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Was ist die nächste Aufgabe? Die junge Sunny entdeckt, in einem alten Buch ein rätselhaftes Ritual, das den Lauf ihres Lebens in nur wenigen Tagen verändern soll. Plötzlich eilt sie von Aufgabe zu Aufgabe, immer mit dem Ziel, das Ritual zu vollenden, das sie immer tiefer in seinen Bann zieht. Doch je weiter sie voranschreitet, desto seltsamer werden ihre Herausforderungen. Als ihr auf dem Weg finstere Gestalten begegnen, kommt sie ins Grübeln. Was hat es mit dem Ritual auf sich? Wohin führt dieser Pfad? Und was ist das für ein Volk, das diese Zeremonie vor tausenden von Jahren erschaffen hat?
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Seitenzahl: 359
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Prolog
Toni
Samuel
Toni
Sunny
Samuel
Toni
Sunny
Toni
Sunny
Toni
Sunny
Samuel
Toni
Sunny
Samuel
Sunny
Toni
Keno
Sunny
Samuel
Toni
Samuel
Toni
Keno
Toni
Sunny
Toni
Sunny
Toni
Samuel
Keno
Sunny
Toni
Sunny
Toni
Keno
Toni
Epilog
Es begann bereits leicht zu dämmern, als der Mann auf seinem Heimweg an der Lichtung vorbeikam. Es fielen einzelne Schneeflocken und es war riskant, um diese Uhrzeit noch alleine in den Wäldern der Berge unterwegs zu sein. Die Tannen, die ihn umgaben, reichten viele Meter in die Höhe und ihre Äste ächzten unter dem Gewicht des Schnees, mit dem sie bedeckt waren. Obwohl er sich beeilen wollte, um seine Hütte noch vor dem Einbruch der Dunkelheit zu erreichen, blieb er plötzlich stehen. Da war etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte. Mitten auf der Lichtung stand regungslos eine Gestalt.
Der Mann betrachtete das Wesen. Es sah ein bisschen aus wie ein Bär, der sich auf seine Hinterbeine gestellt hatte, aber so ein Tier hatte er noch nie zuvor gesehen. Es stand einfach nur dort und schien nicht einmal zu atmen. ›Ist das etwa eine Statue?‹ Dann fielen dem Mann die Fußspuren auf. Sie waren überall auf dieser Lichtung, es bestand kein Zweifel, dass sie von diesem Wesen stammten. Plötzlich drehte das Wesen seinen Kopf genau in die Richtung des Mannes und ihre Augen trafen sich. Es lief ihm eiskalt über den Rücken. Solche Augen hatte er in seinem ganzen Leben noch nie gesehen. Sie waren grell violett und von einer Intensität, als würde man direkt in die Glut eines Feuers blicken. Genau in dem Moment, als der Mann seinen Blick abwendete, setzte sich die Gestalt in Bewegung. Sie ging einen Schritt nach vorne, machte mit dem Arm eine kreisende Bewegung und warf einen funkelnden Gegenstand vor sich in den Schnee. Daraufhin drehte sie sich um und bewegte sich langsam aus der Lichtung in Richtung der Bäume, die sich an deren Rückseite befanden.
Der Mann stand noch für einen Moment wie angewurzelt an seinem Platz. Er war so verwundert über das, was soeben geschehen war, dass er die Geräusche des Waldes und auch den aufkommenden Wind nicht bemerkte. Nachdem das Wesen im Wald verschwunden war, ging der Mann mit vorsichtigen Schritten in Richtung der Stelle, an der dieses noch vor wenigen Momenten gestanden hatte. Schon als er näherkam, sah er den funkelnden Gegenstand im Schnee liegen. Erst konnte er nicht genau erkennen, um was es sich handelte, aber mit jedem Schritt wurde es deutlicher. Es schien eine Art goldener Ring zu sein. Allerdings war er für einen Fingerring zu groß und hatte eher die Maße eines Armreifs. Der Armreif war nicht komplett geschlossen, sondern hatte zwei sich überlappende Enden. Auf der gegenüberliegenden Seite dieser Öffnung befand sich ein funkelnder Saphir, der in das Material eingelassen war. Vorsichtig bückte sich der Mann und hob den Gegenstand auf. Genau in diesem Moment schossen ihm die Erinnerungen in den Kopf. Er kannte diesen Armreif. Das Schmuckstück hatte Monika gehört. Sie hatte diesen Armreif geliebt und ihn zu allen feierlichen Anlässen getragen. Der Mann zitterte und trotz der eisigen Temperaturen bildete sich Schweiß auf seinem Rücken. Wie war das möglich? Wie kommt diese Gestalt an den Armreif seiner verschollenen Frau? Er konnte sich das nicht erklären. Der Gedanke machte ihm Angst. Er stand dort für vielleicht 20 Sekunden, doch diese Zeitspanne kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Seit einem Jahr hatte es kein Lebenszeichen mehr von seiner Frau gegeben und jetzt tauchte plötzlich ihr Armreif wieder auf. Ihm wurde klar, dass er dem Wesen folgen musste. So eine Chance, etwas über den Verbleib von Monika zu erfahren, gab es vielleicht nie wieder. Er musste diese Möglichkeit einfach ergreifen.
Der Mann rannte in die Richtung, in die das Wesen verschwunden war. Sein Herz klopfte und seine Lungen fingen in der kalten Luft an zu brennen. Nach wenigen Minuten erreichte er den Rand der Lichtung. Er blickte durch die Bäume in den Wald hinein, sah aber nur Finsternis. Keine Anzeichen des Wesens. Er suchte die Umgebung mit seinen Augen ab, aber der Wald schien sich zu einer einzigen schwarzen Wand zu verbinden. Er wollte schon resignieren, als er in der Tiefe des Waldes zwei violette Punkte aufblitzen sah. Vor Schreck stockte ihm der Atem. Doch ihm war klar, wenn er etwas über Monika herausfinden wollte, dann musste er jetzt weitergehen. Vorsichtig machte er sich auf den Weg durch den dunklen Wald.
