Die Familie Seldorf - Therese Huber - E-Book

Die Familie Seldorf E-Book

Therese Huber

0,0

Beschreibung

Der Roman erzählt die Geschichte einer französischen Adeligenfamilie zur Zeit der französischen Revolution.

Das E-Book Die Familie Seldorf wird angeboten von Jazzybee Verlag und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 469

Veröffentlichungsjahr: 2012

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Familie Seldorf

Therese Huber

Inhalt:

Therese Huber – Biografie und Bibliografie

Die Familie Seldorf

Erster Theil

Zweiter Theil

Die Familie Seldorf, T. Huber

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN:9783849628338

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Therese Huber – Biografie und Bibliografie

Im Frühling des Jahres 1784. kam zu Saumür in der ehemaligen Provinz Poitou, ein ältlicher Mann an, der, nach seiner Kleidung zu urtheilen, ein Seeoffizier von ansehnlichem Rang seyn mußte. Er war von seinen Kindern begleitet: einem Sohn und einer Tochter von neun bis dreyzehn Jahren, und einer zweiten Tochter, die noch in der frühesten Kindheit war. Die Kinder trugen tiefe Trauer um ihre vor kurzem verstorbene Mutter, aber weiter konnte die Neugier der Wirthsleute in dem wenig besuchten Gasthofe anfangs nichts erfahren; denn die beiden Bedienten des Fremden, ein junger Bursche aus der Gegend von Saumür selbst, der zufällig ganz kurze Zeit vorher nach Paris gewandert war, um dort Dienste zu suchen, und eine Kinderwärterin, waren nur gerade vor der Abreise des Fremden aus der Hauptstadt von ihm angenommen worden, und wußten wenig mehr von ihrem neuen Herrn, als daß er seinem Namen nach zu urtheilen – er hieß Seldorf – kein geborner Franzos seyn müßte, im amerikanischen Kriege gedient hätte, und mit einem zerschmetterten Arm zurükgekommen wäre. Er äusserte indessen bald, daß er sich einige Zeit in der Stadt aufzuhalten gedächte; und sobald er seinen Kindern, für welche er die gröste Sorgsamkeit zu haben schien, alle Bequemlichkeiten verschafft hatte, die bei der Beschaffenheit des Hauses zu erlangen waren, erkundigte er sich bei dem Wirth, ob in diesem Strich nicht irgend ein gut gelegenes Landgut, von mässigem Umfang, zu kaufen seyn sollte. Es fand sich, daß dieser durch einen kleinen Weinhandel mit mehrern Herrschaften in Verbindung stand, und Leute in der Stadt kannte, die mit Aufträgen zu dergleichen Geschäften versehen waren. Seldorf nahm auf den folgenden Tag Abrede mit ihm, einige Gänge zu diesen Leuten zu thun, und kehrte hierauf zu seinen Kindern zurük.

