Die Erziehung des Kindes - Rudolf Steiner - E-Book

Die Erziehung des Kindes E-Book

Rudolf Steiner

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Beschreibung

"Die Erziehung des Kindes" stellt in kompakter, leicht verständlicher Darstellung die geistigen Grundlagen der Waldorf-Pädagogik dar. Inhalt: - Zu diesem Buch (Cornelius Bohlen) - Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft - Über Erziehungsfragen. Ein Vortrag - Schulfragen vom Standpunkt der Geisteswissenschaft. Ein Vortrag - Anmerkungen - Literatur zum Thema aus dem Werk Rudolf Steiners

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Rudolf Steiner

Die Erziehung des Kindes

Mit einer Einführung von Cornelius Bohlen

Rudolf Steiner Verlag

Zu diesem Buch

Vor bald hundert Jahren erhob Rudolf Steiner seine Stimme zur Frage der Erziehungsreform. Man müsse nicht an der Oberfläche bleiben, sondern zur Wurzel vordringen und die Entwicklung des Menschen zur Grundlage der Erziehung machen. Inzwischen ist der Ruf nach Bildungsreformen zur Dauerkrise geworden. Bildung, so heißt es, sei ein Standortfaktor im globalisierten Konkurrenzkampf. Ständig werden neue Bildungsprogramme gemacht, meistens im Namen der alten Gewalten von staatlicher Bevormundung und wirtschaftlichem Markt. Während sich jedoch Kinder, Eltern und Lehrkräfte immer neuen Forderungen ausgesetzt finden, ist die wesentliche Frage nach wie vor weder eine der Institutionen noch der Lernprogramme. Unveräußerliches Subjekt und Objekt der Bildung ist der individuelle Mensch und sein Werden. Erziehung und Bildung betreffen zuerst und zutiefst das Werden des Menschen innerhalb eines offenen Horizontes der Freiheit, sein eigenes Woher und Wohin? In der Erziehung handelt es sich darum, wie wir die Entwicklungsmöglichkeiten fördern oder hemmen, die den Kindern als Menschen innewohnen. Darum wollte Steiner nachdrücklich kein äußeres Erziehungssystem schaffen, sondern von der Entwicklung des Menschen ausgehen: «Nicht Forderungen und Programme sollen aufgestellt, sondern die Kindesnatur soll einfach beschrieben werden.»

Das Einzigartige an Steiners Beitrag zur Erziehung besteht darin, daß er auf dem Weg der von ihm aufgebauten anthroposophischen Geisteswissenschaft konkrete Forschungsresultate über den Menschen gewann. Ohne sie wären seine Ideen allgemeine humanistische Forderungen, die er mit anderen Philosophen und Pädagogen teilte. Es kam Steiner aber gerade darauf an, konkret die Entwicklung des Kindes zu beschreiben, unter voller Berücksichtigung der unsichtbaren seelischen, moralischen und geistigen Dimensionen, so daß sich aus den Bedingungen dieser Entwicklung die Erziehung ergeben kann. In kühner Weise vergleicht er ganz praktisch und nüchtern die Erziehung mit der Bedienung einer Maschine. Da nütze es nichts, schöne Forderungen aufzustellen oder der Maschine gut zuzureden: «Nur wer nicht mit allgemeinen Redensarten, sondern mit wirklicher Kenntnis der Maschine im einzelnen an sie herantritt, kann sie handhaben. So handelt es sich auch für die Erziehungskunst um eine Kenntnis der Glieder der menschlichen Natur und deren Entwicklung im einzelnen.»

Vom Kleinkind zum Erwachsenen durchlebt der Mensch drei Geburten mit je einer etwa siebenjährigen Entwicklungsphase. Wie Steiner darlegt, folgt auf die Geburt des physischen Leibes mit dem Zahnwechsel diejenige des Ätherleibes, sodann mit der Geschlechtsreife diejenige des Astralleibes. Jede Altersstufe lebt ihre eigenen Qualitäten und verlangt nach den ihr entsprechenden Erziehungsmitteln. Steiners Forschungen ergaben, daß zuerst die Organe der physischen Leiblichkeit heranreifen, dann sich die dauerhaft bleibenden Seeleneigenschaften des Gemüts ausbilden, bevor erst mit der Geschlechtsreife die losgelöste, selbständige Urteilskraft des Verstandes erwacht. Diese Entdeckung ist bis heute die größte Herausforderung für die pädagogische Praxis in einem intellektuellen Zeitalter. Bedeutet sie doch, daß das Lernen mit dem Verstand, wie der Erwachsene es gewöhnlich versteht, der Natur des Kindes zunächst nicht entspricht. Entschieden vertrat Steiner daher die Auffassung, daß die mit der Geschlechtsliebe erwachende freie Urteilskraft nur auf einem zuvor angelegten Boden sinnbildlich-gemüthafter Welterfahrung richtig gedeihe, während sie durch verfrühte intellektuell-abstrakte Bildung zu verkümmern drohe. Dies ist häufig mißverstanden worden. Nicht um ein Abhalten der Intelligenzkräfte handelt es sich, sondern gerade darum, diese in der vollen menschlichen Persönlichkeit zu verankern.