Der Mann ging genau in die Richtung, in der er kurz zuvor die Augen gesehen hatte. Doch schon nach wenigen Schritten wusste er nicht mehr sicher, in welche Richtung er gehen sollte. Alles sah für ihn gleich aus und er zweifelte an seiner Orientierung. Er warf einen kurzen Blick nach hinten. Der Ausgang des Waldes und die Lichtung, auf der er noch vor wenigen Minuten gestanden hatte, war noch deutlich zu erkennen. Doch vor ihm lag nur die Finsternis des Waldes. Dann waren sie wieder da. Für einen kurzen Moment leuchteten in der Ferne des Waldes erneut die violetten Punkte auf. Der Mann bewegte sich weiter in diese Richtung. Immer, wenn er das Gefühl hatte, nicht mehr weiter zu wissen, erschienen die Augen und führten ihn immer tiefer und tiefer in den Wald. Um ihn herum war es stockfinster und der Ausgang des Waldes war schon seit einiger Zeit nicht mehr zu sehen. Seine Nerven waren gespannt. Jedes Mal, wenn es in seiner Nähe knackte oder raschelte, zuckte er zusammen. Nach einiger Zeit merkte er, wie sich um ihn herum ein grüner Schimmer bildete. Es war, als würde eine grüne Sonne aufgehen, die nur langsam an Stärke gewann und den Wald in ein merkwürdiges Licht tauchte. In diesem Teil des Waldes war er noch nie gewesen. Die Bäume schienen hier viel größer und ihre Rinde viel glatter zu sein, so als wären diese Bäume ganz gleichmäßig gewachsen. Sein Unbehagen stieg mit jedem Schritt, den er sich weiter voran wagte. Plötzlich sah er wieder die violetten Punkte vor sich. Aber nicht nur die. Durch den mittlerweile hellen, grünen Schimmer war auch die Silhouette der Gestalt erkennbar. Aber anders als die Male zuvor, bewegte sich die Gestalt nun auf ihn zu. Es stieg Panik in ihm auf und er hatte den Reflex wegzulaufen. Jedoch waren seine Beine wie taub. Die Gestalt kam immer schneller auf ihn zu und er vernahm deutlich die knackenden und stampfenden Geräusche des sich nähernden Wesens. Der Mann stieß einen Schrei des Entsetzens aus und noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte ihn die Gestalt erreicht. Das Wesen hob seinen Arm und plötzlich war da nur noch Finsternis…
Minuziös kämmte sich Toni Valhalla das Haar zur Seite. Er sah heute wieder fantastisch aus. Nur noch ein paar Handgriffe, dann war er bereit loszugehen. Er legte den Kamm auf eine kleine Ablage, die neben dem Waschbecken stand. Zwischen den Borsten hingen noch einzelne Haare. Sie waren schwarz und wellig und kräuselten sich. Toni betrachtete sich nochmal im Spiegel. Seit er vor 5 Jahren seinen Schulabschluss gemacht hatte, hatte er sich kaum verändert. Große Augen, spitze Nase und ein glattes Gesicht. Toni hatte ein paar Mal versucht, sich einen Bart wachsen zu lassen, doch die Haare wuchsen sehr ungleichmäßig. Sein Bart sah dann schnell wie ein zerrupfter Teppich aus. Er hatte dafür viel Spott von seinen Freunden hinnehmen müssen und versuchte es daher gar nicht mehr. Doch sah man von diesem Makel ab, hielt sich Toni für einen echt gutaussehenden Mann. Er mochte es, sich selbst im Spiegel zu betrachten und verbrachte morgens viel Zeit damit. Toni arbeitete seit einiger Zeit in der Krossen Kruste als Verkäufer und ihm war es wichtig, auch vor den Kunden gut auszusehen, daher investierte er gerne diese Zeit. Noch ein letzter Blick, dann begann er sich umzuwenden, um das Bad zu verlassen. Doch da er den Blick nicht richtig lösen konnte und beim Umdrehen nicht auf seine Füße achtete, sah er nicht den Wäschekorb, der ihm im Weg stand. Er war wie immer prall gefüllt und da Toni ihn aus Platzgründen zwischen der Toilette und dem Waschbeckenunterschrank eingeklemmt hatte, stolperte er nun über ihn. Während er nach vorne kippte, wedelte er mit den Armen wie ein Vogel, der nicht abheben kann. Aus seinem Mund kam ein lang gezogenes WAAHHH. Vergleichbar mit dem Geschrei, das die Menschen in einer Achterbahn von sich geben, kurz nach dem der höchste Punkt der Bahn überfahren ist und die Abwärtsfahrt beginnt. Er fiel nach vorn und schaffe es gerade noch, sich mit einer Hand an der Brille des Toilettensitzes festzuhalten. Für einen kurzen Moment wollte er aufatmen, doch schon gab die Brille mit einem Knacken nach. Toni stürzte ungebremst das letzte Stück auf den Boden und stieß mit dem Kinn zuerst auf die Fliesen. Es dauerte eine Sekunde dann brüllte Toni auf.
»Ahhhhhhh Mist, so eine Scheiße!« Der Schmerz durchzog seinen Kiefer und Toni ärgerte sich fürchterlich über dieses Missgeschick. Mit einer Hand tastete er seinen Kiefer ab. Alles fühlte sich normal an. ›Zumindest habe ich mich nicht verletzt‹, dachte er und stand auf. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es bereits 6:17 Uhr war. Jetzt musste er sich beeilen, wenn er pünktlich um 7 bei der Arbeit sein wollte.
*****
Toni betrat die Backstube der Krossen Kruste wie üblich über den Hintereingang. Dieser befand sich auf der Rückseite des Gebäudes in der Winkstraße und war ursprünglich nur für das Personal vorgesehen. In letzter Zeit verirrten sich aber auch immer häufiger Kunden an diesen Eingang, die es nicht abwarten konnten, bis das Geschäft öffnete. In den Sozialen Medien hatte es die Runde gemacht, dass man in der Backstube auch schon vor Ladenöffnung ein paar frische Backwaren bekommen konnte. Diese Leute gingen Toni gehörig auf den Keks. Am liebsten würde er sie jedes Mal, wenn er sie in den Laden stapfen sah, mit ein paar frischen Schoko-Karamell-Krosslingen bombardieren und ihnen klar machen, dass sie gefälligst warten sollten, bis der Laden öffnete, so wie alle anderen Kunden auch. Aber Werner sah das anders. Der 63-jährige Inhaber der Bäckerei hielt diese Leute für eine fantastische Möglichkeit, um ein paar zusätzliche Taler zu verdienen und nannte sie sogar eine zusätzliche Zielgruppe. Er freute sich wie ein kleiner Junge über diese kostenlose Werbung, die für das Geschäft gemacht wurde. Als wäre der Laden nicht auch so schon erfolgreich genug. Die Krosslinge, die eine Erfindung von Werners Vater gewesen waren, waren mittlerweile im ganzen Land bekannt und werden bereits in mehrere Filialen in allen großen Städten von Nordatien verkauft.
