Die Experimentalwelt - Dieter Schäfrig - E-Book

Die Experimentalwelt E-Book

Dieter Schäfrig

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Beschreibung

Die Experimentalwelt Der Inhalt eines Briefes und die Diagnose des behandelnden Arztes befördern Mert in die dunkelste Ecke seines Lebens. Geschwächt durch Medikamente und gestärkt durch einen unbändigen Lebenswillen, öffnet sich ihm ein Portal in eine Welt, die er zuerst für eine Traumwelt hält. Erst ein Besucher aus dieser Welt beweist ihm, dass diese fremde Welt real ist. Zuerst hält er diese Welt für das Paradies, weil sie in der Lage ist, ihn zu heilen. Doch bald wird er erfahren, dass diese Welt von Rätseln und ungewöhnlicher Gefahren durchdrungen ist. Sein neuer ungewöhnlicher Freund sowie ein zynischer, weiblich anmutender Roboter erfordern seine vollkommene Aufmerksamkeit. Zusammen mit ihnen besteht Mert zahlreiche Abenteuer mit und gegen Roboter, Blutwürmer und Pflanzenwesen auf dem Experimentalplaneten.

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Seitenzahl: 429

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Die Experimentalwelt

Der Inhalt eines Briefes und die Diagnose des behandelnden Arztes befördern Mert D’proone in die dunkelste Ecke seines Lebens. Geschwächt durch Medikamente und gestärkt durch einen unbändigen Lebenswillen, öffnet sich ihm ein Portal in eine Welt, die er zuerst für eine Traumwelt hält. Erst ein Besucher aus dieser Welt beweist ihm, dass diese fremde Welt real ist. Zuerst hält er diese Welt für das Paradies, weil sie in der Lage ist, ihn zu heilen. Doch bald wird er erfahren, dass diese Welt von Rätseln und ungewöhnlicher Gefahren durchdrungen ist. Sein neuer ungewöhnlicher Freund sowie ein zynischer, weiblich anmutender Roboter erfordern seine vollkommene Aufmerksamkeit. Zusammen mit ihnen besteht Mert D’proone zahlreiche Abenteuer mit und gegen Roboter, Blutwürmer und Pflanzenwesen auf dem Experimentalplaneten.

Kapitel

Kapitel 1 Einfach leben

Kapitel 2 Eine fremde Welt

Kapitel 3 Der Besucher

Kapitel 4 Tekeler-B

Kapitel 5 Der Blutwurm

Kapitel 6 Veränderung

Kapitel 7 Der Angriff

Kapitel 8 Culpa

Kapitel 9 Das fliegende U-Boot

Kapitel 10 Die Befreiung

Kapitel 11 Das Raumschiff

Kapitel 12 Planet der Käfer

Kapitel 13 Das letzte Gefecht

Personen und Erklärungen

Der Autor

Kartenausschnitt des Experimentalplaneten

Die Experimentalwelt

Kapitel 1

Einfach leben

„Streng vertraulich.

Nur persönlich zu öffnen.“

Solch einen Brief hatte er noch niemals erhalten. Diese

Mitteilung war in großen Buchstaben schräg auf den Brief gestempelt. Absender war das Gesundheitsamt. Der Inhalt des Briefs war einfach gehalten. Mert D’proone hatte sich umgehend im Gesundheitsamt vorzustellen.

Nun flattert einem nicht jeden Tag solch eine Botschaft ins Haus und dementsprechend reagierte Merts Körper mit einem leichten Druck in der Magengegend. Dieser Druck setzte sich vom Magen ausgehend bis in die Fingerspitzen fort. Und eben diese Finger drückten nun die Tasten seines Telefons. Kontakte wurden ausgelöst, die weiterhin veranlassten, dass er mit einer Person am anderen Ende der Telefonleitung verbunden wurde.

Mert verlangte es natürlich nach einer Erklärung, doch es gab nur eine Auskunft für ihn. „Herr D’proone, melden Sie sich möglichst heute noch persönlich bei uns!“

Diese klägliche Mitteilung sprach leise für sich. Er brauchte auch nicht genau hinzuhören. In ihm flüsterte es:

„Es hat dich erwischt!“

Frau Doktor Rosendorn nahm ihm all seine Sorgen mit der Bemerkung: „Es muss doch nicht immer so schrecklich sein, wie es ausschaut.“ „Herr Mert, bitte begeben Sie sich in Umkleidekabine zwei, machen Sie Ihren Oberkörper frei und treten Sie dann durch die gegenüberliegende Tür in den Röntgenraum. Ich erwarte Sie dort.“

Der Kloß in seinem Hals hinderte ihn daran, auch nur ein einfaches „Ja“ herauszubringen. Kopfnickend begab er sich zur Tür Nummer 2. In der kleinen fensterlosen Kabine befand sich eine trübe Glühlampe, die ihren schwachen Schein erst verbreitete, nachdem er die Tür verriegelt hatte. Altes dunkles Holz verbreitete einen muffigen Geruch, und es schien ihm, als ob die Angst all derer, die sich jemals in dieser Kabine befunden hatten, gegenwärtig wäre.

Die Röntgenaufnahmen hingen nebeneinander an einer von hinten beleuchteten Klemmvorrichtung in Dr. Rosendorns Büro. Das Büro war klein und in einem schlichten Weiß gehalten. D’proone saß auf einem harten Holzstuhl und betrachtete von dort aus die Röntgenbilder, die ihm den Eindruck vermittelten, auf eine im Nebel liegende, tote Landschaft zu starren. Das Gesicht der Ärztin wirkte ernst, ihre Ausführungen niederschmetternd: „Herr Mert, die Aufnahmen bestätigen unsere Annahme, dass sich in Ihrem Thorax etwas ereignet, was dringend einer näheren Untersuchung bedarf.“ Mert rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, als er fragte: „Ist es Krebs, ich bin fünfundzwanzig, bei Lungenkrebs in meinem Alter geht es doch sehr schnell, oder?“

Dr. Rosendorn lächelte kurz, aber vielsagend. „Ich werde versuchen, für Sie morgen ein Bett in der Lungenfachklinik Heckeshorn zu bekommen. Dort werden weitere Untersuchungen stattfinden. Es liegen für eine eindeutige Diagnose einfach noch zu wenige Informationen vor.“ Das Gespräch setzte sich fort: Angaben zur Person, bekannte Erkrankungen, Familienstand und so weiter und so fort. Er dachte: „Das kann doch alles nicht wahr sein, es hat dich tatsächlich erwischt! „Doch gleich wache ich auf, dann war alles nur ein schlechter Traum.“

Erwachen, er wollte erwachen, warmer Uringeruch verband sich mit Ekel. Merts Blase hatte sich entspannt. Kurz gesagt, er hatte ins Bett gepinkelt. Operationen und Chemotherapien hatten seine Nerven schwach werden lassen. Das Einnässen war eine Folgeerscheinung der Behandlung mit sehr starken Medikamenten. Oft quälten ihn starke Krämpfe in den Waden oder an den Fußsohlen, sodass in der Nacht der Weg zur Toilette zum Bußgang wurde. Die Arme schliefen ständig früher ein als er. Übelkeit kam in ihm auf. Auf den Außenseiten der Füße laufend, die Fußsohlen waren verkrampft, die Schlafshorts uringetränkt, erreichte Mert das Toilettenbecken. Fest das Klo umklammernd, kotze er hinein. Graue Gestalten griffen nach seinen Augäpfeln, zerrten daran, traten seine Gallenblase mit Füßen, grüner Schleim ergoss sich in das Toilettenbecken. Erschöpft, besudelt sank er ohnmächtig in sich zusammen.

Kapitel 2

Eine fremde Welt

Der warme Wind wirbelte sie durcheinander, verhalf jedem einzelnen Haar zum Leben. Sie bewegten sich wie Tänzer auf einer viel zu kleinen Tanzfläche. Jedes tanzte für sich und doch war eine gewisse Harmonie zu erkennen.

Insekten summten die Melodie dazu. Ein kräftiger Windstoß ließ die Blätter der Bäume applaudieren, das Summen verstummte, die Tänzer verneigten sich. Stille.

Mert D’proone glaubte zu träumen, aus Angst, wieder am Toilettenbecken zu hocken, hielt er die Augen noch geschlossen. In der Ferne hörte er das Plätschern eines Wasserlaufs, Sonnenstrahlen wärmten wohltuend seine nackte Brust. Seine Hände griffen in weiches Gras, grobe Baumrinde drückte in seinen Rücken. Plötzlich, Mundgeruch, etwas Feuchtes glitt über sein Gesicht, Schleim tropfte ihm auf die Oberschenkel. „Uh, was soll das!“, rief Mert erschrocken.

