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Die Geschichte erzählt das Heranwachsen der neunjährigen Juli Jacobson, die als Kind eines wohlhabenden Hamburger Anwalts ohne die Liebe ihres Vaters aufwächst, und ihr Erblühen, als mit Max jemand in ihr Leben tritt, dem es nicht ums Geld geht, sondern darum, dass es Juli gut geht. Sie findet in seiner Familie die so schmerzlich vermisste Geborgenheit sowie Freunde und überwindet Stück für Stück die Traumata ihrer Kindheit. Schließlich kann sie sich dem Familiengeheimnis stellen und Ordnung ihr Leben bringen sowie in das ihrer Football-verrückten Freunde, die mittlerweile teilweise wegen des Sports in den USA leben und lieben.
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Seitenzahl: 441
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Helgard Heins
Liebesroman
Copyright: © 2022 Helgard Heins
Lektorat: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Umschlag & Satz: Erik Kinting
Titelbild: losw (depositphotos.com)
Verantwortlich für den Inhalt:
Helgard Heins
Sankt Pauli 7
21641 Apensen
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Dies ist ein fiktiver Roman. Orte, Events, Markennamen und Organisationen werden in einem fiktiven Zusammenhang verwendet.
Alle Handlungen und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt. Markennamen und Warenzeichen, die in diesem Buch verwendet werden, sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer.
Drei Mädchen schließen an der Nordseeküste Ostfrieslands eine Freundschaft für ihr Leben.
Juli hat alles, was man für Geld kaufen kann, sehnt sich jedoch viel mehr nach der Liebe ihres Vaters, wenn sie schon keine Mutter hat und ihre Großeltern nicht kennt. Ihre Gesundheit steht auf dem Spiel, aber als Max zu ihr geschickt wird, ändert sich ihr Leben. Max nimmt sie in den Sommerferien mit zu seiner Familie und seine Schwester Amy wird Julis erste richtige Freundin. Liz gesellt sich als Dritte im Bund dazu. Sie erleben drei unvergessliche Sommer, bis Liz Amy überredet, mit ihr nach Seattle zu gehen.
Aber Freundschaft und Liebe können tückisch sein und das Leben hält einige Überraschungen für sie bereit.
Helgard Heins, geboren und aufgewachsen in Buxtehude, lebt in Apensen, wo sie viele Jahre als Verwaltungsangestellte in der Kommunalverwaltung arbeitete. Noch während dieser Zeit hat sie über drei Jahre per Fernlehrgang das Handwerkszeug des Schreibens erlernt und ihn erfolgreich abgeschlossen. Romane zu schreiben war schon immer ihr Wunsch.
Bisher erschienen:
Das alte Haus im Schneesturm, Roman
ISBN Nr. 978-3-939442-71-4
Die erste Tochter, Kriminalroman,
ISBN Nr. 978-3-347-04260-5
Der Weg, den sie mitgeschleift wurde, schien ihr unendlich lang. Wo war sie und wer hielt sie so fest umklammert, dass ihre Hüften schmerzten? Vage erinnerte sie sich an eine fordernde Stimme. Sie war müde, dennoch versuchte sie, ihre Augen zu öffnen, aber alles blieb verschwommen. Sie zitterte, ihr war sterbensübel und kalt. Sie erkannte das Geräusch der zuklappenden Haustür und eine fremde Stimme.
Mit einem Ruck wurde sie aufgehoben und an eine feste, warme Brust gedrückt. Sie schaukelte sanft bei jedem der wiegenden Schritte, bis sie vorsichtig auf ein Bett gelegt wurde. Nebelhaft hörte sie Stimmen und eine Haustür zuschlagen. Vielleicht war sie wieder allein. Wie immer. Dann konnte sie jetzt endlich schlafen.
Juli Jacobsen war zwölf Jahre alt und ein sehr reiches Mädchen. Sie lebte in einer sehr großen luxuriösen Wohnung mit einer Dachterrasse über den Dächern von Hamburg und hatte alles, was man für Geld kaufen konnte. Aber was sie sich am sehnlichsten wünschte, waren Liebe und Geborgenheit – und die hatte sie nicht. Ihr Vater besuchte sie genau zweimal im Jahr, jeweils wenn sie Zeugnisse bekommen hatte. Jedes Mal war er zufrieden, wenn er die Bestnoten sah, denn sie war klug, interessiert an allem und das Lernen fiel ihr leicht.
Sie war ihm dankbar, als er ihr nach dem Abschluss der Grundschule die ersehnten Reitstunden bewilligt hatte, doch damit manipulierte er sie nur zu weiteren Höchstleistungen in der Schule, damit sie eines Tages als Fachärztin für Orthopädie die familieneigene Klinik übernehmen würde. Nicht dass er sie selbst zum Reitstall gebracht hätte, nein, damit beauftragte er eines der Au-pairs, die mit den Jahren immer nachlässiger wurden und die Vorteile, die ihr Vater ihnen für ihre Betreuung bot, für ihr eigenes Vergnügen ausnutzen. Natürlich nahmen sie hocherfreut die Schlüssel für das rote Cabriolet entgegen, mit dem sie Juli zur Schule, zum Reitstall oder wohin sie auch immer wollte fahren sollten, aber diese Mädchen hatten eigene Pläne und Juli hatte auch in diesem Fall das Nachsehen. Das großzügige Haushaltsgeld, das in der Küchenschublade in einer Geldtasche lag, trug jedenfalls nicht dazu bei, Kühl- und Vorratsschrank zu füllen. Spätestens am Monatsende war die Geldtasche leer.
Die ersten vier Jahre ihres Lebens hatte eine Haushälterin für Juli gesorgt. Sie hatte gesundes Essen gekocht, mit ihr gespielt und mit ihr Kleidung gekauft. An die Haushälterin erinnerte sie sich kaum noch, aber wenn sie an sie dachte, breite sich für einen kurzen Moment ein warmes Gefühl in ihr aus. Danach kam jährlich ein neues Au-pair.
Die ersten Mädchen, die aus Amerika, Schweden, Australien und Peru kamen, erfüllten ihre Pflichten hervorragend. Julis Vater gewährte ihnen außer Wohnung und Essen die private Nutzung des Autos und ein großzügiges Taschengeld. Juli verstand sich mit ihnen. Da die Mädchen mit ihr Englisch sprachen, lernte sie diese Sprache spielend und von der Peruanerin zusätzlich ein paar Brocken Spanisch. Aber die nach ihnen kamen, nutzten alle Vorteile, weil sie nie kontrolliert wurden.
Die Vorletzte, Elaine, brachte sogar ihre Freundinnen und Freunde mit in die Wohnung. Es war ein heißer Tag im Juni und sie trugen Esszimmerstühle und Sessel auf die Terrasse und feierten eine wilde Party. Juli beobachte es von ihrer Suite aus, die sie in der Wohnung hatte, mit einem eigenen Wohnzimmer, Schlafzimmer und Bad. Sie war die Einzige, die die gefährlich schwarzen Wolken in der Ferne aufziehen sah. Die ersten Windböen rüttelten an der Markise, aber Elaines Partygäste feierten fröhlich weiter, bis ein Blitz, gefolgt von einem heftigen Donnerschlag, alle aufschreckte. Als der Himmel dann schlagartig seine Schleusen öffnete, konnten sie gerade noch in die Wohnung flüchten. Dummerweise war es der erste Ferientag und damit der Tag, an dem ihr Vater pünktlich wie ein Uhrwerk kam, um ihr Zeugnis zu begutachten. Als Erstes warf er die Truppe aus dem Haus, dann streckte er seine Hand mit einem kalten Blick nach Elaine aus. »Die Schlüssel!«, befahl er und hob auffordernd die Hand. »In einer Stunde sind Sie verschwunden.« Unter dem stechenden Blick aus den kalten Augen erschauerte sie und schaffte es in weniger als einer halben Stunde, ihr Zimmer zu räumen.
Mit Julis Schulnoten war er zufrieden. »Du bist jetzt alt genug, um dein Taschengeld zu verwalten. Ich habe dir ein Jugendkonto eingerichtet.« Er legte ihr eine EC-Karte auf den Schreibtisch. »Damit kannst du Geld abheben.«
Juli konnte ihn nur mit großen Augen anstarren. Sie fragte sich an diesem Tag, ob sie nun alles selbst machen musste. »Danke«, murmelte sie.