Heute Morgen war zum Glück keiner dieser ungeduldigen Kunden zu sehen. Toni brauchte nur ein paar Meter zu gehen und konnte direkt in die Personalumkleide abbiegen, die sich auf der rechten Seite des Flures befand. Auf der Tür hatte jemand einen Aufkleber angebracht, auf dem stand: Wir sind cool, wir sind heiß, für Geld machen wir auch den größten Scheiß. Natürlich hatte Werner dieser Spruch überhaupt nicht gefallen, aber bei dem Versuch, den Aufkleber abzuziehen, war dieser in der Mitte zerrissen und hatte den Klebstoff und die eine Hälfte an der Tür zurückgelassen. Toni wusste noch genau, wie Werner darüber geflucht hatte. Der Spruch war auch so noch lesbar gewesen, aber mittlerweile nahmen ihn nur noch die Wenigsten überhaupt wahr. Gerade als Toni die Tür öffnen wollte, wurde diese von innen aufgezogen. Es war Susi, die bereits fertig eingekleidet war und die Umkleide verlassen wollte.
»Na Thomas, wieder mal auf den letzten Drücker?« Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Naja, du weißt ja, wie das ist, Susi. Der Verkehr ist um diese Zeit einfach die Hölle.«
»Warum fährst du nicht einfach ein paar Minuten früher los? Du fährst den Weg doch nicht zum ersten Mal.«
»Das würde ich sehr gerne tun, aber es kommt immer etwas dazwischen. Jedes Mal, egal wie früh ich mich auf den Weg mache. Das ist echt zum Verrücktwerden. Zum Beispiel werde ich kurz vor der Ankunft häufig von einer alten Frau gebeten, ihr über die Straße zu helfen… oder, …genau, erst neulich kam mir eine Frau mit einem Kinderwagen entgegen. Das Kind hat fürchterlich geschrien. Ist natürlich nicht verwunderlich um diese Uhrzeit. Aber der Punkt ist, die Frau fragte mich, ob ich das Kind nicht beruhigen könnte und, naja, du kennst mich, das habe ich natürlich direkt erledigt. Und naja, leider verspäte ich mich dann manchmal.«
»Alles klar.« Susi grinste jetzt noch breiter. »Und heute hast du dann gedacht, dass du später losgehst, damit dir auch auf keinen Fall etwas dazwischenkommt?« Sie lachte.
»So ist es, Susi. Ich bin so froh, dass wenigstens du mich verstehst!«
»Naja, dann sieh mal zu, dass du dich umziehst. Ich habe keine Lust, die ganzen Krosslinge alleine zu verkaufen.« Susi ging an ihm vorbei in den Korridor, während Toni ihr mit der rechten Hand die Tür aufhielt.
»Ich bin super schnell, das weißt du doch!« Er huschte in die Umkleide und ging zu seinem Spind, der sich in der rechten hinteren Ecke befand. Seine Arbeitskleidung bestand aus einer dunklen Hose, einem blauen Shirt, und dazu eine lange, rote Schürze, die im Nacken und auf dem Rücken oberhalb der Hüfte zusammengebunden wurde. Ungefähr auf der Höhe der Brust war der Schriftzug Krosse Kruste in schlichten, schwarzen Buchstaben geschrieben. Ursprünglich hatte zu der Kleidung noch ein Hut gehört, der die Form eines Brötchens und die Größe eines Fußballs hatte. Jeder, der diesen Hut aufsetzte, sah damit einfach nur bescheuert aus, weshalb dieser immer wieder den Unmut der Mitarbeiter erregt hatte und nach einiger Zeit komplett weggelassen worden war. Ein paar verstaubte Exemplare lagen aber noch immer auf den Spinden der Mitarbeiter. Toni zog sich schnell an und verließ die Umkleide. Als er auf den Korridor trat, nahm er den intensiven Geruch von frisch gebackenen Krosslingen wahr. Wahrscheinlich gab es nur wenige Personen, die diesen Geruch nicht anziehend fanden. Man verspüre davon direkt die Lust in einen frischen knackigen Krossling zu beißen. Dies war vermutlich einer der Gründe für den Erfolg dieser Backware. Toni ging den Korridor entlang in Richtung des Verkaufsbereiches. Als er den Backbereich, auf der linken Seite des Korridors passierte, rief er gut gelaunt herein:
»Morgen allerseits!«
Sein Gruß wurde auch sofort erwidert.
»Morgen Thomas!«
Tonis richtiger Name war Thomas und dieser wurde auch von allen Kollegen bei der Arbeit verwendet. Jedoch nannten alle seine Freunde ihn Toni und ihm selbst gefiel dieser Spitzname auch viel besser. Er hatte diesen Namen aus der Schulzeit. Als er 12 Jahre alt war, kam Toni auf eine neue Schule. Bereits am Tag der Einschulung traf er nach den ersten Stunden in der Pause einen anderen neuen Schüler, der sich nach seinem Namen erkundigte.
»Ich heiße Thomas«, hatte Toni geantwortet.
»Hmm, ich kenne schon so viele, die Thomas heißen. Für mich bist du ab jetzt Toni.« Und wie so häufig setzen sich solche Spitznamen sehr schnell durch, wenn nur eine Person diesen oft genug verwendete. Anfangs hatten die Lehrer noch versucht, gegenzusteuern und gesagt, dass Toni doch Thomas heiße und er auch so genannt werden sollte. Doch nach einiger Zeit waren auch sie dazu übergegangen, einfach von Toni zu sprechen. Der Junge, der damals den Namen eingeführt hatte, hieß Samuel und gehörte heute zu Tonis engsten Freunden.
Als Toni den Verkaufsraum betrat, war Susi bereits dabei, einen Kunden zu bedienen. Der Laden hatte vor zwei Minuten geöffnet und natürlich war schon jemand im Geschäft. Toni dachte noch, wie froh er sei, dass es gerade nur ein Kunde war, als im nächsten Moment die Tür geöffnet wurde und ein kleiner, dicklicher Mann eintrat. Toni setzte sein freundlichstes Lächeln auf und begann mit der Bedienung. So vergingen die ersten Stunden des Vormittags und Toni bediente ohne Pause. Die Kunden nahmen einfach kein Ende. Zehn Schoko-Krosslinge hier, zwei normale Krosslinge dort und ein Doppeldecker-Spezial-Krossling mit einem kleinen Kaffee zum Mitnehmen. Gegen kurz nach Zehn, als der Ansturm gerade ein bisschen weniger wurde, kam Anett in den Laden. Eine alte, etwas gebrechliche Frau. Toni schätzte sie auf mindestens 75 Jahre, aber er war noch nie gut im Schätzen gewesen. Anett gehörte zur Stammkundschaft und kam fast jeden Tag zu ungefähr der gleichen Zeit in den Laden. Mittlerweile war sie natürlich bei allen Mitarbeitenden bekannt. Obwohl sie nicht mehr die Schnellste war, war sie im Kopf noch hellwach und liebte es, einen kleinen Plausch zu halten, wenn es im Laden nicht zu voll war und die Mitarbeitenden die Zeit hatten, auf sie einzugehen.