Das Echo seines Ausrufs wurde begleitet von einem erschrockenen Quieken. Mert riss die Augen auf und dachte im gleichen Moment des Erkennens: „Bloß nicht aufwachen, zum Glück sind Träume ungefährlich.“ Das schleimige Ding bewegte sich wie ein geflügelter Affe, die Fellfarbe der Kreatur veränderte sich ständig. Das Wesen legte seinen Kopf schräg, spitzte sein Maul und gab überraschte Geräusche von sich.Voller Ekel wischte sich Mert über sein Gesicht, der Schleim auf seinen Schenkeln tropfte in das Gras, auf dem er saß. Merts Blick wanderte sehr langsam von seinem Oberschenkel zu seinem Bauch mit der roten Narbe – nackt, er war vollkommen nackt. Der laue Wind spielte mit den kleinen Härchen an seinem unbekleideten Körper. Nie war ihm ein Traum bewusster und klarer als in diesem Augenblick. Noch immer in dem Glauben, er träume, stand er auf, wandte sich an das kleine Monster und sagte: „He, sag mal, du Affe, warum hast du mich vollgeschleimt?“ Das Wesen saß ruhig im Gras, seine kurzen, ledrigen Flügelchen zitterten leicht, sein kurzes Fell hatte nun die Farbe des Grases angenommen. Mert konnte sogar kleine Blüten auf dem Fell erkennen, die sich leicht im Wind bewegten. Konzentriert blickte die fremde Kreatur in seine Richtung, nur das schmale Hinterteil und der lange Schwanz bewegten sich sehr langsam hin und her. Solch ein Verhalten erinnerte Mert an seine damalige Katze. Diese benahm sich ähnlich, bevor sie zum tödlichen Sprung auf eine Maus ansetzte. Merts Augen hielten automatisch Ausschau nach einem Knüppel – oder vielleicht doch lieber nach einem Stein. Die Wangen des fremden Wesens blähten sich blitzschnell auf, ähnlich wie ein Frosch beim Quaken. Plopp! Die Zunge schoss auf Mert zu, verfehlte ihn nur knapp und bohrte sich mit einem satten „Kraks“ neben sein Ohr in den dahinter stehenden Baum. Kleine Spritzer berührten sein Ohr und seinen Hals.

Piegel zog seine Zunge zurück. Ein handtellergroßes Insekt verschwand mit lautem Schmatzen im Maul des Monsters.

Mert wusste, es hatte Piegel geschmeckt. „He, Piegel, guten Appetit“, rief er dem Wesen zu. Das Monster richtete sich zu seiner vollen Größe von etwa einem Meter auf, entledigte sich sämtlicher angestauter Luft und spitzte dazu seine Lippen, wobei die Oberlippe seine untere Lippe etwas überragte. Ein Speicheltropfen glänzte am spitzen Ende der Oberlippe. Mert mochte dieses Wesen. Er spürte dessen Zuneigung, wusste den Namen des Wesens, konnte jedoch nicht ergründen, warum. Plötzlich drehte sich Piegel um und hüpfte in leicht gebückter Haltung die Wiese hinab, blickte noch einmal zurück, um kurz darauf im Ufergras eines Sees zu verschwinden.

Normalerweise träumte Mert solche Geschichten nicht.

Niemals zuvor hatte er so intensiv geträumt, schon gar nicht mit dem Bewusstsein zu schlafen. Aber warum sich Gedanken machen? Es ging ihm doch gut. Er zog die frische, nach Blüten duftende Luft durch die Nase ein, blies seine Wangen auf, Zunge raus, Plopp. Lachend und kopfschüttelnd verfolgte er Piegel bis zum Ufer des Sees.

Dieser angelte bereits mit seiner Zunge nach kleinen Fischen. Übermut machte sich in Mert breit. „Bratfisch, eine gute Idee“, kam ihm in den Sinn. Das glasklare Wasser lud zum Baden ein und kühlte angenehm seine Knöchel. Dunkle Schatten bewegten sich in der Tiefe.

„Egal“, sagte er sich, „Träume sind zum Ausleben aller Wünsche wie geschaffen. Was soll denn schon geschehen?“ Mert sprang in tieferes Wasser, kleine Blasen streichelten seinen Körper, plötzlich ergriff ihn eine alles durchdringende Angst und ließ ihn panisch auftauchen.

Wild mit den Armen herumrudernd sah er sich um. Am Ufer, laut quiekend, die Zunge straff gespannt, kämpfte Piegel mit einem für ihn viel zu großen Fisch. Das Wasser brodelte an der Stelle, an der Piegels Zunge in das Wasser tauchte. Auf seinem Fell pulsierten bunte Farben. Das Maul weit aufgerissen, versuchte Piegel mit seinen großen Augen in Merts Richtung zu schauen, was ihm nur teilweise gelang, da die gespannte Zunge ihn immer wieder in Blickrichtung seiner Bedrängnis zwang. Mert sah die Panik in Piegels Augen, rasender Kopfschmerz explodierte in seinem Schädel. Wie durch einen Schleier sah er sich auf Piegel zuschwimmen, zugleich schrie es in ihm nach Hilfe.

So schlagartig, wie sich die Vision zeigte, war sie auch schon wieder verschwunden. „Durchhalten“, dachte Mert, als er sah, wie Piegel in das Wasser rutschte. „Ich komme!“ Die Lungen brannten und Merts Schultern schmerzten vor Anstrengung, als er nach dem Fisch tauchte. Es war ein hässlicher, glotzäugiger Seebewohner mit knorriger, grobschuppiger Haut, der wie von Sinnen an Piegels Zunge, die eigentlich ihm zum Verhängnis werden sollte, zog. Beherzt und selbst fast wahnsinnig vor Angst griff Mert zu. Mit beiden Armen umklammerte er den Fisch, presste ihn fest zusammen und dachte: „Schon einmal einen Fisch erwürgt?“ Dieser hingegen krallte sich mit seinen acht kurzen Beinchen fest in Merts Haut. Die Ohren schmerzten, der immer stärker werdende Wasserdruck und die Luftnot, gemischt mit einer jäh eintretenden inneren Erleichterung, führten zum Lösen der Umklammerung.

Silbrig glänzte die Wasseroberfläche, als Merts Gedanken erloschen.

Bei seinem Versuch, Piegel zu retten, hatte Mert die Toilettenrolle von der Wand gerissen. Die prall gefüllte Wärmflasche, die er zuvor neben dem Toilettenbecken fallen ließ, um sich der Übelkeit hinzugeben, hielt er fest umklammert. Tränen standen in seinen Augen, er ließ sich treiben und weinte aus ganzem Herzen. „Das Leben geht weiter“, dachte er bei sich, „noch geht es weiter“, und er verpasste dem roten Fisch aus Gummi einen Tritt, sodass ihm der Schraubverschluss aus dem Einfüllstutzen flog.

Das Badezimmer nebst Toilette war schnell gereinigt, es war ja ohnehin schon angefeuchtet. Nur noch aufwischen, zwischendurch mal etwas übergeben, spülen, Toilettenbecken und Mundraum, weiter wischen. Was sind schon zwei Stunden? Die acht Kratzwunden unter seinem Hemd brannten fürchterlich. Waren sie auch nur Zeugen seines Traumes? Desinfektion musste sein, also her mit dem Rasierwasser. Ein intensiver Schmerz, ausgehend von dem Alkohol im Rasierwasser, weckte Merts Kampfeswillen. Noch zwei Wochen bis zur nächsten Behandlung, er konnte und durfte diese Zeit nicht mit Traurigkeit und Angst verbringen. Er wollte leben, die Chancen standen nicht schlecht, er würde kämpfen, nicht aufgeben und gewinnen.

Donnerstag!

Der Tag der dritten Zytostatika-Anwendung, 7 Uhr.

Mert hielt sich in einem etwas älteren Seitenflügel des Krankenhauses Berlin-Westend auf. Im Behandlungszimmer roch es stark nach Reinigungsmitteln, die zur Fußbodenreinigung genutzt wurden. Die Fenster standen offen, auf dem Boden lag eine runde, flache Schachtel, die sich bei genauerer Betrachtung als Ameisenfalle entpuppte, und unter den Fenstern blätterte die Farbe ab. In den beiden Nebenräumen befanden sich eine Toilette und eine Badewanne mit Dusche. Der starke Geruch der Reinigungsmittel war allgegenwärtig, der Geruch befand sich sogar schon in seinem Kopf. Ihm war kalt und er schwitzte.

