Die Fährte des Jaguars - Edda Noreia - E-Book

Die Fährte des Jaguars E-Book

Edda Noreia

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Beschreibung

Das Leben der jungen Abenteurerin Anica ist von Flucht, Gewalt und einer tragischen Liebe überschattet, als sie eines Spät­herbst­morgens von der Polizei festgenommen und wegen Drogen­delikten und Mord vor Gericht gestellt wird. Das Urteil: 20 Jahre Haft. Der überraschende Besuch eines Rechtsanwaltes im Gefängnis, seine Bemühungen um ein Wiederaufnahmeverfahren verändern die offenbar noch immer unter dem Bann eines schrecklichen Erlebnisses stehende junge Frau. Verbarrikadiert hinter ihrem hartnäckigen Schweigen und gleich­zeitig zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankend, beginnt sie, sich ihr wechselvolles Schicksal von der Seele zu schreiben. Und ahnt dabei nicht, welch schwerwiegende, allerletzte ­Entscheidung ihr das Schicksal am Ende noch abverlangen wird. Ein gnadenlos fesselnder, die menschlichen Abgründe rigoros auslotender Roman, dessen spannungsgeladener Suggestivität sich kaum jemand, der dieses Buch zur Hand nimmt, entziehen kann.

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Edda NoreiaDie Fährte des Jaguars

Edda Noreia

Die Fährte des Jaguars

Roman

2. Auflage 2016

edition fischer

Die Handlung dieses Romans sowie die darin vorkommenden Personen sind frei erfunden; eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Begebenheiten und tatsächlich lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

2. Auflage© 2016 by edition fischer GmbH 1. Auflage © 2009 by edition fischer GmbH Orber Str. 30, D-60386 Frankfurt/Main Alle Rechte vorbehalten Titel: © Ana Vasileva – fotolia.de Schriftart: New Century 11pt Herstellung: RGF/bf ISBN 978-3-86455-084-3 EPUB

ERSTER TEIL

Ich vernichte deine hilfreichen Götter! Wohin ich auch gehe, färbt der Himmel sich rot! Die Erde spaltet der Blitz! Ich schleudere ihn! Ich!

Rufst du um Hilfe? Niemand hört dich! Allgegenwärtig in der mondlosen Nacht bin ich und warte!

Schau mir ins Antlitz! Dein pochendes Herz wird in meinen Händen zu Staub! Willst du dich retten? Zerstören muss ich! Das Nichts erschaff ich!

Gehüllt in meinen weißen Mantel aus Sturm hol ich dich heim!

(Lied des Gottes der Zerstörung, Mayu, Quechua-Stamm)

1. KAPITEL

Genauso hatte ich mir meine Festnahme vorgestellt:

Jemand tippt mir eines Morgens, knapp vor Sonnenaufgang, auf die Schulter und sagt:

»Anica Dupret? – Stehen Sie auf und kommen Sie mit!«

Ich hatte mich nach einer überstürzten, riskanten Flucht an die Küste nur ein paar Meter von meinem Schlafplatz entfernt. Zum Versteck taugte dieser Ort bei Tag genau genommen nicht weniger als jeder andere hier am Strand.

Also hocke ich reglos, mit vor Kälte steifen Gliedern unter einer Klippe, die blasse Weite des Horizonts in den Augen, die Lungen vollgepumpt mit dem Atem des Meeres und stelle mir vor, nichts weiter als ein bizarres Stück Strandgut zu sein. Und da kam einer und stieß mit dem Fuß daran. Das war alles.

Ohne Eile, in scheinbarer Selbstvergessenheit, drehe ich mich um und äuge in ein mir nur zu vertrautes Bul lengesicht: hohe Backenknochen, schmale Lippen, die Mundwinkel ein wenig herabgezogen: Kommissar Pinot! Hast du mich endlich eingeholt?! Mich und meinen Schatten?!

Unter den aufblühenden Lichtkaskaden eines neuen Tages stemme ich mich schließlich von meinem Fels brocken hoch. Der vor mir heruntergeleierte Tatbestand meiner mutmaßlichen Verfehlungen hallt mir noch in den Ohren, während ich mich langsam in Bewegung setze.

Noch immer verspüre ich weder Angst noch Bedauern. Denke nur so nebenbei, dass es jetzt an der Zeit wäre, wenigstens der Form halber zu protestieren, die zu Unrecht Beschuldigte herauszukehren.

Ich tue nichts dergleichen. Ich schweige. Ich gehorche.

Nur einmal noch bleibe ich stehen.

Über der sanft hingestreckten, weiß schimmernden Bucht liegt der Zauber eines noch unberührten Tages, dieses Synonyms aller nur vorstellbarer Möglichkeiten. Warum aber erfüllt mich ausgerechnet heute ein vages Bedauern über die vertane Chance, diesen Tag nicht auf meine Art zu Ende leben zu können? Nicht zum ersten Mal werden jetzt andere über mich und meine Bedürfnisse bestimmen.

Weitergehen! – Ich stolpere. Richte mich wieder auf. – Eskortiert von zwei Polizisten, durchmesse ich schließlich langsam das letzte Stück vermeintlicher Freiheit, schreite erhobenen Hauptes auf glitzernden Steinen dahin, ein großartiger Auftritt vor einer großartigen und majestätischen Kulisse.

Die Tür des Polizeiwagens öffnet sich. Eine Polizei pranke legt sich auf meinen Scheitel, drückt meinen Kopf mit derber, gewohnheitsmäßiger Routine unter das Autodach, und gekrümmt, mit gefesselten Händen, falle ich auf den knarrenden Sitz, setze mich mitten hinein in den Geruch von Leder und fremder Ausdünstung. Und jetzt erst zerreißt mich die Endgültigkeit dieses Augenblicks.

Die ersten Vernehmungen schleppen sich für meine Widersacher ergebnislos dahin. Ich habe nichts zu gestehen.

Pinot und seine Drogenschnüffler aber lassen keine Hoffnung auf ein faires Verfahren aufkommen. Sie tun, als hätten sie den Fang ihres Lebens an Land gezogen, machen kurzen Prozess mit mir.

Nackt ausziehen! Untersuchung! Erniedrigung! Dieses ganze perfide Spektrum polizeilicher Machtentfaltung! – Ich sollte einiges dergleichen gewöhnt sein. Diese mörderischen Tage meiner Verschleppung sollten meine Sensibilität bis zum Minimum abgeschliffen haben.

Doch ich verharre im Dauerschock. Stehe außer mir. Sehe mir selber bei all diesen unwürdigen erzwungenen Aktivitäten zu, unfähig, sie meinem eigenen Leben zuordnen zu können.

Und schließlich von Neuem diese zermürbenden Verhöre!

Ich leugne alles. Verschanze mich hinter meinem Gewissen. Ich weiß nichts von den Aktivitäten jenes Drogenhändlers, dessen Komplizin ich während der vergangenen Wochen gewesen sein soll. – Er ist tot. Und eigentlich sollte auch ich tot sein.

Aber ich bin es nur zur Hälfte.

Jene letzte Instanz, das große Unbekannte, an dessen fiktive allmächtige Existenz die Wundergläubigen unter uns sich bisweilen mit geradezu verzweifelter Hart näckigkeit klammern, hat offenbar den besseren Teil meines Ichs verschmäht.

Als ich an jenem Tag X neben meinem Peiniger aus einem totenähnlichen Zustand wiedererwachte, musste ich – ob ich wollte oder nicht – mit jener einen Hälfte weiterleben, die gerade dazu ausreichte, um meinen Schwur zu erfüllen. Um endlich die so lange geplante Tat zu vollbringen. – Ihr habt mich nicht nach ihr gefragt. Noch nicht. Aber ich weiß: Morgen oder übermorgen wird diese Schonfrist zu Ende sein. Dann wird sich die Schlinge um meinen Hals enger und enger ziehen.

Was also soll ich tun?

Mein Schweigen schreit: Ich bin schuldig! – Meine Worte aber sprechen mich von jeglicher Schuld frei. – Fassungslos, verwirrt, hasserfüllt höre ich meiner eigenen Stimme zu, die meine ganz persönliche Wahrheit Lügen straft, immer wieder, bis sie es endgültig aufgibt, auf irgendwelche eurer Fragen zu antworten.

Der Kommissar, der sich da in der kalkweißen Vorhölle des Verhörraumes vor mir aufgebaut hat wie ein Relikt aus einem schweren, nicht abzuschüttelnden Traum, weiß nichts von meinem inneren Dilemma. – Die Sonne geht bereits unter, der Widerschein ihrer roten Schleier breitet sich über die Kahlheit des Wachzimmers aus und ich habe aufgehört, an die Möglichkeit eines Entrinnens in meine eigene geheime unsichtbare Freiheit zu glauben.

Meine Passivität, meine Apathie, meine totale innere Abwesenheit haben ein wenig Wirkung gezeigt.

Am Ende einer Reihe von ermüdenden, quälenden Verhören, in denen ich mich offenbar im klinischen Sinn ›auffällig‹ verhalten habe, werde ich einer Polizeipsycho login vorgeführt, die meinen seelischen Zustand nunmehr professionell unter die Lupe nimmt.

Verschlüsselte Fragen verdecken gekonnt die Kälte wissenschaftlicher Routine. Langmut ist angesagt. Meiner verstockten Stummheit begegnet Toleranz.

Ich werde also verstanden? Umso besser! Das entbindet mich neuer, sinnloser Anstrengungen, über meine tatsächlichen oder vermeintlichen Verfehlungen Auskunft zu geben.

Die Psychologin tut, als wäre sie mit mir einer Meinung. (Sie offeriert mir Papier und Schreibutensilien.) Ob ich meine sogenannten ›Erlebnisse‹ vielleicht aufschreiben möchte? »Sie können die Sprache wählen. Als gebürtige Ausländerin haben Sie das Recht dazu.«

Dieses Angebot lehne ich kategorisch ab. Ich will mich nicht erinnern! Nicht auf diese öffentliche Weise! Meine Vergangenheit gehört mir allein! Dieses Ansinnen ist eine Falle, in die ich nicht tappen werde!