Wie eine Keimzelle enthält die 1907 erschienene Schrift «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft» die Grundideen der anthroposophischen Erziehungskunst. Eine gerade Linie führt von den in dieser kleinen Schrift erstmals niedergelegten Ideen zur heute international verbreiteten Methode der Waldorf- oder Rudolf-Steiner-Pädagogik, die Steiner ab 1919, nach den sozialen Erschütterungen des Ersten Weltkrieges, ins Leben zu rufen vermochte. Mit der Gründung freier Schulen und mit zahlreichen Vortrags- und Lehrerbildungskursen in Deutschland, der Schweiz, England, Holland und Norwegen wuchs der früh veranlagte Sproß in Idee und Praxis zu einem reichen pädagogischen Wirken heran, das einen bedeutenden Zweig von Steiners Gesamtwerk bildet. Die Beobachtung der leiblichen, seelischen und geistigen Natur der kindlichen Entwicklung, wie sie in den Aufbaujahren der anthroposophischen Geisteswissenschaft erstmals skizziert worden war, blieb dabei die wahre Inspirationsquelle aller Pädagogik im Sinne Rudolf Steiners.

Diese Ausgabe enthält die Schrift «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft» und die Nachschriften von zwei Vorträgen, in denen Steiner das Thema mündlich behandelte, bevor er es für die schriftliche Veröffentlichung ausarbeitete: «Über Erziehungsfragen», Steiners ersten Vortrag über anthroposophische Erziehung überhaupt, und den Vortrag «Schulfragen vom Standpunkt der Geisteswissenschaft».

Cornelius Bohlen

Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft

Das gegenwärtige Leben stellt mancherlei in Frage, was der Mensch von seinen Vorfahren ererbt hat. Deshalb zeitigt es so viele «Zeitfragen» und «Zeitforderungen». Was für «Fragen» durchschwirren doch heute die Welt: die soziale Frage, die Frauenfrage, die Erziehungs- und Schulfragen, die Rechtsfragen, die Gesundheitsfragen usw. usw. Mit den mannigfaltigsten Mitteln sucht man diesen Fragen beizukommen. Die Zahl derer, welche mit diesem oder jenem Rezepte auftauchen, um diese oder jene Frage zu «lösen«, oder wenigstens etwas zu ihrer Lösung beizutragen, ist eine unermeßlich große. Und alle möglichen Schattierungen in der menschlichen Stimmung machen sich dabei geltend: der Radikalismus, der sich revolutionär gebärdet, die gemäßigte Stimmung, welche, mit Achtung des Bestehenden, ein Neues daraus entwickeln möchte, und der Konservativismus, der sogleich in Aufregung gerät, wenn irgend etwas von alten Einrichtungen und Traditionen angetastet wird. Und neben diesen Hauptstimmungen treten alle möglichen Zwischenstufen auf.

Wer einen tieferen Blick ins Leben zu werfen vermag, der wird sich allen diesen Erscheinungen gegenüber eines Gefühls nicht erwehren können. Es besteht darinnen, daß unsere Zeit den Anforderungen, welche an die Menschen gestellt werden, vielfach mit unzulänglichen Mitteln gegenübertritt. Viele möchten das Leben reformieren, ohne es in seinen Grundlagen wirklich zu kennen. Wer Vorschläge machen will, wie es in der Zukunft geschehen soll, der darf sich nicht damit begnügen, das Leben nur an seiner Oberfläche kennenzulernen. Er muß es in seinen Tiefen erforschen.

Das ganze Leben ist wie eine Pflanze, welche nicht nur das enthält, was sie dem Auge darbietet, sondern auch noch einen Zukunftszustand in ihren verborgenen Tiefen birgt. Wer eine Pflanze vor sich hat, die erst Blätter trägt, der weiß ganz gut, daß nach einiger Zeit an dem blättertragenden Stamm auch Blüten und Früchte sein werden. Und im Verborgenen enthält schon jetzt diese Pflanze die Anlagen zu diesen Blüten und Früchten. Wie aber soll jemand sagen können, wie diese Organe aussehen werden, der nur das an der Pflanze erforschen wollte, was sie gegenwärtig dem Auge darbietet. Nur der kann es, der sich mit dem Wesen der Pflanze bekannt gemacht hat.

Auch das ganze menschliche Leben enthält die Anlagen seiner Zukunft in sich. Um aber über diese Zukunft etwas sagen zu können, muß man in die verborgene Natur des Menschen eindringen. Unsere Zeit hat aber dazu keine rechte Neigung. Sie beschäftigt sich mit dem, was an der Oberfläche erscheint, und glaubt ins Unsichere zu kommen, wenn sie zu demjenigen vordringen soll, das sich der äußeren Beobachtung entzieht. Bei der Pflanze ist die Sache allerdings wesentlich einfacher. Der Mensch weiß, daß ihresgleichen so und so oft Blüten und Früchte getragen haben. Das Menschenleben ist nur einmal vorhanden; und die Blüten, welche es in der Zukunft tragen soll, waren noch nicht da. Dessen ungeachtet sind sie im Menschen ebenso als Anlagen vorhanden wie die Blüten in einer gegenwärtig erst blättertragenden Pflanze.