Ihr Vater schüchterte sie durch seine kalte und abweisende Art ein. Sie wusste nicht, ob er nur ihr gegenüber so war oder zu anderen auch mal nett sein konnte. Irgendwie glaubte sie das nicht. Vielleicht hatte er auch Kummer und niemanden, der ihn liebte. Sie würde ihn ja so gern lieben, wenn er sie nur ließe, aber das tat er nicht. Er interessierte sich nicht für ihr Leben, außer für ihre Noten. Nie fragte er, ob sie Fortschritte beim Reiten machte. Sie war ihm scheinbar egal.
»Morgen werden die ruinierten Möbel entsorgt und durch neue ersetzt. Ich werde dir ein neues Mädchen schicken.«
Als er weg war, war Juli so erschöpft gewesen, dass sie Rena anrief und ihre Reitstunde auf den nächsten Tag verlegte. Rena liebte ihre Pferde und Ponys und arbeitete hart, um ihren Reit- und Pensionsstall über Wasser zu halten. Juli durfte beim Unterricht Renas Blueboy reiten. Blueboy war ein deutsches Reitpony und sah aus wie ein etwas kleineres deutsches Reitpferd. Sie liebte Blueboy und träumte davon, dass er ihr eines Tages gehören würde. Im Reitstall kam sie gut mit den anderen Mädchen aus und mit Trice – Beatrice Windmöller –, die nur ein Jahr jünger war, hatte sie sich sogar angefreundet. Sie beneidete Trice, weil sie zu fast jeder Reitstunde von ihrem Vater begleitet wurde. Wenn er Juli bei der Begrüßung in die Arme nahm, was er komischerweise außer bei Trice nur bei ihr tat, wurde ihr ganz warm ums Herz. Dann sah er ihnen zu und strahlte über sein gutmütiges Gesicht. Nach der Reitstunde lobte er sie ebenso wie seine Tochter.
Kurz darauf, es war Ende Juni, zog dann Chloe, ein Mädchen aus Australien bei ihr ein. Aber sie war keinen Deut besser als ihre vier letzten Vorgängerinnen. Also kaufte sie mit Renas Hilfe eine Jahreskarte für den HVV, den Hamburger Nahverkehr, und fuhr von da an mit S-Bahn und Bus bis zum Reitstall, der nördlich von Hamburg lag.
Es war Sommer. Juli kam von der Schule nach Hause und suchte im Kühlschrank nach etwas Essbarem. Es war mal wieder nichts da. Chloe vergaß ständig einzukaufen und gab das Haushaltsgeld ohnehin vorzugsweise für andere Dinge aus.
Juli nahm die angebrochene Tüte Milch und goss sie über den Rest des Müslis, das noch in der Packung war. Als Sie sich einen Löffel voll in den Mund schob, spuckte sie alles zurück in die Schüssel, denn die Milch war sauer.
Fluchend – das hatte sie von Trice gelernt – schlüpfte sie in ihre Reitkleidung. Dann musste sie sich eben unterwegs etwas zu essen kaufen. Sie zog die Schublade auf und nahm die Geldtasche heraus. Wie gewohnt war nichts mehr drin. Es blieb aber auch keine Zeit mehr, zu einem Geldautomaten zu gehen. Sie konnte froh sein, wenn sie den Anschlussbus zum Reitstall noch erwischte.
Trice hatte ihr Pony schon gesattelt, als Juli angehetzt kam. Sie half ihr wie meistens beim Putzen von Blueboy. Juli legte ihm das Zaumzeug an und Trice schleppte den Sattel herbei. Julis Magen schmerzte vor Hunger, als wäre ein faustgroßes Loch darin. Sie zog die Steigbügel herunter und wollte sich in den Sattel schwingen, aber ihre Beine zitterten und ihr Blick verschwamm. Sie klammerte sich an den Sattel, konnte aber nicht verhindern, dass ihre Beine nachgaben und sie zu Boden sank.
Als Juli wieder zu sich kam, lag sie in Renas Büro auf dem Sofa. Ihre Beine waren etwas höher gelagert.
Sie hörte Rena telefonieren. Obwohl sie schon sehr wütend klang, wurde Rena immer lauter: »Sie vernachlässigen Ihre Tochter und ein Vortrag ist Ihnen wichtiger, als sich um sie zu kümmern? Es ist mir völlig egal, dass Sie einen Vortrag halten müssen. Wenn Sie nicht innerhalb der nächsten halben Stunde hier sind, werde ich das Jugendamt einschalten. Ihre Tochter ist zu klein und zu dünn für ihr Alter, sie ist definitiv unterernährt!«
Es folgte eine Pause. Dann fauchte Rena: »Ich werde sie nicht nach Hause bringen! Das ist Ihre Aufgabe!«
Nach einer weiteren kurzen Pause zischte Rena: »Ich will Ihr Geld nicht! Gut, ich bringe sie nach Hause, aber dafür kaufen Sie ihr ein Pony!«
Sie legte auf und machte sich daran, die bewusstlose Juli in ihr Auto zu schleppen, um sie nach Hause zu bringen …
***
Dr. Jacobsen eilte durch die Eingangshalle der Universität, vorbei an der großen Pinnwand, als er aus dem Augenwinkel eine große dunkle Gestalt davor stehen sah. Er blieb stehen und beobachtete den Mann, der konzentriert auf die Zettel mit Wohnungsangeboten starrte. Vielleicht war es eine Schnapsidee, aber es könnte auch die Lösung seines Problems sein. Jacobsen war keiner, der eine Chance verpasste. »Suchen Sie eine Wohnung?«, sprach er den Burschen an.
Dieser war noch keine 20, sah ordentlich aus und machte einen freundlichen Eindruck. »Ja, aber es sieht schlecht aus«, meinte er nur.
»Kann sein, dass ich da helfen kann. Mein Name ist Jacobsen.«
Der Junge sah ihn an, drehte sich kurz zu dem Veranstaltungsplakat um, auf dem Jacobsens Gesicht in doppelter Größe prangte, und nickte erfreut. »Mein Name ist Maximilian von Aaken. Sie halten hier gleich einen Vortrag?«
»Stimmt, daher fasse ich mich kurz. Ich biete Ihnen eine Wohnung an und als Gegenleistung kümmern Sie sich um meine Tochter. Sie wohnt in der obersten Etage über meiner Kanzlei. Meine Bedingung wäre, dass sie jetzt sofort hinfahren.« Mit zusammengekniffenen Lippen wartete er ungeduldig auf Antwort. »Wir besprechen heute Abend alle Einzelheiten. Sie werden es nicht bereuen«, fügte er an und begann, einzelne Schlüssel von seinem Bund abzufummeln.
Max nickte nur und nahm die Schlüssel entgegen.
Nachdem Jacobsen ihm noch ein paar Anweisungen sowie die Adresse gegeben hatte, machte Max sich sofort auf den Weg. Er war noch völlig verdattert, als er sich in seinen klapprigen Ford warf und losfuhr.
Als Max die Wohnungstür öffnete, erstarrte er. Er wusste, dass sein neuer Schützling beim Reitunterricht einen Schwächeanfall erlitten hatte, nun aber zu sehen, wie eine zierliche Frau sich damit abmühte, den fast schon ausgemergelten Körper eines Mädchens über den Teppich zu schleifen, schockte ihn doch.
»Verdammt!«, brüllte die Frau verzweifelt.
Max ließ die Tür hinter sich zufallen und eilte auf das ungleiche Paar zu. Die Kleine musste in etwa so alt sein wie seine jüngste Schwester Amy. Von ihrem Vater wusste er, dass sie Juli hieß. Sofort hob er sie auf seine Arme. »Wohin?«, fragte er.
Die Frau ging wortlos voraus bis zur letzten Tür auf der rechten Seite und dann durch ein kleines Wohnzimmer in das daneben liegende Schlafzimmer. Max folgte ihr und legte Juli behutsam auf das luxuriöse Boxspringbett. Beide hatten Reithosen an und das Mädchen zudem Reitstiefel, die er ihr vorsichtig von den Beinen zog.
»Was ist passiert?«, fragte Max, der wirklich nur das Nötigste von Herrn Jacobsen erfahren hatte.
