Die Ethik - Baruch de Spinoza - E-Book

Die Ethik E-Book

Baruch de Spinoza

4,8

Beschreibung

Unmittelbar nach seinem Tod auf den Index gesetzt, behandelt Spinozas Schrift Themen von zeitloser Gültigkeit - etwa die Frage nach dem ,richtigen' Gott oder einem glücklichen Leben -, die in ihrer Tragweite aktueller, denn je sind und verdeutlichen, dass der bedeutendste niederländische Philosoph auch unser Zeitgenosse ist.

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Cover

Zum Buch

Die Gedanken des angriffslustigen niederländischen Freigeistes Baruch de Spinoza sind noch heute von ungeheurer Brisanz und praktischer lebensweltlicher Bedeutung. In seinem Hauptwerk, Die Ethik, setzt der Philosoph sich mit den Ur-Fragen menschlicher Existenz auseinander: Was kennzeichnet echtes Glück, wie lässt es sich dauerhaft erreichen und inwiefern ist es an das unendliche Wesen Gottes gebunden? Wie vermag der Einzelne Gott zu erkennen, wie mit seinen Affekten und Leidenschaften verantwortungsvoll umzugehen, bzw. sie in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen? Spinozas Antworten sind dabei nicht nur von überraschender Aktualität, sie weisen ihn zugleich als einen Begründer moderner Bibelkritik aus.

Haupttitel

Baruch de Spinoza

Die Ethik

Übersetzt von Jakob Stern, 
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überdnb.d-nb.de abrufbar.  Alle Rechte vorbehalten  Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012 Die Texte wurden überarbeitet nach den Ausgaben Spinoza: Theologisch-politische Abhandlung. Übersetzt und erläutert von J. H. von Kirchmann. Berlin: L. Heimann, 1870, S. 1-11 und Baruch Spinozas Ethik. Übersetzt von Jakob Stern, Leipzig 1888 Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH Bildnachweis: Ammonit, Gestaltung von Lydia Hoenninger, Emmendingen, www.lydiahoenninger.com, Die Verwendung des Motivs erfolgte mit freundlicher Genehmigung der Freien Akademie für Ethik und Bewusstsein, Emmendingen,www.akademieeb.de          eBook-Bearbeitung: Sina Ramezan Pour

TRACTATUS

Theologico- Politicus

Continens Dissertationes aliquot, Quibus ostenditur Quibus ostenditur Libertatem Philosophandi non tantum salva Pietate, & Reipublicae Pace posse concedi: sed eandem nisi cum Pace Reipublicae, ipsaque Pietate tolli non posse. Johann: Epist: I. Cap: IV. Vers: XIII.   Per hoc cognoscimus quod in Deo manemus, & Deus

Vorrede

Wenn die Menschen alle ihre Angelegenheiten nach einem festen Plan zu besorgen vermöchten, oder wenn das Glück ihnen immer günstig wäre, so würden sie in keinem Aberglauben befangen sein. Allein oft geraten sie in Verlegenheiten, wo sie sich nicht zu raten wissen, und meist verlangen sie nach den ungewissen Glücksgütern so maßlos, dass sie jämmerlich zwischen Furcht und Hoffnung hin und herschwanken, und ihre Seele deshalb Alles zu glauben bereit ist. In solchen Zweifeln genügen schwache Gründe, um sie bald hier- bald dorthin schwanken zu lassen, und in höherem Maße geschieht dies, wenn sie zwischen Angst und Hoffnung eingeklemmt sind, während sie sonst zuversichtlich, prahlerisch und aufgeblasen sind.