Mert zwang sich zur Ruhe, sein Puls raste. Nachdem er seine Kleidung abgelegt hatte, roch er deutlich seinen eigenen Schweiß. Angstschweiß. Die behandelnde Ärztin hatte ihm Valium angeboten, aber er wollte es ohne Betäubung seiner Sinne durchstehen. Sein langärmliger Schlafanzug roch angenehm nach Weichspüler. Er wünschte sich in die Zeit zurück, als er noch ein kleines Kind war, behütet von seinen Eltern. Er spürte eine große Einsamkeit; jeder ist allein mit seinem unabwendbaren Schicksal, keiner kann einem seine Krankheiten, Ängste und Schicksalsschläge abnehmen. Mert versuchte sich in Meditationsübungen. Das Bett roch muffig, er beruhigte sich ein wenig. Heute wurden ihm die Medikamente direkt gespritzt, nicht wie beim ersten Mal aus einem Tropf. Ein junger Arzt legte ihm den Zugang über eine Vene im Unterarm, mittels eines Butterflys, einer kleinen Nadel mit zwei Kunststofffähnchen, zur Erleichterung der Handhabung. Diese kleinen Kunststofflaschen geben der Nadel das Aussehen eines Schmetterlings. Ein grüner Schmetterling, der sticht. Als Mert noch in Gedanken versucht war, diesem Insekt einen neuen Namen zu geben, wischte eine Stimme diese Bemühungen zur Seite und gleichzeitig stach der Schmetterling zu. „Herr D’proone, spüren Sie irgendwelche Nebenwirkungen beim Spritzen der Medikamente? Wenn ja, sagen Sie es bitte sofort.“ Dr.

Pohl beobachtete Mert besorgt. „Ein leichtes Ziehen und Brennen im Nacken“, bemerkte Mert. Jedes Medikament hatte eine andere Wirkung auf die Nerven. Bei einigen waren die Nebenwirkungen sehr stark, sodass die Medikamentengabe für einige Sekunden unterbrochen werden musste. Eines hatten sie alle gemeinsam: Sie riefen eine starke Übelkeit hervor. Gegen sie wurde zusätzlich Paspertin gespritzt, es half, die Zeit der Medikamentengabe zu überstehen.

Nadel und Arzt hatten sich entfernt. Mert war nun sich selbst überlassen. Neben sich ein Stapel Nierenschalen aus Pappe, in denen sich jeweils mehrere Tücher Zellstoff befanden. Er lehnte sich im Bett zurück. Das Kopfteil des Betts war immer noch aufgestellt. Mit der Übelkeit und dem Erbrechen kam die Schwäche. Mert wurde nur noch wach, um sich zu übergeben. Vor dem ersten Mal hatte er noch gefrühstückt, dieses Mal war er schlauer. Der Würgereiz marterte seinen Körper außerordentlich stark, er glaubte oft zu ersticken. Nach der vierten Attacke ergoss sich nur noch grünlicher, gelber, bitter schmeckender Gallensaft in die widerlich nach muffiger Pappe riechende Nierenschale.

Mert hustete sich das restliche Wasser aus der Luftröhre.

Der Stimmritzenkrampf hatte sich glücklicherweise gelöst und langsam kam wieder Farbe in sein Gesicht, es wurde sogar knallrot. Piegel hüpfte aufgeregt herum, sein Fell wechselte ständig die Farben. Erst jetzt begriff Mert, dass er nicht im Krankenhausbett kauerte und sein Gesicht nicht über eine übel riechende Pappschale gebeugt war. Nein, er spuckte den Inhalt seines Mundes auf eine grüne Wiese, deren Blüten sich langsam über seinen Auswurf hermachten. Eine kleine grüne Kugel traf ihn schmerzhaft am Hinterkopf, er sprang auf, sein Kreislauf protestierte.

Taumelnd und verärgert drehte er sich um seine eigene Achse. Kleine erbsengroße Geschosse, abgefeuert von Pflanzen, die sich zuvor an Merts Absonderungen gütlich getan hatten, flogen im hohen Bogen in alle Richtungen.

Mert steckte noch einige Treffer ein, empfand Schadenfreude gegen sich selbst und sah aus den Augenwinkeln, wie sich Piegel, glucksende Geräusche der Freude von sich gebend, auf dem Boden wälzte. Außer Reichweite der schmerzenden, jedoch ungefährlichen Geschosse beobachtete Mert das Entfalten kleiner Blätter an den Erbsen. Von warmer Luft erfasst, wurden sie emporgetragen, um auf eine ungewisse Reise zu gehen.

So stand eine völlig unbekleidete Gestalt am Ufer eines wunderbar blauen Gewässers, dessen runde Form an ein großes Auge erinnerte, den Blick in die Weite des Weltalls gerichtet. Ein kleines geflügeltes Ungeheuer kauerte dicht am Wasser, seine große Ohren befanden sich in ständiger Bewegung. Mert blickte auf die gegenüberliegende Seite des Sees. Ein riesiges Gebirge tat sich vor ihm auf.

Herabblickend auf Piegel dachte er an Kleidung, die er dringend benötigte. Er dachte darüber nach, dass er nicht wusste, wohin er sich wenden sollte. Mert fühlte Piegels Zuneigung, dessen Fellfarbe jetzt ein weiches, samtiges Grün aufwies. Piegel sah ihn mit großen Augen an, reckte sich und rannte los. Er wollte den See umrunden, Mert wusste es. Daran gab es keinen Zweifel, er sollte Piegel auf dem Weg zum Gebirge begleiten. Mert spürte es ganz deutlich. Er holte Piegel bald ein, stupste ihn an und dachte: „Woher kenne ich deinen Namen? Ist das, was ich spüre, auch das, was du denkst? Spürst du auch meine Gefühle?“ Piegel stand still, seine Augen waren auf Mert gerichtet. Dieser wurde von einer Flut aus Gefühlen und Gedanken überflutet. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Es fand ein Gedankenaustausch zwischen ihnen statt. Das kleine Monster war ein Telepath.

Der Sand am Ufer des Sees war von unzähligen kleinen Muschelfragmenten durchzogen. Sie schillerten in allen Farben und gaben dem Ufer ein unglaubliches, fast märchenhaftes Aussehen. Märchenhaft oder nicht, Merts Stadtfüßen taten diese messerscharfen Überreste verschiedener Schalentiere nicht besonders gut. Es wurde kühler, ein kalter Wind wehte den beiden Wanderern entgegen. Mert dachte sehnlichst an warme Kleidung.

Immer, wenn er seine geplagten Füße im seichten Nass des Ufers kühlte, rieb Piegel seinen Kopf an Merts Oberschenkel, wobei Piegels kalte Ohren auch nicht gerade Wohlgefallen hervorriefen. Die letzten Strahlen einer Mert unbekannten Sonne strahlten auf eine künstlich anmutende Fläche, eingelassen in eine riesige Felswand. Es bildete sich ein feiner Bodennebel, Piegel lief mit brummenden Flügeln auf den schmalen Spalt der sonst so makellosen Fläche zu. Mert zitterte unterdessen am ganzen Körper, seine einzige Wärmequelle waren seine Füße, diese brannten wie Feuer. An der unteren Laufschiene des riesigen Schotts stehend, blickte er auf das kalte Metall und schrie aus voller Brust: „Sesam, öffne dich.“ Nichts geschah.

Mert zwängte sich durch den schmalen Spalt. Kaltes Metall berührte seine Haut, gierig zog es ihm die noch verbleibende Wärme aus dem Körper. Er fühlte sich klein, die Kälte presste sämtliche Gedanken aus ihm heraus. Er tat den letzten Schritt aus der Enge des Spalts. Seine Augen gewöhnten sich allmählich an das Halbdunkel im Inneren des Bergs. D’proone ertastete das kleine Monster neben sich, dessen große Augen im Dunkel unheimlich glommen.

Eine Hand an Piegels kühlem Ohr folgte Mert vorsichtig seinem Weggefährten. Mit jedem Schritt wurde es dunkler um Mert. Nicht einmal der Spalt des Tores war zu erkennen. Der Boden fühlte sich glatt an. Kleine, spitze Steinchen, die ihm ständig in die Fußsohlen gepiekst hatten, gab es kaum noch. Warme, staubige Luft stieg in Merts Nase. Tausend widerwärtige Monster lauerten im Dunkel und versuchten mit Schleim benetzten Tentakeln nach seinen Füßen zu greifen. Immer, wenn Merts Fantastereien besonders stark wurden und der Drang zur Flucht sich kaum noch unterdrücken ließ, kamen leise, weinerliche Geräusche aus Piegels Innerem. Mit einem explosionsartigen Nieser entledigte sich Merts Nase dem Quälgeist Staub. Kreischend prallte Piegel gegen Mert, ein unangenehmer Verdauungsgeruch breitete sich aus, Licht flammte auf. Piegel, der sich etwa drei Meter über Mert befand, plumpste auf den kaum weniger erschrockenen Mert herab. Staub wirbelte überall um sie herum.

Knisternd entlud sich Elektrizität, Endladungsblitze zuckten, die sich rasend schnell über die Wände bewegten.