Die Frau zupfte ihn am Ärmel, nahm im Flur ihren Korb auf und ging voraus in die Küche. Sie nahm einen Topf aus dem Korb und stellte ihn auf den Herd. »Wer bist du und wo ist ihr Vater?«, fragte sie mit zusammengepressten Lippen.
»Max von Aaken. Ich bin Jurastudent. Herr Jacobsen hat mich hergeschickt, weil er seinen Vortrag nicht absagen konnte.«
Sie schnaubte nur empört. »Dass ich nicht lache! Es schert ihn einfach nicht, wenn seine Tochter einen Zusammenbruch hat. Er kümmert sich nicht mal um vernünftige Haushälterinnen. Immer nimmt er irgendwelche Au-pairs, die selber noch Babysitter bräuchten. Die kümmern sich mehr um sich selbst, als um ihren Schützling, sodass Juli unterernährt ist. Das muss man sich mal vorstellen: Fast verhungert im Penthouse! Da, zieh ihr einen Schlafanzug an. Du findest alles im Schrank und nebenan ist ihr Badezimmer. Ich habe eine Suppe mitgebracht. Versuch ihr die einzuflößen. Schaffst du das?«
Er nickte.
»Du kannst Rena zu mir sagen. Mir gehört der Reitstall, in dem Juli ihre Freizeit verbringt. Und sei nett zu ihr, das wäre für sie dann mal etwas Neues.« Sie gab ihm ihre Visitenkarte. »Melde dich nachher. Ich will wissen, wie es weitergeht. Du kannst dem werten Doktor Rechtsanwalt sagen, wenn sich hier nichts ändert, ist die Sache mit dem Jugendamt noch nicht vom Tisch.« Damit rauschte sie ab und warf die Eingangstür hinter sich zu.
Max schüttelte irritiert den Kopf. Er goss etwas von der inzwischen warmen Suppe in eine große Tasse und ging nach Juli sehen. Sie war noch immer nicht bei Bewusstsein. Als er ihr behutsam erst ihre Reithose auszog, dann seinen Arm unter sie schob, um den Pullover über ihren Kopf zu ziehen, fühlte er ihre Knochen und erschrak über ihren mageren Körper. Dann erschrak er noch mehr, als im klar wurde, dass das gar nicht seine kleine Schwester war, sondern ein fremdes Mädchen, das er gerade auszog. Hastig zog er ihr die Decke über. Darüber war nicht mal Rena gestolpert, hier lag scheinbar so einiges im Argen.
Er kramte im Schrank herum, um etwas Warmes zum Anziehen zu suchen. Er fand einen Flanellschlafanzug und legte ihn neben ihr aufs Bett.
In dem Moment öffnete sie die Augen.
»Hey, Juli. Ich bin Max«, sagte er leise. »Geht es dir etwas besser?«
Sie nickte und sah in mit großen Augen an.
Er setzte sich neben sie, schon einen Arm unter sie und hob sie an, damit sie etwas Suppe trinken konnte. »Es ist jetzt wichtig, dass du zu Kräften kommst. Rena hat für dich eine Hühnersuppe hiergelassen.« Er reichte ihr die Tasse.
Vorsichtig setzte Juli sie an ihre Lippen. Als sie merkte, dass die Suppe nur lauwarm war, trank sie ein paar kräftige Schlucke.
Er ließ sie wieder zurücksinken und strich ihr sanft die Haare aus dem verschwitzten Gesicht. »Ich bleibe von nun an bei dir, wenn du möchtest«, flüsterte er und bemerkte, dass sie ihn fast schon hoffnungsvoll ansah.
»Für immer?«, fragte sie tonlos.
Das war eine lange Zeit. Max schluckte. Das konnte er ihr nicht versprechen. Wahrheit war ihm wichtig, er wurde nicht des Geldes wegen Jurist. Ein Versprechen dieser Art zählte zu jenen, deren Einhalt schlicht nicht garantiert werden konnte. Was, wenn er einen Unfall hätte oder … Er konnte dennoch nichts dagegen machen, dass sein Kopf anfing zu nicken. Er nickte, weil sie ihm unendlich leidtat und es nicht der richtige Zeitpunkt war, über die Definition von für immer zu reden. Er schob ihre kalten Hände unter die Bettdecke und streichelte ihr beruhigend über die Wange. »Ruh dich aus.«
Max hielt sich an Renas Anordnung und flößte Juli in regelmäßigen Abständen Suppe ein.
Irgendwann im Laufe des Nachmittags kam Chloe in die Küche geschlendert und checkte ihn interessiert ab. Sie stellte sich als Julis Betreuerin vor und drängte sich sofort ungeniert an ihn.
Max trat einen Schritt zurück und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Du bist also Chloe, das Mädchen, das für Juli sorgen soll? Ich habe hier eine Liste. Ich kümmere mich um Juli, du gehst einkaufen.«
»Wenn du meinst.« Nach kurzem Zögern nahm sie den Zettel und verließ die Wohnung.
Max hatte noch eine weitere Liste mit allen offenen Fragen, die er Schritt für Schritt abarbeitete. Dass keinerlei Vorräte im Haus waren, hatte er bereits festgestellt. Chloe würde zumindest erst mal das Nötigste besorgen. Den richtigen Einkauf würde er später selber machen. Er wusste mittlerweile auch grob Bescheid, wo sich was im Haushalt befand. Geld war nicht dabei, nur eine leere Börse. Er vermutete, dass Chloe das Haushaltsgeld bereits aufgebraucht hatte und Küche und Kühlschrank deshalb leer waren. Es gab außerdem einen riesigen Berg Schmutzwäsche, einen Korb nicht zusammengelegter Wäsche, die immerhin schon gewaschen war, sowie jede Menge Mülleimer und Papierkörbe, die dringend mal geleert werden mussten.
Max sah auf die Uhr. Jacobsens Vortrag in der juristischen Fakultät musste längst beendet sein, dennoch kam der Mann nicht nach seiner Tochter sehen. Max’ Eltern hätten sich besorgt und liebevoll um ihn und seine Schwestern gekümmert, wenn es ihnen so schlecht gehen würde wie Juli, sie hätten Arbeit und auch alles andere sausen lassen, um ihren Kindern beizustehen. – Mal ganz abgesehen davon, dass sie es niemals so weit hätten kommen lassen. Max verstand Dr. Jacobsen nicht. Nun war ihm auch klar, warum dieser ihm einen Termin gegeben hatte. Das war also ernst gemeint.
Er schüttelte die trüben Gedanken ab, straffte sich und setzte ein Lächeln auf, bevor er zurück zu Juli ging und fragte, ob er noch mehr Suppe bringen sollte.
Zu seiner Freude nickte sie.
Als er mit einer diesmal heißen Tasse Hühnersuppe zurückkam, strahlte sie, als wäre er der Weihnachtsmann.
»Ich habe gleich einen Termin mit deinem Vater«, sagte er, während sie an der heißen Tasse nippte. »Unten in seiner Kanzlei«, fügte er hinzu. Sie sah nicht auf und er streichelte ihre Hand. »Keine Angst«, flüsterte er, »wir beide werden eine schöne Zeit haben, wenn du willst.« Sie verkrampfte sich etwas. Er fragte sich, ob es wegen ihres Vaters oder ihm war. »Ich bin bald zurück.«
Als er in den Flur ging, stand gegenüber die Tür von Chloes Zimmer auf. Eine hübsche Blondine stand mit verschränkten Armen davor und überwachte Chloe, die ihre Sachen einsammelte und in Koffern verstaute.
»Was ist denn hier los?«, fragte Max.
Sie reichte ihm sogleich freundlich lächelnd die Hand. »Ich bin Dr. Jacobsens Sekretärin. Tanja Müller. Sie sind Herr von Aaken?«
Max drückte ihre Hand. »Richtig.«
»Chloe hat es eilig, da die Agentur bald schließt und sie sich vorher um ihre Unterbringung kümmern muss.«
Max sah sich um. Chloes Zimmer hatte er bisher noch nicht untersucht. Was für ein Saustall, dachte er, als er sah, wie Chloe zwischen leeren Flaschen, Aschenbechern und Wäschehaufen herumsprang und ihre Koffer mehr stopfte als sie zu packen. Es war staubig, der Tisch voller Flecken und es roch wie in einer Hafenkneipe.