Ich meine, dies weiss Jedermann, obgleich die Meisten schwerlich sich selbst kennen mögen. Denn wer unter den Menschen gelebt hat, weiss, wie im Glück selbst die Törichten sich so von Weisheit erfüllt halten, dass sie es übel nehmen, wenn man ihnen einen Rat geben will. Aber im Unglück wissen sie nicht, wohin sie sich wenden sollen. Dann flehen sie Jedweden um Rat an und folgen selbst den verkehrtesten, unsinnigsten und eitelsten Vorschlägen. Ebenso genügen die geringsten Umstände, um sie auf Besseres hoffen oder wieder Schlimmeres befürchten zu lassen. enn ihnen, während sie in Furcht sind, etwas begegnet, was sie an ein früheres Glück oder Unglück erinnert, so nehmen sie es für die Ankündigung eines guten oder übeln Ausganges der Sache, und wenn sie auch hundertmal betrogen worden sind, so nennen sie es doch eine gute oder schlimme Vorbedeutung. Sehen sie etwas Ungewöhnliches, so staunen sie und halten es für ein Wunderzeichen, was den Zorn der Götter oder des höchsten Wesens verkünde, und sowohl die Abergläubischen wie die Ungläubigen meinen, es sei Unrecht, wenn man sie deshalb nicht durch Opfer und Gelübde zu versöhnen suche. Sie erdichten in dieser Weise Unzähliges und erklären die Natur auf so wunderbare Weise, als wenn sie selbst mit ihnen toll geworden wäre.

Während sich dieses so verhält, sieht man, dass vor Allen Diejenigen am meisten allen Arten von Aberglauben zugetan sind, welche das Ungewisse unmässig begehren, und dass alle Menschen vorzüglich dann, wenn sie in Gefahr sind und sich nicht zu helfen wissen, mit Gelübden und weibischen Tränen die göttliche Hilfe erflehen und die Vernunft blind und die menschliche Weisheit eitel schelten, weil sie ihnen den Weg zur Erfüllung ihrer eitlen Wünsche nicht zeigen kann. Dagegen halten sie die Tollheiten, Träume und kindischen Einfälle ihrer Phantasie für göttliche Offenbarungen; sie meinen sogar, Gott hasse die Weisen und verkünde seine Beschlüsse nicht dem Geiste, sondern habe sie den Eingeweiden der Tiere eingeschrieben, und Toren, Wahnsinnige und Vögel verkündeten sie im göttlichen Anhauch und Instinkt. Zu solchem Wahnsinn treibt die Furcht den Menschen; die Ursache also, aus der der Aberglaube entspringt, durch die er erhalten und genährt wird, ist die Furcht.

Verlangt man neben dem bereits Gesagten noch besondere Belege hierfür, so nehme manAlexander den Grossen; dessen Geist wurde erst dann von dem Aberglauben erfasst und wandte erst dann den Wahrsagern sich zu, als er das erste Mal an seinem Glück in den Engpässen von Cilicien zu zweifeln begann. (Man seheCurtius‘Geschichte, Buch V. Kap. 4.) Nach Besiegung des Darius hörte er dagegen auf, Zeichendeuter und Wahrsager zu befragen, bis er wieder durch die Unbill der Zeiten erschreckt wurde, als die Baktrier abgefallen waren, die Skythen ihn zum Kampfe reizten, und er selbst erschöpft an ­einer Wunde darnieder lag. Da, wieCurtiusBd. VII. Kap. 7 sagt, »wandte er sich wieder dem Aberglauben, dem Spiel­werk des mensch­lichen Geistes, zu und hiess denAristander, dem er seine Leichtgläubigkeit mitgeteilt hatte, den Ausgang der Sache durch Opfertiere ermitteln.«

Solcher Beispiele liessen sich noch die Menge beibringen; sie zeigen auf das Deutlichste, dass die Menschen nur in der Furcht dem Aberglauben sich ergeben, dass Alles, was sie in solchem eiteln Glauben verehrt haben, nur Phantasien und irrsinnige Einfälle eines traurigen und furchtsamen Gemütes gewesen sind, und dass die Wahrsager immer dann am meisten das Volk beherrscht haben und den Königen am furchtbarsten gewesen sind, wenn die Not des Staates am grössten war. Allein ich enthalte mich dessen, da dies Jedermann genügend bekannt sein wird.