»Einen fantastischen, wunderschönen, guten Morgen wünsche ich dir, lieber Toni«, brachte sie enthusiastisch in ihrer tiefen, kratzigen Stimme hervor, während sie langsam auf Toni zuging.
»Was soll denn an diesem Morgen so fantastisch sein, Anett? Ich bin immer noch am Arbeiten und habe es noch nicht geschafft, eine Frau zu finden, die mit mir nach Fani-Island auswandert.«
»Willst du mich etwa anbaggern?« Während sie das sagte, drehte sie den Kopf leicht zur Seite und grinste ihn an.
»Kannst du etwa meine Gedanken lesen?« Er lachte.
»Tut mir leid Jungchen, aber ich befürchte du bist nicht in meiner Liga. Ich bin eine Frau mit Stil. Das siehst du ja wohl.« Trotz ihrer eingeschränkten Beweglichkeit versuchte Anett wie ein Model zu posieren. »Habe ich dir noch nie erzählt, dass ich damals ein zweites Standbein als Superstar hatte? Ich wurde vom Bürgermeister von Missenstadt persönlich ausgezeichnet und habe sogar einen Pokal bekommen.« Sie machte noch weitere Bewegungen, bei denen sie absichtlich übertrieb, elegant auszusehen.
Toni lachte jetzt noch mehr.
»Den Pokal würde ich gerne mal sehen. Ich wette, der ist komplett aus Gold und geformt wie ein Kussmund.«
Anett machte plötzlich ein ernstes Gesicht.
»Jungchen, Jungchen, jetzt sag ehrlich, hast du auch schon so einen Pokal bekommen?«
Jetzt lachten sie beide. Anett bestellte noch einen Krossling, wechselte ein paar Worte mit Susi und verließ den Laden wieder. Toni mochte diese kurzen Besuche von Anett. Sie waren immer eine schöne Abwechslung an einem sonst ziemlich eintönigen Arbeitstag.
Um kurz nach Zwölf machte Toni eine Mittagspause. Er nahm sich eine Zimtstange aus der Auslage und verschwand damit in den Pausenraum. Dieser bestand eigentlich nur aus einem Stuhl, der in einer kleinen Nische auf dem Korridor stand. Trotzdem wurde dieser Platz von den Mitarbeitenden scherzhaft als der Pausenraum bezeichnet. Toni hatte sich gerade hingesetzt und den ersten Bissen von seiner Zimtstange genommen, als er am Ende des Korridors plötzlich schwere Schritte hörte, die sich in seine Richtung bewegten. Er hob den Kopf und sah Werner, der ihn mit seinem Blick fixierte.
»Thomas, gut, dass ich dich hier finde. Ich habe etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.« Wie üblich nahm Werner keine Rücksicht auf seine Mitarbeitenden Erst recht nicht darauf, dass Toni gerade seine Mittagspause genoss. Toni schob sich den Rest der Zimtstange komplett in den Mund und antwortete.
»Boawas… Koan ich…« Er versuchte zu schlucken. »für de tun…« Und noch ein Schluckversuch. »Chef?«
»Mann oh Mann, Thomas. Ich wusste nicht, dass du so gierig bist. Obwohl ich zugeben muss, dass unsere Zimtstangen auch echt verdammt lecker sind.« Dabei wanderte sein Blick in Tonis Schoß, der voll mit Krümeln von der eben verputzten Stange war. Toni folgte seinem Blick und sah nun ebenfalls nach unten. »Ähhhmm«, sagte Werner. Dann hatte er sich wieder gefangen und blickte auf. »Wie ich gerade schon sagte, habe ich eine wichtige Aufgabe für dich.«
»Aber du hast doch noch gar nichts von einer Aufgabe gesagt?«
»Thomas, das ist doch wohl klar, ich bin doch nicht hierher gekommen, um mit anzusehen, wie du dir dein Mittagessen mit einem Bissen einverleibst. Natürlich habe ich eine Aufgabe für dich!«
Ja, das war Toni klar. Wenn Werner so auf ihn zukam, dann bedeutete das nie etwas Gutes. In seinen Gedanken malte er sich die Situation aus, in der Werner zu ihm gekommen wäre, um ihm einen Tag frei zugeben, weil er der Mitarbeiter des Monats war oder er eine spontane Gehaltserhöhung bekam, weil sein freundliches Gesicht und seine tolle Frisur den Umsatz um 15 % gesteigert hatten. Er war so in diese Vorstellung vertieft, dass er den Anfang von Werners nächsten Satz verpasste und ihm erst in der Mitte wieder folgen konnte.
»…, darum musst du auf jeden Fall heute noch nach Silberhafen.«
»Äähmmmm, …, also den Teil mit Silberhafen habe ich verstanden, aber was soll ich da noch mal genau tun?«
»Hast du dir die Zimtstange versehentlich ins Gehirn geschoben? Das habe ich doch vor zwei Sekunden gesagt!«, sagte Werner aufgebracht.
»Tut mir leid, Werner, ich glaube der Zuckerschock hat dazu geführt, dass sich meine Gehörgänge etwas verengt haben«, versuchte Toni zu scherzen.
»Willst du mich eigentlich total verarschen, Thomas?« Werner brüllte jetzt fast. »Es geht hier um eine wichtige Aufgabe für unser Unternehmen!« Er sammelte sich wieder und atmete einmal tief ein und aus. »Ich habe dir vorhin gesagt, dass unserer Filiale in Silberhafen die Spezialhefe ausgeht und sie dringend Nachschub benötigen.«
Toni konnte sich vorstellen, worauf das hinauslief. Er hätte gerne protestiert, da dies bestimmt viele Überstunden bedeuten würde, hielt sich aber jetzt lieber zurück. Stattdessen setzte er eine ernste Miene auf und nickte zustimmend.
»Leider ist Gustav heute Morgen mit unserem Transporter in den Süden aufgebrochen, um die Bauteile für den neuen Ofen abzuholen, daher musst du mit dem Zug fahren. Ich habe dir schon ein Paket gepackt, das genug von der Spezialhefe enthalten sollte, damit die Filiale bis zur nächsten Lieferung über die Runden kommt.«
Langsam bewegten sich Tonis Mundwinkel nach unten.
