr einen kurzen Blick zu. Sie schwiegen, nur die Geräusche des Motors und der Reifen auf dem nassen Asphalt untermalten das Schweigen, bis Jannes Handy wieder klingelte.
Aaron war dran. „Janne, wie geht es dir?“
„Aaron“, brachte Janne nur heraus.
„Ich wollte dir nur sagen, dass ich dich zu meiner Sylvesterparty erwarte, um an meiner Seite die Gäste zu begrüßen.“
Sie war so gerührt, dass ihr die Kehle eng wurde und Tränen in die Augen stiegen, aber sie kämpfte tapfer dagegen an, während Aaron auf sie einredete.
Abschließend sagte er: „Also Sylvesterabend pünktlich um sechs holt Heinrich dich ab. Dann haben wir noch Zeit für uns.“ Heinrich war sein Chauffeur, Butler und Mädchen für alles und sie mochte ihn gern.
„Daniel wird das nicht gefallen“, wandte sie ein.
„Das ist allein meine Sache“, erwiderte er sehr bestimmt. Janne fühlte sich nach diesem Gespräch erleichtert. Tommy musste zwar auf die Straße achten, die an manchen Stellen durch die letzten herabgefallenen und zu Brei gefahrenen Blätter und die Nässe rutschig war, dennoch kramte er ein blütenweißes, großes Taschentuch aus seiner Jackentasche und reichte es Janne, die ihn verlegen anlächelte. Sie klappte den Spiegel herunter, nahm die Brille ab und beseitigte die mit Wimperntusche verlaufenen Tränenspuren.
„Danke“, sagte sie mit verschleierter Stimme. „Bevor wir zu Frau Maschmann gehen, brauche ich unbedingt einen Kaffee.“
Tommy bremste so abrupt, dass sie mit der Stirn gegen die heruntergeklappte Sonnenblende mit dem Spiegel stieß.
„Entschuldigung, aber hier ist gerade ein Kaffeestand.“
Janne rieb ihre Stirn, folgte ihm und nahm ihren Becher unter der Überdachung vor dem Verkaufstresen in Empfang. Hier waren sie ein wenig geschützt vor dem kalten Regen. Sie kramte ihre Zigaretten aus der Jackentasche und bot ihm eine an. Tommy lehnte dankend ab, aber er nahm ihr das Feuerzeug aus der Hand und gab ihr Feuer.
„Tut mir leid, das vorhin.“ Diesmal war Janne verlegen.
„War doch nichts.“
„Ich finde, wir sollten uns duzen. Ich heiße Janne.“
„Gern, ich Tommy.“
Ihr Lächeln, ihre strahlenden, graublauen Augen, ihre Grübchen neben ihrem etwas zu breiten Mund faszinierten ihn und er konnte den Blick nicht von ihr wenden. Nachdem sie zu Ende geraucht hatte, drückte sie die Zigarette aus und legte beide Hände zum Wärmen um den Becher.
Das Ferienhaus sah anheimelnd aus und lag an einem der künstlich angelegten Seen unweit des Nordseestrands. Als sie sich dem Haus näherten, sahen sie einen Mann und zwei Kinder herauskommen. Sie trugen Gummistiefel und gelbe Regenjacken und entfernten sich Richtung Deich. Auf ihr Klingeln wurde die Haustür von einer zierlichen Frau geöffnet, die noch kleiner war als Janne. Der Begriff Kindfrau passte perfekt zu ihr.
Janne und Tommy wiesen sich aus und Janne fragte: „Sind Sie Frau Maschmann?“
„Ja“, bestätigte sie und sah sie mit großen Augen fragend an.
„Dürfen wir eintreten?“
Frau Maschmann nickte ernst und führte sie ins Wohnzimmer, wo sie einen schönen Blick auf den See hatten. Aus der Küche hörten sie Geschirr klappern.
„Bitte, nehmen Sie Platz“, sagte sie. Janne und Tommy setzten sich ihr gegenüber auf bequeme Sessel.
„Warum sind Sie hier, ist etwas passiert?“, fragte sie.