Schließlich nehme ich, trotz meines inneren Widerstandes, den Papierstoß in Empfang. Nicht, um mich einer Disziplin zu unterwerfen, die mir (bis auf ein paar heimliche stümperhafte Versuche) im Grunde fremd ist. Aber vielleicht würde mir diese Form der Auseinandersetzung mit meiner eigenen Vergangenheit am Ende helfen, besser mit mir selber umzugehen? Würde mich dazu anhalten, in diesen schlimmen Zeiten meinen eigenen Standpunkt zu festigen?

Meine Nachgiebigkeit wird jedoch gründlich missverstanden. Man erwartet ein Geständnis von mir. Kurz und bündig hingeschmiert auf ein, zwei Bögen Papier. Dein Leben ist für die Gesetzeshüter nur Kulisse, deine Vergangenheit wird auf einen Brennpunkt reduziert: den Beweis deiner Schuld.

Ich aber sitze in meiner Zelle, streiche gedankenverloren über das leere Blatt Papier, das vor mir liegt, und verspüre beinahe so etwas wie Rührung über seine weiße Un beflecktheit.

Womit beginnen? Wie die mir zugeschriebenen Missetaten glaubhaft widerlegen? Und wie meine tatsächlichen Handlungen vor der Welt und gleichzeitig vor mir selber rechtfertigen? Aber will ich sie überhaupt rechtfertigen?

Kein Zweifel: Pinot und seine Kumpanen werden das Tempo in ihren Verhören verschärfen. Und irgendwann werde ich auf diesem glitschigen Terrain ausgleiten und fallen.

Worauf also kann und soll ich bauen? Auf meine bisherige polizeiliche Unauffälligkeit? Auf mein jugend liches Alter? Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich bei dem Gedanken an meine kurze, turbulente, nicht ganz stubenreine Vergangenheit. Ich schiebe ihn beiseite. Verlege mich wie bisher aufs Warten. Verbringe die Pausen zwischen den Verhören in einer Art meditativem Stumpfsinn.

Dasitzen und an gar nichts denken, die Bilder kommen und gehen lassen.

Als Kind hatte ich mir mein Leben manchmal als dunkelroten Teppich vorgestellt, dessen unzählige Ornamente beständig ihre Form veränderten. Zumeist zeigten sie unheimliche Fratzen. Und dann musste ich sie so lange anstarren, bis sie ihr Aussehen verschönerten.

Meine Gedanken verhaken sich in diesen fast vergessenen Fantasien meiner frühen Jahre, verfangen sich schließlich vollends in diesem Kaleidoskop aus Farben, Formen und Gerüchen.

Da ist zum Beispiel der Geruch der Erde unter meinen nassen Füßen. Die Falten meines Kleides kleben an meinen Beinen, während ich mich im Regen ins Gebüsch verkrieche. Der Park im Erziehungsheim ist an dieser Stelle halb verwildert, die sperrigen Äste stechen mir in den Hintern.

Im Haus sind die Lichter aufgeflammt. Die Kälte eines Spätherbstabends sickert langsam in mich hinein, bis in mein verstocktes Herz. Aber ich werde mich aus diesem Labyrinth aus Wut und Schuldbewusstsein be freien! Und ich werde es bald tun! Dieser Vorsatz ist der erste Schwur in meinem Leben, den ich in diese Nacht pflanze wie einen jungen Baum.

Sie hatten mich, Anica Jancic, den elternlosen Heimzögling, nach diesem Furchtbaren, Unaussprechlichen, nie wieder Gutzumachenden, das ich im Haus meiner letzten Pflegemutter angerichtet hatte, unverzüglich hierher zurückgebracht. Hatten mich meiner Wider spenstigkeit wegen in ein abgelegenes Zimmer gesperrt. ›Schwer erziehbar‹, stand wohl auf dem imaginären Schild an meiner Tür.

Strenge und Güte, ich konnte sie in jenen Tagen nicht mehr voneinander unterscheiden. Aber sie waren vermutlich weder streng noch gütig zu mir. Sie ließen mich einfach allein. Lange und oft. Ratloses Wegsperren: Diese Art von Bestrafung war wohl schon seit jeher in meinem Schicksalsbuch verzeichnet.

Ich hämmere an die Tür. Ich schreie. Ich schluchze. Damals konnte ich noch zu jeder Zeit bis zu Erschöpfung schluchzen. Aber es waren Tränen des Zorns, nicht der Reue.

»Antworten Sie! Ich habe Sie etwas gefragt!!«

Ich fahre auf. Man hat mich nach jenem psychologischen Debakel wieder einmal zu einem dieser sinnlosen Verhöre gebracht. Und ich bin wieder einmal in nachdenkliches Schweigen abgedriftet. Aber vor diesem Gebrüll kapitulieren allmählich meine angespannten Nerven. Ich bin drauf und dran zuzugeben, was die Bullen mir da an den Kopf werfen.

Zu meiner Verwunderung geht es immer noch einzig und allein um jenen Drogendeal größeren Ausmaßes, den die Polizei auch mit mir in Verbindung bringt. Zunächst versuche ich die Sache auf die gewohnte Weise durchzustehen. Aber die verhörenden Beamten geben nicht auf. Immer wieder knallen sie mir Fotos von Typen vor die Nase, von denen ich zumindest einen kennen sollte:

»Da! – Fabrizio Antonioni! – Carlo Delucci! – Jacques Cailli! – Allesamt Kontaktpersonen zu Boris Petrov! – Nie gehört?!«

Ich trage Ratlosigkeit zur Schau. Die Gegenwart hat mich zurückgeholt.

»Jacques Cailli!«

Ich zucke erneut zusammen. Ich bin schreckhaft geworden seit den Tagen meiner Geiselhaft. Es ist, als stünde mein Peiniger wieder hinter mir, bereit, bei meinem geringsten Widerstand zuzuschlagen.

»Schauen Sie sich das Foto genau an!« Der Bulle, der mich in die Mangel genommen hat, scheint eine richtige Fährte zu wittern.

»Sie kennen diesen Mann! Ein Treffen zwischen ihm und Petrov hat definitiv diesen Herbst stattgefunden. Und Sie waren dabei!«

Ich überlege fieberhaft. Ereignete sich dieses sogenannte Treffen in jenem Haus, an dessen Hintereingang so geheimnisvolle Klopfzeichen ertönten? Und war das damals, kurz vor Petrovs letztem großem Ausbruchs versuch? Kleinlaut lasse ich den Wortschwall über mich ergehen.

An diesem Verhörtag, einem bleigrau eingefärbten Morgen, hat ein Stellvertreter von Kommissar Pinot die Leitung des Verhörs übernommen. Der junge Beamte zeigt Engagement. Er gibt sich kühl und unbeugsam. Und er hat nicht dieses sanfte trügerische Licht in den Augen wie sein Vorgesetzter, das in die Irre führt und zuweilen sogar Hoffnung auf Verständnis macht.

Dieser Bursche schaut mir mit einem abstrakten Zorn ins Gesicht. Seine Lippen bewegen sich wie Automaten.

Ich versuche einen Ausfall.

»Zu diesem Treffpunkt hat mich Petrov nicht mitgenommen. Ich war in einem anderen Domizil eingesperrt. Ich weiß nichts von einem Drogenhandel.«

»Lüge! Sie und Petrov verließen noch am selben Tag gemeinsam diesen Ort in Richtung Normandie! Wollen Sie uns für dumm verkaufen?!«

Die Polizei hatte uns also doch erkannt, damals, auf jener privaten Landepiste, als mein Peiniger zusammen mit mir wie durch ein Wunder ihrem Zugriff entkommen konnte.

Zerknirscht sinke ich in mich zusammen. Zu dumm, dass ich nicht mehr rauche. Trotzdem bitte ich um eine Zigarette.

Der Auftakt zum Reden? Irrtum, mein Kleiner. Ich muss einfach Zeit gewinnen. Vielleicht will ich aber auch nur sehen, wie du auf diese winzige Unterbrechung reagierst. Wie ruhig ist deine Hand beim Feuergeben? Zittert sie am Ende schon im Vorgefühl des nahen Triumphes? Ich wage einen raschen Blick in diese streng auf mich gerichteten Augen. Schöne Augen übrigens, von einem warmen, sinnlichen Braun. Schade, dass sie so ungnädig sind. In gespielter Schüchternheit senke ich wieder die Lider.

Beinahe schäbig komme ich mir jetzt vor. Wie giert dieser junge Mann danach, sich an mir zu profilieren! Und vielleicht hätte ich am Ende auch gar nichts dagegen einzuwenden. Aber meine und deine Welt, gestrenger Ordnungshüter, trennen in Wahrheit Galaxien.

Was geht mich im Grunde euer Kampf gegen die schmutzigen Geschäfte der Drogenmafia an! Ich kämpfe einen ganz anderen Kampf. Ich kämpfe um mein individuelles Überleben in einer von mir nicht mehr durchschaubaren Wirklichkeit.

Die Ebenen meines Daseins haben sich ineinander verschoben, überlappen sich. Und in mir herrschen längst Zweifel und Verwirrung über mein tatsächliches Vergehen. Und einzig und allein darum muss ich meine eigene Rolle in diesem sich mir aufdrängenden Bildergewirr aus Schuld und Unschuld herausschälen, muss mich klar zu ihr bekennen können, muss unbeirrt den roten Faden meines Lebens abspulen dürfen bis zu diesem eben stattfindenden entwürdigenden Augenblick.

Dann, aber erst dann macht meinetwegen mit mir, was ihr wollt.

Ermattet verschanze ich mich hinter meinem Glimmstängel, heuchle Müdigkeit und Zerstreutheit, kehre die Ausländerin hervor, die – trotz Dolmetsch – an den Fein heiten der fremden Sprache verzweifelt, appelliere an die Fairness der hiesigen Polizei. Und enttäuscht gibt der junge Beamte schließlich nach.

Mit einer ungeduldigen Handbewegung werde ich entlassen, darf aufstehen, aus dem Zimmer gehen. Aber etwas von mir, eine Art törichte, selbstzerstörerische Tapferkeit (ein Zustand, der mich seit meiner Festnahme nicht mehr verlassen hat), bleibt wie ein unfreiwillig überlassenes Pfand im Verhörraum zurück.