Aus dieser Ursache des Aberglaubens folgt offenbar, dass die Menschen von Natur für Aberglauben empfänglich sind, wenn auch Andere meinen, es komme davon, dass die Menschen nur verworrene Vorstellungen von Gott haben. Solcher Aberglaube muss natürlich sehr wechseln und schwanken, wie alles Spielwerk des Geistes und wie die Anfälle der Wut. Er kann sich nur durch Hoffnungen, Hass, Zorn oder List schützen, weil er nicht aus der Vernunft, sondern nur aus einem bloßen Affekt, und zwar einem sehr kräftigen entspringt. So leicht es daher ist, die Menschen in jede Art von Aberglauben einzufangen, so schwer ist es, sie in demselben festzuhalten. Die Menge, die immer gleich elend bleibt, mag deshalb niemals lange bei einem Aberglauben aushalten; nur das Neue gefällt ihr am meisten, was noch nicht betrogen hat. Aus dieser Unbeständigkeit sind viele Aufstände und verheerende Kriege hervorgegangen; denn, wie aus dem Obigen erhellt, und Curtius B. IV. Kap. 10 treffend sagt: »Nichts regiert die Menge wirksamer als der Aberglaube.« Deshalb lässt sie unter dem Schein der Religion sich verleiten, bald ihre Könige wie Götter anzubeten und bald wieder zu verwünschen und als die gemeinsame Pest des Menschengeschlechts zu verfluchen.

Um diese Übel zu vermeiden, hat man mit unendlicher Sorgfalt die wahre oder falsche Religion im äussern Gottesdienst und den Gebräuchen so ausgeschmückt, dass sie allen Verleitungen überlegen blieb und im höchsten Gehorsam von Allen gepflegt wurde. Am besten ist dies den Türken gelungen, die sogar alles Streiten darüber für Unrecht halten und den Verstand des Einzelnen mit so viel Vorurteilen beladen, dass in der Seele für die gesunde Vernunft kein Platz, nicht einmal für den Zweifel, übrig bleibt.

Wenn es in monarchischen Staaten als das wichtigste Geheim­mittel gilt, und es da vor Allem darauf ankommt, die Menschen im Irrtum zu erhalten und die Furcht, mit der man sie bändigt, unter dem glänzenden Namen der Religion zu verhüllen, damit sie für ihre Sklaverei, als wäre es ihr Glück, kämpfen und es nicht für schmählich, sondern für höchst ehrenvoll halten, ihr Blut und Leben für den Übermut eines Menschen einzusetzen: so kann doch für Freistaaten nichts Unglücklicheres als dies erdacht und versucht werden, da es der allgemeinen Freiheit geradezu widerspricht, wenn das freie Urteil des Einzelnen durch Vorurteile beengt oder sonst gehemmt wird. Jene Aufstände aber, die unter dem Schein der Religion erregt werden, entspringen nur daraus, dass man über spekulative Fragen Gesetze erlässt, und dass bloße Meinungen wie Verbrechen für strafbar erklärt und verfolgt werden. Die Verteidiger und Anhänger solcher Meinungen werden nicht dem Wohle des Staats, sondern nur der Wut und dem Hasse der Gegner geopfert. Wenn nach dem Rechte eines Staates nur Handlungen verfolgt würden, Worte aber für straflos gälten, so könnten solche Aufstände mit keinem Rechtsvorwande beschönigt werden, und blosse Streitfragen würden sich in keine Aufstände verwandeln.

Da ich das seltene Glück geniesse, in einem Freistaate zu leben, wo Jeder die volle Freiheit des Urteils hat, wo er Gott nach seiner Überzeugung verehren darf, und wo die Freiheit als das teuerste und liebste Besitztum gilt, so schien es mir kein undankbares noch unnützes Unternehmen, wenn ich zeigte, dass diese Freiheit nicht bloß ohne Schaden für die Frömmigkeit und den Frieden des Freistaats gewährt werden kann, sondern dass sie auch nicht aufgehoben werden kann, ohne gleichzeitig diesen Frieden und die Frömmigkeit aufzuheben. Dies ist es hauptsächlich, was ich in dieser Abhandlung darzulegen mir vorgesetzt habe. Zu dem Ende muss ich die erheblichsten Vorurteile in Betreff der Religion, d.h. die Spuren einer alten Knechtschaft andeuten; ebenso aber auch die Vorurteile in Betreff des Rechts der höchsten Staatsgewalt, welches Viele in ausgelassener Frechheit sich zum grossen Teile anmassen, um unter dem Schein der Religion die Gesinnungen der Menge, die noch dem heidnischen Aberglauben ergeben ist, davon abzuwenden und Alles wieder in die Knechtschaft zurückzustürzen. Die Ordnung, in der ich dies ausführen will, werde ich mit wenig Worten angeben; vorher aber möchte ich die Gründe mitteilen, die mich zu dieser Schrift bestimmt haben.