„Es tut mir leid, Frau Maschmann“, begann Janne vorsichtig. „Wir müssen Ihnen eine traurige Botschaft überbringen.“
Frau Maschmann blieb abwartend sitzen und Janne fragte: „Ist Ihre Mutter auch im Haus? Können wir sie dazubitten?“
Sie nickte und rief: „Mama, kommst du mal?“
Aus der Küche kam eine große, stattliche Frau, die keine Ähnlichkeit mit ihrer Tochter hatte.
„Was ist denn? Oh, du hast Besuch.“
„Guten Tag, ich bin Oberkommissarin Rosengart und das ist Kommissar Vandenpol“, begann Janne. Die Mutter setzte sich neben ihre Tochter.
„Leider müssen wir Ihnen eine traurige Nachricht überbringen.“
Die junge Frau sah sie unverwandt an. Nun musste es ausgesprochen werden und dafür gab es keine abmildernden Worte. „Ihr Mann wurde heute Morgen tot in Ihrem Landhaus aufgefunden.“
Frau Maschmann war wie erstarrt. Die Mutter war es, die sie nach weiteren Informationen fragte und ob sie den Täter gefasst hätten. Jannes Auskünfte beschränkten sich auf das Notwendigste. Als alle Fragen beantwortet waren, ging die Mutter in die Küche, um einen Tee aufzubrühen.
„Wie soll ich das nur unseren Kindern beibringen“, klagte Frau Maschmann. „Emma war seine kleine Prinzessin und Paul sein Thronfolger. Sie vergöttern ihren Papa.“
Nach Jannes Eindruck war die junge Witwe wohl gefasst genug für einige Auskünfte und fragte, ob es irgendjemanden gab, der Streit mit Ihrem Mann gehabt hatte, oder ob sie bedroht oder gar erpresst worden waren. Sie schüttelte verneinend den Kopf. „Mein Mann ist … äh war sehr bekannt durch seine Geschäfte. Er hatte viele Freunde und außerdem hat er viel Geld für wohltätige Zwecke gespendet. Er hat etliche Kinderheime finanziell unterstützt, die ohne sein Geld gar nicht existieren könnten. Das hat er selbst oft zu mir gesagt. Nein, im Gegenteil. Er war sehr beliebt und ich kann mir nicht vorstellen, dass er Feinde hatte.“
„Sie sind um vieles jünger als Ihr Mann. Er war doch ein gut aussehender Mann und daher wundert es mich, dass er vorher noch nie verheiratet war. Wissen Sie warum?“
„Was soll diese Frage“, beschwerte sich die Mutter, die mit einem Tablett aus der Küche kam und Teekanne, Zuckerdose und Tassen auf dem Tisch verteilte.
„Lass nur, Mama“, beschwichtigte Frau Maschmann sie und setzte mit unbewegter Miene hinzu, „er hat immer zu mir gesagt, dass ich die eine Einzige bin, die er sein Leben lang gesucht und nie gefunden hat, bis er mich gesehen hat.“ Nach kurzer Pause fragte sie: „Müssen wir uns jetzt vor einem Presserummel fürchten, wenn das bekannt wird?“
„Die Frage ist berechtigt.“ Janne überlegte: „Wie lange wollten Sie denn hier bleiben? In Ihr Haus können Sie vorerst nicht zurück, die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen.“
„Freitag wollten wir zurückfahren“, antwortete Frau Maschmann mit einem fragenden Blick auf ihre Mutter, die zustimmend nickte, und fuhr fort: „Das Haus auf dem Land ist unser zweiter Wohnsitz. Wir sind meistens in unserer Stadtwohnung in einem Geschäftshaus und meine Eltern wohnen auch dort, nur in einer anderen Etage.“
„Gut“, nickte Janne, „wir haben noch einige Fragen an Sie. Wir können später einen Termin vereinbaren.“
In dem Moment klingelte Tommys Handy. Andersen informierte ihn darüber, dass der Tote jetzt nach Eppendorf gebracht würde. Die Leichenöffnung beginne am nächsten Morgen um neun Uhr.
„Ja, in Ordnung.“
„Um fünf ist Besprechung, schafft ihr das?“
Tommy sah auf die Uhr und sagte: „Das wird knapp.“
„Seht zu, bis dann.“
„Wo ist mein Mann, kann ich ihn sehen?“, fragte Frau Maschmann. Janne hatte diese Frage schon erwartet.