Und es gibt eine Möglichkeit, über diese Zukunft etwas zu sagen, wenn man unter die Oberfläche der Menschennatur bis zu ihrem Wesen vordringt. Die verschiedenen Reformideen der Gegenwart können erst wirklich fruchtbar und praktisch werden, wenn sie aus einer solchen tieferen Erforschung des Menschenlebens heraus gemacht werden.

Die Aufgabe, eine das Wesen des Menschenlebens umfassende praktische Weltauffassung zu geben, muß ihrer ganzen Anlage nach die Geisteswissenschaft haben. Ob das, was heute vielfach so genannt wird, berechtigt ist, einen solchen Anspruch zu erheben, darauf kommt es nicht an. Es handelt sich vielmehr um das Wesen der Geisteswissenschaft und darum, was sie diesem Wesen nach sein kann. Nicht eine graue Theorie soll sie sein, welche der bloßen Erkenntnisneugierde entgegenkommt, und auch nicht ein Mittel für einige Menschen, welche aus Selbstsucht für sich eine höhere Stufe der Entwicklung haben möchten. Sie kann sein ein Mitarbeiter an den wichtigsten Aufgaben der gegenwärtigen Menschheit, an der Entwicklung zu deren Wohlfahrt.1

Sie wird allerdings damit rechnen müssen, mancherlei Anfechtungen und Zweifel zu erfahren, wenn sie sich gerade eine solche Mission zuerkennt. Radikale und Gemäßigte sowie Konservative auf allen Gebieten des Lebens werden ihr solche Zweifel entgegenbringen müssen. Denn sie wird es zunächst keiner Partei recht machen können, weil ihre Voraussetzungen weit jenseits allen Parteigetriebes liegen.

Diese Voraussetzungen wurzeln nämlich einzig und allein in der wahren Lebenserkenntnis. Wer das Leben erkennt, der wird nur aus dem Leben selbst heraus sich seine Aufgaben stellen können. Er wird keine Willkürprogramme aufstellen; denn er weiß, daß in der Zukunft keine anderen Grundgesetze des Lebens herrschen werden als in der Gegenwart. Der Geistesforschung wird daher notwendigerweise die Achtung vor dem Bestehenden zukommen. Mag sie in demselben noch so viel Verbesserungsbedürftiges finden: Sie wird nicht ermangeln, in diesem Bestehenden selbst die Keime zur Zukunft zu sehen. Aber sie weiß auch, daß in allem Werden ein Wachsen und eine Entwicklung ist. Deshalb werden ihr in dem Gegenwärtigen die Keime zu einer Umwandlung, zu einem Wachstum erscheinen. Sie erfindet keine Programme, sie liest sie ab aus dem, was ist. Aber, was sie so liest, wird in gewissem Sinne selbst Programm, denn es trägt eben die Natur der Entwicklung in sich.

Gerade deshalb muß die geisteswissenschaftliche Vertiefung in das Wesen des Menschen die fruchtbarsten und am meisten praktischen Mittel liefern bei der Lösung der wichtigsten Lebensfragen der Gegenwart.

Hier soll dies für eine solche Frage gezeigt werden, für die Erziehungsfrage. Nicht Forderungen und Programme sollen aufgestellt, sondern die Kindesnatur soll einfach beschrieben werden. Aus dem Wesen des werdenden Menschen heraus werden sich wie von selbst die Gesichtspunkte für die Erziehung ergeben.

Will man dieses Wesen des werdenden Menschen erkennen, so muß man ausgehen von einer Betrachtung der verborgenen Natur des Menschen überhaupt.

Das, was die Sinnesbeobachtung am Menschen kennenlernt und was die materialistische Lebensauffassung als das Einzige im Wesen des Menschen gelten lassen will, ist für die geistige Erforschung nur ein Teil, ein Glied der Menschennatur, nämlich sein physischer Leib. Dieser physische Leib unterliegt denselben Gesetzen des physischen Lebens, er setzt sich aus denselben Stoffen und Kräften zusammen wie die ganze übrige sogenannte leblose Welt. Die Geisteswissenschaft sagt daher: Der Mensch habe diesen physischen Leib mit dem ganzen Mineralreich gemeinsam. Und sie bezeichnet am Menschen nur als physischen Leib, was dieselben Stoffe nach denselben Gesetzen zur Mischung, Verbindung, Gestaltung und Auflösung bringt, die auch in der mineralischen Welt als Stoffe nach eben diesen Gesetzen wirken.

Über diesen physischen Leib hinaus erkennt nun die Anthroposophie noch eine zweite Wesenheit im Menschen an: den Lebensleib oder Ätherleib. Der Physiker möge sich an der Bezeichnung «Ätherleib» nicht stoßen. «Äther» bezeichnet hier etwas anderes, als den hypothetischen Äther der Physik. Man nehme die Sache einfach als Bezeichnung für das hin, was in dem Folgenden beschrieben wird.