2. KAPITEL

Untersuchungshaft. Diese Foltertage, in denen sich alle Aufmerksamkeit deiner potenziellen Verfolger lediglich auf den trostlosesten Teil deiner Vergangenheit reduziert (»Wo waren Sie vom ersten bis zum fünfzehnten Oktober dieses Jahres? Und verfallen Sie ja nicht wieder auf den Gedanken zu lügen! Wir bekommen die Wahrheit so oder so heraus!«), und diese zerdehnten, unruhigen Nächte – einstmals Verbündete deines abenteuerlichen Lebens: Sie geben deinem verwirrten, angeschlagenen Ich endgültig den Rest.

Lang vor dem Morgengrauen liege ich meistens schon wach, regungslos hingestreckt, wie gelähmt unter einem nicht enden wollenden Albdruck.

Die psychotischen Geräusche rund um mich herum verheddern meine Gedanken: ein Aufschrei. Ein dumpfer Singsang. Die hallenden Schläge an eine Tür. All das wickeln meine Halbschlafträume um eine tödliche Spirale der Angst.

Und schließlich das Unabwendbare: die Ausweitung der Anklage. Die Überstellung ins Morddezernat.

Und wieder diese stundenlangen Verhöre. Das Gebrüll. Die Indizien.

Der von mir so stümperhaft fingierte Selbstmordtat bestand wird mir zur Falle:

Heimtückisch, im Schlaf wurde Petrov erschossen!

Und ich, die Komplizin, bin seine Mörderin! Was bleibt, ist die eigene Ohnmacht. Das drohende Urteil. Die Gerichtsverhandlung. Der Schlusspunkt.

Jetzt ist es also so weit: 23. Mai 1980, 11: 25 Uhr.

Mit einem Bodensatz an Tapferkeit erhebe ich mich an diesem blauen Frühlingstag vor einem französischen Schwurgerichtshof, um das über mich verhängte Urteil zu vernehmen.

Es lautet: schuldig. Schuldig im Sinne der Anklagepunkte.

Nach außen hin zeige ich keine Regung, während der Richter sich jetzt in endlosen begründenden Ausführungen ergeht und die Staatsanwältin ihre Mundwinkel zu einem zufriedenen Lächeln anhebt.

Tief in mir aber spüre ich nach und nach ein zorniges Schluchzen aufsteigen, spüre, wie es meinen Schlund verengt, den Blick verschleiert, wie es in glasigen Facet ten aus meinen Augen stürzt: Habe ich richtig gehört? Zwanzig Jahre?!!

Ich schlucke. Überwältigt, bis in meine Grundfesten erschüttert, kämpfe ich vergeblich gegen dieses ziehende, mein ganzes Gestell zusammenkrampfende Gefühl der Ausweglosigkeit an.

Zwanzig Jahre also!? Eine ganze verdammte, beschissene irdische Ewigkeit!?

Der Pflichtverteidiger riskiert einen bedauernden Blick in meine Richtung.

Was glotzt du mich so belämmert an! Versager! Ver geblich versuche ich, vor der Welt meine Schwäche zu verbergen. Sitze da, mit geballten Fäusten und abgewandtem Kopf.

Nein! Ich habe keinen Grund, fair zu sein! Auch wenn dieser Mann dort vermutlich für mich getan hat, was er konnte.

Freilich, ich habe ihm seine Aufgabe nicht gerade leicht gemacht. Habe ihn mit kargen Aussagen allein gelassen, habe so manches Erklärende, Mildernde, Entlastende in meiner Geschichte weggelassen, habe aus Stolz, aus Scham, aus Bitterkeit, aus Trotz, aus Reue, aus welch unverzeihlichen und törichten Gründen auch immer meine Ankläger im Ungewissen gelassen und alles auf eine Karte gesetzt, bis sich der unfreiwillige Rechtsbeistand meiner Sache schließlich mit einer hastig zurechtgezimmerten und nicht sehr überzeugend dargebrachten Strategie entledigt hatte: Totschlag aus Notwehr.

Aber gerade diese Interpretation jenes Tatbestandes, den ich als einzigen unter all den mir vorgeworfenen Missetaten weder geleugnet noch gestanden habe, scheint die Geschworenen gegen mich eingenommen zu haben. Ob zu Recht oder zu Unrecht, darüber kann und will ich jetzt nicht mehr nachdenken. Was geschehen war, musste geschehen! Da war keine andere Wahl!

Die Leere, die sich jetzt in meinem Inneren auftut, decke ich mit einer heroischen Geste zu: Erhobenen Hauptes und mit stoischer Miene verlasse ich den Saal, ohne mich noch einmal umzusehen. Nein! Ich werde kein zweites Mal zusammensacken!

Doch ich mache mir nichts vor. Der Kampf zwischen mir und meinem Gewissen ist noch lange nicht zu Ende. Von nun an wird mein Leben aus lauter kleinen sinnlosen, kraftraubenden Scharmützeln bestehen! Und ihnen werde ich mich zu stellen haben. Tag für Tag aufs Neue.

In meiner Zelle lasse ich mich gehen. Werfe mich der Länge nach auf meine Pritsche und strample schreiend darauf herum wie eine Tobsüchtige.

Einen Augenblick später ist das Schweigen um mich herum perfekt.

Aber schon gleite ich erneut in diesen permanenten, seit meiner Verhaftung währenden Zustand des Wartens hinein, eine Tätigkeit, die nun wohl endgültig von mir Besitz ergriffen hat. Ich liege da und warte. Aber ich weiß nicht mehr, worauf.

Die Überstellung ins Staatsgefängnis ist ohne Zwischen fälle vor sich gegangen.

Man hat mir Einzelhaft gewährt. Das sollte mich mit Genugtuung erfüllen: keine fremden Ausdünstungen, keine Grapschereien, keine unnötigen Fragen. Aber ich bin mir im Augenblick über meine Wünsche noch nicht im Klaren.

Das Leben, das vor mir liegt, hat noch kein Gesicht, keine Umrisse, keine Schwerpunkte und keine Perspektiven. Ich kann jetzt aufstehen und ein paar Schritte machen. Kann mit der Stirn gegen die Wand schlagen. Kann in dieser neuen, mir aufgezwungenen Existenz verrückte Aktionen setzen. Aber ich kann mich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie alles in allem sinnlos sind.

Verloren beobachte ich den fahlen gelben Glanz auf der weiß gestrichenen Decke. Er wirft tiefe Schatten in die Winkel: Draußen im Hof wurden die Lichter aufgedreht. Wider Willen gewahre ich wieder dieses unvermeidliche diffuse Lärmen rund um mich, diesen niemals zur Ruhe kommenden, gedämpften Aufruhr der Stille …

Und wie jeden Abend versuche ich hinter dieses latente Grauen zu schlüpfen, das mich in meiner Einsamkeit Nacht für Nacht überfällt, krieche in mich zusammen, mache mich klein, wickle mich in meine Müdigkeit, bereit, für ein wenig Schlaf den letzten Rest meines mir noch verbliebenen Lebenswillens hinzugeben. Aber das vergitterte Fenster dort oben verhöhnt meine Großmut. Das, was ich früher einmal im Überfluss besessen hatte, muss sich wohl schon längst klammheimlich hinter diesen engen Stäben verflüchtigt haben.

Stattdessen verspreizen sich meine Lider: Eine unbestimmte Furcht lässt mich unentwegt in jenen Winkel dort starren, in dem die Schatten nach und nach unheimliche Formen annehmen, zu bedrohlichen Monstern werden.

Was hilft es, das Gesicht in den Polster zu pressen! Mein Bewusstsein gerinnt immer mehr in einer sich mir jetzt heftig aufdrängenden Welt längst vergangener schmerzlicher Bilder.

Da ist es wieder, dieses klägliche Wimmern, das mehr und mehr in mein angespanntes Lauschen dringt. Zögernd stelle ich mich auf die Füße und tappe auf dieses Wimmern zu.

Vor mir liegt ein kleines Bündel Mensch. Ich nehme es hoch, halte diese greinende, schniefende Last in meinen Armen, wiege es mit leisem Singsang in den Schlaf.

Aber um mich herum schwanken plötzlich Sessel, Tisch und Wände, drehen sich wie ein Karussell um meine eigene Achse, schneller, schneller, bis mich eine unbekannte Kraft mit aller Wucht zu Boden schleudert.

Ich bin noch klein. Mühsam richte ich mich an der nun wieder still stehenden Tischkante auf. Starre gebannt in zwei verglaste Augen, die durch mich hindurchsehen. Und fange aus Angst und Verwirrung zu lächeln an. Es soll mein Lebendigsein demonstrieren. Und es soll auch den Kleinen da vor mir wieder lächeln machen.

Doch ein gellender Schrei im Hintergrund verwirrt mich vollends.

Die Pflegemutter ist plötzlich über mir, ein wankender Turm, der auf mich zu stürzen droht.

Ich strecke meine Hände nach ihm aus und greife ins Leere. Gleich darauf spüre ich einen heftigen Schlag auf meinem Kopf und falle, von einem zersplitternden Schmerz überwältigt, in eine dröhnende Schwärze.

Jemand schleift mich an beiden Armen über den Boden, stößt mich durch eine Tür aus der Enge meiner Erinnerungen hinaus in die Weite des Vergessens, in der diese schreiende Verzweiflung über mir endlich, endlich in einer wattigen Wolke aus Schlaf erstickt.

Abrupt werde ich geweckt, ohne viel Umschweife in die Alltagsrhythmen des Gefängnisses einbezogen: Waschen! Frühstücken! Bereit machen fürs Verhör!

Halt! Das ist vorbei! Ich wanke beinahe unter der Last dieser jähen Erkenntnis. Die Schlaftrunkenheit fällt in Wellen von mir ab.

Du bist eine Verurteilte! Eine Strafgefangene! Die Außenwelt hat sich endgültig auf ein paar Quadratmeter Raum um dich herum beschränkt! Diese Tatsache beginnt sich jetzt erst ganz allmählich in meinem Kürbis einzunisten. Und es wird vermutlich noch eine ganze Weile dauern, bis er es vollends begriffen hat.