„Tja“, begann Tommy, „er ist auf dem Weg ins gerichtsmedizinische Institut in der Uniklinik Eppendorf. Können Sie morgen dahin kommen und ihn identifizieren?“
Hilflos sah Frau Maschmann ihre Mutter an, die sogleich darauf reagierte.
„Papa wird dich begleiten. Da fährst du auf keinen Fall allein hin.“
„Frau Maschmann, hatte Ihr Mann zu Hause einen Laptop oder einen PC?“
Sie dachte angestrengt nach. „Das machen doch alles die Angestellten und Geschäftsführer. Bei uns zu Hause habe ich nie einen PC gesehen.“
„Sie sind mit dem silbernen Mercedes hier, was für ein Auto fuhr Ihr Mann?“
„Einen schwarzen Mercedes, Kombi.“
Sie tauschten Telefonnummern aus, unter denen sie jederzeit erreichbar waren. Janne ließ sich die Adresse der Stadtwohnung geben und fragte, mit welchen Freunden und Bekannten sie verkehrten. Daraufhin erhielt sie ein säuberlich geführtes Büchlein mit Adressen und Telefonnummern. Janne blätterte darin herum und wunderte sich über die Kreuze hinter den Adressen.
„Was bedeuten diese Kreuze?“
„Ach so, also ein Kreuz bedeutet, dass wir diese Personen regelmäßig einmal im Monat zu einem Abendessen einladen, zwei Kreuze bedeutet, dass wir sie hin und wieder treffen und drei Kreuze, das sind die Personen, die wir selten oder lange nicht mehr gesehen haben.“ Erstaunlich, dachte Janne, dass man so seinen Bekanntheitsgrad kennzeichnet.
„Und die Adresse in roter Schrift, ist das Zufall oder bedeutet es auch etwas?“
„Das ist meine Freundin. Die Adresse ist nicht mehr aktuell, sie lebt derzeit in den USA, aber Weihnachten besucht sie mich.“
„Vielen Dank, damit haben Sie uns sehr geholfen. Sie bekommen Ihr Adressbuch zurück. Nochmals mein herzliches Beileid, Frau Maschmann“. Tommy schloss sich dieser Bekundung an und sie verabschiedeten sich.
Es war mittlerweile dunkel geworden und regnete immer noch. Als sie ins Auto stiegen, hörten sie plappernde Kinderstimmen. Der Großvater kam mit den Kindern zurück und Frau Maschmann standen schwere Stunden bevor, in denen sie ihren Kindern erklären musste, dass sie ihren Vater nie mehr sehen würden.
Kapitel 2
2.12.
Michael Andersen hatte den Tatort seinen Kollegen überlassen und war zurück ins Kommissariat zu einer Besprechung mit Polizeirat Dierk Jansen und dem Staatsanwalt gefahren. Sie einigten sich darauf, dass um fünf Uhr am Nachmittag die erste Besprechung möglichst mit allen Beteiligten der neu zusammengestellten Sonderkommission stattfinden sollte. Bis zur Pressekonferenz erwartete Jansen von Andersen eine für die Öffentlichkeit geeignete Zusammenfassung. Sie waren sich einig, dass dieser Fall durch die Bekanntheit des Opfers großes Aufsehen erregen würde und dementsprechend die Ermittlungen auf Hochtouren anlaufen müssten.
Der große Besprechungsraum war vorbereitet, die Magnetwand war bepflastert mit Notizblättern und Fotos, ein Flip-Chart stand bereit. Auf der Leinwand war mittels Beamer das Anwesen des Ermordeten zu sehen. Die Besprechung begann pünktlich. Die meisten Beamten von anderen Dienststellen, die in der nächsten Zeit in der Soko mitarbeiten würden, waren schon da.
Andersen hatte alle seit dem Morgen eingegangenen Berichte durchgesehen, sortiert und fasste zusammen, was bisher bekannt war.
Die Frage war offen, ob der Tote ermordet, fahrlässig getötet oder gar bei einem Gerangel in Notwehr erschossen worden war. Druckstellen an den Händen und Handgelenken könnten auf einen Kampf hinweisen. Der Tathergang konnte also noch nicht eindeutig rekonstruiert werden. Hier hoffte er auf weitere Erkenntnisse des Gerichtsmediziners. Die Spurensicherung am Tatort war noch nicht abgeschlossen. Offensichtlich hatte der Getötete den Täter selbst eingelassen, denn Einbruchspuren waren nicht vorhanden.