Er fand Sara, seine Aelteste, ein sanftes Geschöpf von neun Jahren, neben der Kinderwärterin knieen, und ihr Schwesterchen, das ein heftiges Fieber zu haben schien, liebkosend trösten, indeß der Knabe an einem Fenster stand, und mit grossen ernsten Augen auf die Gruppe blikte. Seldorf näherte sich der Kleinen, legte seine Hand an ihre glühenden Wangen, sah in ihre trüben Augen, und sagte zu Sara: Gutes Kind, deine Schwester wird nun gesund werden, diese Luft ist heilsam – Sara sah freundlich zum Vater auf, der mit Bestürzung wahrnahm, daß ihr Gesicht von Thränen benezt war. Was hast du? rief er, und zog sie zu sich. Antoinette ist ja nicht so krank, sie soll leben, und wir wollen sie pflegen, und für sie sorgen – O Vater, das ist's nicht! wenn sie auch stürbe – ich denke wohl, Vater, der Tod ist nicht das Betrübteste; aber so lange sie lebt, müssen wir ihr wohlthun, und sie lieb haben – und Theodor – – Ungedultig hatte dieser der Schwester zugehört, er eilte nun zu ihr – Sara, rief er dringend, du hast Unrecht, ich will Antoinetten wohlthun, ich möchte jeden Schmerz für sie leiden; du weißt ob es wahr ist, was du mir vorwarfst, was du nun dem Vater sagen willst – Seldorf unterbrach den stürmischen Knaben, drükte beide Kinder an seine Brust, und wollte sich eben nach der Entstehung ihres Zwistes erkundigen, als die kleine Kranke von dem Schooß ihrer Wärterin herabglitschte, und mit zitternden Schritten zu ihm schlich, seine Kniee mit beiden Armen umfaßte, und indem sie bittend zu ihm hinaufsah, einige süsse Worte lispelte. Seldorfs Gesicht überflog eine glühende Röthe, sein Blik wurde finstrer, er bükte sich aber nach dem Kinde, dessen Kopf matt auf seine Kniee gesunken war. Theodor nahm es auf seine Arme, sah auf den Vater, sah auf die lächelnde Kleine, und wollte sie lebhaft an sich drükken, als sie schmerzhaft ausschrie: Ach mein Hals! und nach einer breiten Binde grif, die sie bis an das Kinn verhüllte. Des Knaben Thränen stokten, er gab das Kind eiligst der Wärterin, und ohne den mindesten Ausdruk von Theilnahme gegen das wimmernde Geschöpf, warf er sich seinem Vater um den Hals. Vater, rief er, Sara findet mich hart gegen Antoinette, weil ich nicht – weil mein Herz mir es unmöglich macht – weil wir Knaben wohl helfen mögen, aber nicht klagen und trösten können. – Ach Theodor, unterbrach ihn Sara, wie ich die Blattern hatte, konntest du da nicht klagen und trösten? Habe ich da nicht oft gebeten: Bruder, weine nicht! wie ich blind war, und deine Thränen so kühl auf meine brennenden Hände fielen? – Sara, quäle mich nicht, denn ich habe recht. Du bist älter, du bist meine liebe Herzensschwester gewesen, lange eh der Vater uns allein ließ, dich liebte ich ja, eh du nur mit mir sprechen konntest – Seldorf wollte nun den zärtlichen Streit, dem er gerührt und nachdenkend zugehört hatte, endigen. Liebreich stellte er Theodor'n vor, wie selten es in der Macht des guten Mannes stände, den Leiden seiner Mitgeschöpfe abzuhelfen, und wie lindernd für den Leidenden Theilnahme und sanfte Tröstungen wären. Während daß Beschämung und Hartnäkkigkeit in des Knaben Seele noch kämpften, wendete sich der Vater zu Sara, und sagte: Mein Kind, Theodor will nicht hart seyn gegen das arme Geschöpf, das weißt du; von der Art, wie er euch beide liebt, kannst du nicht urtheilen, meine Sara. Wenn du einst älter bist, wirst du lernen, daß es weibisch wäre, wenn Knaben und Männer liebten und trösteten, wie es deinem Geschlecht wohl ansteht, es zu thun.

Saraverstand ihres Vaters Worte kaum zur Hälfte, denn sie war sehr jung und einfach; aber eben dieser Einfalt prägte sich der Sinn dieser Worte, für welchen die Natur das weibliche Herz so empfänglich gemacht hat, tief ein, und mit demselben Achtung für den Unterschied zwischen ihrem Gefühl und dem, was ihr Vater als Eigenschaft des Mannes zu bestimmen schien, liebende Behutsamkeit, in den beiden Geschöpfen, die sie so innig ehrte, diesen Unterschied nicht zu beleidigen.

Es kam Seldorf darauf an, unverzüglich einen ländlichen Aufenthalt zu finden, und er hatte hiezu blos die Mühe der Wahl, denn in der Hauptstadt waren eine Menge Gutbesitzer ungedultig, einen Theil ihres väterlichen Erbes in fremde Hände zu bringen, um in dem glänzenden Wirbel, wo sie sich wie Strohhalme im Weltmeer umtrieben, sich einen Augenblik länger eine lügenhafte Wichtigkeit zu geben. Er entschied sich für ein artiges Landhaus, von welchem ein kleines Dorf und ziemlich ansehnliche Ländereien abhiengen, das die reizendste Lage hatte, und von allem Geräusch und Ueberfall von Müssiggang so entfernt war, wie es in einer Provinz seyn konnte, wo es Rittergüter, alte Schlösser mit Thürmen und Gräben und allen feudalischen Ehrenzeichen in zahlloser Menge gab. Das Haus war zulezt von der verwitweten Gräfin ** bewohnt gewesen, die es als Witwensiz besessen hatte, und nach deren Tode es ihres Mannes ältestem Sohne aus seiner ersten Ehe zugefallen war. Diese arme Dame, welche durch verschiedne Umstände sehr wider ihren Willen vom Hof entfernt gehalten wurde, hatte alle Laster, aus welchen die Bewohner jener erhabenen Sphäre die Fesseln schmieden, mit denen sie lächelnd sich selbst geisseln, unter die Einwohner dieser Gegend gebracht. Zu alt, zu beschränkt in ihren Glüksumständen, und zu verlebt, um einen Zirkel von Menschen ihres Standes um sich zu versammeln, hatte sie Neid, Intrigue, Raubsucht, Haß, und alle Würkungen, die es in dem Menschen hat, wenn er nicht allen Menschen anzugehören glaubt, in die täglich würksamen Verhältnisse des häuslichen und ländlichen Lebens übergetragen, ihre Unterthanen gedrükt, ihre Nachbarn verscheucht, ihr Gesinde verschlechtert. Nach ihrem Tode sahen sich die Unterthanen mit dumpfer Gleichgültigkeit in eines neuen Herrn Gewalt kommen, indeß mancher unter ihnen weinen mochte, wenn er aus Noth gezwungen war, sein leztes Pferd einem andern Eigenthümer zu überlassen. Daß sein Pferd es besser oder schlimmer haben konnte, wußte er, da er selbst viele Jahre lang sein schwarzes Brod zwischen diesem Thiere und seinen nakten Kindern getheilt hatte; aber daß die Bauern jemals von einem Herrn besser als von dem andern wären behandelt worden, hatte ihm sein alter Vater nie erzählt. Seit vielen Menschenaltern ohne Genuß von sicherm Eigenthum, von Liebe oder Dank, sahen sie fühllos die lächelnde Sonne ihre Fluren bescheinen; die Trauben die sie röthete, die Saaten die sie reifte, gehörten nicht ihnen; sie kannten ihre Würkung nur von dem Schweiß der bittern Mühe her, der ihre erniedrigte Stirne benezte. Nie hörte man sie von dem Segen ihrer Arbeit sprechen; wenn sie nach einem schwülen Tag finster vor ihren Hütten saßen, erzählten sie sich höchstens von dem Hagelwetter, dessen Verwüstungen ihnen Brod und Obdach nahmen. Unglüklich fühlten sie sich nicht, denn es fiel ihnen nicht ein, sich mit Glüklicheren zu vergleichen; hätten sie das gekonnt, hätten sie gar sich mit ihren prassenden Herren zu vergleichen gewagt, es wäre schon der erste, gefährliche Schritt zum Erwachen aus ihrer Dumpfheit gewesen. Die seelentödtende Erniedrigung dieser armen Menschen bestand gerade darinn, jenes Geschlecht, das sie von allen Ansprüchen der Menschheit ausschloß, für erhabener als sich selbst zu halten; und erwachte je ein Funken von Ehrgeiz in ihnen, so befriedigten ihn glänzendere Zeichen ihrer Dienstbarkeit.