Das nächtlich durchlebte Inferno aber steckt mir noch immer in den Knochen. Dieser Albtraum meiner frühen Jahre! Dieses Tabu meines Lebens! Nicht einmal ihr, die ihr mich hinter diese Gefängnismauern brachtet, wisst Bescheid über dieses Verbrechen meiner Kindheit! Hab ich mich doch bis zum heutigen Tag darüber ausgeschwiegen! Darum war es wohl auch so leicht für mich, zu eurer schlimmsten Anschuldigung zu schweigen. Euch mit verschlossenem Mund in die Irre zu führen. Meinen eigenen Fluchtwegen zu folgen. Mein wahres Ich vor euch zu verstecken und seine Geheimnisse für immer darin zu vergraben.

Aus Gewohnheit stemme ich mich auch jetzt noch gegen diese reglementierte Welt hinter Gittern. Aber meinen Widerstand nimmt niemand mehr wahr. Zwischen meiner und der Realität des Gefängnisses gibt es keine Gemeinsamkeiten mehr.

Die diensthabende Wachebeamtin verschanzt sich hinter der missmutigen Maske ihres Morgengesichts. Die Austeilerinnen ziehen ihre Runden. Und ich schlucke mit der warmen bräunlichen Frühstücksbrühe meine Tagesration Selbsthass hinunter.

Irgendwann werde ich diesen Hass wieder herauswürgen, werde ihn ausspeien, werde auf unermüdliche, provokante Weise auf mich aufmerksam machen.

Das ist mein einziges, mir verbliebenes Recht: Ausbrüche zu simulieren aus dieser verriegelten Welt meiner Verbannung, aus dieser in den eigenen Abgrund gestürzten Realität meines physischen Daseins.

3. KAPITEL

In dieses Dasein aber, dieser endlosen Kette von gleichförmigen Tagen, Wochen und Monaten, in deren Trostlosigkeit die Seele wie in einem Morast versinkt, drängt sich plötzlich eine fremde Existenz, zerstört auf Anhieb die dumpfe Ruhe meiner erzwungenen Klausur, fordert Antworten auf längst verjährte Fragen, bringt Unbe hagen und neue Qualen in meine Einsamkeit.

Als sich eines Vormittags nach dem üblichen Morgendrill die Zellentür von Neuem öffnet, springe ich wie gestochen auf, klammere mich an mein Pult, wappne mich aus Gewohnheit vor potenziellen Angreifern, bin kampfbereit.

Es ist die Wärterin.

»Los! Ziehen Sie sich etwas über. Jemand will Sie sprechen.«

Erstaunt, meine Nervosität überspielend, versuche ich, so schnell es geht, meiner äußeren Erscheinung einen adretteren Anstrich zu geben. Aber die stumm vor mir aufgebaute Autorität behindert meine Eile: Ich bringe den obersten Knopf meiner Bluse nicht zu. Endlich bin ich so weit und ducke mich förmlich unter dem ungeduldigen Blick meiner Aufpasserin.

»Nächstens geht das ein bisschen flotter! Verstanden?!«

Ein Herr erwartet mich im Besprechungszimmer, kommt auf mich zu: blendend weißer Hemdkragen unter tiefbraunem Teint, eine widerspenstige Haarlocke in der Stirn, stellt sich ohne Umschweife vor:

» Jean-Louis Gimbaud, Rechtsanwalt.«

Die lebhafte Körpersprache meines Besuchers überrascht und verwirrt mich vollends. Einen Augenblick lang stehen wir beide ein wenig befangen voreinander.

»Wollen wir uns nicht setzen?« (Der Anwalt spricht kein akzentfreies, aber durchaus korrektes Deutsch.) Er zieht einen zweiten Stuhl an den Tisch und ich komme stumm und zögernd seiner Einladung nach, während sich die Aufseherin mit einem letzten strengen Blick auf mich zu ihrem Überwachungsstandort trollt.

»Madame, ich will mich kurz fassen. Aus verschiedenen Gründen halte ich ein Wiederaufnahmeverfahren in Ihrem Fall für möglich.«

Die kleine Pause hinter dieser gewichtigen Einleitung soll wohl die Wirkung der Worte auf mich vertiefen. Aber ich sitze immer noch stumm und steif auf meinem Stuhl und warte. Ich habe nichts zu sagen.

Der Anwalt fasst mich ins Auge.

»Sie haben bei den Einvernahmen und während der Verhandlung stets zu dem wichtigsten Anklagepunkt geschwiegen. Warum?«

Automatisch weiche ich diesem penetranten Blick aus. (Ja, ich habe geschwiegen. Was konnte ich auch gestehen oder leugnen? War ich in dieser Sache doch weder schuldig noch unschuldig! Wie aber hätte ich diese Tat sache meinen Richtern erklären sollen?!)

Widerwillig suche ich nach einer halbwegs plausiblen Antwort und muss dabei flüchtig an diese kurzen, deprimierenden, einseitigen Unterredungen mit meinem Pflichtverteidiger denken. Und an jenen Stoß leer gebliebener Papierbogen in meiner Zelle: mein niemals vollendeter Bericht, auf den ich einstmals als letzte Verteidigungsstrategie so große Hoffnungen gesetzt hatte.

»Ich habe versucht, das Wichtigste aufzuschreiben, den Hergang der Ereignisse …«

Sprechen Sie einfach darüber! Jetzt zum Beispiel!«

»Ich kann nicht darüber sprechen«, sage ich kleinlaut.

»Und warum nicht?« Der Blick des Anwalts verengt sich in dem meinen. »Wovor haben Sie jetzt noch Angst?«

Ich stutze, betroffen und gefangen genommen zugleich von dem, was ich da in diesen Augen lese.

Aber was ist es wirklich? Berufsehrgeiz? Gepaart mit Eitelkeit und Arroganz? Und vielleicht auch noch ein wenig Mitleid für eine ungeschickte, von der Justiz überschätzte Täterin? Hält mich dieser Mann am Ende auf eine nicht ganz verdiente Weise für unschuldig?

»Wer hat Sie beauftragt?«, platze ich schließlich heraus.

Der Anwalt lässt meine Frage unbeantwortet, gestattet mir keinen Spielraum.

Unsicher insistiere ich: »Wer ist es?! Sagen Sie es mir! Jules Dupret! Nicht wahr?«

Gimbaud hebt mit der Andeutung eins Lächelns die Mundwinkel und schweigt.

Auch gut! Ich bin im Bilde! Jules also! Wer sonst! Mein Noch-Ehemann! Den ich beinahe schon vergessen hatte! Insgeheim aber bin ich zornig, verbittert. ( Jules hatte sich damals während meines Prozesses jeglicher Aussage enthalten, hatte mich durch sein ambivalentes Verhal ten in den Augen der Geschworenen nur noch zusätzlich belastet.) Was in aller Welt treibt ihn ausgerechnet jetzt dazu, mir seine Hilfe aufzuzwingen? Jetzt?! Da es zu spät ist?! Sein schlechtes Gewissen? Das Strafausmaß meiner Verurteilung?

»Erzählen Sie mir alles, woran Sie sich noch erinnern können«, höre ich den Anwalt in seinem leicht eingefärbten, etwas autoritären Tonfall sagen und starre ihn nur schweigend an, überwältigt von so viel sinnlos vergeudeter Hartnäckigkeit.

Gimbaud hat seine Aktenmappe auf den Tisch gelegt und geöffnet.

»Aber vielleicht beantworten Sie mir vorerst noch ein paar Fragen«, fügt er langsam, wie aus tiefen Überlegun gen heraus hinzu. Ohne aufzusehen, schiebt er ein Vollmachtsformular in meine Richtung und beginnt sodann in einem umfangreichen Aktenbündel zu blättern.

Zögernd greife ich nach dem Füller und halte ihn unschlüssig in der Hand. Der Anwalt hat offenbar die richtige Stelle in seinen Aufzeichnungen gefunden und blickt auf.

»Es geht um eine genaue Zeitangabe.«

Augenblicklich verschanze ich mich wieder hinter meiner Abwehrstellung. Diese Sequenz erinnert mich schmerzhaft an jene seinerzeitigen Endlosverhöre mit ihren immer gleichen stereotypen Fragen, die allesamt die Tendenz hatten, den Wahrheitsgehalt meiner Antworten sofort in sein Gegenteil zu verkehren, sobald ich die Sätze laut formulierte. Aber der Anwalt ist bereits in Fahrt.

»Sie hielten sich während der Nacht zum 31. Oktober 1979 zusammen mit Dr. Boris Petrov in einem leer stehenden Bungalow auf. Richtig? Am nächsten Tag verließen Sie allein diesen Ort. Wann genau war das?«

Ich schweige. Ich weiß es einfach nicht mehr. Ich wusste schon während der Gerichtsverhandlung keine präzise Antwort auf diese Frage.

»Ich … war außer mir damals …«, sage ich schließlich, nur um irgendetwas zu sagen, und bin entsetzt über das leise Zittern in meiner Stimme. »Alles geschah wie von selbst …«

(Der Füller fällt aus meiner Hand, rollt über das leer gebliebene Formular.) »… ich kann mich an keine Details mehr erinnern …«

»Schon gut. Beruhigen Sie sich.« Gimbaud scheint meine innere Anspannung zu bemerken. Er ist offenbar um Sachlichkeit bemüht. »Ich verfolge ein ganz bestimmtes Ziel, Madame. Dazu bin ich verpflichtet. Und wenn das zutrifft, was ich vermute, haben wir noch eine reelle Chance.«

Ich komme aus dem Staunen nicht heraus. Macht sich der Typ über mich lustig? Noch immer hab ich nicht die leiseste Ahnung, wovon dieser berufsmäßige Herausreißer eigentlich spricht. Da sitze ich in voller Größe vor ihm: eine Abgeurteilte! Eine Missetäterin! Eine in allen Anklagepunkten für schuldig Befundene! Eine Mörderin!!

Mag sein, dass schon mein leises Kopfschütteln die Autorität seiner Worte zu erschüttern vermag, denn Gimbaud beugt sich plötzlich vor und stellt mit betont sanfter Stimme fest: »Sie glauben kein Wort von dem, was ich sage. Hab ich recht?«

Für den Bruchteil einer Sekunde scheint so etwas wie handfester Unmut in diesen wachen Augen aufzukeimen. Oder ist es bloß unverhohlener Spott?