Die Tatzeit lag irgendwann am gestrigen Abend. Da er in Hemdsärmeln gekleidet war, musste es zu dem Zeitpunkt noch warm im Wohnzimmer gewesen sein. Die Heizung war so programmiert, dass sie sich automatisch um zehn Uhr abends absenkte und morgens um sechs wieder hochfuhr. Der Gerichtsmediziner würde hoffentlich bald nach komplizierten Berechnungen anhand der Raum- und der Körpertemperatur und dem Zustand der Leiche einen genaueren Zeitpunkt mitteilen. Ihre Aufgabe sei es, so Andersen, diesen Zeitpunkt durch das Auffinden von Zeugen weiter zu präzisieren.
Janne und Tommy kamen mit viertelstündiger Verspätung und setzten sich auf die beiden freien Stühle neben Nellie, die ihnen beim Eintreten ein Zeichen gegeben hatte. Andersen sah kurz auf, nickte ihnen zu, und setzte seinen Vortrag fort.
„Haben wir viel verpasst?“, flüsterte Janne.
„Nein, nur die Tatortbeschreibung. Du kannst alles hier nachlesen.“ Nellie wies auf die Papiere vor ihnen auf dem Tisch. Dieser kleine Stapel würde binnen kurzem zu einem Aktenberg anwachsen.
Der Pkw des Toten erschien auf der Leinwand, ein schwarzer Mercedes Kombi der E-Klasse. Das Foto war inzwischen an alle Polizeidienststellen in der Umgebung gemailt worden. Es wurde danach gesucht, weil vermutlich der Täter damit weggefahren war. Daher stellte sich die Frage, wie er gekommen war. Anja Weinhardt und drei Kollegen, die ebenfalls noch nicht zurück waren, befragten an den Haltestellen die Pendler, ob ihnen Jemand aufgefallen war, der üblicherweise nicht mit dem Zug fuhr. Die Fahrer der Buslinien und alle Taxiunternehmen aus der Umgebung waren schon befragt worden.
Aller Voraussicht nach fehlte nur ein PC oder Laptop, da ein Anschlusskabel im Büro lag. Es war aber noch nicht klar, ob der Tote es vorher selbst woanders hingebracht hatte.
Gerd Maschmann war ein bekannter Mann, der mit seinem Bauunternehmen reich geworden war, es aber rechtzeitig verkauft hatte. Etliche Immobilien und Grundstücke hatte er behalten und in günstigen Momenten verkauft. Das Geld aus Verkäufen und Gewinnen hatte er dafür verwendet, neue Firmen aufzukaufen. Danner hatte eine Liste der Firmen und Beteiligungen erarbeitet, die aber noch nicht vollständig war. Dies würde in den nächsten Tagen seine Aufgabe sein und dafür forderte er nachdrücklich ausreichend Beamte an, da seiner Meinung nach in allen Firmen persönliche Gespräche erforderlich waren, um nach einem möglichen Motiv zu forschen.
„Wir machen gleich die Einteilung, wenn Frau Rosengart und Tommy über die Familie berichtet haben“, kündigte Andersen an und bat mit Blick auf die Uhr um eine kurze Zusammenfassung. Janne beschrieb die Familie, soweit sie sie kennen gelernt hatte, und deren Reaktion, sie erwähnte auch das Adressbuch von Frau Maschmann und den Grund warum alle Adressen mit einer verschiedenen Anzahl von Kreuzen gekennzeichnet waren. Sie fügte noch hinzu, dass Frau Maschmann nicht wusste, ob ihr Mann einen PC oder Laptop gehabt hatte.