»Hier werden Sie einziehen. Aber keine Angst, die Putzfrau ist schon unterwegs.«
***
Max wurde bereits erwartet. Eine andere Sekretärin begrüßte ihn schon an der Tür und geleitete ihn direkt in Dr. Jacobsens Büro.
Mit einer Handbewegung wies dieser auf den Besucherstuhl vor seinem großen, ordentlichen Schreibtisch. »Nehmen Sie bitte Platz, Herr von Aaken.«
Max zog sich den Stuhl heran und setzte sich.
»Ich habe hier einige Vollmachten und einen Vertrag über unsere gegenseitigen Pflichten vorbereitet.«
Max zog die Augenbrauen zusammen und begann zu lesen. Der Vertrag war sieben Seiten lang. Nach der zweiten Seite schüttelte er den Kopf. »Da, wo ich herkomme, vertraut man noch auf einen ehrlichen Handschlag. Dafür brauche ich keinen Vertrag. Sie wissen, dass mein Jurastudium erst in einer Woche beginnt, ich bräuchte also einen Anwalt, um das Kleingedruckte zu verstehen.«
Ein Grinsen zog sich um Dr. Jacobsens Mund.
Max schob den Vertrag zurück und lehnte sich im Stuhl zurück. »Gegenvorschlag. Ich darf in Ihrer zugegeben wunderschönen Wohnung leben, dafür kümmere ich mich um Juli so, wie ich es bei meinen Eltern gelernt habe.«
Dr. Jacobsen lehnte sich zurück und brachte ein krächzendes Lachen hervor. Es hörte sich so an, als hätte er es ewig nicht getan. Dann gab er Max die vorbereiteten Vollmachten für Schulangelegenheiten, Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte sowie Julis Gesundheitskarte.
Nachdem Max sie gelesen hatte, sah er Dr. Jacobsen mit undurchdringlichem Blick an. »Damit schieben Sie sämtliche Verantwortung für Juli auf mich.«
»Ja. Ich glaube, Sie machen das besser, als ich es je könnte. Bei der bisherigen Personalwahl hatte ich wohl kein glückliches Händchen. Ich hoffe, diesmal liege ich richtig. Ich werde ein Konto einrichten für alle entstehenden Kosten des Haushalts, Julis Kleidung, Benzinkosten und Ihr Taschengeld. In der Tiefgarage steht ein VW-Golf, den Sie privat benutzen können und um Juli zur Schule und Reitstunde zu fahren. Ein Parkplatz in der Tiefgarage ist noch frei. Den können Sie für Ihren privaten Pkw benutzen.« Er legte einen Schlüsselbund und eine Bankkarte auf die Vollmachten. »Sind Sie mit einem Taschengeld von fünfhundert Euro einverstanden?«
»Ehrlich gesagt hatte ich heute Morgen nicht gedacht, dass heute Abend alle meine Probleme gelöst wären.« Er raffte die Papiere zusammen und reichte ihm die Hand. »Danke für Ihr Vertrauen.«
Dr. Jacobsen stand ebenfalls auf und gab ihm noch einen Umschlag. »Ich möchte für Juli ein Pony kaufen und habe einen Kaufvertrag aufgesetzt. Nehmen Sie ihn mit, wenn Sie das nächste Mal mit Juli zum Reitstall fahren. Die Summe habe ich offengelassen. Ich habe leider keine Ahnung vom Pferdemarkt.«
Max war mehr als verwundert. »Sie vertrauen mir damit den Kauf eines Pferdes an. Ein gutes deutsches Reitpony kann bis zu fünfundzwanzigtausend Euro kosten, je nach Alter, Ausbildung, Stammbaum und Größe. Ich werde es mir ansehen und einen fairen Preis aushandeln. Nennen Sie mir Ihr Limit?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie haben das Limit genannt. Im Übrigen vertraue ich Ihnen in dieser Sache mehr als mir.«
Als Max die Wohnungstür aufschloss und eintrat, kam Juli gerade aus ihrem Wohnzimmer. »Oh, du bist wieder da.« Ihre Haare waren noch ein wenig feucht und ihr blasses, mageres Gesicht verzog sich zu einem schüchternen Lächeln.
Er ging ihr entgegen und nahm sie kurz in die Arme. »Ich bleibe hier. Das habe ich dir vorhin doch versprochen.«
»Ich kann dir deine Zimmer zeigen. Hast du gar kein Gepäck?«
»Doch, eine Menge, aber es liegt alles noch in meinem Auto. Das erledigen wir nachher. Ich schlage vor, wir beide kochen uns jetzt erst mal etwas. Ich habe einen Bärenhunger.«
»Ich kann nicht kochen.« Sie seufzte leise.
»Du kannst mir zusehen und lernen.« Er hob sie auf einen der hohen Hocker, die am Küchentresen standen. »Meine Mama hat es mir und meinen Schwestern beigebracht. Meine jüngste Schwester heißt Amy. Sie ist genauso alt wie du, allerdings hat sie ein bisschen mehr auf den Rippen.«
Er sah nach, ob Chloe vor ihrem Rauswurf noch einkaufen war. Zu seiner Überraschung hatte sie alles besorgt, was er ihr aufgeschrieben hatte, und es sogar einigermaßen eingeräumt. Er wollte Nudeln mit Tomatensoße machen. Er legte alles auf die Anrichte und zeigte Juli erst mal, wie man Zwiebeln schälte und schnitt. Bald darauf brutzelte Hackfleisch in der Pfanne und er fügte unter zahlreichen Erklärungen erst Zwiebeln und Gewürze, später dann passierte Tomaten hinzu, während das Wasser im Topf anfing zu kochen.
Als er die Nudeln hineinschüttete, fiel ihm etwas ein: »Entschuldige, ich habe mich dir ja noch gar nicht vorgestellt!«, rief er verblüfft. »Ich heiße Maximilian von Aaken, aber ich werde nur Max genannt.«
»Das hat noch nie jemand mit mir gemacht.«
»Was meinst du? Es hat noch nie jemand mit dir gekocht? In Zukunft wird alles anders, das verspreche ich dir. Kannst du den Tisch decken? Was möchtest du trinken?«
»Ich trinke Wasser.« Juli ließ sich vom Barhocker gleiten und deckte den Esstisch, der direkt neben der offenen Küche stand.
Schmunzelnd sagte Max: »Ich befürchte, dass sowieso nichts anderes da ist.«
Während des Essens lernten sie sich ein wenig kennen. Juli hörte gebannt zu, als Max ihr von seinen Schwestern, Eltern und dem Ort erzählte, wo er aufgewachsen war. »Ich werde die nächsten Jahre Jura studieren«, beendete er seine Vorstellung schließlich.
Sie sah ihn mit großen Augen an. »Willst du so werden wie mein Vater?«
»Nein, ich habe nur zufällig den gleichen Beruf gewählt. Aber ich glaube, dass dein Vater und ich sehr verschieden sind.«
Sie nickte und kratzte die letzten Reste auf ihrem Teller zusammen.
»Hat es dir geschmeckt?«
Sie lächelte zufrieden und strich mit der Hand über ihren Bauch. »Es war sehr gut, aber ich bin es nicht gewohnt, so viel zu essen.«
»Du hast dich in den letzten Stunden erstaunlich gut erholt. Vielleicht rufst du Rena an, damit sie beruhigt ist. Sie hat sich große Sorgen um dich gemacht.«
Während Juli telefonierte, räumte Max das Geschirr in die Spülmaschine.
»Sie lässt dich grüßen«, meinte Juli.
»Danke. Ich parke mal mein Auto in der Tiefgarage und bringe mein Gepäck hoch.«
»Ich komme mit und zeige dir alles.«
Er lächelte zu ihr hinunter. Sie war so eifrig, süß und in sich ruhiger als die temperamentvolle Amy.
Sie begleitete ihn zu seinem Auto und fuhr dann mit ihm zusammen in die Tiefgarage, wo sie für ihn das Tor mit der Fernbedienung öffnete.
Er schulterte seinen Rucksack und schleppte zwei Koffer und eine Reisetasche den kurzen Weg zum Fahrstuhl, der direkt bis vor ihre Wohnungstür führte. »Was für ein Luxus«, murmelte er.