Ich lehne mich zurück. Hab ich’s doch geahnt! Über steigerter Berufsehrgeiz also! Geballte Eitelkeit. Und Arroganz!

Eine winzige, irritierende, beinahe peinlich wirkende Pause macht sich zwischen uns breit.

Gimbaud nimmt das Formular und hält es mir hin.

»Zumindest haben Sie vergessen, das da zu unterschreiben.«

Wortlos greife ich nach dem Füller und schmiere meine Unterschrift auf die dafür vorgezeichnete Linie: Anica Dupret. Was für eine lächerlich zusammengewürfelte Signatur! Wie sehr hat dieser angeheiratete Nachname meine bis dato ohnehin kaum wahrnehmbare Identität verschluckt!

»Wir sehen uns in ein paar Tagen wieder. Denken Sie in Ruhe über alles nach. Machen Sie sich meinetwegen ein paar Notizen. Ich bin sicher, das nächste Mal werden Sie mir mehr zu sagen haben.«

Ein beeindruckender Abgang! Keine Frage. Souverän und verbindlich zugleich.

Gimbaud reicht mir die Hand, hält die meine mit leichtem Druck fest, zwingt mich somit, aufzuschauen, mein pralles Misstrauen preiszugeben.

»Auf bald also! Und Kopf hoch!«

Ehe ich mich versehe, hat mich die Wärterin wieder in Empfang genommen, zieht mich am Arm von meinem Sitz hoch. Ich aber starre noch immer wie unter einem Bann auf die Tür, die sich hinter meinem Besucher geschlossen hat. Das Misstrauen hat sich verflüchtigt. Dieses unbestimmte, deprimierende Gefühl der falschen Hoffnungen wider besseres Wissens aber will nicht weichen. Es stürzt mich in ein neues seelisches Chaos.

Nachdenken? Worüber?! Was gibt es noch zu gestehen? Und was muss für immer verschwiegen werden? Ich weiß es in diesem Augenblick weniger denn je.

Ich weiß nur eines: Dieser sendungsbewusste Rechts verdreher, dieser offenkundig von Jules unter Druck ge setzte Staranwalt wird den letzten Rest meines Stolzes zerstören.

Aus Trotz zwinge ich mich dazu, meine Person noch einmal mit den Augen der Gesetzeshüter zu sehen. Das ist plötzlich zu schwer für mich: Diese mit allen Wassern gewaschene Ganovenbraut, die standhaft schweigende Komplizin, die am Ende der gemeinsamen Flucht keinen anderen Ausweg mehr sah, als … Hier stocke ich.

Warum kann ich alle diese mir gegen meinen Willen aufgeklebten Etiketten ertragen und schrecke plötzlich vor diesem einen Wort für jene Tat zurück, die mich – zusammen mit all den übrigen Anschuldigungen – letztlich für zwanzig Jahre in ein französisches Staats gefängnis gebracht hat?

›Wir haben noch eine reelle Chance!‹

Aufgewühlt, um Fassung ringend, schlurfe ich vor der Wärterin den düsteren Korridor entlang.

4. KAPITEL

Schon seit Tagen fühle ich mich verfolgt. Da hat sich ein unsichtbares Wesen in meine Zelle gedrängt. Ist überall dort, wo auch ich bin, physisch oder in Gedanken.

Zuweilen ist mir, als wäre dieses Wesen ein fast vergessener, achtlos beiseite geschobener, kindlicher, sanfter, wissender Teil meines Selbst, der ausgerechnet jetzt um meine Liebe bettelt.

Es begnügt sich aber nicht damit, geduldig mit mir die Zelle zu teilen, mich zu trösten, mich an ein Morgen glauben zu lassen, nein, es zwingt mich, seit jener aufwühlenden Begegnung mit diesem Anwalt unaufhörlich in mein vergangenes Leben zu starren, immer auf der Suche nach etwas, das ich nicht benennen kann, von dem ich aber ahne, dass es etwas ist, was ich bis heute weder zu geben noch zu empfangen bereit war.

März 1973.

In jener eiskalten Vorfrühlingsnacht, in der es mir gelang, unbemerkt aus dem Erziehungsheim zu schlüpfen, ließ ich meine Kindheit zurück wie ein altes, zu kurz gewordenes Kleid.

Die Zukunft war so grenzenlos wie der Sternenhimmel über mir. Und in der glasklaren Luft, die meinen Atem in Nebel verwandelte, war die Freiheit eine weiße, gerade Straße.

Ich winkte dem herankommenden Auto, und es hielt an und nahm mich mit (wohin, war egal, ich war erwachsen, ich konnte wählen, aber am liebsten geradeaus, nur weiter, schnell!).

Die Blicke des Mannes neben mir berührten mich, betasteten mich, deklarierten mich: Du hast wohl kein Geld, was? Bist abgehauen.

Mitten auf der Landstraße hielt er an: «Wo soll’s denn genau hingehen, Kleine?«

»Zu meiner Tante.« Ich nannte irgendeine Adresse, ich war erstaunlich gewandt, das Erwachsensein schmeckte süß und es konnte mir nichts passieren.

Der Mann – ein alter Schönling, mit üppigen grauen Haaren und klebrigen Augen unter den buschigen Brauen – streckte seine Hand aus und zog mich an sich. Er hob mein Kinn an und betrachtete mich angelegentlich.

»Wie alt bist du eigentlich? Zwölf? Dreizehn?«

»Bald fünfzehn.« Ich log, aus Gewohnheit, weil die Wahrheit bisher meistens nur Strafen nach sich gezogen hatte.

Der Mann fuhr weiter, er fragte nichts mehr. Er bog von der Straße ab, fuhr einen Seitenweg entlang, hielt von Neuem an.

Ohne Umschweife kam er zur Sache. Ich wehrte mich heldenhaft. Das brachte mir Ohrfeigen und die massive Drohung ein, mich zurückzubringen, mich dort abzugeben, von wo ich hergekommen war.

Das schüchterte mich nicht wirklich ein, aber vor dieser muskulösen Masse Mann musste ich schließlich kapitulieren, stillhalten, den Schmerz verbeißen. Dann erhielt ich eine Zigarette, und die Hand, die auf meinem Schenkel lag, deutete so etwas wie eine Lieb kosung an.

In dieser Sternennacht empfing ich meine Initiation. In dieser Welt, die sich mir von nun an offenbarte, fragte niemand nach Herkunft oder Schuld. Trotz ihrer Grau samkeit hielt sie stets ein Narkotikum für mich bereit: Vergessen. Täglich neu beginnen. Überleben.

In irgendeiner Absteige schlief ich meinen Katzenjammer aus, beäugte sodann die neue Wirklichkeit und begann tapfer in sie hineinzugehen: Ich wanderte durch die Straßen und sondierte das Terrain. Ich brauchte Geld. Und das Geld liegt auf der Straße, haben mir ein paar erfahrene Mädchen im Heim eingetrichtert. Also heb es auf, Anica. Zier dich nicht.

Gleichmütig, hüftenwiegend schritt ich dahin. Die Angst im Herzen vertrieb ich mit den wenig erhebenden Bildern aus meiner Vergangenheit, dem öden Einerlei des Heimalltags: Brutstätte kindischer Träume, über die ich jetzt nur noch lachen konnte. (In Wahrheit aber war mir das Lachen in jenen Stunden ferner als je unter den Augen der Erzieherinnen.)

Scheu umging ich die sogenannten bürgerlichen Bezirke, wagte mich ebenso wenig in die Innenstadt, streunte lieber durch die endlosen hässlichen Schluchten zwischen gesichtslosen Mietskasernen, vorbei an klein bürgerlichen Kaschemmen und ausländischen Taver nen.

Ich habe Hunger. Und eine offene Tür lockt mich ins Innere eines heimischen Weinlokals.

Ein Kerl hinter einem Tisch wird auf mich aufmerksam. Er stiert mir ins Gesicht und ich überlege, ob ich zu ihm hingehen oder davonlaufen soll.

Der Mann winkt mir zu. Ich setze eine gelangweilte Miene auf. Der Typ rückt zur Seite, macht mir Platz. Ich zögere, setze mich schließlich ihm gegenüber und beantworte sein Grinsen mit einem hochmütigen Schweigen. Aus irgendeinem Grund glaube ich, dass mich diese Masche schützt.

»Allein unterwegs?«

»Schon möglich.«

»Hunger?« Ich antworte nicht. Der Mann ruft laut zur Theke hinüber: »Franz, ein Menü für die Kleine.«

Ein großes Glas Bier wird vor mich hingeschoben. Ich trinke gierig. Der Alkohol zaubert bunte Bläschen in meinen Kopf. Sie zerplatzen wie Seifenblasen. Der aufgewärmte Mansch weckt meine Lebensgeister wieder auf. Ich bewege die Zehen unter dem Tisch, ich beginne mich wohlzufühlen.

»Gary«, sagt der Typ und deutet auf sich.

»Lilian.« Das ist mein ›Künstlername‹. Den hatte ich mir schon vor meinem Ausriss ausgedacht.

»Schmeckt’s?«

Ich nicke. Der Typ namens Gary lässt Wein auffahren. Das fast leere Lokal beginnt sich zu füllen. Da sind durchwegs ältere Männer, ein paar Frauen. Einige von ihnen verschwinden bald wieder. Ich linse vorsichtig nach meinem Gegenüber. Der Kerl zupft nachdenklich an seinem Lippenbärtchen.

»Komm mit«, sagt er plötzlich und zieht mich von meinem Stuhl hoch.

»Wohin?«

»Wirst schon sehen.«

In Stiegenhaus, gleich um die Ecke, riecht es nach Gebratenem. Wir steigen ein paar flache Stufen hinauf und landen in einer dunklen, halb leeren Bude. Das Zimmer füllt ein riesiges, kreisrundes Bett, auf dessen grell gemusterten Polstern ich alsbald lande.

Ich halte es für klüger, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, und lache.

Der Kerl lacht auch, gleich darauf knallt mir seine Hand auf die Wange. Mit einem Aufschrei rolle ich vom Bett.