»Aber mit dem Zug werde ich das niemals an einem Tag schaffen. Für den Weg brauche ich mindestens acht Stunden.«
»Jaja, das ist doch kein Problem. In der Nähe der Filiale in Silberhafen gibt es eine kleine Pension. Ich werde gleich dort anrufen und für dich ein Zimmer reservieren. Als besondere Belohnung gebe ich dir außerdem noch meine Bonuskarte von der Gastwirtschaft Zur gelben Ente mit. Auf der Karte fehlt nur noch ein Stempel für ein großes Bier, dann bekommst du ein weiteres umsonst!« Er hatte ein breites Grinsen aufgesetzt, freute sich aber anscheinend wirklich über seine Großzügigkeit. Toni war nicht gerade begeistert über diese besondere Belohnung. Wenigstens eine Auszeichnung als Mitarbeitender des Monats hätte es sein können, zusammen mit einem Pokal, so einen, über den er auch mit Anett gescherzt hatte. Doch Toni wusste, dass er ohnehin keine Wahl hatte.
»Alles klar, wann soll ich starten?«
»Natürlich sofort. Das Paket liegt in der Backstube auf dem Tisch neben der Teigablage.« Er drehte sich um und wollte schon gehen, als er noch mal anhielt. »Achja, ich brauche ja nicht zu erwähnen, dass du das Paket hüten musst wie deinen eigenen Topf voll Gold. Dieses Paket darf keinem anderen in die Hände fallen. Ich kann mich da doch auf dich verlassen, oder Thomas?«
Toni merkte, dass es Werner dieses Mal wirklich ernst war, darum sagte er mit fester Stimme.
»Aber klar, Chef!«
*****
Das Paket war glücklicherweise ziemlich klein. Es hatte ungefähr die Größe eines Schuhkartons und so konnte es Toni einfach für den Transport in seine Tasche stecken, auch wenn darin nun kein Platz mehr für irgendetwas Anderes war. Nachdem er sich umgezogen hatte, verließ Toni die Krosse Kruste durch den Hintereingang, durch den er erst vor wenigen Stunden gekommen war. Wenn er jetzt so darüber nachdachte, gefiel ihm die Abwechslung vom eintönigen Arbeitsalltag eigentlich ganz gut. Auch wenn das bedeuten würde, gleich mehrere Tage unterwegs zu sein. Als er ins Freie trat, holte er als erstes sein Telefon aus der Tasche und wählte die Nummer von Samuel.
»Herzlich Willkommen im Büro von Herrn Tollrek!« Die Stimme, die sich meldete, war übertrieben hoch, aber kratzig. »Herr Tollrek ist gerade dabei, in seinem Whirlpool aus purem Gold zu baden und wird dabei von drei Playboy-Bunnies begleitet. Leider steht er daher nicht zur Verfügung.«
»Hier spricht die Steuerfahndung, wir hätten da ein paar Fragen an Herrn Tollrek. Ich denke, er kann es einrichten.« Toni sprach mit ernster Stimme.
»Oh, …, naja, wenn das so ist, werde ich versuchen, ihn ans Telefon zu bekommen. Aber wenn er in seine wichtigen Angelegenheiten vertieft ist, möchte er normalerweise nicht gestört werden. Sonst werde ich wieder in einen einsamen Turm eingesperrt. Dann bekomme ich eine Woche nur Wasser und alte Krosslinge zu essen… Einen kleinen Moment bitte.« Toni musste schmunzeln und er hörte, wie es in der Leitung raschelte. Dann meldete sich die gleiche Person, aber dieses Mal klang die Stimme völlig normal. Toni kannte diese Stimme mittlerweile seit vielen Jahren.
»Hey Toni, sorry, dass meine Sekretärin dich hingehalten hat. Ich war gerade echt im Stress. Aber du weißt, ja wie das ist.« Er lachte. Samuel studierte seit mittlerweile sechs Jahren und hatte keine Eile damit, sein Studium zu beenden. Er arbeitete für ein paar Stunden in der Woche an der Universität als Vertretung des Hausmeisters und verbrachte seine Zeit sonst viel mit Feiern und dem Studium seiner inneren Augenlider, wie er es nannte. Manchmal beneidete ihn Toni für diesen Lebensstil, aber er hatte nach der Schule keine weitere Minute mit Lernen vergeuden wollen und hatte daher nicht mal für einen kurzen Moment über ein Studium nachgedacht.
»Klar, ist bei mir nicht anders. Ich musste gerade echt einige Termine hin und her schieben, um dieses Telefonat überhaupt führen zu können. Wie du weißt, stehe ich bei der Arbeit kurz vor der Ernennung zum Mitarbeiter des Monats, da kann ich mir natürlich keine Schwäche erlauben.«
»Ach, wenn du immer noch diese komische Frisur hast, wirst du das bestimmt nie schaffen. Mich wundert es echt, dass nicht alle Kunden schreiend aus dem Geschäft laufen, wenn sie dich sehen.«
»Tatsächlich bist du nicht der Erste, der mir das sagt. Deswegen habe ich mir die Technik überlegt, mir vor der Arbeit eine Papiertüte über den Kopf zu ziehen. Seitdem bekomme ich viele Komplimente für meinen guten Stil.« Toni hörte Samuel am anderen Ende der Leitung laut lachen.
»Haha, das kann ich mir gut vorstellen. Aber genug davon. Bist du bereit für heute Abend?«, fragte Samuel erwartungsvoll.
»Hmm, naja, das ist genau der Grund, warum ich anrufe. Ich habe heute Abend keine Zeit. Mein Chef schickt mich spontan nach Silberhafen, um ein olles Paket zu überbringen.«
»Ernsthaft?« In Samuels Stimme war deutlich seine Enttäuschung zu hören. »So einen Scheiß kann der doch nicht mit dir abziehen. Kann der das nicht einfach mit der Post schicken? Du bist doch Krossling-Verkäufer und kein Lieferjunge.«
»Leider nicht, es ist wirklich wichtig und extrem dringend. Wenn das Paket nicht sicher ankommt, bricht in Silberhafen die gesamte Produktion zusammen. Blöderweise steht aktuell nicht mal ein Transporter zur Verfügung, daher muss ich auch noch mit dem Zug fahren. Ich bin bestimmt erst in zwei Tagen wieder zurück…«
»Na gut, dann fällt heute Abend wohl aus. Aber beim nächsten Mal will ich, dass du deinem Chef seine Krosslinge sonst wo hinsteckst, wenn er wieder mit so einer grandiosen Aufgabe für dich kommt.«
Toni musste schmunzeln. Die Vorstellung seinen Chef mit Krosslingen voll zu stopfen war merkwürdig, aber erheiterte ihn auf komische Weise.