Lichtquellen flammten auf. Stille. Der Staub senkte sich herab. Lichtstrahlen durchbohrten den Staub. Mert zog Piegel am Ohr. „Na, Dicker, da haben wir uns wohl beinahe in die Hose gemacht, was? Gut, dass wir keine Hosen tragen. Wenigstens ist es hier warm und trocken.“

Mert, der auf dem Boden kauerte, betastete die Fläche, die sich warm, hart und glatt anfühlte. Aus dieser Position besah er sich seine Umgebung noch einmal genauer. Mert und Piegel befanden sich in einem großen unterirdischen Gewölbe. Der natürlichen Begrenzung der Halle durch das Gestein des Gebirges waren der Menge des Staubes nach zu urteilen vor Hunderten oder Tausenden von Jahren zusätzliche Wände und Pfeiler hinzugefügt worden. Durch den Boden gingen leichte Vibrationen, ein dumpfes Brummen lag in der Luft. Bis auf die ovalen Beleuchtungskörper erwies sich die Halle als völlig leer.

Mert folgte einer Markierung auf dem Boden. Der Staub verdeckte diesen Wegweiser teilweise. Es war unmöglich, keinen Staub aufzuwirbeln. Jeder Schritt, auch wenn er noch so behutsam ausgeführt wurde, verursachte eine kleine Staubwolke. Piegel gab sich wirklich große Mühe, Mert staubfrei zu folgen. Mit vor Anspannung ausgebreiteten Flügelchen, auf den Spitzen seiner durchaus menschlichen Füße balancierend, folgte er Mert – eine Ballettdarbietung mit besonderem Reiz. Schniefen und Niesen untermalten diese Vorführung. Den glänzenden Abschluss tat Piegel durch einen weiteren Schreckhüpfer.

Von Echos und Staubwolken begleitet, erreichten sie am Ende der Höhle eine etwa mannsgroße Öffnung.

Die Luft im Eingangsbereich flimmerte leicht. Mert hielt Piegel mit einer Geste seiner Hand zurück „So etwas kenne ich doch, das habe ich schon in unzähligen fantastischen Filmen gesehen.“ Er dachte: „In fast jeder Science-Fiction-Lektüre werden solche energetischen Sperren beschrieben.“ Mert drehte sich um und suchte nach einem Gegenstand, den er in die Öffnung werfen könnte. Piegel sah ihn fragend an. Mit den Augen gesucht, mit den Füßen gefunden. Mert trat auf einen spitzen metallenen Gegenstand. Der Schmerz, der in diesem Metallstück über sehr lange Zeit auf ein Opfer gewartet hatte, raste durch seinen Fuß in Merts Nervensystem. Er, der Schmerz, breitete sich dort aus und ließ seinen Wirt auf einem Bein hüpfen, fast so, als ob sich dieser über die Befreiung von dem Schmerz freute. Auf Piegel, der bis jetzt tatenlos dagestanden hatte und ein dunkelgrünes Äußeres zur Schau trug, explodierten förmlich die bunten Farben seines Fells.

Trotz der besonderen Aufmerksamkeit, die Mert seinem Fuß zollte, wurde dieses fröhliche Farbenspiel von ihm wahrgenommen. Noch konnte er sich beherrschen, doch das schadenfrohe Quietschen und die fröhlichen Gedanken, die er jetzt wahrnahm, ließen Piegel in Merts Augen zu einer Zielscheibe werden. Er warf das inzwischen aufgehobene Metall in Richtung dieser Zielscheibe. Piegel hatte diesen Wutausbruch vermutlich schon erwartet, so trat er behände zur Seite und schlug das Projektil mit seinem am Ende durch Hornplatten geschützten Schwanz zurück. Es verfehlte den sprachlosen Aggressor bei Weitem, stattdessen drang es in das Energiefeld der Durchgangsöffnung ein und erlosch in einem hellen Lichtbogen; dem folgte eine kleine, dumpfe Explosion. Der Staub legte sich, das Energiefeld war verschwunden.

Vorsichtig besahen sich beide die Öffnung. Es roch nach verschmorten Isolationsmaterialien, Merts Augen tränten davon. Zögernd bewegten sie sich durch den Zugang. Licht flammte auf.

Der Raum, in dem sich Mert und Piegel nun befanden, war völlig staubfrei. Dieser Ort, an dem sich nacheinander sämtliche dort vorhandenen Geräte plötzlich aktivierten, maß in etwa zehn mal zwanzig Meter. Zur Seite gestellte Abdeckplatten, auf dem Boden verstreute kleine und große Schrauben vermittelten Mert den Eindruck einer versuchten hastigen Reparatur oder Wartungsarbeit. Es ertönte ein akustisches Signal, die Luft begann zu flimmern. Aus dem Augenwinkel heraus erfasste Mert, dass Piegel es vorzog, von seiner Seite zu weichen, um sich ängstlich in einer Öffnung unter den Bedienfeldern zu verkriechen. Plötzlich baute sich ein Energiefeld auf und umschloss Mert vollkommen. Ein leichtes Ziehen im Kopf steigerte sich zu rasenden Schmerzen, die ihm Tränen in die Augen trieben. Merts Gehirn wurde gescannt. Schrille auf und ab schwellende Sirenen ließen seine Trommelfelle schmerzen. Zuvor unentdeckte Waffen schoben sich aus Wänden und Nischen. Die Abstrahlöffnungen der Waffen glommen bedrohlich. Der Scan war aus irgendeinem Grunde nicht zufriedenstellend ausgefallen. Ein Lichtblitz blendete Merts Netzhaut, der erwartete Schmerz blieb aus.

Dunkelheit legte sich schützend über seine Sinne und der normale Zeitverlauf verlor an Bedeutung. Die Augen geschlossen, genoss er die Wärme des Bodens.

Im Dämmerlicht erkannte Mert einen durch Brandmale verletztes, grau gefärbtes Wesen, dessen körperlicher Zustand sich kontinuierlich verschlechterte. Piegel hatte in seiner Angst vermutlich ein provisorisch zusammengefügtes Kabel durchtrennt und dadurch den Einsatz der Waffen verhindert. Mert begann zu schwitzen.

Er durfte nicht zulassen, dass sein neuer Freund starb.

Unbekleidet und geschwächt gab es nur eine Möglichkeit, Piegel und sich selbst schnell zu helfen. Er musste das Kontrollzentrum neu aktivieren. Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass dem System durch den Energieverlust wichtige Daten verloren gegangen waren und er dadurch einem erneuten Scan standhalten konnte. Diese Idee kam nicht von ungefähr. Die entfernten Verkleidungen unter dem Kontrollpult brachten Mert auf die Idee, dass genau mit dieser Absicht schon jemand vor ihnen das Kontrollzentrum betreten hatte. Er brauchte nicht viel Vorstellungskraft, um sich vorzustellen, warum das Vorhaben nicht bis zum Ende durchgeführt wurde. Die Zeit wurde knapp. Piegel lag schwer atmend auf der Seite.

Merts Kopf war leer. Er konnte Piegel nicht mehr spüren.

Die Angst um seinen Freund gab ihm die Kraft und den Mut, die Kabelenden an der Isolierung zu packen, um sie wieder zusammenzufügen. Ein greller Lichtbogen war die Folge, und es roch nach Ozon. Mert sprang vor Schreck zurück, beide Kabelenden verschmolzen durch die frei gewordene Energie zu einer einzigen Leitung. Es roch nach verbranntem Haar, die Augenbrauen kribbelten, eine verkrümmte Wimper folgte den Gesetzen der Schwerkraft.

Mert hockte auf dem Boden, die Haut seiner Hände schmerzte und bildete bereits Blasen. Er sprang auf und schrie: „Los, komm schon, sag was, du Blechkasten!“ Aus verborgenen Wiedergabeelementen ertönte seine Stimme im gleichen Wortlaut. Mert sprang auf, ging mit geballten Fäusten auf den Kontrolltisch zu und sagte in gereiztem Ton: „Du solltest dir lieber einen eigenen Text einfallen lassen, sonst drehe ich dir wieder den Saft ab!“ Wieder ertönte der gleiche Satz im Raum. Ein leichtes Ziehen im Kopf, Mert fühlte sich etwas benommen. Er hörte sich selbst reden, sinnlose Sätze, niemals die gleichen Worte benutzend, der Redefluss wurde immer schneller, sein Mund war geschlossen, die Kiefermuskeln schmerzten.

Jedes Wort ertönte aus verborgenen Lautsprechern.

Schlagartig waren Kopfschmerz und Redefluss beendet.