»Nur damit du im Film bist«, sagt Gary und zieht mich wieder zu sich empor. »Du willst doch Karriere machen. Oder?«

Ich verdrücke ein paar Tränen.

»Gib Antwort!«

»Ja.«

»Na also.«

Er vernascht mich etwas zerstreut. Offenbar hat er Eile. Nachdem er meine Herkunft, mein Alter, meine Lebenssituation ohne weiteren Kommentar aus mir herausgepresst hat (ich erzähle anfangs nur, was ich für richtig halte, und er schlägt so lange zu, bis ein Sternenfeuerwerk vor meinen zusammengepressten Lidern knistert und mein Kopf sich wie eine weiche, wässrige Frucht anfühlt: Lüg mich nicht an! Ich krieg es ja doch heraus und was dann passiert, das kannst du dir sicher ausmalen!), verschwindet Gary im Badezimmer, während ich mich langsam aus meiner Benommenheit schäle und mich ergebnislos an der verschlossenen Eingangstür zu schaffen mache.

Als er wiederkehrt, ist er in markige Duftwolken gehüllt und wir verlassen unverzüglich das kahle Domizil.

Ich eile vor Gary her, mit zitternden Knien und eingekniffenen Arschbacken. Wie eine blutige Anfängerin bin ich in die Falle gegangen.

Aber eine Anfängerin bin ich ja wirklich. Und zu alledem noch nicht vierzehn. Meine Chancen stehen schlecht.

Auf der Straße hält Gary mich fest: »Probier’s lieber nicht, mich zu hintergehen. Ich finde dich, verlass dich drauf. – Mary!«, ruft er halblaut in die Straße hinaus.

Eine dickliche Prostituierte drückt sich um die Ecke, stöckelt auf mich zu, hakt sich unter und zerrt mich mit sich fort.

»Geh schon«, flüstert sie mir zu, »mach hier keinen Aufstand. Woher kommst du denn?«, fragt sie mich, während wir in die Düsternis einer sehr schmalen Gasse eintauchen.

»Aus dem Heim«, gestehe ich, erdrückt von so viel Pech.

»Hast dir das anders vorgestellt, was? Allein anschaffen. Schnelles Geld verdienen. Und dann über alle Berge. Stimmt’s?«

»So ungefähr.« (Aber auch das ist gelogen. In Wahrheit habe ich mir überhaupt nichts vorgestellt.)

»Na ja. Nimm’s leicht. Du schläfst fürs Erste bei mir. Ich wohn dort drüben. Zweiter Stock, Tür neun.« Sie schubst mich vor sich her, sperrt die Wohnung auf, macht Licht.

»Ich muss jetzt noch einmal weg. Gegen Morgen bin ich wieder zu Hause. Noch etwas: Wenn du ausreißt, geht das auf meine Kappe. Damit du’s weißt.«

Der Schlüssel dreht sich zweimal im Schloss, der stöckelnde Tritt verliert sich hinter der eierfarbenen Tür.

Ich versuche meine Gedanken zu ordnen. Schaue mich um. Betrachte das Foto eines kleinen Mädchens an der Wand. Aber im Grunde nehme ich nichts wirklich wahr.

In meinem Kopf hämmert es: gefangen! Gefangen! Und ich wollte die Freiheit kosten, diese unbekannte Größe, die ich mit meiner Wirklichkeit füllen wollte.

Die Nacht ist ein zerfurchtes Stück Land, voll Mulden und brackigem Wasser, das ich durchwaten muss, ohne ein Ziel zu kennen. Ich wälze mich stöhnend auf den schaukelnden Matratzen in Marys stickigem Boudoir und nach jedem Aufschrecken fallen die schattenhaften Bilder erneut auf meine Lider herab.

Irgendwann höre ich einen Schlüssel sperren, das Einschnappen eines Türschlosses. Schritte tappen über meine Traumlandschaft.

Das Bett seufzt auf unter Marys Gewicht. Ich schwanke über meine verblassenden Abgründe hinweg und atme getröstet den süßlichen Geruch eines lasterhaften Körpers ein.

5. KAPITEL

Am nächsten Tag werde ich neu eingekleidet. Nun besitze ich ein paar Fähnchen, hauchdünne Wäsche, einen leichten Mantel, hochhackige Schuhe und kniehohe Stiefel. Ich persönlich hätte freilich ein paar neue Jeans und eine warme Sportjacke vorgezogen, aber ich werde nicht nach meinen Wünschen gefragt.

Gary ist zufrieden. Trägt eine väterlich-autoritäre Maske über seinem Ganovengesicht, gibt sich wortkarg und bestimmt, hat offenbar längst die Weichen für meine nächste Zukunft gestellt.

Ich werde von Mary instruiert: freundlich und zuvorkommend sein, keine wie immer gearteten Bedingungen stellen, nur auf ganz allgemeine Fragen antworten.

Die Schulung dauert mehrere Tage. Ich scheine nicht allzu viel Vertrauensvorschuss zu bekommen. Oder aber möglichst rasch von der Bildfläche verschwinden zu müssen. Denn wieder werde ich in eine Wohnung gesperrt. Diese aber ist kleiner als Marys Domizil, beinahe winzig, und liegt versteckt in einem Hinterhof. Ich bekomme zu essen und zu trinken, sehe aber tagelang keine Menschen seele.

Nur Gary schaut regelmäßig vorbei, um mir den nötigen Schliff zu geben, wie er sich ausdrückt.

Er zwingt mich zu allen möglichen und unmöglichen sexuellen Praktiken, reißt mir den Hintern bis zum Steiß bein auf und spart dabei nicht mit Kopfnüssen und Püffen. Dies geschieht so lange, bis ich meine Schmerzens laute zu unterdrücken lerne, die Tränen nur noch lautlos fließen und mein Körper unter den Händen meines Abrichters schlaff und gefügig wird wie der einer Stoffpuppe.

Okay. Schon besser. Und wieder Instruktionen, Drohungen, Versprechungen, Ermahnungen und dann und wann ein paar Ohrfeigen für alle Fälle (»Falls du die Spielregeln noch immer nicht begriffen hast. Oder willst du zurück ins Heim? Kannst du haben. Aber dann wirst du anders abgeliefert werden, als wie du von dort hergekommen bist. Das verspreche ich dir. Ist alles nur zu deinem Besten. Vergiss das nicht!«)

Ich vergesse es nicht. Eingemauert in meine Angst steige ich eines Abends in einen Wagen, fest am Arm gepackt von einem Kerl, der mich im Auftrag Garys, seinem Boss, zu meinem neuen Arbeitsplatz lotsen soll. (Nur dieses eine Mal. Dann gehst du allein hinauf. Kapiert?)

Ich bin sachgemäß gestylt. Mary, meine bisher einzige Kontaktperson außer meinem ›Besitzer‹, und der einzige Mensch, zu dem ich einigermaßen Vertrauen habe, hat mich zurechtgemacht, geschminkt, meinen Kleinmädchen habitus herausgestrichen und mich nebst vielen Ermahnungen getröstet: »Sei klug. Du kannst dir dabei eine goldene Nase verdienen. Das, was ich mache, ist im Grunde scheiße. Aber das da, das ist schon etwas anderes. Die obere Etage, verstehst du?«

Ich weiß nicht genau, was darunter zu verstehen ist, aber ich klammere mich an jede Art von Hoffnung. Also tripple ich neben dem Kleiderschrank her und versuche sogar so etwas wie Zuversicht in mir zu wecken. Viel leicht verdiene ich wirklich das große Geld mit diesem Job. Vielleicht gibt es einen Ausweg aus dieser Sack gasse.

Wir durcheilen die Hotelhalle, betreten einen Aufzug, machen vor einer versteckt liegenden Tür halt. Mein Begleiter klopft dreimal leise an und verzieht sich unmittelbar darauf. Ich warte eine geraume Weile mit angespannten Sinnen. Endlich öffnet sich die Tür. Und ich weiche automatisch drei Schritte zurück.

Später, wenn sich die Tür hinter mir geschlossen haben wird, werde ich erfahren, wie viele unterschiedliche Höllen es auf Erden gibt.

Diese da, die jetzt auf mich wartet, wird meinem jungen Leben den letzten Rest natürlicher Unschuld nehmen, wird ihm den Stempel der Hoffnungslosigkeit aufdrücken, wird es für immer stigmatisieren.

Irgendwann danach überschlagen sich die Ereignisse.

Wieder werde ich eines späten Nachmittags in die Nähe des bewussten Hoteleinganges gebracht. Aber anstatt mich das Zimmer meines Kunden aufsuchen zu lassen, dirigiert mich der Wachhund weiter, zerrt mich in eine Seitengasse zu einem der dort parkenden Wagen.

Mich erfasst Panik. Mein Kunde steht dort drüben, auf der anderen Straßenseite! Aber was ist das?! Jetzt wendet er sich ab! Ist im nächsten Augenblick hinter einem der Haustore verschwunden!

Aufgescheucht äuge ich durch die Windschutzscheibe der eleganten Karosse, vor der wir stehen. Eine fremde Dame sitzt da: feuerrote Locken über einer blassen Stirn, blau umschattete Augen.

Die Wagentür öffnet sich. Ich werde in den Fond gezogen. Ein Herr ist auch noch da. Er hält mich fest. Er lächelt. Wir fahren davon.

Es ist wie eine Entführung. Und gleichzeitig wie eine Flucht. Hat sich die Falle geöffnet?

6. KAPITEL

Die neue Freiheit endet in einer vornehmen Wohngegend der Stadt, vor einer alten, etwas heruntergekommenen Villa und einem schmiedeeisernen Gartentor mit dem Namensschild: N. Comarescu, Musikpädagogin.

Und sie entlässt mich nicht in einen goldenen Käfig, viel eher in eine geheime Strafanstalt für leichtsinnige Ausreißerinnen.

Es dauert ein paar Tage, bis es mir gelingt, mir auf meine neue Lebenssituation einen Reim zu machen. Zunächst zerbreche ich mir den Kopf darüber, was dieses vornehm wirkende Paar ausgerechnet mit meiner dahergelaufenen, schmächtigen, durchgedrehten, eingeschüchterten Person zu schaffen hat.