Andersen nickte und ordnete an: „Sie und Tommy fahren dann Morgen nach Hamburg und nehmen an der Leichenöffnung und der Identifizierung des Toten durch Frau Maschmann und deren Vater teil. Danach kümmern Sie sich um das persönliche Umfeld. Klappern Sie alle ab, die im Adressbuch stehen.“
„In Ordnung.“
Er wandte sich an Nellie: „Du kümmerst dich bitte um den Vertrag, zu dessen Abschluss es nicht mehr gekommen ist. Es ging um den Verkauf von Bauland, wie wir inzwischen wissen. Wollte jemand diesen Handel verhindern, hätte man die Gebäude auch an anderer Stelle errichten können, solche Fragen eben.“
Alle blickten auf, als Luke und Stefan hereinpolterten und sich geräuschvoll Stühle an den Tisch zogen.
„Habe ich einen Hunger“, stöhnte Luke. „Habt Ihr nichts zu essen bestellt?“ Er schnappte sich eine Cola, riss den Kronkorken ab und trank in gierigen Schlucken gleich aus der Flasche. Die Kollegen grinsten.
„Ja, ja, ihr hattet es mal wieder ganz schwer“, spottete Danner.
„He, du hast schließlich den ganzen Tag hier im Büro gesessen“, konterte Stefan und nahm sich ebenfalls was zu trinken.
„Also“, hub Luke an, „wir haben Haare und Fingerabdrücke im Gästebad gefunden“, und mit einem Nicken in Jannes Richtung fuhr er fort: „vor allem am Seifenspender und in der Haarbürste. Aber auch an der Leiche haben wir noch einige Haare gefunden. Der Tote muss sich kräftig gewehrt haben, denn unter den Fingernägeln der linken Hand waren außerdem Hautfetzen. Die Waffe war abgewischt worden, nur am Abzug ist ein undeutlicher Abdruck, den wir aber Maschmann zuordnen können. Wir werden Haar- und Hautprobe zur DNA-Analyse ans gerichtsmedizinische Institut in Göttingen schicken. Die vom vermutlichen Täter gesicherten Fingerabdrücke sind leider in keiner Datei gespeichert.“
Stefan hatte von der Raumpflegerin erfahren, dass sie die Wohnung sauber gemacht hatte, nachdem die Frau mit den Kindern abgereist war. Sie war sehr gründlich in ihrem Beruf.
„Eigentlich haben wir nur die Fingerabdrücke von Maschmann und von einer fremden Person gefunden. Wir sind auf dem Gelände aber noch nicht fertig.“
„Sprecht ihr morgen mit den Angestellten auf dem Hof oder soll Nellie das mit übernehmen?“, fragte Andersen.
„Ich mach das“, meldete sich Nellie, „sie sind für Morgen einbestellt. Es sind nur zwei, ein älterer Mann, der für die Versorgung der Pferde zuständig ist, und eine junge Frau, die Maschmanns Pferde reitet und sich um den Reitbetrieb kümmert. Wir können die Tatzeit bereits etwas eingrenzen. Die Frau hat Maschmann gestern Abend um viertel nach neun zuletzt gesehen. Eine seiner Stuten hatte gefohlt und er war seit etwa acht Uhr im Stall, bis das Fohlen aufgestanden war und zum ersten Mal getrunken hatte. Er ist durch den Seiteneingang zurückgegangen, das hat sie mir bestätigt.“
Andersen sah sie streng an. „Das sagst du jetzt erst. Kann es sein, dass er die Tür offen gelassen hatte, während er im Stall war?“
Nellie war betroffen über diese Rüge. „Tut mir leid, aber es steht alles in meinem Bericht. Die Tür war offen, die Frau hatte Maschmann auf den Hof begleitet und gesehen, dass er die Tür nicht aufgeschlossen hat.“
„Entschuldige, Nellie. Dann könnte es sein, dass der Täter sich zwischen acht und viertel nach neun ins Haus geschlichen hat. Frau Weinhardt sollte nochmals die Pendler des Zuges befragen, der gegen acht eintrifft. Wer befragt die Anlieger der Zufahrtstraße zum Hof?“
Sven Maier, ein junger Kollege von Anja Weinhardt meldete sich.
„Es sind ja nicht allzu viele Häuser. Sie sollten nochmals die Bewohner speziell für den Zeitraum nach acht Uhr fragen, ob ihnen ein Fußgänger aufgefallen ist“, wies Andersen ihn an.