Ich habe mich oft gewundert, wie Menschen, die sich rühmen, der christlichen Religion, also der Liebe, der Freude, dem Frieden, der Mäs­sig­keit und der Treue gegen Jedermann, zugetan zu sein, vielmehr in Unbilligkeit mit einander kämpfen und täglich den erbittertsten Hass gegen einander zeigen können. Man kann deshalb die Gesinnung des Einzelnen eher aus solchem Benehmen als aus jener Religion entnehmen, und es ist längst so weit gekommen, dass man die Christen, Türken, Juden und Heiden nur an ihrer äusseren Tracht und Benehmen, oder nach dem Gotteshause, was sie besuchen, oder nach den Meinungen, an denen sie festhalten, und dem Lehrer, auf dessen Worte sie zu schwören pflegen, unterscheiden kann, während der Lebenswandel selbst bei Allen der gleiche ist. Indem ich den Ursachen dieses Übelstandes nachspürte, schien er mir unzweifelhaft daraus entstanden zu sein, dass es bei der Menge als Religion galt, wenn die Ämter der Kirche als Würden, ihr Dienst als ein Einkommen behandelt, und ihre Geistlichen mit Ehren überhäuft wurden. Als dieser Missbrauch in der Kirche begann, so wurden gerade die schlechtesten Personen von der Leidenschaft erfasst, die heiligen Ämter zu verwalten; der Eifer in Ausbreitung der göttlichen Religion artete in schmutzigen Geiz und Ehrsucht aus; der Tempel selbst wurde damit zu einer Schaubühne, wo man nicht die geistlichen Lehrer, sondern Redner hörte, denen es nicht auf Belehrung des Volkes ankam, sondern die nur bewundert sein und die Andersdenkenden öffentlich bloßstellen wollten. Man lehrte nur das Neue und das noch nicht Gehörte, was die Menge am meisten mit Staunen erfüllte. Daraus musste notwendig viel Streit, viel Neid und Hass entstehen, der durch keinen Zeitverlauf besänftigt werden konnte.

Es ist daher natürlich, dass von der alten Religion nur die äusseren Gebräuche geblieben sind, in denen die Menge Gott mehr zu schmeicheln als anzubeten scheint, und dass der Glaube jetzt in Leichtgläubigkeit und Vorurteile sich umgewandelt hat; und in welche Vorurteile! In solche, die den vernünftigen Menschen zu einem Tiere machen, die verhindern, dass man sein Urteil frei gebrauche und das Wahre von dem Falschen unterscheide, und die absichtlich dazu ausgedacht sind, das Licht des Verstandes völlig zu verlöschen. Die Frömmigkeit, o unsterblicher Gott! und die Religion bestellt aus verkehrten Geheimmitteln; wer die Vernunft gänzlich verachtet und den Verstand wegen seiner natürlichen Verderbniss verwirft und verabscheut, der gilt, – und das ist das Härteste, – als der Inhaber des göttlichen Lichts. Wenn sie nur einen Funken des göttlichen Lichts hätten, könnten sie nicht so frech wahnwitzige Reden führen, sondern würden lernen, Gott klüger zu verehren; nicht durch Hass, sondern durch Liebe würden sie vor den Übrigen sich auszeichnen; nicht mit feindlicher Gesinnung würden sie Andersdenkende verfolgen, sondern sich ihrer vielmehr erbarmen, in Sorge um deren Heil und nicht um die eigne Macht.