„Guten Tag, Herr D’proone. Wir wünschen Ihnen und der Lebensform Piegel einen angenehmen Aufenthalt. Sie sind autorisiert, über diese Station zu verfügen. Bitte wählen Sie ein Passwort.“ Spontan platzte das Wort „Glück“ aus Mert heraus. Die Station antwortete:„Der Begriff ‚Glück‘ wurde registriert und gespeichert. Der Name der Station lautet ‚Glück‘.“ Mert wollte gerade eine dümmliche Bemerkung machen, wurde aber schon im Ansatz unterbrochen.

„Achtung, die Lebenseinheit Piegel befindet sich in einem kritischen Zustand! Wünschen Sie das Eingreifen der Station zur Stabilisierung?“ Erschrocken schaute sich Mert um. Piegel lag mit schmutzig grauem Fell und ohne erkennbare Atmung auf dem Boden. „Ja, sicher, schnell, bitte!“, antwortete Mert. Die Reaktion erfolgte sofort. Ein Energiefeld, nur durch ein leichtes Flimmern zu erkennen, hob den Körper seines Freundes in die Höhe und verschwand hinter einer sich schnell öffnenden und schließenden Tür. „Wohin wird er gebracht?“, fragte Mert tonlos in den Raum hinein. Die Station antwortete: „Der zu diesem Zeitpunkt leblose Körper befindet sich in einer eigens für solche Vorfälle konzipierten Reanimationszelle.

Der Reanimationsprozess läuft seit zehn Sekunden. Das Sauerstoffdefizit des Gehirns wurde ausgeglichen, die Kontraktionen des Herzens künstlich angeregt und normalisiert. Die Prognose einer vollständigen Reanimation und somit eine Wiederherstellung sämtlicher Normwerte der Lebenseinheit beträgt fünfundneunzig Prozent.“

„Nein!“ Der Aufschrei hallte durch die Station, Mert presste seinen Schädel mit beiden Händen fest zusammen, ein heller Schein umgab seinen Kopf. Er wankte orientierungslos durch den Raum, dann wurde er ohnmächtig. Die Positronik reagierte sofort. Noch bevor der schlaffe Leib den Boden berührte, wurde er in ein Antigravitationsfeld gehüllt, sein Fall gebremst, um leicht angehoben in die medizinische Abteilung der Station befördert zu werden. Merts Körper wurde einer intensiven Analyse unterzogen, die dabei gewonnenen Daten wurden mit vorhandenen Informationen der Datenbanken verglichen. Das Ergebnis war verblüffend. Der Vergleich ergab große vorhandene Datenmengen über die Lebensform Mensch. Das Analyse- und Überwachungsprogramm entdeckte bei Mert eine Ansammlung von im Körper untypischen Zellverbänden, die nach Auskunft spezieller Diagnoseprogramme ein Absterben des Körpers in naher Zukunft herbeiführen führen würden. Durch ein hochentwickeltes Zellortungs- und Desintegrationsverfahren wurden sämtliche, nicht typisch menschliche Zellen entfernt. Gleichzeitig wurden Zellproben aus dem Gehirn entnommen.

Kapitel 3

Der Besucher

Als Mert im Krankenhaus aus seinem Traum erwachte, hatten sie ihm schon vor Stunden die Nadel aus dem Handrücken entfernt. Ein vorsichtiges Tasten überzeugte Mert endgültig davon, dass er es fürs Erste wieder einmal überstanden hatte. Sein Mund war trocken und er sehnte sich nach einem großen Glas Grapefruitsaft. Mert drängte es nach Hause.

Die nächsten Tage lag er faul auf der Couch oder im Bett, schlief viel und kämpfte gegen den ständigen Brechreiz an.

Zwischendurch zwang er sich, etwas zu essen, meist ungewürzten Reis mit Mais und Champignons aus der Dose. Sein Geschmackssinn war übersensibel, Salz oder Gewürze zerrten wie irre an seinen Schleimhäuten. Mert schlief gern, er liebte die Übergänge zwischen Wachen und Träumen. Auf dem Rücken liegend, die Beine leicht gespreizt, seine Hände berührten nicht den Körper, der Kopf leicht überstreckt, versetzte sich Mert regelmäßig in einen Zustand, der es ihm ermöglichte, sich aus seiner bedrückenden Gegenwart zurückzuziehen. Dies gelang ihm durch einfachste Meditationstechniken, über die er in einem kleinen Handbuch seiner Krankenkasse gelesen hatte. Nachdem er diese Broschüre der Kasse seines Vertrauens gelesen hatte, versuchte er so, dem Alltag zu entfliehen. Die einfachen Merksätze, die er dazu benötigte – „Dein rechter Arm ist schwer“ oder „Dein linker Arm ist schwer“ –, ließen sich nicht so leicht verwirklichen.

Irgendwann einmal jedoch wird jede Mühe vom Erfolg gekrönt. Die Arme sowie die Beine wurden schwer, er schaffte es sogar, seinen Magen-Darm-Trakt zu entspannen. Diese Übung wurde meist von einem leicht würzigen Darmwind gekrönt, einige Male sogar beendet, denn er kroch auch in die eigene Nase. Die Nase juckte, die Blase schrie nach Erlösung und er hatte Haare im Mund.

Die Wirklichkeit begab sich wieder an ihren Arbeitsplatz und kroch mühsam in Merts Bewusstsein. Sein erster Gedanke war: „Wieder ein paar Haare ausgefallen.“ Die Augen noch immer geschlossen, hatte er eine vage Vorstellung davon, wie er mit einer Glatze aussehen würde.

Dennoch hatte er den Antrag für eine Perücke, den er im Krankenhaus ausfüllen sollte, zerrissen; er wollte keine Mütze.

Fauliger Geruch begleitete eine raue, warme Zunge auf dem Weg über Merts Gesicht. Hätten seine Augen nicht am Sehnerv gehangen, er hätte sie verloren, sie wären einfach herausgefallen. Ein Monster knurrte am Kopfende des Bettes, aus dem er soeben gesprungen war. Er landete unsanft neben seiner Ruhestätte, die Bettdecke wie einen Kometenschweif hinter sich her ziehend. Sie fiel schützend über Mert, als sei sie bereit, ihn hinter all den Unbilden des Lebens zu verstecken. Das Monster saß laut glucksend auf dem Bett. Mert lag noch immer mit schmerzenden Ellenbogen unter der Decke. Trotz des Schreckens spürte er herrlichste Schadenfreude in sich. Es war, als ob er sich selbst auslachte. Piegel zog die Decke von Merts Gesicht und knurrte zufrieden. Mert war wie vor den Kopf geschlagen, sagte dennoch: „Oh man, du altes Scheusal.“

„Musstest du mich so erschrecken? Wie kommst du überhaupt hierher?“ Erst jetzt wurde Mert bewusst, wie unsinnig seine Frage war, denn seine Erinnerungen offenbarten ihm, dass er irgendwann in einer anderen Wirklichkeit gelebt haben musste.

Mit einem Monster in einer kleinen Mietwohnung, eigentlich unmöglich, doch sind Träume nicht immer absurd und unmöglich. Es war nicht etwa so, dass Mert sich nicht fragte, ob er jetzt verrückt geworden sei, oder ob dies ein absurder Traum war. Nein, er war sich seiner außergewöhnlichen Situation schon bewusst. Nun, was hatte er denn zu verlieren? Die Realität war gerade sehr anstrengend und gnadenlos zugange, wenn das jetzt der finale Wahnsinn war, so wollte er ihn wenigstens so lange genießen, wie dieses Abenteuer Freude bereitete. Die unangenehmen Nebenerscheinungen seiner jetzigen Realität versuchte Mert hingegen auf sehr vernünftige Weise zu beseitigen. Es gab nur eine Möglichkeit, Piegels Mundgeruch zu entfliehen. Zähneputzen!

Piegel saß in der Badewanne, unglücklich ließ er die Ohren hängen. Pfefferminz war nicht sein Geschmack, und so hatte Piegel die erste Zahnbürste einfach abgebissen und durch das Fenster ins Freie befördert. Der nächste Versuch, Zahnpasta mit Erdbeergeschmack, hatte etwas größeren Erfolg. Die Zahnbürste blieb jedoch unbeachtet, dafür wurde die Tube genüsslich zerkaut. „Wir sind jetzt eine Familie“, dachte Mert laut. „Du solltest nicht so viel Süßigkeiten essen, mein Sohn. Ich glaube, du bist der hässlichste Sohn, den ich mir je hätte vorstellen können.“

Piegel spitzte sein Maul, rote Blasen zerplatzten fast geräuschlos, kleine Tröpfchen brachten seine Augen zum Zwinkern. Den kleinen Kugelbauch weit herausgestreckt, zwinkerte er Mert erwartungsvoll an. Mert sagte grinsend: „Raus aus der Wanne, du Alptraum aller Väter, ich verbanne dich hiermit nach Balkonien.“ Piegel sprach kein Deutsch, aber Gedanken und Wünsche spürte er. Er wusste, dass er sich ruhig auf Merts Liegestuhl setzen konnte, um die Wärme der Sonnenstrahlen zu absorbieren. Merts Fröhlichkeit legte sich nach der Feststellung, dass sich Erdbeerzahncreme nur sehr schwer aus den Fugen einer gefliesten Wand entfernen lässt. Piegel hingegen genoss die Sonnenstrahlen. Mit seiner langen Zunge schleckte er die letzten süßen Spritzer der Zahncreme von seinem Körper.