Andersen schaltete den Beamer aus und blickte auf die Uhr. Es war bereits kurz nach sieben Uhr. „Ach, was ich noch sagen wollte. Unsere Kollegen hier haben inzwischen festgestellt, dass die Tatwaffe auf Gerd Maschmann registriert war. Wir treffen uns morgen wieder. Macht jetzt Feierabend.“
Kapitel 3
3.12. bis 16.12.
Janne stieg in ihr Auto, lehnte ihren Kopf zurück und atmete tief durch. Ihr Körper verlangte endlich nach Essen, aber ihr war übel und sie würde nichts herunterbringen. Dieser Tag war lang und ereignisreich gewesen und nun stand ihr die Rückkehr in ihr altes, kaltes Haus bevor. Sie konnte sich nicht einmal aufraffen, noch Lebensmittel einzukaufen. Nach einem tiefen Seufzer fuhr sie los, Regen und Schnee hatten endlich aufgehört und helle Wolkenfetzen stürmten über den nachtblauen Himmel. Es war eine kurze Strecke den altbekannten Weg am Estedeich entlang, beinahe hätte sie die Einfahrt verpasst.
Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss und sie tastete nach dem Lichtschalter hinter Möbelteilen, die im Flur abgestellt waren. Mittendrin hielt sie inne. Durch die Ritzen der Küchentür schien Licht. Nach einem Moment des Zögerns machte sie Licht. Es konnte doch nur so sein, dass entweder die Mieter noch nicht ausgezogen waren oder ihr Noch-Ehemann Daniel in ihrem Haus herumschnüffelte. Entschlossen öffnete sie die Tür und erblickte einen Unbekannten, groß und breit wie ein Grizzlybär, der am Herd stand und in einem Topf rührte. Sie sog mit erhobenem Kopf den Geruch ein und ihr Magen regte sich. Der alte Herd, der noch mit Holz und Kohle befeuert wurde, verbreitete wohlige Wärme und es duftete nach Essen in der anheimelnden Küche. Der Mann drehte sich um und kam auf sie zu.
„Frau Rosengart, guten Abend. Ich habe Sie erwartet, hoffentlich sind Sie nun nicht allzu geschockt.“ Er streckte ihr seine große Pranke entgegen. Sie sah ihn einfach nur schweigend an.
„Barnie Fahje. Ich konnte nicht …“ Die Spannung fiel von ihr ab und sie winkte müde ab.
Sie wusste zwar, dass der ehemalige Mieter so hieß, hatte ihn jedoch nie persönlich kennen gelernt. Er musterte sie aufmerksam, dann nahm er ihr die Jacke ab und brachte sie in den Flur. Sanft wurde sie auf einen Stuhl geschoben. Trotz seiner gewaltigen Ausmaße bewegte er sich gewandt. Im Nullkommanichts drückte er ihr ein Glas Rotwein in die Hand. Er schnitt Weißbrot, füllte es in einen Korb und stellte das verführerisch duftende Brot mit einer auffordernden Geste auf den Tisch. Sie probierte eine Scheibe und nickte anerkennend. „Haben Sie das selbst gebacken?“
„Ja, und jetzt bekommen Sie noch eine heiße Suppe, dann geht es Ihnen gleich besser.“ Woher wusste er nur, dass es ihr schlecht ging. Sie trank einen Schluck von dem schweren Rotwein, der ihr gleich in den Kopf stieg, während er den Tisch deckte und ihren Teller füllte.