Als er sein Gepäck in das Zimmer brachte, in dem er vor wenigen Stunden noch Chloe hatte zusammenpacken sehen, konnte er nur stauen. Frau Müller hatte ja erwähnt, dass eine Putzfrau unterwegs sei, aber dass das Zimmer in der kurzen Zeit seiner Abwesenheit so auf Vordermann gebracht worden war, dass es wie neu aussah, hatte er natürlich nicht erwartet. Es roch sogar ganz frisch. Dr. Jacobsen hatte also durchaus gutes Personal, nur bei der Betreuung seiner Tochter hatte er offensichtlich geschlampt.
»Ich habe gesagt, es soll besonders gründlich gereinigt werden«, sagte Juli und wurde etwas rot.
Das Zimmer war nicht groß, aber mit einer bequemen Sofaecke, einem Flachbildfernseher an der Wand, einem Schreibtisch vor dem Fenster und einigen Regalen hübsch eingerichtet. Es fehlte nur ein Bett, vermutlich war das Sofa ausziehbar. Verwundert öffnete Max die Tür am anderen Ende des Zimmers und erkannte, dass er zusätzlich noch ein Schlafzimmer hatte. Was für eine Riesenwohnung! Das Boxspringbett mit grauem Stoffkopfteil war frisch bezogen. Und da war noch eine Tür! Über das kleine Bad mit direktem Zugang vom Schlafzimmer aus freute er sich besonders.
»Ich bin begeistert. Das ist ja hier fast wie ein ganzes Feriendorf«, lachte er. »Wir haben jeder unser eigenes Reich und zusätzlich noch ein großes Wohnzimmer mit der offenen Küche. Vielleicht können wir es so einrichten, dass wir gemeinsam am großen Esszimmertisch unsere Hausaufgaben machen.«
Juli nahm in an der Hand und zeigte ihm auch noch den Rest der Wohnung. Max kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, als ihm klar wurde, dass Julis Vater hier auch noch ein Schlafzimmer hatte. Sie erklärte ihm, dass er es nie benutze, nicht mal Weihnachten.
»Dein Vater ist ein merkwürdiger Mann. Wir werden sicher noch darüber sprechen. Aber heute nicht mehr, jetzt geht es erst mal ins Bett und morgen fahre ich dich dann zur Schule. Und nachmittags zum Reiten. Mein Studium fängt erst in einer Woche an, ich habe also Zeit.«
Sie strahlte ihn an. Sie hatte aquamarinfarbene Augen. Er konnte sich nicht erinnern, schon mal solche Augen gesehen zu haben.
»Ich werde mich jetzt erst mal einrichten. Das war ein harter Tag für dich. Vielleicht gehst du morgen besser nicht zur Schule, damit du dich erholen kannst.«
»Das geht nicht. Mein Vater will, dass ich immer zur Schule gehe, damit ich gute Noten bekomme.« Ihre Fröhlichkeit war schlagartig dahin.
»Dein Vater hat mir alle Vollmachten gegeben. Du bist geschwächt und ich werde dich morgen bei deiner Schule entschuldigen. Wie ist denn dein letztes Zeugnis ausgefallen? Ich glaube, du bist ein kluges Mädchen. Bestimmt hast du nur Einsen.«
»Ja.«
»Echt jetzt? Das hatte ich doch nur so dahingesagt. Wir warten ab, wie es dir morgen Früh geht. Wenn du unbedingt willst, dann bringe ich dich zur Schule, aber wenn du eine Einserschülerin bist, dann macht ein Fehltag sicher nichts aus.« Er zwinkerte ihr zu und brachte sie in ihr Zimmer, wo immer noch der Flanellschlafanzug lag, den er für sie rausgesucht hatte.
***
Als Juli am Morgen fertig angezogen in die Küche kam, stand Max mit noch feuchten Haaren am Herd. »Guten Morgen, Kleines.« Er lächelte sie an.
»Guten Morgen. Was machst du da?«
»Frühstück. Ich war schon joggen und habe Brötchen und für dich ein Croissant mitgebracht.«
Sie machte große Augen, als er den Tisch mit allem belud, was zu einem Frühstück gehörte. Er schreckte die gekochten Eier ab, füllte seinen Becher mit Kaffee und ihren mit dampfendem Kakao.
Begeistert nahm sie zwei Teller aus dem Schrank, holte noch zwei Messer und setzte sich ihm gegenüber. Sie nahm sich das Croissant und schaute nachdenklich auf ihren Teller.
»Was ist? Hast du keinen Hunger?«
»Doch«, sagte sie mit feuchten Augen. »Ich … ich kann mich nur nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so etwas hatte. In den letzten vier Jahren waren fünf Mädchen hier, aber sie schliefen morgens noch, wenn ich zur Schule musste.«
Einmal mehr erschütterte sie ihn. Wenn die Mädchen alle so wie Chloe waren, konnte er sich in etwa vorstellen, wie es hier abgelaufen war. Er nahm sich vor, von nun an bessere Erinnerungen für Juli zu schaffen.
»Nun iss! Dein Körper braucht Nahrung, denn auch beim Denken verbraucht das Gehirn Kalorien und außerdem musst du wieder fit werden. Du willst ja wieder reiten und vielleicht hast du Lust, morgens vor dem Frühstück zu joggen.«
»Beim Denken auch?«
»Was, der Kalorienverbrauch? Na klar, sogar ziemlich viel. Das Gehirn verbraucht im Durchschnitt etwa zwanzig Prozent der Gesamtenergiemenge.«
Als Juli in das mit Butter bestrichene Croissant biss, genussvoll die Augen schloss und leise stöhnte, lächelte Max und ihm wurde warm ums Herz. Sie war ein ganz besonderes Mädchen und hatte nur das Beste verdient. Die große Frage für ihn blieb, warum ihr Vater sie so distanziert behandelte. Sie war so niedlich, besonders mit dem Kakaobart. Sah er das nicht oder berührte ihn das einfach nicht? Er schwor sich, niemals so ein kalter Jurist zu werden.
Sie aß noch ein halbes Brötchen, ein Ei und trank den großen Becher Kakao aus. Dann sank sie zufrieden zurück und rieb sich über den Bauch. »So viel habe ich sicher noch nie gegessen. Danke Max. Es hat wundervoll geschmeckt.«
Er nickte lächelnd und stand auf, um die Spülmaschine einzuräumen. Juli lief in ihr Zimmer, um ihre Schultasche zu holen.
Als sie zurückkam, reichte Max ihr eine Tupperschale. »Passt die noch in deine Tasche? Ich habe dir ein bisschen Obst und ein Pausenbrot eingepackt. Wir müssen jetzt los. Du scheinst ja wieder fit genug zu sein, um in die Schule zu gehen.«
Sie legte ihre dünnen Arme um ihn. »Danke, Max. Das hat noch nie einer für mich getan.«
Was sollte er nur mit ihr machen? Sie überwältigte ihn mit ihrer Dankbarkeit. Das wollte er nicht. Für sie sollte es selbstverständlich werden, dass sie gut versorgt wurde und nicht allein war.
Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage und stiegen in das knallrote Golf-Cabrio, das Juli ihm zeigte.
»Wenn ich dich nachher abhole und es warm ist, fahren wir mit offenem Verdeck«, sagte er und schnallte sich an.
Juli sah, wie er sich über das Auto freute, und lächelte. Auch sie schnallte sich an.
Mithilfe des eingebauten Navis hatte er den Weg zur Schule gefunden und sie vor dem Eingang rausgelassen. Er sah ihr nach, bis sie im Gebäude verschwand. Er hielt sich nicht für einen Modeexperten, aber gegen die anderen Mädchen sah Juli fast ärmlich aus. Er nahm sich vor, mit Juli über das Kleidungsthema zu reden. Sie hatte auf der Fahrt auch kein Wort über ihre Schulkameraden verloren. Seine Schwester Amy hingegen schwatzte unentwegt über ihre Freundinnen oder empörte sich über das, was die zu ihr gesagt hatten. Hatte Juli womöglich gar keine Freundinnen? Das würde ins Bild passen.
Er musste Juli erst am Nachmittag abholen, sodass er jetzt genug Zeit hatte, an der Uni alle Formalitäten zu erledigen und erforderliche Fachliteratur zu besorgen. Danach wollte er noch einkaufen, denn Chloe hatte er ja nur das Nötigste besorgen lassen.