Er verspürte dabei einen unbändigen Trieb nach Abenteuer und etwas Deftigem nach so viel Süßem. Ein Geräusch auf dem Nebenbalkon sowie der Wunsch nach einer kleinen Gaumenfreude sprengten die Fesseln des Gehorsams und machten der Neugier Platz. Vorsichtig – denn Piegel war ein Jäger – schlich er sich an die Abtrennung aus Rauchglas heran. Ein kleiner Schlitz zwischen dem Rahmen, der das Glas trug, und der flachen Mauer, die der Trennung der Balkone diente, reichte Piegel, um zwei von Krampfadern gezeichnete Kaffeetanten-Beine zu erkennen.

Auch für Piegel kein appetitanregender Anblick. Doch er spürte die Gedanken der bindegewebeschwachen Kreatur auf der anderen Seite des Glases.

Diese Gedanken der sogenannten Nachbarin kreisten ständig um einen mit Salat gefüllten Leckerbissen namens Schildkröte. Piegel wollte Schildkröte auf der Zunge spüren. Vorsichtig spähte er um die schützende Abtrennung, die dieses eine Mal sogar Welten voneinander trennte, herum. Lecker, sehr lecker, fast so appetitanregend wie die großen Käfer in Piegels Welt. Doch statt der acht knusprigen Fortbewegungsorgane besaß dieser Leckerbissen nur vier kurze dicke Beine und ein Schwänzchen. Die Schildkröte starb mit dem Geschmack eines saftigen Salatblattes auf der Zunge. Piegel registrierte das Freiwerden von Lebensenergie durch einen kleinen Lichtblitz auf seiner telepathischen Bewusstseinsebene, kurz nachdem seine scharfe Zunge den Schild der Kröte durchdrang.

Frau Sägeelowsky mochte Schildkröten, weil sie einen runzeligen Hals hatten und weil sie nicht schneller laufen konnten als sie selbst und auch ein versehentlicher Tritt ihnen nichts anhaben konnte. Frau Sägeelowsky – oder auch Ruth, wie sie jedoch nur von guten Freundinnen genannt werden wollte, die wenigstens annähernd die gleichen Neigungen hatten wie sie – war eine einsame alte Dame, ehemals Postangestellte. Sie liebte es, ihren unzureichend erzogenen Nachbarn auszuspionieren und möglichst empörende Nachrichten über dieses Subjekt zu verbreiten.

Vor einiger Zeit hatte Mert gemütlich auf dem Balkon gesessen, Zeitung gelesen, zwischendurch an das gestörte Verhältnis zu seiner Nebenbewohnerin gedacht, die, wie er hörte, auf der anderen Seite ebenfalls gerade eine Zeitung umblätterte. Mert beschloss, Kaffee zu kochen. „Ich werde ihn ein wenig stärker machen“, dachte Mert bei sich, „Ältere Semester trinken den braunen Sud immer stärker als jüngere Menschen.“ Dieser Gedanke, der ihn etwas vom Rentner-Dasein distanzierte – er selbst trank den Kaffee dünner –, erzeugte eine gewisse Fröhlichkeit in ihm. Überzeugt davon, den Bann der Unfreundlichkeit mit einer guten Tasse Kaffee zu brechen – diesen Vorgang kennt beinahe jeder aus der Fernsehwerbung – goss er das Getränk in eine Tasse. Ein guter Markenkaffee vermag einen mit jeder noch so verdorbenen Nachbarschaft zu verbinden. Reifere Damen sind vornehm, eine Untertasse muss her. Sehr gut, es sah sehr gut aus. Die Tasse war am Rand nicht angeschlagen, die Untertasse nicht bekleckert und ein Keks war ebenfalls noch mit dabei.

Die Schildkröte lag in der Sonne am Rande des Balkons und genoss ein Salatblatt. Die Tasse klapperte leise auf der Untertasse vor sich hin. Bald sollte daraus ein fröhlicher Stepptanz werden. Die Oberfläche des anregenden Getränks begann sich im Takt zu wiegen. Erst ganz sanft, später regte der Kaffee vermutlich die Tasse zu einer immer stärkeren Schwingung an – worauf sich deren Inhalt zu einer wahren Sturmflut hinreißen lassen sollte. Auch Mert, der dieses Spektakel in Form kleiner Tröpfchen hautnah miterlebte, wurde zum Tanz animiert. Der Balkon war erreicht, der Körper auf der anderen Seite Balkoniens war durch die Trennscheibe in Umrissen zu erkennen. Mert räusperte sich, er schwitzte vor Aufregung, als er rief: „Frau Sägeelowsky, hallo!“ Sein Arm befand sich bereits in der kritischen Zone, es war gleichsam eine Grenzüberschreitung im Sichtbereich der ehemaligen Postangestellten. Die Tasse bekam nasse Füße. Der Keks zu Füßen der Tasse nahm gierig den Kaffee in sich auf und war vor Aufregung bald ganz aufgelöst. Ein Kaktus, der nur in den Sommermonaten auf den Balkon durfte, hatte seinen Platz auf dem Boden Balkoniens am Grenzgebiet.

Er verstand sich wahrscheinlich als Grenzposten, denn er zögerte nicht einen Moment, seine Stacheln kurz in die Kniekehle des Kaffeeboten zu bohren. Das sollte das Signal sein, Mert war abgelenkt, die Kaffeetasse, sozusagen angeregt durch ihren Inhalt, nutzte den Augenblick, um die Schwerkraft zu überwinden. Ein Wunsch wurde Wirklichkeit, ein Wunsch, der vielen Tassen zum Verhängnis wurde. Sie schwebte frei im Raum, doch die Schwerkraft beharrte auf den Naturgesetzen und führte die Tasse mit der Schildkröte zusammen. Das Urteil der Natur war hart, denn die Tasse, die sich unterdessen von ihrem Inhalt getrennt hatte, bezahlte mit dem Leben und zerbrach an ihrem Traum.

Dieser Vorfall hatte auch einen Vorteil. Mert musste die Mitmenschen seiner näheren Umgebung immer seltener zurückgrüßen. Denn wer auf dem Balkon randaliert, der Nachbarin die Blumenkästen umwirft, nur weil ihm die Blumen nicht gefallen, und eine harmlose Schildkröte mit heißem Kaffee übergießt, weil sie zu laut auf ihrem Salatblatt kaut, der muss sich nicht wundern, wenn er mit Missachtung gestraft wird.

Ein heller, spitzer Schrei. Das Gefühl der Bedrohung explodierte in Merts Schädel. Ängstliches Quieken und tödliches Röcheln drangen an seine Ohren. Mert stürmte zum Balkon, Piegel hockte ängstlich auf dem Boden in der äußersten Ecke des Balkons, sein Fell hatte die Farben der Umgebung angenommen. Schwere röchelnde Atemzüge durchdrangen die Rauchglasabtrennung und ließen Mert Schlimmes erahnen. Sofort stieg Mert auf die andere Seite des Balkons. Frau Sägeelowsky lehnte mit weit aufgerissenen Augen an der Balkontür, rutschte langsam zu Boden und stammelte dabei die Worte: „Ich habe in Ihr Innerstes geschaut. Ein Monster wohnt in Ihnen. Satan weiche von mir.“ Durch den Schrei alarmiert, hatten sich aufgebrachte Bewohner der Mietanlage vor dem Balkon versammelt. Rufe nach Hilfe und Polizei wurden laut.

Mörder. Dieses Wort hörte Mert, als er zurück auf seinen Balkon kletterte. In seinem Kopf brannte die Verzweiflung.

Piegel sprang aus seiner Ecke hervor, zitternd umklammerte er den völlig verzweifelten Mert. Beide schienen zu einer Einheit zu verschmelzen.