Allmählich aber glaube ich zu verstehen. Offenbar wurde ich in aller Heimlichkeit weggeschafft, am nächstbesten Ort versteckt, wie unter Zeitdruck auf Lager gelegt.

Und mit Grauen kreisen meine Gedanken immer wieder um jenen geheimnisvollen, martialischen Kunden aus dem Hotel, der mir in seinen jähen, unbegreiflichen Anfällen von Hass so viele Schmerzen bereitet hatte.

Bald zeichnen sich auch meine neuen Aufgaben ab. Offiziell bin ich Hausgehilfin. (Mein Abrichter Gary hat offenbar vorsorglich die nötigen Papiere mitgeliefert und in diesen wurde mein Geburtsdatum um zwei Jahre hinaufgesetzt.) Inoffiziell aber bin ich eine Art Sklavin, Spielzeug und Gespielin in einem, muss agieren, wie man mir befiehlt, muss den Regieanweisungen dieser beiden Erwachsenen folgen, die mich in ihre Mitte nehmen und mit mir tun, was ihnen Vergnügen bereitet.

Schon in der ersten Nacht meines Hierseins zerreißt meine Tarnung aus Schüchternheit und Abgebrühtheit. Ich schluchze leise in mich hinein.

Nadja scheint mein Katzenjammer zu rühren. Sie löst mit behutsamem Streicheln meine Verkrampfung. Meine mit blauen Flecken und Brandwunden übersäte Haut erschauert unter dem Hauch ihrer Fingerspitzen, die weiße Glätte ihres Körpers beginnt mich zu trösten, ihre Liebkosungen wiegen mich in den Schlaf, der meine Tränen konfisziert bis zu einem neuen unsanften Erwachen.

Denn der Tag rückt die Realität wieder zurecht. Nadja, meine Chefin, schwingt die Peitsche, lässt mir keinen Fehler durchgehen, hetzt mich – wenn sie zu Hause ist – von Aufgabe zu Aufgabe. Ihre harten Augen verraten nichts mehr von den nächtlichen Zärtlichkeiten, den betörenden Koseworten.

An einem regenschweren Morgen bestraft sie mich wütend mit verschärftem Arrest. Der Grund: Ich hatte mich in dem einzigen mir verbotenen Zimmer am Telefon zu schaffen gemacht und offenbar versucht, eine geheime Lade aufzubrechen.

Zur Abwechslung werde ich diesmal aus der Wohnung gezerrt und in den Keller der alten Villa gesperrt.

Da sitze ich nun auf einer ausrangierten Truhe und starre auf den matten Lichtstreifen, der durch das kleine Fenster bis in meine Tiefe herabfällt. Die zähflüssige Stille um mich herum verschluckt nur zögernd den verrinnenden Tag. Die Zeit vervielfacht sich, ist eingesperrt wie ich, kommt wie ich nicht mehr von der Stelle.

Als es vollends dunkel wird, springe ich von der Truhe, taste mich an die versperrte Kellertür heran, kauere mich vor ihr nieder und horche.

Irgendwann verlieren sich meine angespannten Sinne in diesem verzweifelten Horchen, und mir ist, als bewegte ich mich durch einen sonnenüberfluteten Raum bis zur Decke empor; diese aber scheint nur noch aus leuchtendem Nebel zu bestehen, den ich mühelos durchstoße.

Die Freiheit ist blau und warm. Ich breite entzückt die Arme aus, strecke meine Glieder, schwebe im schwerelosen Raum wie ein Vogel, jeden Augenblick bereit, auf und davon zu fliegen …

Ein heftiger Stoß lässt mich plötzlich über die schmalen Kellerstufen kollern. Nach und nach nehme ich im aufflammenden Licht die Umrisse Nadjas wahr. Sie zerrt mich empor, treibt mich vor sich her.

Ohne Essen, ohne weiteren Kommentar werde ich in meine winzige Kammer gesperrt und erst am nächsten Morgen unter der Androhung, für immer im Keller bleiben zu müssen, sollte ich mir noch einmal verbotene Freiheiten herausnehmen, aus meinem Gefängnis geholt.

Nach diesem schmerzlichen Intermezzo bin ich eine Zeit lang wie gelähmt. Vorsichtig, misstrauisch lerne ich schließlich, mit meiner Situation umzugehen, beginne schärfer zu beobachten.

Es bleibt mir nicht verborgen, dass diese beiden Ausländer, Nadja, die Musikpädagogin, und Mirko, der Teppichhändler (auch das habe ich aus Gesprächen aufgeschnappt), ihren augenscheinlichen Wohlstand offenbar nicht mit ihren Brotberufen allein erworben haben dürften. Da sind Geschäfte im Gange, leise, diskret. Und so verhalten sich auch die wenigen Besucher, die ich im Laufe der nächsten Wochen und Monaten heimlich be lausche.

Mirko: Seine Gegenwart macht mir anfangs zusätzlich Kopfzerbrechen. Worin werden seine ganz persönlichen Ansprüche an mich bestehen?

Meine Sorge bleibt fürs Erste unbegründet. Mirko hält sich alles in allem aus meinen persönlichen Angelegenheiten heraus, kreist, ein Satellit, lediglich um den Fixstern Nadja, und ich befleißige mich, ihn zu übersehen, wenn er es wünscht.

Die vielen einsamen Stunden und Tage in jenen kühlen, eleganten Räumen absorbieren aber nur langsam meine Ängste, verwandeln sie endlich – vermutlich aus Selbsterhaltungstrieb – in pure Tätigkeit, vor allem in einen überraschend in mir erwachten Lerneifer: Ich beginne mich heimlich und wann immer mir Zeit dazu bleibt, in Nadjas reichhaltiger (vermutlich mitsamt dieser großbürgerlichen Wohnung miterworbenen) Bibliothek umzusehen, in ihren mehr oder weniger erlesenen Büchern zu schmökern.

Ich vergrabe mich in Atlanten, verschlinge Geschichtswälzer, selbst ein paar Sprachbücher fallen in meine Hände: Englisch, Französisch, Spanisch. Ich nehme mir immer mehr Zeit für sie.

Mein Nachholbedarf an Wissen ist enorm, mein Ehr geiz treibt mich trotz Müdigkeit an. (Manchmal kritzele ich sogar ein paar Verse in einen alten Kalender, nur so zu meinem Vergnügen. Träume mich mit Worten, die aus einer unbekannten Quelle in mir aufsteigen, in ein anderes Leben hinein.)

Die Hausarbeit muss also rascher getan werden. Ich wasche und bügle. Ich putze. Versuche, den Räumen noch mehr Glanz zu verleihen. Bemühe mich, aus den mir zur Verfügung stehenden Viktualien aufregende kleine Mahl zeiten zu zaubern. Und dies alles, nur um meine geheimen Bestrebungen nicht zu gefährden.

Bei alledem bin ich oft ganze Tage allein. Eingesperrt und wohlverwahrt. Nadja verbringt viele Stunden außer Haus. Und Mirko taucht überhaupt erst abends auf. Bringt Blumen und Champagner, küsst Nadja auf den Nacken und bedenkt auch mich mit zerstreuten Liebkosungen.

»Du scheinst Sprachtalent zu haben«, stellt Nadja eines Tages fest. (Sie hat meine heimlichen Aktivitäten offenbar wahrgenommen, sie vermutlich schon eine ganze Weile beobachtet.)

»Also gut. Dann werde ich mich ein bisschen darum kümmern.«

Ich nütze die Gelegenheit, erfülle mein tägliches Pensum, lege Vokabelhefte an. Und überschreite in meinem Lerneifer vermutlich eine neuerliche Grenze.

Nadja unterrichtet Gesang in einer Musikschule. Nur ab und zu kommt eine Schülerin zu uns in die Villa. Dann stehe ich hinter der angelehnten Tür und höre aufmerksam zu, versuche die Übungen nachzuahmen, singe halblaut in meiner Küche die Tonleitern hinauf und herunter.

Meine Herrin überrascht mich auch bei dieser Tätig keit. Doch diesmal ist sie ungehalten.

»Plärr hier nicht herum! Du bist nicht auf einer Theaterbühne! Besser, du verhältst dich leise. In deinem eigenen Interesse!«

Ich kapiere. Leise sein, willig, diensteifrig, zärtlich und passiv, das allein wird von mir verlangt. Und ich füge mich, versuche, um jeden Preis Nadjas Vertrauen zu gewinnen, mache mich immer unentbehrlicher. Und die Rechnung scheint aufzugehen.

Nadja beginnt mich in ihr Schlepptau zu nehmen: Eines Tages darf ich sie auf kleineren Einkäufen begleiten.

Dieser Sieg verleitet mich zu kühnen Plänen. Tag und Nacht feile ich an ihnen, halte dabei stets die Augen offen.

Und an einem warmen Herbsttag gelingt es mir tatsächlich, meiner Chefin in einem unbeobachteten Augenblick zu entwischen.

Ich renne einfach los! Renne blindlings durch die Straßen, durchquere Viertel auf Viertel, schwindle mich als Schwarzfahrerin in Busse und Straßenbahnen hinein, steige wieder aus, hetze von Neuem weiter, stehle Obst von einem Marktstand und verstecke mich schließlich abends in einem leer stehenden Magazin.

Tags darauf setze ich meine Wanderung fort, streiche bleich und hungrig an den Tischen eines Terrassencafés vorbei.

Da! Ein bekanntes Gesicht! Ist das nicht Liesa? Ein ehemaliger Heimzögling? Wie ich einer war?

Überrascht bleibe ich stehen. Der Anblick dieses Mädchens erweckt widersprüchliche Gefühle in mir: Liesa – in jenen Anstaltstagen der bewunderte Star mit Vergangenheit! Aufmüpfig, abgebrüht und versiert! Und dabei nur wenige Jahre älter als ich! Und nun so erwachsen und elegant auf einer Hotelterrasse sitzend, ein kostbares Nichts am überschlanken Leib und sehr viel Gold an den Handgelenken!

Mein erstauntes Starren scheint Liesa zu amüsieren. Sie winkt mich zu sich heran.