***
Pünktlich stand er nach der letzten Stunde mit dem offenen Cabriolet vor der Schule. Juli kam auf ihn zugestürmt und stieg ein. Einige Mädchen, die mit ihr herausgekommen waren, blieben stehen und starrten hinter ihr her.
»Hey, Kleines. Bist du bereit, mit mir zum Reitstall zu fahren?«
»Aber meine Reitsachen …«
»Liegen im Kofferraum. Gib Renas Adresse einfach ins Navi ein.«
Das erledigte sie prompt.
Als sie ihr Ziel erreicht hatten, reichte Max ihr Reithose und Stiefel. Juli lief vergnügt durch den Stall ins Reiterstübchen, neben dem sich auch die Toiletten befanden.
Während sie sich umzog, stürmte Trice herein. »Oh mein Gott. Geht es dir wieder gut? Papa war gestern ganz aufgeregt und hat Rena gleich nach dir gefragt.«
»Mir geht es gut. Ich habe dir viel zu erzählen. Komm, wir holen die Ponys.«
Sie umarmten sich und liefen dann mit Halftern und Stricken zur Weide.
Max traf Rena auf dem Hof. Sie begrüßten sich kurz und sie stellte ihm Herrn Windmöller, Trices Vater vor, der dann den Mädchen folgte.
»Dr. Jacobsen und du habt gestern etwas ausgehandelt? Ich soll dir das geben.« Er reichte ihr den offenen Umschlag mit dem Vertrag.
»Was ist das?«
»Ein Kaufvertrag über ein Pony für Juli.«
»Du weißt Bescheid?«
Max nickte.
»Komm mit ins Büro.«
Er folgte ihr.
Sie zog den Vertrag heraus und sah auf die Lücke, die eigentlich den Kaufpreis enthalten müsste. »Was soll das?«
»Er hat keine Ahnung von Pferden. Aber er hat den Vertrag bereits unterschrieben.«
»Dann kann ich eine Million reinschreiben?«
»Ich bin sozusagen sein Stellvertreter und ein Junge vom Land. Da versteht man ein bisschen was von Pferden.«
»Soso.« Sie grinste. »Du bleibst jetzt also bei Juli? Dann hat Dr. Jacobsen ja mal wieder einen Dummen gefunden, auf den er alle Verantwortung abschieben kann.«
»Nenn es, wie du willst, aber ich bin keines dieser Mädchen, die er bisher angeheuert hat. Juli hat mir erzählt, was sie durchmachen musste. Die Kleine ist äußerst liebenswert. Ich habe drei jüngere Schwestern, die Jüngste ist so alt wie Juli. Ich werde gut auf sie aufpassen.«
»Gut, gut«, sagte Rena nur. So ganz traute sie der Sache noch nicht. »Juli liebt Blueboy über alles. Blueboy ist ein deutsches Reitpony, sieben Jahre alt, geschult in Dressur. Aber er kann auch springen und ist ein verlässliches Geländepferd mit einem erstklassigen Charakter. Außerdem hat er mit eins vierzig eine gute Größe und Juli wird ihn lange reiten können. Er hat Papiere. Ich habe ihn als Zweijährigen direkt in einem Gestüt gekauft, das einen guten Ruf in der Reitponyzucht hat. Alles in allem ein sehr wertvolles Pony. Juli wird ihn gleich im Unterricht reiten. Du kannst ihn dir ansehen und dann reden wir über den Preis.«
Max nickte. »Das ist fair.«
Er ging mit Rena zum Reitplatz, wo er sich zu Herrn Windmöller gesellte. Die Mädchen hatten ihre Ponys bereits warmgeritten, sodass Rena mit dem Unterricht begann.
Juli und ihr Pony gaben ein elegantes und harmonisches Bild ab. Blueboys dunkelbraunes Fell, seine schwarze Mähne und Schweif glänzten in der Sonne. Neben seinem perfekten Exterieur hatte er einen hübschen Kopf mit einem weißen Stern auf der Stirn und ging aufmerksam an den Hilfen.
Als Rena die Stunde beendet hatte, begleitete Max sie in ihr Büro und nahm gegenüber ihrem Schreibtisch Platz. Er war begeistert von dem Pony und sie einigten sich schnell auf 15.000 Euro. Als Bonus würde Rena Juli den Sattel überlassen.
Gemeinsam gingen sie in den Stall und Rena verkündete, dass Blueboy ab heute Juli gehörte.
Juli konnte es zuerst nicht glauben, aber dann brach sie in Jubel aus und umarmte nacheinander Rena, Blueboy, Trice, Herrn Windmöller und Max.
Sie strahlte auf dem Weg nach Hause und wusste gar nicht wohin mit all ihren Glücksgefühlen. Sie plapperte die ganze Zeit glücklich vor sich hin. Jetzt endlich wirkte sie wie ein fröhliches junges Mädchen, schon fast wie Amy.
»Ich muss deinem Vater den Vertrag übergeben und bei der Gelegenheit kannst du dich gleich bei ihm bedanken«, sagte Max und steuerte mit ihr auf die Kanzlei zu, statt auf den Aufzug zum Penthouse.
Sie nahm seine Hand. Er ging mit ihr an der Sekretärin vorbei zu Dr. Jacobsens Büro und klopfte an.
Als er ein dumpfes »Herein« hörte, trat er ein. »Guten Tag, Herr Dr. Jacobsen. Ich bringe Ihnen den Kaufvertrag und die Papiere für das Pony. Ich denke, der Preis ist angemessen.«
Dr. Jacobsen nickte.
Nachdem Max Juli auffordernd angesehen hatte, sagte sie: »Vielen Dank, Vater.«
»Wenn sich deine Leistungen durch deine Reiterei verschlechtern, kommt das Pony wieder weg«, sagte er ernst.
Julis Strahlen verschwand. Ihr Gesicht wurde ausdruckslos und Max spürte, wie ihr Körper erstarrte. Er konnte nicht fassen, was er eben gehört hatte. Nun konnte er sich vorstellen, wie es zwischen Juli und ihrem Vater ablief.
Die Augen seines Gegenübers waren leer, geradezu stumpf. Wie konnte ein Vater sich so verhalten? Dann traf ihn selbst der kalte Blick.
»Und Sie halten sich an die Vereinbarung und kümmern sich, dass ihre Schulnoten auf Höchstniveau bleiben.«
Max erschauerte unter dem schneidenden Ton. Der Mann war schlagartig ganz anders als gestern, als er sich um Max bemühte. Nun behandelte er ihn wie einen seiner Angestellten, eher Lakaien. »Ich halte mich grundsätzlich an Vereinbarungen. Dazu gehören nicht nur gute Schulnoten, sondern auch, dass es Juli gut geht. Und Sie wissen genau warum.« Max bemühte sich, ebenso hart zu klingen wie sein Gegenüber. Auch wenn er viele Vorteile von dem Deal hatte, würde er sich nichts von dem Eisklotz gefallen lassen. Er nahm Julis kleine Hand, beugte sich zu ihr hinunter und sagte leise: »Komm, Kleines.«
Sie machte dann am großen Esszimmertisch ihre Hausaufgaben, während er mit seinem Laptop einen gemeinsamen Zeitplan erstellte, den er mit einem Magneten an die Kühlschranktür heftete.
»Ich habe dir meine Handynummer aufgeschrieben, falls du meine Hilfe brauchst. Du musst mir noch deine geben.« Er sah sie auffordernd an.
»Ich habe kein Handy.«
Er guckte so belämmert, dass sie kichern musste.
»Bisher musste ich selbst immer sehen, wie ich nach Hause oder zum Reitstall kam. Rena hat mir beim Kauf einer HVV-Jahreskarte geholfen. Ich bin mit der S-Bahn gefahren und hatte Anschluss an eine Buslinie, die direkt beim Reitstall eine Haltestelle hat.«
Max konnte nur den Kopf schütteln. »Morgen kaufe ich dir ein Handy und du rufst mich an, wenn du Hilfe brauchst.«
Juli sah ihn sehnsüchtig an. Das war alles zu schön, um wahr zu sein. Wie ein Traum. Aber aus Erfahrung wusste sie, dass Träume nicht ewig währten.