Warmer Wind streichelte die Haut, Stille beruhigte die Nerven. Piegel löste die Umklammerung, beide ließen sich im weichen Gras nieder. Die Luft war voll angenehmer Gerüche. Mert lag auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen. Es war ihm, als ob er nach langer Zeit zurück in eine sehr vertraute Umgebung gelangt sei. Er genoss die Sonne auf seiner Haut. Es machte ihm nichts aus, wieder einmal völlig unbekleidet zu sein. Merkwürdig, um welche Dinge sich die Gedanken drehen. Er dachte und wunderte sich gleichermaßen darüber: „Lieber unbekleidet als unpassend angezogen.“ Die Natur um ihn herum schien unberührt und ursprünglich rein, er hätte sich nicht passender kleiden können. Ein süßer Duft, gespendet von unzählbarer Schönheit, in Formen und Farben, deren Einfallsreichtum keine Grenzen zu haben schienen, das Rauschen der Gräser und die innere Zufriedenheit wiegten Mert in den Schlaf.

Kapitel 4

Tekeler-B

Wenn der Toaster mit dir redet, die Waschmaschine sich bei dir über die schmutzige Wäsche beschwert, der Stromzähler dich anbrüllt: „Liege hier nicht so nutzlos herum, während andere sich ständig in Bewegung befinden, um Sinnvolles zu tun.“ Dann hattest du einen Traum und wurdest soeben von deiner Frau geweckt. Oder dein Name lautet Mert, du liegst nackt im Gras und neben dir steht eine anthrazitfarbene Maschine auf zwei mechanischen Beinen, die mit dir redet. Situationen sind nur so lange absurd, bis sie erlebt werden. Träume sind real, solange sie geträumt werden. Mert hatte in der vergangenen Zeit gelernt, mit verwunderlichen Dingen zu leben. Das Unbegreifliche ist oft besser als die Realität. So antwortete er auch völlig unbefangen: „Was soll denn das, wer bist du denn?“ Der Roboter antwortete: „Erstens, einer Dame liegt ein Mann zwar zu Füßen, bei Ihnen sicherlich nur schwer zu erkennen, aber auf jeden Fall nicht entblößt.“ Die mechanische Gestalt sprach nicht nur wie eine Frau, sondern war einem weiblichen Wesen der Gattung Mensch nachempfunden, wobei geschlechtliche Merkmale nur leicht beziehungsweise überhaupt nicht vorhanden waren.

„Zweitens, wenn es keine Frauen gäbe, die euch Nichtsnutze ständig antreiben, gäbe es keine Errungenschaften. Drittens“ – dabei warf Tekeler-B

(TeeBee) – Mert einen Overall zu, der sich stets den Grundfarben der Umgebung anpasste. „Anziehen! Wird es bald, Nichtsnutz!“ Diesen Ton kannte Mert aus weniger glorreichen Tagen. Er zog sich kommentarlos an.

Verwunderung und Frohsinn machten sich in Piegel breit.

Es waren nicht seine Gedanken. TeeBee fasste Piegel in die Optik und sprach: „Diese gentechnische Versuchsanordnung, hat sie einen Namen?“ Mert schaute dem mechanischen Wesen in die Augen. „Grüne Augen, wirklich wunderschöne grüne Augen, leider nicht echt, Blechdose.“ TeeBee entgegnete ihm: „Das sollte wohl ein Kompliment sein, um mich zu beeinflussen. Zwecklos!“

Mert deutete auf Piegel, von dessen Schadenfreude nichts mehr zu spüren war, und antwortete in galantem Tonfall: „Fragen Sie ihn einfach selbst nach seinem Namen, oh meine Gebieterin.“ Mert spürte Piegels Anstrengung, geistigen Kontakt mit TeeBee aufzunehmen, fast körperlich. Piegel gelang es nur eigentümlich zart, etwas zu spüren. Etwas verwirrt und ängstlich zog er sich vollständig zurück. Seine Augen wirkten unnatürlich groß, wobei sein Körper sich völlig grau färbte. Er erweckte den Eindruck, sich bei der kleinsten Bewegung des Kunstmenschen verteidigen zu müssen. Deutlich angespannt traten seine Muskeln durch das kurze, glatte Fell hervor.

TeeBee, wie Mert sie von nun an nennen würde, trat vorsichtig einen Schritt zurück. In einem sehr viel sanfteren Tonfall und mit einem Augenaufschlag, der betörender nicht hätte sein können, antwortete sie: „Ich verfüge leider zurzeit noch nicht über genügend biologisches Potenzial, um mit dieser Kreatur zu kommunizieren.“ Mert konnte sich einer gewissen Anspannung nur schwer entziehen. Piegel schlich vorsichtig zu ihm herüber, und Mert legte ihm seine Hand auf die Schulter, wobei er TeeBee antwortete: „Das ist mein Freund Piegel, der beste Freund, den es gibt.“ Mert hatte die Worte noch nicht ganz ausgesprochen, da wurde das Grau auf dem Körper des Freundes durch eine Vielzahl von farbigen Erscheinungen aufgelöst. Es war wie im Zirkus. Kaum hatte Piegel mit seiner Vorstellung begonnen, begann TeeBee mit dem gleichen Schauspiel auf ihrer eigenen Körperoberfläche.

Beide Wesen standen sich nun gegenüber. Das Farbenspiel, das so langsam begonnen hatte, steigerte sich auf beiden Seiten zu einem atemberaubenden Spektakel; erst sah es für den Beobachter danach aus, als wolle der eine den anderen mit seiner Farbenpracht übertreffen, dann konnte Mert auf beiden Seiten immer öfter gleiche Muster und Wiederholungen erkennen. Dann endete es plötzlich.

TeeBee hatte ihre ursprüngliche Farbe zurückerlangt, Piegel zeigte sich hingegen im Grün der Wiese, ahmte durch kleine bunte Tupfen die Blüten der Umgebung nach, hüpfte herum, surrte mit den kurzen Flügeln und brachte Mert damit zum Lachen. Mert fühlte sich, als habe jemand eine schwere Last von seinem Körper genommen. TeeBee zog eine Grimasse mit ihrem synthetischen Gesicht, vermutlich ein Lächeln, und sprach jetzt wieder mit ihrer ursprünglichen kalten Stimme: „Der Anfang ist getan.“

Danach sprach keiner ein Wort mehr oder tauschte Farben aus. Mert ging einfach mit den anderen mit. Wieso sich Gedanken machen über eine Situation, wenn die eigene Existenz oder die gesamte Realität infrage gestellt ist. Der hautenge Anzug, den er trug, verfügte über hauchdünne Sohlen, die seine verweichlichten Fußsohlen erstaunlich gut schützten. Schritt für Schritt lauschte er den Geräuschen, die er während des Gehens erzeugte, und dem Surren der kurzen ledernen Flügel des kleinen Monstrums.

Er genoss die wärmenden Sonnenstrahlen auf seinem Körper. Plop! Piegel hatte sich einen dicken Käfer gefangen, genüsslich kaute er auch schon auf ihm herum.

Der Anblick war nicht sehr appetitlich. Mert drehte sich weg, spürte jedoch den Genuss, den Piegel empfand. Sein eigener Magen knurrte vor Hunger. Es gelang ihm, sich geistig teilweise abzuschirmen. Mert war mit sich und seinem Magen allein. Dunkle Farben bildeten sich auf seinem Overall. Die Stellen, an denen sie entstanden, begannen leicht zu brennen und zu jucken. Laut rief er:

„Euch beiden geht hoffentlich gut, ja?“ Mit dem aufkommenden Ärger verstärkten sich auch die Farben auf seinem Körper. Piegel fielen die Reste des Käfers aus dem Mund. Verlegen spielte er mit seinem Schwanz, konnte einem vorbeifliegenden Insekt jedoch nicht widerstehen, Plop! Die spitze Zunge traf das Tier mitten im Flug. Piegel, halb hüpfend, fast schon fliegend, näherte sich Mert. Am Ende seiner Zunge zappelte ein libellenähnliches Fluginsekt, jedoch ohne Flügel. Piegel streckte dem Hungrigen das unterarmlange Tier entgegen. „Von Hunger keine Spur mehr“, sagte Mert. „Du meinst doch nicht wirklich, dass ich das essen soll, Piegel.“ Dieser fasste seine Beute mit beiden Händen und knickte das Vorderteil, in dem der kräftige Saugrüssel saß, mit einem kurzen Ruck um. Das surrend-pfeifende Geräusch erstarb. Die exakt sieben pumpenden Luftsäckchen, die diesen Körper umgaben, zuckten nur noch unkontrolliert. Hell kreischende Servomotoren ließen Mert erschrocken herumfahren.

„Achtung, giftig, nicht essen, ihr Dummköpfe!“,

kommandierte TeeBee. Wenn die Beutellibelle noch an Piegels Zunge gehangen hätte, hätte TeeBee diese aus dem erstaunten Piegel herausgerissen. Das künstliche Wesen schleuderte das Fluginsekt in einiger Entfernung auf den Boden, wobei es genau darauf achtete, dass Mert sich nicht von der Stelle bewegte. Piegel beobachtete diesen Vorgang mit größtem Interesse, setzte sich in den warmen Sand auf eine kahle Stelle, die sich in einem grünen Teppich aus Blüten und Gräsern befand.