Auch würde ihre Lehre es zeigen, wenn sie etwas von dem göttlichen Licht besässen; allein ich sehe wohl, dass sie die tiefsten Geheimnisse der Bibel immer auf das Höchste bewundert haben, aber gelehrt haben sie nichts, ausser die Aristotelische und Platonische Philosophie, welche sie überdem, damit es nicht scheine, sie folgten den Heiden nach, der Bibel angepasst haben. Sie begnügten sich nicht, mit den Griechen wahnwitzig zu reden; sie wollten auch, dass die Propheten dasselbe getan. Dies zeigt, dass sie die Göttlichkeit der Bibel nicht einmal im Traum erkannt haben. Je mehr sie deren Geheimnisse anstaunen, desto mehr zeigen sie, dass sie an die Bibel nicht glauben, sondern ihr nur beitreten. Dies erhellt auch daraus, dass man für deren Verständnis und die Ermittelung des wahren Sinnes in der Regel als Grundsatz hinstellt, die Bibel sei überall wahrhaftig und göttlich. Ein solcher Satz sollte nur in Folge deren Verständnisses und als Ergebniss einer strengen Prüfung aufgestellt werden; aber statt dessen stellen sie gleich an der Schwelle als Regel der Auslegung das hin, was weit besser erst aus der Bibel abgeleitet werden könnte, die der menschlichen Erdichtungen nicht bedarf.

Indem ich so bei mir erwog, wie das natürliche Licht nicht bloß verachtet, sondern von Vielen selbst als Quelle der Gottlosigkeit verdammt wird; wie menschliche Erdichtungen für göttliche Lehren gelten; wie die Leichtgläubigkeit für Glauben gehalten wird; wie die Streitigkeiten der Philosophen in der Kirche und im Rathause mit der grössten Leidenschaft verhandelt werden, und daraus wütender Hass und Unfriede, der die Menschen selbst bis zu dem Aufstande treibt, und Anderes entsteht, das hier aufzuzählen zu lang sein würde: so beschloss ich, ernstlich die Bibel von Neuem mit vollem und freiem Geiste zu prüfen und nur das von ihr zu behaupten und als ihre Lehre zuzulassen, was unzweifelhaft aus ihr sich ergibt.

Mit solcher Vorsicht habe ich mein Verfahren für Auslegung der heiligen Schriften eingerichtet, und auf solches gestützt, habe ich vor Allem ermittelt, was die Weissagung sei, und in welcher Weise Gott sich den Propheten geoffenbart habe, und weshalb diese von Gott erwählt worden; ob es wegen der erhabenen Gedanken geschehen sei, die sie von Gott und von der Natur gehabt, oder bloß um ihrer Frömmigkeit willen. Nachdem ich hierüber Gewissheit erlangt, konnte ich leicht erkennen, dass das Ansehn der Propheten nur in den Dingen Bedeutung hat, welche den Lebenswandel und die wahre Tugend betreffen, und dass im Übrigen ihre Ansichten uns nicht berühren.

Nach Feststellung dessen ermittelte ich weiter, weshalb die Juden die Auserwählten Gottes genannt worden sind. Als ich erkannte, dass dies bloß geschehen, weil Gott ihnen ein besonderes Land auf dieser Erde ausgewählt, wo sie sicher und gemächlich leben konnten, so erkannte ich auch, dass die von Gott dem Moses offenbarten Gesetze nur das Recht des besonderen jüdischen Staats bezeichnen, weshalb Niemand ausser ihnen sie anzunehmen braucht, und dass selbst Diese nur für die Dauer ihres Reiches daran gebunden waren.

Um ferner zu wissen, ob man aus der Bibel folgern könne, dass der menschliche Verstand von Natur verderbt sei, so ermittelte ich, ob die katholische Religion oder das göttliche Gesetz, was durch die Propheten und Apostel dem ganzen Menschengeschlechte geoffenbart worden, von der verschieden sei, welche das natürliche Licht lehrt; und ferner, ob Wunder gegen die Ordnung der Natur geschehen sind, und ob das Dasein und die Vorsehung Gottes sicherer und klarer durch Wunder bewiesen werde, als durch die Dinge, welche wir klar und deutlich nach ihren obersten Ursachen erkennen. So fand ich, dass in den ausdrücklichen Lehren der Bibel nichts enthalten ist, was mit dem Verstande nicht übereinstimmt oder ihm widerspricht, und dass die Propheten nur ganz einfache Dinge gelehrt haben, die Jedermann leicht begreifen konnte, und dass sie nur dieselben mit solchen Ausdrücken verziert und mit solchen Gründen unterstützt haben, welche die Gemüter der Menge am meisten zur Ehrfurcht gegen Gott bewegen konnten. Ich überzeugte mich, dass die Bibel die Freiheit der Vernunft völlig unbeschränkt lässt, dass sie nichts mit der Philosophie gemein hat, und dass sowohl diese wie jene auf ihren eignen Füßen steht. Um dies aber zweifellos darzulegen und die Sache zu entscheiden, zeige ich die Art, wie die Bibel auszulegen ist, und wie die ganze Kenntniss von ihr und von den geistlichen Dingen aus ihr allein und nicht aus dem, was man mit dem natürlichen Licht erfasst, abgeleitet werden muss.