***
Die Tage und Wochen vergingen und Juli gewöhnte sich an die von Max vorgegebene Routine in ihrem neuen Leben; so nannte sie es insgeheim für sich. Eine Woche nach ihrem Zusammenbruch hatte sie sich schon so gut erholt, dass sie regelmäßig mit ihm joggen ging, wobei er sich natürlich erst mal ihrem Tempo anpasste. Im Grunde war sie ja sportlich, denn jeden Tag zu reiten, stärkte die Muskeln, wenn auch andere. Auf dem Rückweg kauften sie dann Brötchen, machten gemeinsam Frühstück und aßen zusammen. Dabei sprachen sie über ihre Tagespläne oder ihre Erlebnisse. Nachmittags fuhr er sie zum Reiten und wenn es mal nicht passte, fuhr sie wie früher mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Sie saßen zusammen am großen Esstisch, wenn Juli ihre Hausaufgaben machte und Max am Laptop für sein Jurastudium arbeitete. Abends wurde gemeinsam gekocht und gegessen.
Zwei Wochen vor Weihnachten schleppte Max einen Weihnachtsbaum an. Juli half ihm begeistert, den Baum aufzustellen und ihn mit wunderschön bemalten Glaskugeln und einer Lichterkette zu schmücken, die er ebenfalls besorgt hatte. Es war schon früh dunkel und als Max die Lichter einschaltete, ließ sie sich davor auf den Teppich sinken und bewunderte den strahlenden Baum. Dabei erfuhr er, dass sie noch nie einen eigenen Weihnachtsbaum gehabt hatte. Er konnte verstehen, wie sehr sie den Baum bewunderte.
Max rief Dr. Jacobsen an und teilte ihm mit, dass er über Weihnachten seine Familie in Ostfriesland besuchen würde. Jacobsen versicherte Max daraufhin, dass er sich die paar Tage selbst um seine Tochter kümmern würde. Vorsichtshalber informierte Max auch Rena, die ihn nur skeptisch ansah. Er brachte es dann Juli so schonend wie möglich bei.
Je näher die Feiertage rückten, desto stiller wurde Juli. Sie zog sich vollkommen zurück.
Einerseits freute Max sich darauf, seine Eltern und seine Schwestern zu sehen, andererseits hatte er ein schlechtes Gewissen wegen Juli. Er war hin- und hergerissen.
Dr. Jacobsen hatte Juli versprochen, Heiligabend um sechs pünktlich zum Essen bei ihr zu sein. Sie hatte mit Max Kartoffelsalat vorbereitet und musste dann nur noch die Würstchen heißmachen. Zuversichtlich hatte sie sich von Max verabschiedet. Als ihr Vater um sieben immer noch nicht da war, aß Juli ohne Appetit etwas und verstaute den Kartoffelsalat und die Würstchen im Kühlschrank.
Dr. Jacobsen kam mit drei Stunden Verspätung und blieb genau eine halbe Stunde.
Max rief am nächsten Morgen an und fragte, wie es gelaufen sei. Sie erzählte es ihm mit rauer Kehle.
»Weinst du?«, fragte er sanft.
»Nein. Ich glaube, ich habe mich erkältet.«
»Ich komm zurück.«
»Nein. Ich fahre gleich zu Rena. Sie hat mich zum Essen eingeladen.« Sie musste tief enttäuscht sein, da sie sich so viel Mühe gegeben hatte.
»Na, gut«, seufzte er. »Dann dir und Rena noch schöne Weihnachtstage.«
Am zweiten Weihnachtstag kam Max zurück. Als er den Schlüssel umdrehte, die Tür öffnete und eintrat, kam Juli ihm zögernd entgegen.
»Es tut mir leid, dass ich mein Versprechen gebrochen habe. Es wird nicht wieder vorkommen.« Er ließ seine Reisetasche fallen und öffnete seine Arme, woraufhin sie vorsichtig ihre Arme um seine Taille schlang. Er nahm es als Zeichen, dass sie ihm abermals Vertrauen schenkte.
Er hatte Juli nicht so ganz geglaubt, dass ihr Vater sich ihr gegenüber so schäbig verhalten würde. Ihm gegenüber war er meistens großzügig und höflich. Mit Großzügigkeit schien er dabei überhaupt kein Problem zu haben. Er rief Dr. Jacobsen an, um ihm seine vorzeitige Rückkehr mitzuteilen. Bei der Gelegenheit informierte er ihn, dass Julis Kleidung nicht mehr passte. Seine Bereitwilligkeit, sogleich einen höheren Betrag für die Einkäufe auf Julis Konto zu überweisen, war für Max ein Zeichen für sein schlechtes Gewissen. Es war ein rätselhaftes Verhältnis zwischen Juli und ihrem Vater.
»Juli, wir müssen neue Klamotten für dich kaufen. Amy hat mich heruntergeputzt, dass ich dich so herumlaufen lassen, nachdem ich ihr einige Fotos von dir gezeigt habe.«
»Oh.« Juli wurde vor Verlegenheit ganz rot. Anscheinend hatte Amy einen wunden Punkt getroffen.
Mit einer großen Rolle stabiler Plastiksäcke bewaffnet misteten sie gemeinsam ihren Kleiderschrank aus. Max vermutete, dass die meisten Stücke mindestens seit fünf Jahren dort lagerten.
»Amy und Elke fanden dich aber ganz süß«, erzählte Max ihr währenddessen. »Und Amy hat darauf bestanden, dass ich ihr ein Foto von jedem Outfit bei der Anprobe schicken muss. Wir dürfen nur kaufen, wenn sie ihr Okay gibt.«
»Wirklich?« Julis Wangen wurden vor Aufregung rosa. Ob Amy ihre Freundin werden würde?
Endlich war es geschafft. Sie schleppten fünf große Säcke in den Fahrstuhl und von da aus in den alten Ford, in dem mehr Platz war als im Cabriolet.
Nachdem Sie die alten Klamotten in einem Altkleidercontainer entsorgt hatten, fuhren sie in die Innenstadt.
Erwartungsvoll ging sie neben Max durch eine große Einkaufspassage, in der es größere und kleinere Modegeschäfte gab. Als sie eine Boutique speziell für Teenager-Mode betraten, eilte sogleich eine junge Verkäuferin auf sie zu. Max erklärte ihr, dass er Juli komplett neu einkleiden musste.
Sie musterte Juli daraufhin ausführlich und nickte. »Das bekommen wir hin.« Sie bot Max einen kleinen Sessel an und zog Juli mit sich.
Max lehnte sich bequem zurück und streckte seine langen Beine aus, das Handy für die Fotosession in der Hand. Lächelnd genoss er Julis Modenschau und ihre Begeisterung, die von der Verkäuferin noch befeuert wurde. Juli hatte ganz offensichtlich wirklich nicht gewusst, wie viel Spaß Shopping machte. Von jedem Outfit machte er ein Foto und schickte es seiner Schwester.
Schließlich hatten sie etliche Jeans, Pullover, Sweatshirts, Hoodies, eine warme Winterjacke mit Strickschal, Pudelmütze und Handschuhen, Laufkleidung, Unterwäsche, Socken und Pyjamas gefunden. Juli stellte sich neben Max und er zeigte ihr Amys Kommentar zu den Fotos, die vonsuper bis auf keinen Fall reichten. Ganz am Ende stand: Du wirst toll darin aussehen. Dann folgten noch ein paar lachende Smileys, unzählige Küsschen und Herz-Emojis. Juli hopste vor Freude auf der Stelle.
Die Verkäuferin half ihnen, alles zur Kasse zu bringen.
Mit riesigen Papiertüten gingen sie erst mal in ein Café auf der Empore der Mall. Juli bekam einen großen Eisbecher und Max hielt sich an Kaffee.
»Wir bringen das erst mal ins Auto. Dann müssen wir noch mal los und Schuhe und Winterstiefel für dich kaufen. Schaffst du das heute noch?«
Juli hatte den Mund voll Eis, nickte aber eifrig und himmelte ihn an: ihren Max, den Ersten, der bei ihr bleiben wollte.
Es wurde Sommer. Juli und Max waren mit ihrem Leben zufrieden. Für ihn hätte es nicht besser laufen können, denn er konnte sich voll auf sein Studium konzentrieren. Für die üblichen studentischen Ablenkungen hatte er dank Juli gar keine Zeit, wollte er aber auch gar nicht. Es war gut so, wie es war. Und für Juli hatte das Leben nun endlich begonnen. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, dass es noch besser kommen könnte.