TeeBee dozierte: „Befruchtet, ihr Dummköpfe, befruchtet und deswegen giftig. Seht genau hin und lernt. Ich hoffe, der Rest eures Körpers, der nicht nur aus Wasser und Gier besteht, ist dazu überhaupt in der Lage. Biologische Gehirne bringen doch nichts als Ärger.“ Mert veränderte seine Farbe, diesmal allerdings nicht die Farbe des Anzugs, es war der Kopf. „Wunderschön, dieses Rot“, bemerkte TeeBee mit einem künstlichen, gut imitierten zynischen Lächeln und sagte schließlich großspurig: „Du bist wütend, ich kenne dich ein wenig, ich kenne dich etwa fünf Gramm schwer.“ „Fünf Gramm schwer, fünf Gramm schwer“, äffte Mert das künstliche Wesen nach, wobei er kräftig mit dem Fuß auf den Boden stampfte. Mit besorgter Miene entgegnete ihm TeeBee: „Bei näherer Betrachtung deiner Blutgefäße am Hals befindet sich dein Kreislauf in einem kritischen Zustand. Die soeben optisch erfolgte Pulskontrolle ergab eine Frequenz von 180 Herzschlägen pro Minute. Nach primitiver Rechnung natürlich.“ Mert blickte in grüne, künstliche Augen und entgegnete ihr: „Leider nicht natürlich, leider nur künstlich. Wieso kennst du mich fünf Gramm schwer?“ TeeBee zuckte mit den Schultern: „Leider geheim.“

Die Wut in Mert rücke etwas zur Seite, denn von innen drängelte sich die Neugierde nach vorn. Diese erteilte seinen Augen auch den Befehl, die Beutellibelle näher zu betrachten. Kleine Larven bohrten sich mühsam aus dem toten Körper ans Tageslicht. In der Sonne trocknete die weiße Haut der Larven schnell. Immer enger umschloss sie diese kleinen Wesen, dunkelte etwas nach, um dann endlich aufzuplatzen. Der Gedanke an Schiffbrüchige, die sich mühsam aus ihren Rettungskapseln befreiten, drängte sich auf. Kleine Beutellibellen begannen damit, ihre Beutelchen immer schneller mit Luft zu füllen. Als Piegel und TeeBee leise an den am Boden hockenden Mert herantraten, schwebten einige Libellen unsicher in der Luft, andere strampelten auf dem Rücken liegend mit den Beinen. Nachdem einige primitive Zeiteinheiten vergangen waren, räusperte sich Mert: „Ist es nicht wunderbar, welche Mühe sich das Leben gibt. Bis auf eines haben es wirklich alle in die Luft geschafft.“ TeeBee beugte sich zu ihm herab: „Möchtest du auch nur ein Gramm verstehen von dem, was es dort zu sehen gibt?“ Mert blickte sie an: „Was meinst du damit?“ TeeBee erwiderte: „Es gehört etwas Mut dazu. Ein wenig Courage. Etwas Selbstaufgabe. Strecke deine Hand nach dem schwachen auf dem Boden liegenden Wesen aus. Lass es gewähren, oder töte es. Sofort.“ TeeBee nahm Piegel an die Hand, während sie sprach: „Wir gehen jetzt.“ Leise summten die Servomotoren bei jeder Bewegung.

Piegel folgte ihr willig. „Töte oder teile“, rief sie Mert noch zu. Unsicher streckte Mert die Finger nach den im Gras liegenden Insekt aus. Unregelmäßig zuckten kleine Gliedmaßen. Die warme Feuchtigkeit seiner Hand gab den fehlgeleiteten Bewegungen der Beinchen eine Richtung.

Das Insekt bewegte sich über Merts schwitzende, leicht zitternde Handfläche auf den Rand des Ärmels seines ihm immer noch etwas unheimlichen Anzugs zu. Mit sich überschlagender Stimme nach TeeBee rufend rannte Mert, den Arm vor sich ausgestreckt, auf TeeBee und Piegel zu.

Wild rasende Farben auf seinem hautengen Anzug erzeugend, versuchte Mert, den Kunstmenschen am Weitergehen zu hindern. Plötzlich drehte TeeBee ihren Oberkörper um 180 Grad, ohne natürlich ihren gleichmäßigen Schritt zu verlangsamen. Piegel ließ sich weiterhin von ihr ziehen. Spöttisch rief sie Mert zu: „Schwierigkeiten mit der Courage?“ Mert hatte Schwierigkeiten, Schritt zu halten. Aufgeregt deutete er mit dem Finger auf die Stelle, an der das unheimliche Insekt zwischen Ärmel und Haut geschlüpft war. „Aber, sieh doch her, verflixt noch eins! Es ist unter meinem Anzug. Es ist ...

bleib endlich stehen, bitte!“ Augenblicklich hielt TeeBee an. Das Gesicht schweißüberströmt, hielt er sich den Arm in der Armbeuge „Ah, verdammt, es sticht mir in den Arm.“ Die kleine Erhebung unter seinem Anzug bewegte sich heftig. Etwas affektiert ließ sich TeeBee zu einer Belehrung herab: „Es ist ein Parasit und er lebt von deinem Blut. Du hättest es nicht berühren sollen. Wage nicht, es zu entfernen, bevor es nicht entfernt werden will. Es würde nicht von allein sterben.“ Mit weit aufgerissenen Augen stammelte Mert: „Warum hast du eingebildeter Blechhaufen mich nicht gewarnt?“ Der Blechhaufen erwiderte: „Erwachsene Menschen sollten ihre Handlungen und deren Folgen abschätzen können. Deine Furcht ist unbegründet. Hör auf zu jammern. Folge mir!“

Mert folgte ihr und schrie: „Ist das alles, was dir einfällt, mehr gibt dein bisschen Hirn wohl nicht her?“

„Beschimpfe mich nicht wegen meiner Beschränktheit, es geht mir eben nicht besser als dir“, entgegnete TeeBee ihm trocken. „Ich habe aber Hunger, bin müde und ... und ich kann einfach nicht mehr.“ TeeBee hingegen ging mit forschen Schritten auf ihn zu, hob ihre Hand, in der sie irgendein Nahrungsmittel hielt, und stupste Mert damit an.

Mert zuckte zusammen. „Setz dich, lehne dich an mich, iss etwas und schlaf endlich.“

Mert schloss die Augen, der Duft warmer Haut streichelte das Innere seiner Nase, ein künstlicher, einschläfernder Duft. Ohne es wahrzunehmen, fiel er in einen tiefen Schlaf.

Aus einer Öffnung TeeBees tastete sich ein schlankes Verbindungskabel hervor, entfaltete sich am Ende zu einem durchscheinenden Fächer, verband sich mit der Oberfläche von Merts Anzug, in dem dieser nun schon seit einiger Zeit steckte, und ermöglichte so den direkten Kontakt der beiden. TeeBee, einst ein rein synthetisches Wesen, war beeindruckt von der Möglichkeit zu träumen. Ihr kleines, noch im Wachstum befindliches biologisches Gehirn war noch nicht dazu in der Lage, selbst zu träumen. In ihr entwickelte sich ein zweites, modifiziertes Bewusstsein, dessen Quelle Mert war. Sie fühlte, spürte, hörte, sah alles, was auch Mert in seinen Träumen erlebte. TeeBee sah sich selbst in Merts Träumen, spürte seine Unsicherheit, seine Freude und seine Wut. Sie spürte das ferne Grollen eines Gewitters, helle Klänge eines metallenen Windspiels im Luftzug. Doch da war noch etwas, das dieses technische Wunderwerk ebenfalls spürte. TeeBee konnte es nicht vollständig einordnen, ihre Sensoren konnten es nicht zur Gänze erfassen. Dieses Etwas schien von dieser noch im Wachstum befindlichen Zellansammlung auszugehen. Es handelte sich um ein Gefühl der Freundschaft und Verbundenheit.

Mert erwachte.

„Auf die Beine, Mert! Es ist Zeit weiterzugehen.“

Mert spürte nach seinem erholsamen Schlaf das Bedürfnis, sich zu erleichtern, also entfernte er sich von der Gruppe, achtete unbewusst auf die Windrichtung und tastete nach dem Reißverschluss. Der Anzug, in dem Mert steckte, benötigte jedoch keine Verschlüsse, erst recht keinen Reißverschluss, deswegen griffen die Finger auch ins Leere. Merts Blase sendete ein Notsignal an das Gehirn.

Nachdem sich die Nachricht im Körper herumgesprochen hatte, dass der Termin zur Entsorgung von Körperabfällen verschoben wurde, bildeten sich Schweißtropfen auf Merts Stirn.