Sodann decke ich die Vorurteile auf, die daraus entstanden sind, dass die Menge, welche dem Aberglauben ergeben ist und die Religion der Zeit mehr als die Ewigkeit selbst liebt, lieber die Bücher der Bibel als Gottes Wort selbst anbetet. Demnächst zeige ich, dass das Wort Gottes nicht in einer bestimmten Zahl von Büchern offenbart ist, sondern die einfache Vorstellung des göttlichen Geistes ist, wie er sich den Propheten offenbart hat, und zwar dahin, Gott mit ganzem Herzen zu gehorchen und die Gerechtigkeit und Liebe zu pflegen. Ich zeige, dass in der Bibel dies gemäß der Fassungskraft und Kenntnis Derer gelehrt wird, denen die Propheten und Apostel das Wort Gottes zu predigen pflegten, und dass sie es so getan haben, damit die Menschen es ohne Widerstreben und mit ganzem Gemüte ergriffen.

Nachdem ich so die Grundlagen des Glaubens dargelegt habe, folgere ich, dass der Gegenstand der geoffenbarten Erkenntnis nur der Gehorsam sei, und deshalb von der natürlichen Erkenntnis sowohl dem Gegenstande, wie den Grundlagen und Mitteln nach gänzlich verschieden sei, mithin beide nichts mit einander gemein haben, sondern jede ihr Reich ohne alles Widerstreben der andern besitze und keine die Magd der andern zu sein brauche. Da ferner der Geist der Menschen verschieden ist, und dem Einen diese, dem Andern jene Meinung besser gefällt, und da das, was den Einen zum Glauben, den Andern zum Lachen bestimmt, so folgere ich ferner, dass Jedem die Freiheit seines Urteils und das Recht, die Grundlagen des Glaubens nach seiner Einsicht auszulegen, gelassen werden müsse, und dass der Glaube eines Jeden nur nach seinen Werken, ob diese fromm oder gottlos, beurteilt werden dürfe. Denn dann werden Alle von ganzem Herzen und frei Gott gehorchen können, und nur die Gerechtigkeit und Liebe wird bei Allen im Werte stehen.

Nachdem ich diese Freiheit, welche das geoffenbarte göttliche Gesetz Jedem gewährt, dargelegt, gehe ich zu dem zweiten Teil der Untersuchung über und zeige, dass diese Freiheit auch ohne Gefahr für den Frieden des Staats und die Rechte der höchsten Staatsgewalt bewilligt werden kann, ja muss, und ohne Gefährdung des Friedens und ohne Schaden für den Staat nicht genommen werden kann. Ich beginne zum Beweise dessen mit dem natürlichen Rechte jedes Einzelnen. Dies erstreckt sich so weit, als sein nach dem Naturrecht gehalten, nach eines Andern Willen zu leben, sondern Jeder ist Herr über seine Freiheit. Ich zeige ferner, dass Niemand dieses Rechtes verlustig geht, ausser wenn er seine Macht, sich zu verteidigen, auf einen Andern überträgt, und dass Derjenige notwendig und unbedingt dieses natürliche Recht erhalte, auf den der Andere das Recht, nach seinem Willen zu leben, zugleich mit der Macht, ihn zu verteidigen, übertragen hat. Damit zeige ich, dass die Inhaber der höchsten Staatsgewalt ein Recht auf Alles haben, so weit ihre Macht reicht; dass sie allein die Bewahrer des Rechts und der Freiheit sind, und dass die Übrigen in ihrem ganzen Handeln nur die Anordnungen Jener zu befolgen haben. Allein da Niemand sich der Macht, sich zu verteidigen, so begeben kann, dass er ein Mensch zu sein aufhört, so folgere ich daraus, dass Niemand seines natürlichen Rechtes ganz beraubt werden kann, und dass die Untertanen Manches gleichsam nach dem Naturrecht behalten, was ihnen ohne grosse Gefahr für den Staat nicht genommen werden kann, und was ihnen deshalb entweder stillschweigend zugestanden wird, oder was sie Denen gegenüber, die die Staatsgewalt inne haben, ausdrücklich sich vorbehalten.