»Ich schätze, das würde meinen Chef nur noch verrückter machen. Soweit ich weiß, bestehen schon seine Knochen aus Krosslingen und auch in seinen Adern fließt nur ein Erdbeer-Krossling-Shake.« Sie scherzten noch ein paar Minuten, bevor Toni das Gespräch beendete. Er schwang sich auf sein Fahrrad und fuhr noch schnell nach Hause, um ein paar Sachen für die Reise zu packen.
Nachdem er das Gespräch mit Toni beendet hatte, lehnte sich Samuel in seinem alten Bürostuhl zurück und starrte an die Decke. ›Was für ein Scheiß.‹ Er hatte sich schon auf das Treffen mit Toni gefreut und jetzt war der Abend plötzlich wieder frei. Er überlegte, ob er wohl spontan einen der anderen Jungs motivieren könnte. ›Ne, die sind schon wieder voll im Stress für die nächsten Prüfungen. Von denen macht bestimmt keiner mit.‹ Samuel hatte beschlossen, in diesem Jahr nur eine Prüfung zu schreiben und diese hatte er bereits vor drei Tagen hinter sich gebracht. Seitdem hatte er noch nicht ein einziges Bier getrunken. Heute hätte der Tag sein sollen, an dem er endlich darauf anstoßen konnte. Jetzt sah es allerdings so aus, als müsste er sich noch weiter gedulden, bis endlich jemand Zeit für ihn fand. Samuels Studium war bisher von vielen Höhen und Tiefen geprägt gewesen, wobei es in den letzten Monaten eher einem andauernden Tief entsprach. Als er das Studium der alten Sprachen begonnen hatte, war er noch voller Motivation gewesen. Das viele neue Wissen hatte ihn wie in einen Rausch versetzt und die guten Noten waren ihm in jeder Prüfung nur so zugefallen. Doch mit der Zeit hatte sich eine gewisse Lethargie bei ihm eingeschlichen. Er besuchte immer weniger Vorlesungen und ging immer häufiger auf Partys oder vertrödelte die Zeit mit anderen Dingen. Eins seiner liebsten Hobbys war die Wahrsagerei vor Supermärkten. Er hatte angefangen, auf Personen zu warten, die mit einer vollen Einkaufstüte aus einem Supermarkt kamen. Dann sprach er sie an, um ihnen anzubieten, seine Fähigkeiten zu demonstrieren.
»Darf ich Ihnen eine Kostprobe meiner übernatürlichen Fähigkeiten geben?«, war einer seiner beliebtesten Sprüche. Wenn eine Person einwilligte, versuchte Samuel, einen der Gegenstände in der großen Einkaufstasche zu erraten. Meistens klappte das ziemlich gut, da viele Artikel bei fast jedem Einkauf dabei waren. Es war verrückt, aber dieses Hobby machte ihm so viel Spaß, dass er nicht damit aufhören konnte. Samuel erinnerte sich noch gut, wie schüchtern und zurückhaltend er bei den ersten Versuchen gewesen war, aber mittlerweile war er ein echter Entertainer und liebte es, mit den Personen zu scherzen. Wenn er am Ende des Monats etwas knapp bei Kasse war, handelte er mit den Einkäufern aus, dass er jeden Gegenstand behalten dürfte, den er richtig vorhersagte. Er sagte dann sogar manchmal einfach die Dinge, die er gerne essen würde und hoffe auf sein Glück. Leider half ihm das natürlich nicht bei seinem Studium und so war er von seinem Abschluss noch ein gutes Stück entfernt. Ihn störte das aber nicht und er war mit seinem Leben sehr zufrieden.
Samuel schaukelte mit seinem Stuhl nach vorne und blickte auf den Bildschirm seines Computers. Plötzlich kam ihm ein Einfall. Er erinnerte sich an eine Nachricht, die er vor drei Tagen von seinem Vorgesetzten, Günther, dem Hausmeister der Universität, bekommen hatte. Günther nutzte diesen Kommunikationsweg häufiger, wenn er mit Samuel seine Arbeitstage absprechen wollte oder kurzfristig Hilfe brauchte. Genau so war es auch am letzten Dienstag. Günther hatte ihm geschrieben, dass er für Professor Hohenfeld einige aufwendige Arbeiten zu erledigen hätte und angefragt, ob Samuel Zeit hätte, ihm dabei zu helfen. Da aber Samuel bereits mit Toni verabredet gewesen war, hatte er sich entschuldigt, für den Tag abgesagt und mittlerweile fast vergessen, dass Günther überhaupt gefragt hatte. Jetzt, da Toni keine Zeit hatte und er auch sonst nicht wusste, was er tun sollte, konnte er genauso gut Günther helfen. Ein bisschen zusätzliches Geld könnte auch nicht schaden, zumal sich der Monat dem Ende zuneigte und das Geld wieder knapp wurde. Samuel fuhr sich mit der Hand über den Kopf mit dem kurzen schwarzen Haar, während er die Nachricht von Günther noch einmal las. Er wollte heute Abend um 19 Uhr starten und die Arbeiten könnten bis spät in die Nacht dauern. Weitere Informationen hatte er nicht gegeben, aber das war Samuel egal. Er schrieb schnell eine kurze Antwort und sagte seine Hilfe zu. Samuel warf einen Blick auf seine Armbanduhr, die sich durch ihre grelle, grüne Farbe von seiner dunklen Haut abhob. Noch fast sieben Stunden bis zum Arbeitsbeginn. Das war noch genug Zeit, um ein bisschen zu entspannen. Es könnte eine lange Nacht werden.
Die Bahnhofshalle von Missenstadt war riesig. Das Gebäude war erst vor wenigen Jahren modernisiert worden. Auf einer alten Fassade aus großen Sandsteinen thronte eine große Glaskuppel, die an diesem sonnigen Tag die Halle mit Licht flutete. Überall befanden sich kleine Geschäfte, die ihre Waren anboten. Das meiste war wie so häufig Fast-Food, aber der Bahnhof von Missenstadt war darüber hinaus berühmt für seine vielen Spirituosengeschäfte. Der erste Besitzer der Eisenbahngesellschaft von Missenstadt war in einer Brennereifamilie groß geworden. Als er vor 150 Jahren den ersten Bahnhof der Stadt eröffnete, hatte er die Chance genutzt, um auch dem Familienunternehmen etwas unter die Arme zu greifen. Er ließ überall in der Bahnhofshalle kleine Büdchen aufstellen, in denen die Erzeugnisse der Brennerei angeboten wurden. Auch wenn der Mann seit vielen Jahren tot war und der Familienbetrieb die Produktion irgendwann einstellen musste, hatte sich die Tradition der Verkaufsstände über die Zeit gerettet und verhalf dem Bahnhof damit zu seinem fragwürdigen Aushängeschild. Manche nannten ihn deshalb auch nur die Endstation für den Verstand, da sich so mancher Reisende mit einer Flasche Hochprozentigem versorgte, um die Reisezeit so kurz wie möglich zu halten. Es wurden hier die verschiedensten Sachen angeboten und so manches Gebräu drehte Toni nur beim Lesen des Namens den Magen um. Obwohl er sonst nicht abgeneigt war, auch mal etwas Neues auszuprobieren, konnte er auf das Geschmackserlebnis eines Eiterbrandes oder eines übersäuerten Milchliköres gut verzichten.