»Anica! Na so was! Schon in die Freiheit entlassen? Setz dich und erzähl!«

Nervös schiebe ich mich auf einen der weißen Korbstühle und schaue mich argwöhnisch um. Eine große Portion Eis wird vor mich hingestellt. Liesa beobachtet mich.

»Ausgerissen?«, fragt sie lakonisch.

Ich nicke.

»Und? Hast du jetzt eine Bleibe?«

»Bin auf der Suche.« (Im Überspielen einer prekären Lage war ich schon immer eine große Nummer.) »Aber dir scheint es ja blendend zu gehen, wie man sieht!«

»Habe mich spezialisiert«, erklärt Liesa sachlich. »Nur erstklassige Kunden, verstehst du? Über eine Agentur. Sonst läuft nichts mehr bei mir.«

Ich weiß, was Liesa mit dieser Bemerkung sagen will; immerhin hat sie bereits ein paar Jährchen gerichtlich verordnete Fürsorgeerziehung wegen Juwelendiebstahls hinter sich.

»Gratuliere«, sage ich und betrachte verstohlen und bedrückt die so wunderbar Verwandelte.

»Was ich dich fragen wollte«, lasse ich schließlich verlauten, »hättest du vielleicht eine Adresse für mich? Ich könnte irgendwo putzen.« (Meine diskrete Zurückhaltung in Bezug auf einen raschen Verdienst verblüfft mich selbst ein wenig.)

Liesa betrachtet mich eingehender. Hält mir schließlich eine goldumrandete Visitenkarte hin.

»Hier«, sagt sie, »ruf mich dieser Tage einmal an.« Und dann plötzlich, mit einem Auflachen: »Also gut! Ich seh, es eilt. Dann komm meinetwegen heute Nachmittag so gegen sechs zu mir. Okay? Siehst ja elend aus.«

Ich verstaue die Karte wie eine Kostbarkeit, löffle hastig mein Eis zu Ende und verziehe mich. Mein Herz schlägt laut. Ich bin zufrieden. Liesa hat nicht viel gefragt. Hat einfach verstanden.

Aber jetzt nur fort. Egal wohin. Noch immer brennt mir der Boden unter den Füßen.

7. KAPITEL

Der einstige Heimzögling empfängt mich, leicht bekleidet, in seiner Prachtabsteige. Donnerwetter! Die nächtlichen Flunkereien der Mädchen im Internat, ihre fantastischen Berichte vom schnellen Geld gehen mir angesichts dessen, was ich hier erblicke, wieder durch den Kopf.

All dieses edle Mobiliar, sparsam verteilt, die raffinierte Beleuchtung! Ich bin schnell zu beeindrucken in jenen Tagen, da mein ganzes Hab und Gut aus dem Fähnchen besteht, dass ich auf dem Leib trage.

Liesa zieht mich auf das breite Sofa nieder, schiebt mir ein Glas in die Hand.

»Na, wo drückt der Schuh?«

Verloren atme ich den blassen Duft von Liesas Parfum, nehme einen Schluck aus meinem Glas, betrachte den brillantengeschmückten Arm, der schlaff auf der Lehne des Fauteuils ruht, und weiche diesen umflorten Augen aus, die unter ihren Lidschatten etwas gelangweilt auf mich gerichtet sind.

Betroffen bemühe ich mich um einen leichten Ton.

»Wahnsinn!«, sage ich überschwänglich und zeige um mich. »Wie hast du das bloß alles geschafft?!«

Liesa schaut mich abwartend an. Sie verzieht keine Miene.

Jetzt erst, unter diesem zerstreuten, gleichgültigen Blick, werde ich mir meiner ernsten Lage vollends be wusst.

»Ich brauche Geld!«, bringe ich schließlich heraus.

»Hast Pech gehabt?«

Ich nicke. Versuche ein Lächeln: »Aber es war nicht meine Schuld!«

»Musst für eine Weile untertauchen?« (Der einstige Heimzögling scheint mehr zu wissen, als ich für meinen Teil zugeben wollte.)

Liesa beugt sich vor, das Lampenlicht verfängt sich in ihrem kupferfarbenen Haar. »Damit wir uns gleich verstehen«, sagt sie im Ton einer Heimerzieherin, »für das, was ich tue, bist du offiziell noch zu jung.«

Wieder nicke ich. Zeige mich einsichtig. Versuche, durch kluges Verhalten das Wohlwollen meiner neu gewonnenen Freundin nicht aufs Spiel zu setzen.

Diese zündet sich eine Zigarette an, hält mir das Päckchen hin.

Ich schüttle den Kopf. Insgeheim bin ich verstört. Diese spontane Regung von heute Mittag, war sie überhaupt ernst gemeint?

»Ich hab geglaubt, du würdest mir helfen«, wiederhole ich laut meine Gedanken. Tränen der Enttäuschung sitzen bereits hinter meinen Augäpfeln. »Ich geh nicht mehr ins Heim zurück! Die kriegen mich nicht mehr dort hinein! Nie mehr!«

Nun fingere ich doch nach einer Zigarette.

»Kannst du denn etwas?«, fragt Liesa schließlich, während sie mir Feuer gibt. Ihre Stimme klingt wenig aufmunternd.

»Ich?«

»Na ja, irgendetwas, das sich ohne Schwierigkeit vermarkten lässt.«

»Putzen kann ich«, antworte ich etwas verbohrt. »Wie gesagt. Und Kochen. Im Haushalt helfen.« Ich denke nach. (Für eine Vierzehnjährige ist es nicht gerade leicht, mit speziellen Fähigkeiten aufzuwarten.)

»Kannst du singen?«

»Was?« Ich starre Liesa an. »Nein. Das heißt … « Aus irgendeinem Grund muss ich plötzlich lachen. »Wieso kommst du ausgerechnet darauf?«

»Wenn du nämlich singen könntest …«, Liesa spricht langsam, sieht mich prüfend an.

»Warte«, sie erhebt sich und beginnt in der Lade einer zierlichen Kommode zu kramen, zieht schließlich so etwas wie einen Programmzettel hervor: »Da.« Sie reicht mir das Papier hin. »Diese Burschen da suchen wen.«

»Bloody Bats«, lese ich staunend und dann unter den fettgedruckten Lettern noch ein paar Namen, den Ort und das Datum eines Auftrittes.

»Haben auf einer Party gespielt«, bemerkt Liesa in ihrer lakonischen Art. »Zwei von ihnen kenne ich persönlich. Gregor und Armand. Nette Typen. Könntest dich bei denen auf mich berufen.«

Ich schaue bewundernd zu Liesa auf. Sie geht auf exquisite Partys, kennt Leute der großen Welt, Musiker –

»Ich weiß nicht recht«, sage ich kleinlaut. »Ich hab nie an so etwas gedacht.«

Grelle, ausgeflippte Bilder kreisen vor meinen Augen. Ich! Eine richtige Sängerin! Vor einem Mikrofon! Aufgetakelt wie ein Musicalstar!

»Die Adresse steht drauf«, sagt Liesa und zeigt auf den Zettel. »Falls du morgen hingehen willst.«

Morgen! Dieses Wort macht mich schwindlig. Seit meinem allerersten Ausriss lebe ich für dieses eine Wort. Morgen erwachsen sein! Die Schläge abfangen! Zurückgeben! Endgültig die Seiten wechseln!

»Müssen ulkige Typen sein«, erkläre ich übermütig und dankbar, dass Liesa mich nun doch ernst genommen hat, mich nicht länger wie ein Kind behandelt.

»Ulkig? Wieso?«

»Na, weil sie sich ›Blutige Fledermäuse‹ nennen.« (Ich übersetze wortwörtlich, lege es darauf an, mein bisschen aufgefrischtes Schulenglisch herzuzeigen.) »Da bekommt man ja eine Gänsehaut!«

Wir müssen lachen. Unser abruptes Gelächter reißt endgültig die unsichtbaren Barrieren zwischen uns nieder.

»Komisch«, sage ich, »dass du davon angefangen hast.«

»Wovon?«

»Na, vom Singen. Ein bisschen gelernt hab ich’s wirklich.«

»Sechster Sinn«, verkündet Liesa in einem großartigen Ton.

Sie offeriert mir ein Darlehen: ein Päckchen Bank noten. »Du gibst es mir zurück, sobald du kannst.«

Ich falle ihr um den Hals.

Wir stoßen an. Ich leere mein Glas in einem Zug, möchte betrunken sein, die Illusion festhalten.

Wo ist die Sackgasse meiner Kindheit? Eine neue Straße tut sich auf. Und ich folge ihr blindlings und ohne Zögern.

Ein wenig auf ›älter‹ geschminkt und herausstaffiert, als gelte es, einen Freier aufzureißen, so trete ich meine Karriere als Popsängerin an.

Die ausgetretenen Stufen, die in das Kellerlokal hinabführen, wären mir mit meinem hochhackigen Schuhwerk beinahe zur Falle geworden. Ich strauchle und halte mich mit einem kleinen Aufschrei am Geländer fest. Ich bin ein solches Outfit im Grunde nicht gewöhnt; und das verborgene Leben bei Nadja hat mich geradezu menschenscheu gemacht.

Umso mehr versuche ich, diese Tatsache zu über spielen, stolziere hocherhobenen Hauptes in den Raum, schwinge meine Hüften und lächle blindlings in die Gegend, weil es – wie ich sehr wohl weiß – immer auf den ersten Eindruck ankommt. (Wenn die Leute da nur keinen Ausweis verlangen, geht es mir durch den Kopf.) So wie ich hier stehe, bin ich ein ganz und gar unbeschriebenes Blatt. Und die Lügengeschichten bezüglich meiner Herkunft, die ich mir bereits ausgedacht habe, sollen diesem ersten Eindruck überdies noch eine geheimnisvolle Note verleihen.

Mein angestrengtes Lächeln schwindet, verdutzt schaue ich mich um. Außer einer Reihe von Instrumenten und ein paar Möbelstücken scheint das Lokal leer zu sein. Keine Menschenseele ist zu sehen.

»Hallo?«, rufe ich halblaut in die dämmrige Tiefe des Raumes hinein. Die Stille macht mir Angst. Ich bewege mich ein paar Schritte vorwärts, pflanze mich ostentativ auf und rufe laut:

»Ist niemand hier?!«