„Guten Appetit“, wünschte er und setzte sich ihr gegenüber. In der Suppe schwammen Fleischklöße, Bohnen, Möhren, Blumenkohl, Porree, alles durcheinander und es roch und schmeckte himmlisch. Als Janne satt war, lehnte sie sich schweigend zurück und Bilder von früher, als ihre Großeltern noch den kleinen Hof bewirtschaftet hatten, gingen ihr durch den Kopf, in dem sich der Rotweinnebel nach dem Essen wieder etwas gelichtet hatte. Unwillkürlich lächelte sie, als sie sich daran erinnerte, wie gern sie beim Füttern geholfen hatte. Heu, Stroh und Getreide wurden auf dem Boden über dem Stall gelagert. Auf der Diele wurden Rüben geschnitzelt. Die paar Kühe standen auf Stroh, Hühner hockten auf Stangen in einem offenen Verschlag. Zwei Pferde hatte ihr Großvater, der sich nie mit so etwas Neuartigem, wie einem Traktor anfreunden konnte, und den Hof in alter Tradition bis zu seinem Tod weitergeführt hatte. Ein paar Schweine, Gänse und Puten wurden von ihrer Großmutter gehegt. Mit dem Obst und Gemüse aus eigener Ernte waren sie weitgehend Selbstversorger gewesen, allerdings in bescheidenen Verhältnissen lebend. Sie kehrte erst in die Gegenwart zurück, als sie den Blick ihres Gegenübers fühlte und fragte ihn: „Was sind Sie eigentlich von Beruf?“
„Tischler und Drechsler. Tut mir leid, dass ich noch nicht ausgezogen bin. Ich muss Ihnen das wohl erklären.“
„Müssen Sie jetzt nicht.“
„Doch, ich möchte es hinter mich bringen.“
Sie nickte ihm zu.
„Meine Frau hat einen anderen Mann kennen gelernt. Wissen Sie, ich bin im September arbeitslos geworden und sie hat mich spüren lassen, was für ein Versager ich bin. Sie ist also mit unserer Tochter ausgezogen zu ihrem neuen Freund. Leider konnte ich keine passende Bleibe finden, die ich hätte bezahlen können. Ich muss gestehen, ich habe hier allerhand Holz gelagert. Die Ställe sind alle sauber und frisch geweißt und außer im Pferdestall lagert überall Holz. Die Diele ist sozusagen meine Werkstatt.“
„Man ist doch kein Versager, wenn man arbeitslos wird“, entgegnete Janne und fragte interessiert: „Und warum liegt im Pferdestall kein Holz?“
„Meine Tochter träumt von einem Pony und ich hoffte, ihr diesen Wunsch erfüllen zu können.“
„Wie alt ist sie denn und wie heißt sie?“
„Melanie ist neun. Wir hängen sehr aneinander.“
„Tut mir leid, Herr Fahje“, sagte Janne, „Wenn Sie immer so gut kochen, dann werden wir uns sicher einigen.“ Sie fand sich selbst ein wenig leichtsinnig, als sie ihm diesen Vorschlag machte, einem völlig Fremden, mit dem sie dann praktisch eine Wohngemeinschaft bilden würde.
„Was heißt das, kann ich hier bleiben, als Ihr Untermieter sozusagen?“
„Ja, über die Einzelheiten reden wir aber erst am Wochenende.“
„Melanie kommt übers Wochenende zu mir.“
„Ich mag Kinder, das ist kein Problem.“
„Ihre Möbel könnte ich aufbauen, wenn Sie wollen. Heute können Sie nebenan im Gästezimmer schlafen. Das hatte ich für meine Tochter vorgesehen.“
„Ich bin hundemüde. Oh, je, meine Sachen sind noch alle im Auto.“
„Ich hole sie rein, geben Sie mir den Autoschlüssel?“
„Der ist in meiner Jacke. Wo war noch mal das Bad?“
„Oben, ich zeige es Ihnen.“
Sie standen auf und stiegen die Treppe hinauf. Das Bad war gut ausgestattet, sogar mit einer Fußbodenheizung. Früher gab es oben kein Badezimmer und die Räume wurden durch Öfen beheizt. Ihr Mann hatte die Mieteinnahmen für den Einbau einer modernen Zentralheizung im ganzen Haus und neue Fenster mit Isolierverglasung verwendet, wofür sie ihm in diesem Augenblick höchst dankbar war. In ihrem ehemaligen Zimmer standen noch ihre alten, weißen Jungmädchenmöbel. Herrn Fahje war nicht mal ein Bett geblieben, stellte sie mit Blick auf eine Matratze fest, die in seinem Zimmer auf dem Fußboden lag.
„Sie hat wohl alles mitgenommen?“
„Das kann man so sagen. Ich hole Ihre Sachen aus dem Auto.“
Als er alles hineingetragen hatte und einen Blick ins Gästezimmer warf, schlief sie tief und fest. Die Nachttischlampe brannte noch und Ihre Kleidung lag auf dem Fußboden verstreut. Er lächelte, schlich sich hinein und knipste das Licht aus.