In der Mitte der Halle befand sich eine riesige Anzeigetafel, die die abfahrenden und ankommenden Züge anzeigte. Durch diese Tafel wurde die Halle optisch in zwei Bereiche geteilt, die symmetrisch aufgebaut waren. Auf beiden Seiten gab es einen kleinen Schalter, an dem man Fahrkarten für die Züge kaufen konnte. Spontan entschied sich Toni für den Schalter auf der rechten Seite. Zu seinem Glück standen nur zwei Personen vor ihm und er musste nicht lange warten, bis er zu dem Mann hinter dem Tresen vorgehen konnte.
»Ich hätte gerne einen Hamburger mit Fritten und eine Fahrkarte nach Silberhafen«, versuchte Toni zu scherzen.
»Ich habe heute leider nur ein Käsebrot dabei, das würde ich nur ungern mit Ihnen teilen«, antwortete der Mann nüchtern. Dabei neigte er den Kopf leicht nach vorne und blickte Toni über die Gläser seiner Brille hinweg an. »Für einen Hamburger würde ich Ihnen eher den Imbiss Feuerstelle auf der anderen Seite der Halle empfehlen. Aber Vorsicht, ich habe gehört, die spucken Witzbolden da gerne mal auf den Burger.«
»Ah, das klingt ja wirklich vorzüglich. Ich bin schon lange auf der Suche nach einem Burger, der das gewisse Etwas hat. Vielleicht ist das genau der Laden, nach dem ich gesucht habe.«
Der Mann stieß ein Brummen aus, dass wahrscheinlich ein Lachen sein sollte.
»Da bin ich mir sicher und vielleicht bekommen Sie als Überraschung noch eine Lebensmittelvergiftung zu ihrem Menü.«
»Oh, ich liebe Überraschungen!«, sagte Toni mit einer übertriebenen Euphorie in der Stimme.
»Na dann mal guten Appetit und einen schönen Tag!«
Toni blickte den Mann gespannt an und wartete für ein Sekunde. Doch der Mann antwortete nur mit einem fragenden Blick.
»Sie haben noch meine Fahrkarte nach Silberhafen ganz vergessen.«
»Naja, ich dachte, wenn Sie erstmal Ihre Überraschung bekommen haben, werden Sie bestimmt nirgendwo mehr hinfahren. Aber natürlich bekommen Sie auch ein Ticket von mir. Der nächste Zug fährt in 45 Minuten.«
Toni kaufte das Ticket und bedankte sich erneut für den Tipp mit dem Burgerladen, obwohl er eigentlich noch gar keinen Hunger hatte. Danach schlenderte er zurück in die Mitte des Bahnhofes und warf einen Blick auf die Anzeige. Es wurden noch immer 43 Minuten bis zur Abfahrt angezeigt. Puh, das ist aber noch ganz schön lange. Er überlegte kurz, ob er sich bei einem der Spirituosengeschäfte eine Flasche doppelten Gehirnzauber kaufen sollte, um die Zeit zu überbrücken, entschied sich dann aber dagegen. Werner würde ihn köpfen, wenn dem Paket etwas passieren sollte. Toni tastete seine große Umhängetasche ab, um zu fühlen, ob das Paket noch an seinem Platz war. Er hatte das Paket in die Umhängetasche gepackt, um es besser transportieren zu können, für seine Kleidung reichte ihm ein Rucksack, den er ebenfalls bei sich trug. Als er die Kanten des Paketes unter dem Stoff der Tasche fühlen konnte, seufzte er zufrieden. Er ging zu einer der Bänke, die an den Seiten der Bahnhofshalle angebracht waren und setzte sich. Dort lehnte Toni den Hinterkopf an die Wand und starrte an die Decke. Im Kopf überschlug er grob die Zeit. Wenn alles nach Plan lief, dann wäre er um 23 Uhr in Silberhafen. Um diese Zeit würde er in der Bäckerei niemanden mehr antreffen. Er würde also die Nacht in dem Gasthaus verbringen und dann am nächsten Morgen in aller Frühe das Paket abliefern.
»Hey, entschuldige.«
Toni senkte den Kopf und blickte den Jugendlichen an, der plötzlich vor ihm stand. Toni schätze ihn auf 14 oder 15. Der Junge trug eine rote Baseballcap, eine kurze Jeans, die ziemlich zerrissen war und ein dunkelblaues T-Shirt, auf dem I am the Boss stand.
»Was geht ab, Chef?«, antwortet Toni.
»Du siehst aus wie ein cooler Typ, kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Ha, ich weiß nicht, ob ich mit deiner Coolness konkurrieren kann, aber du bist der Boss. Was kann ich für dich tun?« Auch beim zweiten Mal ging der Junge nicht auf Tonis Anspielung ein, was Toni ein bisschen ärgerte. Er hatte locker wirken wollen, aber anscheinend interessierte sich der Junge nur für seinen Gefallen.
»Naja, ich wollte fragen, ob du mir vielleicht eine Flasche Jungfrauenglück besorgen kannst?«
»Bäh!« Toni drehte sich zur Seite und tat so, als würde er sich in einen Papierkorb übergeben, der neben seiner Bank stand. Auch das schien den Jungen nicht besonders zu interessieren.
»Jungfrauenglück ist doch nur etwas für Mädchen. Wenn ich dir schon etwas Verbotenes kaufen soll, dann könntest du dir wenigstens etwas Vernünftiges aussuchen.« Nach dem Gesetz war es erst ab 20 Jahren erlaubt, hochprozentige Getränke zu kaufen. Aber auch in Tonis Jugend hatte es ihn und seine Freunde nicht davon abgehalten, schon früher damit zu experimentieren. Sie nannten es, das Gehirn penetrieren, und hatten so manche unvergessliche Nacht erlebt, von denen ironischerweise häufig nur wenige Erinnerungen geblieben waren.