Nach diesen Betrachtungen gehe ich auf den jüdischen Staat über und zeige, auf welche Weise und durch welche Beschlüsse die Religion hier die Kraft eines Gesetzes zu erhalten begann, und erwähne da nebenbei auch noch Anderes ausführlich, was des Wissens wert ist. Demnächst zeige ich, dass die Inhaber der höchsten Staatsgewalt nicht bloß die Bewahrer, sondern auch die Ausleger, sowohl von dem bürgerlichen wie von dem geistlichen Recht sind, und dass sie allein befugt sind, zu bestimmen, was recht und unrecht, was fromm und gottlos sein soll. Endlich schließe ich damit, dass dieses Recht am besten bewahrt und diese Herrschaft sicher erhalten werde, sofern nur Jedem das, was er will, zu denken, und das, was er denkt, zu sagen gestattet ist.

Dies biete ich den philosophischen Lesern zur Prüfung. Ich hoffe, sie werden es gern aufnehmen, da der Gegenstand sowohl des ganzen Werks wie der einzelnen Kapitel bedeutend und nutzbringend ist. Ich würde noch mehr sagen, allein diese Vorrede soll nicht zu einem Bande anschwellen, und das Hauptsächlichste ist ja bereits dem Philosophen genügend bekannt, während es nicht meine Absicht ist, den Übrigen diese Abhandlung zu empfehlen, da ihnen schwerlich darin etwas in irgend einer Beziehung gefallen wird. Denn ich weiß, wie hartnäckig gerade die Vorurteile dem Geist anhaften, die unter dem Schein der Frömmigkeit aufgenommen worden sind, und ich weiss auch, dass es gleich unmöglich ist, der Menge den Aberglauben wie die Furcht zu benehmen; ich weiss endlich, dass die Hartnäckigkeit der Menge zähe ist, und dass sie sich nicht durch die Vernunft leiten, sondern durch die Leidenschaft zum Lob und Tadel hinreißen lässt. Ich lade deshalb den großen Haufen und Alle, welche die gleichen Leidenschaften mit ihm hegen, zum Lesen dieser Schrift nicht ein, vielmehr ist es mir lieber, sie legen sie ganz bei Seite, als dass sie sie wie Alles verkehrt auslegen und damit lästig fallen. Sie haben dann davon keinen Nutzen und schaden Anderen, die freisinniger philosophieren würden, wenn sie nicht meinten, die Vernunft müsse die Magd der Theologie bleiben; denn Diesen würde sicherlich dieses Werk von großem Nutzen sein.

Endlich haben vielleicht Viele weder die Müsse noch die Absicht, die ganze Schrift durchzulesen; ich muss deshalb hier ebenso, wie es am Schluss derselben geschehen ist, erinnern, dass ich Alles, was ich schreibe, gern und willig dem Urteil der höchsten Staatsgewalt meines Vaterlandes unterbreite. Sollte diese finden, dass das, was ich sage, im Widerspruch mit den Gesetzen des Landes stehe oder dem allgemeinen Wohl Schaden bringe, so will ich es nicht gesagt haben; denn ich weiß, dass ich ein Mensch bin und irren kann. Indes habe ich mich ernstlich vor Irrtümern zu bewahren gesucht und vor Allem gesorgt, dass Alles, was ich schrieb, mit den Gesetzen meines Landes, mit der Frömmigkeit und den guten Sitten durchaus übereinstimme.