Das Fiasko von Weihnachten wollte Max allerdings nicht noch einmal erleben. Er würde Juli daher in den Sommerferien einfach mit nach Ostfriesland nehmen. Dr. Jacobson war seine Erleichterung, dass er sich nicht um seine Tochter kümmern musste, durchs Telefon anzuhören. Er schlug sogar vor, dass Rena ihr Pony zu seinen Eltern transportieren sollte. Er würde den Hin- und Rücktransport bezahlen. Rena war einverstanden, da der Reitbetrieb während der Sommerferien sowieso eingeschränkt war, und fragte, ob sie ein weiteres Pony als Gesellschaft für Blueboy mitnehmen sollte. Max konnte sich vorstellen, dass Amy Juli sowieso beschwatzen würde, ihr das Reiten beizubringen und war einverstanden.
»Ich weiß nicht, ob ich mit Rena oder dir fahren soll«, jammerte Juli.
»Fahr ruhig mit Rena.«
»Aber was ist, wenn ich ankomme, und du bist noch nicht da?«
Daher also wehte der Wind.
»Was soll ich zu deinem Vater und zu deiner Mutter sagen?«
»Komm schon!« grinste Max. »Ich werde vor euch herfahren. Außerdem beißen meine Eltern nicht und vielleicht ist mein Vater noch nicht mal zurück. Er war in Peru und es kommt immer darauf an, wo er sich zuletzt aufgehalten hat. Manchmal muss er tagelang mit einem klapprigen alten Bus durch unwegsames, bergiges Gelände fahren. Einmal war ein Reifen geplatzt, da mussten wir eine Woche länger auf ihn warten.«
»Und wo ist er jetzt?«
»Irgendwo über den Wolken.« Max lachte. »Jetzt aber hopp. Rein mit dir.« Er nickte Rena zu und schwang sich in seinen alten Ford.
Als Max gefolgt vom Pferdetransporter auf den Hof fuhr, stürmte Amy schon aus der Tür, sprang Max kurz an den Hals, sauste dann sofort weiter zum Transporter und riss die Beifahrertür auf. »Hallo Juli, ich bin Amy. Ich habe mich so auf dich gefreut. Zeig mir dein Pony, ich muss es unbedingt sehen. Darf ich auch mal reiten?« Dabei zog sie Juli an der Hand aus dem Auto.
Noch bevor Juli überhaupt Luft holen konnte, liebte sie Amy schon. Amy war so süß und temperamentvoll, man musste sie einfach gernhaben.
Max begrüßte seine Mutter Regine. Ihr Anblick erinnerte Juli an Max’ Kommentar zu den Wikingern, über die sie vor einiger Zeit ein Referat vorbereiten musste: Die Wikingerfrauen herrschten über das kleine Königreich und versorgten Haus und Hof, wenn ihre Männer auf ihren Eroberungsfahrten und Raubzügen waren … Das passte, denn der Name Regine kam aus dem Lateinischen und bedeutete die Königin. In der Tat stieg sie in diesem Augenblick in Julis Fantasie zur Herrscherin eines Wikinger-Königreichs auf, umgeben von einer großen Familie, Gesinde, Vasallen und Kriegern. Sie war groß und schlank, hatte ihre blonden Haare zu einem Kranz geflochten und sah würdevoll und streng aus, gleichzeitig strahlte sie aber auch Güte und Liebe aus.
Elke, Max’s jüngste Schwester, war ihrer Mutter gefolgt und blieb abwartend stehen, als Juli zögerlich auf sie zukam. Juli spürte tröstlich Max Arm auf ihren Schultern, als er sie vorstellte.
»Hey, sie liebt dich«, flüsterte er in ihr Ohr und zwinkerte ihr zu.
Juli atmete tief durch und wurde gleich darauf von Regine in den Arm genommen. »Herzlich willkommen in unserer Familie. Wir werden einen herrlichen Sommer zusammen erleben.« Sie schob Juli eine Armlänge von sich und sagte: »Ist sie nicht hübsch, Elke?«
Elke nickte lächelnd und drückte Juli die Hand.
»Du bist aber auch schön.«
Schüchtern lächelte sie zurück.
»So, ich werde mich um das Essen kümmern. Amy und du bringt die Ponys unter. Antje und ihr Freund Edgar sind schon auf dem Weg. Er hat versprochen, Futter für dein Pony zu bringen.« Sie lud Rena ein, zum Essen zu bleiben, aber Rena lehnte dankend ab. Zu Hause wartete Arbeit auf sie.
Rena öffnete die Klappe des Pferdetransporters und Juli führte erst Blueboy und dann Barry heraus.
Amy starrte mit offenem Mund auf die beiden Ponys. »Zwei?« stieß sie atemlos hervor.
Max brachte mit einem breiten Grinsen die Ausrüstung in den Stall. Hatte er es doch gewusst. Er konnte es nicht lassen, Amy ein bisschen aufzuziehen. »Du alter Quälgeist hättest ja doch keine Ruhe gegeben. Jetzt könnt ihr zusammen die Gegend unsicher machen.«
»Aber ich kann nicht reiten. Juli, du musst es mir beibringen. Heute noch!« Amy starrte Juli eindringlich an.
Juli kicherte und versprach, es ihr beizubringen. Barrys Führstrick drückte sie ihr schon mal in die Hand. »Wo sollen sie jetzt hin?«
»Bringt sie erst mal auf die kleine Weide hinter dem Stall.« Max ging voraus und öffnete das Tor, Rena folgte ihnen.
Als sie die Stricke gelöst hatten, liefen beide Ponys mit dem Kopf nach unten, um eine geeignete Stelle zum Wälzen zu finden. Blueboy ging als Erster auf die Knie und Barry folgte. Sie ließen sich auf den Boden plumpsen und wälzten sich ausgiebig von einer Seite auf die andere. Dann sprangen sie auf, galoppierten los, vor Übermut gleichzeitig buckelnd und ausschlagend, bis sie stehen blieben und tief den Atem hinausprusteten.
»Fein, dann lassen wir die beiden mal in Ruhe und gehen essen. Kommt schon. Vorher könnt ihr aber noch zum Nachbarn rüber«, meinte Regine. Sie kochte immer ein bisschen mehr, sodass es auch für den alten Herrn Keller reichte, der allein nebenan wohnte. Sie schickte Amy und Juli mit einem Thermobehälter zu ihm.
Der alte Mann freute sich. »Amy, bestell deiner Mutter meinen herzlichen Dank und richte ihr aus, dass ihr mir in den nächsten Wochen nichts bringen müsst. Ich bekomme nämlich Besuch von meinem Sohn und meinen beiden Enkelkindern Shane und Lizzy. Vielleicht könntet ihr mal etwas mit ihnen unternehmen?«
»Geht klar«, sagte Amy und winkte. »Bis dann.«
Am großen Esstisch saßen Elke, Juli und Max auf der einen Seite und ihnen gegenüber Amy, Antje und ihr Freund Edgar. An einem Kopfende hatte Regine Platz genommen, während am anderen Kopfende zwar gedeckt, der Platz aber leer war.
»Greift zu und lasst es euch schmecken.«
Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Ein Herumgereiche von Schüsseln mit Gemüse, Kartoffeln und Platten mit Fleisch begann.
»Vater wird bald hier sein«, verkündete Regine nach einem Blick auf ihre Armbanduhr.
Juli erstarrte, ihre Augen weiteten sich und ihr Messer fiel klirrend auf den Teller. Max sah sie unauffällig von der Seite an. Nur Zufall oder war es allein das Wort Vater, das sie hatte erstarren lassen? Er atmete einmal tief durch.
Als die Haustür klappte, sprang Amy so heftig auf, dass ihr Stuhl umkippte. Sie rannte in den Flur und alle sahen durch die offene Tür, dass Ruud von Aaken seine Koffer und Taschen fallen ließ, um seine Tochter aufzufangen, die ihm an den Hals sprang und begeistert »Papa! Papa!«, jubelte. Ihr Papa war ihr großes Vorbild und sie wollte auch mal Reisejournalistin werden, das stand für sie fest. Sie hatte ihn ja so vermisst. Diesmal war er drei Monate fortgewesen.
»Schätzchen, nun muss ich aber auch endlich meine Frau begrüßen.«