»Machst du es jetzt oder nicht?«, frage der Junge jetzt etwas ungeduldiger.
»Aber klar doch. Ich lasse einen duften Jungen wie dich doch nicht ohne einen ordentlichen Schluck nach Hause gehen.« Dabei grinste er.
»Wow, starke Sache, vielen Dank.«, sagte der Junge wieder erstaunlich nüchtern, sodass sich Toni nicht sicher war, ob er sich wirklich freute.
»Am besten gehen wir zum Nobody. Das ist am anderen Ende von Gebäude 2. Da ist meistens nicht so viel los.«
»Alles klar, Boss. Ich folge dir unauffällig.« Toni hob seine Tasche auf, die neben ihm auf der Bank gelegen hatte und gemeinsam machten sie sich auf dem Weg in das Gebäude 2.
Die beiden Gebäude des Bahnhofs waren durch einen Korridor verbunden, von dem seitlich die Gleise 15-20 abgingen. Diese Gleise wurden in der Regel von weniger Zügen angefahren als die Hauptgleise, weshalb in diesem Bereich des Bahnhofs und in dem angrenzenden Gebäude meistens weniger Personen unterwegs waren. Es war verwunderlich, dass die Halle am Ende des Korridors als Gebäude 2 bezeichnet wurde, denn immerhin war es das gleiche Bahnhofsgebäude. Toni meinte sich zu erinnern, dass es früher einmal zwei getrennte Gebäude gewesen waren und erst durch den Neubau des Bahnhofs vor vielen Jahren zu einem großen Komplex zusammengeführt wurden.
Das Spirituosengeschäft, auf das sie jetzt zusteuerten, war ein kleiner Verschlag in der linken hinteren Ecke der Halle. Die Fenster standen von unten bis oben mit gestapelten Flaschen voll, sodass man nicht hineinsehen konnte und über der schmalen Eingangstür hing ein Schild, auf dem mit Neonbuchstaben Nobody is perfect stand.
»Bist du dir sicher, dass du eine Flasche Jungfrauenglück haben willst? Ich kann dir gerne ein paar von meinen Favoriten empfehlen, wenn du willst?«
»Ne, das Jungfrauenglück reicht.«
»Okay, wie du willst. Aber sag später nicht, dass ich dich nicht gewarnt hätte.«
Der Junge holte einen kleinen schwarzen Beutel aus seiner Tasche und gab ihn Toni. Der Beutel klimperte bei jeder Bewegung.
»Soll das dein Ernst sein? Ist da etwa nur Kleingeld drin?«
Der Junge zuckte mit den Schultern.
»Entschuldige, aber ich muss mein Geld echt sparen, um mir hin und wieder etwas erlauben zu können. Außerdem spürt man bei jeder Bewegung, dass das Geld noch da ist.«
»Okay, wenn du meinst.« Toni war nicht überzeugt, sagte aber nichts mehr. Er ging zur Eingangstür und zog sie auf. Sofort ertönte der Ruf eine einer jungen Frau.
»AiAiAiAi«. Darauf folgte das Grunzen eines Schweins.
›Das ist vielleicht mal eine außergewöhnliche Türglocke‹, dachte Toni und versuchte, sich mit seiner großen Umhängetasche durch die schmale Tür zu schieben. Schon das stellte eine Herausforderung dar und als Toni gerade den ersten Schritt in den Laden gemacht hatte, stellte er fest, dass dieser nur extrem schmale Gänge hatte. Links und rechts der Gänge stapelten sich die Flaschen. Diese standen teilweise auf dem Boden oder in Holzregalen, die aber alles andere als tragfähig aussahen. Toni zögerte, während er mit dem Fuß noch die Tür des Nobody aufhielt. Jede falsche Bewegung würde hier ein Chaos anrichten, das wohl nicht mit einer einfachen Entschuldigung zu reparieren wäre. Er nahm seine Tasche vor die Brust, umfasste sie mit beiden Armen und machte einen Schritt rückwärts aus dem Laden heraus. Der Junge blickte ihn amüsiert an.
»Ähmm, ich glaube, das wird so nichts«, sagte Toni. Er zögerte. »Hmm, könntest du vielleicht kurz auf meine Tasche aufpassen? Ich erzeuge darin sonst eine Badewanne aus Schnaps.« Er lachte gekünstelt.
»Klar, ich mache alles.«
Toni nahm die Tasche ab und stellte sie dem Jungen vor die Füße. Er bemerkte erst jetzt, dass diese nur in Sandalen steckten.
»Aber bitte pass gut darauf auf. Ich bin sofort mit deinem Erfrischungsgetränk zurück.« Er drehte sich um und öffnete erneut die Tür, die in der Zwischenzeit zugefallen war.
»AiAiAiAi, Grunz!«
Toni trat ein und fühlte sich dieses Mal durch die freie Beweglichkeit deutlich besser. Der Laden hatte nur eine sehr flache Decke, die höchstens zwei Meter hoch war. Große Menschen dürfen echt keine Vorliebe für Hochprozentiges haben. Die Luft war schlecht. Es roch nach Desinfektionsmittel mit einem Hauch von Zitrone. Von seinem Standpunkt aus gingen zwei Wege ab. Einer davon führte nach links. Dieser endete nach wenigen Metern mit einem Tresen, hinter dem ein Mann mit einer dicken Brille und einem buschigen Schnurrbart saß. Der andere Weg führte geradeaus, tiefer in den Laden hinein.
»Wo habt ihr das Jungfrauenglück?«, rief Toni zu dem Mann am Schalter.
Der Mann schmunzelte, hatte er doch Tonis Balanceakt mit der Tasche von seinem Logenplatz bestens beobachten können.
»Habe ich mir fast gedacht, dass das ein passendes Getränk für Sie ist.« Sein Grinsen wurde breiter.
»Das ist doch nicht für mich, ich kaufe das für…« Er stoppte. Es wäre wahrscheinlich keine gute Idee zu erwähnen, dass er den Schnaps für einen Jugendlichen kaufte.
»…Ähhh…für meine Mutter. Die ist verrückt nach dem Zeug und es soll eine Überraschung werden.«
»Na, da wird sich Ihre Mutter aber freuen…« Er grinste noch immer über beide Wangen.
»Also haben sie das Zeug oder nicht?«, fragte Toni etwas ärgerlich.
»Aber klar, das steht direkt hier vorne. Links in dem kleinen Regal.«
Toni machte zwei Schritte vorwärts und fand den beschriebenen Ort ziemlich schnell. Er nahm sich eine der Flaschen aus dem Regal und ging damit zum Tresen.
»Das macht dann 17 Goldene, bitte.«