Anmerkungen des Übersetzers

Die aus dem Jahre 1887 stammende, verdienstvolle Übersetzung von Spinozas Ethik durch Jakob Stern wurde für die Neuausgabe an vielen Stellen dem gegenwärtigen Sprachgebrauch angepasst sowie inhaltlich präzisiert, wobei unzutreffende oder uneinheitliche Übersetzungen korrigiert wurden. Der Leitgedanke der Überarbeitung war, den Duktus der Stern-Übersetzung beizubehalten und dabei behutsam vorzugehen unter dem Motto: soviel wie nötig, sowenig wie möglich. Die alte Rechtschreibung wurde deshalb dort, wo sie weiterhin gestattet ist, angewandt.

Die Übersetzungen Lust für laetitia und Unlust für tristitia wurden beibehalten, die der Intention des Textes eher entsprechen dürften als Freude und Trauer, die in aktuellen Übersetzungen bevorzugt werden. Die Begriffe Freude und Trauer sind zu eng geführt, provozieren Zweideutigkeiten und transportieren zu wenig vom Bedeutungsumfang, wie er sich aus Spinozas weiter gehenden Beschreibungen für laetitia und tristitia erschließen lässt. Spinozas Interpretation von laetitia und tristitia lässt sich in eine Reihe stellen mit den Überlegungen antiker Ethik (Epikur) bis zum klassischen Utilitarismus (Bentham, Mill), für die die Übersetzungen Lust und Unlust ebenfalls die passendsten und üblich sind.1

Die eigentümliche Übersetzung Sterns von modus als Daseinsform wurde rückgängig gemacht, um die drei grundlegenden ontologischen Begriffe Spinozas: Substanz,Attribut, Modus als Fremdwörter gleichzuschalten. Deutsche Begriffe provozieren an dieser Stelle zu große Missverständnisse und würden die Grenze von der Übersetzung zur Interpretation zu weit überschreiten. Beibehalten aber wurde der Sternsche Begriff der Erregung für Affektion; der körperbezogene Gehalt wird damit sehr deutlich.

Stern hatte gelegentlich ein- und dieselbe Übersetzung für verschiedene lateinische Begriffe gewählt. Hier wurde aus Gründen der Präzision in seine Übersetzung eingegriffen: Differenziert wurden die Übersetzungen der Begriffe vis mit Kraft, potentia mit Macht und potestas mit Gewalt; die Stern-Übersetzung Tätigkeitsvermögen für potentia agendi wurde aber beibehalten – ein immer noch sehr gut passender Begriff, der die alternativen Übersetzungsmöglichkeiten Wirkungsmacht oder Handlungsmacht integriert, zugleich aber den durch den lateinischen Text angezielten Gehalt des Könnens deutlicher hervorhebt. Die Begriffe cupiditas mit Begierde, appetitus mit Trieb und impetus mit Antrieb wurden ebenfalls besser voneinander abgegrenzt.

Jede Übersetzung ist immer auch eine Interpretation. Bei allen Eingriffen muss doch festgestellt werden, dass die über einhundert Jahre alte Stern-Übersetzung, damals schon ein Markstein, immer noch ein zentraler Orientierungspunkt für jede Neu-Übersetzung oder Übersetzungsbearbeitung der Ethik Spinozas ist.

Erster Teil der Ethik: Über Gott

Definitionen

1. Unter Ursache seiner selbst verstehe ich etwas, dessen Wesen die Existenz einschließt, oder etwas, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann.2. Dasjenige Ding heißt in seiner Art endlich, das durch ein anderes von gleicher Natur begrenzt werden kann. Ein Körper z.B. heißt endlich, weil wir stets einen anderen größeren begreifen. Ebenso wird ein Gedanke durch einen anderen Gedanken begrenzt. Dagegen wird ein Körper nicht durch einen Gedanken noch ein Gedanke durch einen Körper begrenzt.3. Unter Substanz verstehe ich das, was in sich ist und durch sich begriffen wird; d.h. etwas, dessen Begriff nicht den Begriff eines anderen Dinges nötig hat, um daraus gebildet zu werden.4. Unter Attribut verstehe ich dasjenige, was der Verstand an der Substanz als zu ihrem Wesen gehörend erkennt.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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