So waren die Einwohner dieser Gegend, und die paar hundert Menschen beschaffen, über welche Seldorf nun zu gebieten hatte. Dieser Mann hatte früh denken gelernt, er hatte früh seinen Geist bereichert; aber in der Einsamkeit erzogen, hatte er den Menschen nur in seinem eigenen Herzen studiert, und das Ideal, was er hier fand, leitete ihn auf einen Pfad, wo er ohne Gefährten blieb. Nirgends begegnete ihm in der Würklichkeit die hohe Tugend, nach welcher er strebte, die er allein seiner würdig hielt. Oft glaubte sein warmes Herz ihre Spur gefunden zu haben, er verfolgte sie eifrig, und immer sah er sein schönes Bild in Luft zerfliessen. Doch riß ihn keine Erfahrung von seinen Schwärmereien los, bei jeder ward ihm vielmehr sein Ideal theurer, bei jeder strahlte dessen Glorie heller, und bedekte neues Dunkel den Pfad seines Lebens. Er sehnte sich nach Mitgefühl, und wachte zu streng über sich selbst, um die Einsamkeit seines Herzens seiner Vortreflichkeit zuzuschreiben. Indessen sah er sich oft mit Beifall umringt, wenn er sich kleiner Antriebe bewußt war, und oft ergieng über ihn das strengste Gericht, wenn seine schöne Seele im Gefühl ihres Adels glühte. Mistrauen gegen den Schein der Tugend mußte also mit Geringschäzung fremden Urtheils in ihm entstehen. Bey einem kältern Herzen wäre er ein Menschenverächter geworden. Aber Seldorf konnte sich nur von den Einzelnen losreissen, unter denen ihn so viele betrogen und verkannten, um das ganze Geschlecht mit desto innigerem Wohlwollen zu umfassen.

Verschiedne Umstände verschafften ihm schon in früher Jugend, ob er gleich in Deutschland geboren, und seine Eltern von der nämlichen Nation waren, eine Stelle im Dienst des königlichen Seewesens in Frankreich. Dies war keine Gelegenheit für ihn, Menschen nach seinem Bild zu finden; was ihn umgab, war vielmehr Unrecht, Druk, und Vergessenheit aller Pflichten. Sein Herz litt unendlich dabei, und da er sich eben so fruchtlos nach Glük als nach Tugend umsah, fieng er an, beide weniger für den Lohn, als für den Leitstern des menschlichen Geschlechts zu halten. Seine schönsten Jahre waren in überspanntem Streben und trüber Ergebung verflossen, als der siebenjährige Krieg ausbrach, der für Frankreichs Ehre und Wohlstand so verderblich war, in welchem schamlose Intrigue, Privatinteresse und Weiberlaune Leben und Gut der Nation in die Hände spottender Feinde lieferten. Seldorf fühlte alle diese Abscheulichkeiten bei seinem Dienst zehnfach bitter; die wenigen redlichen Seeoffiziere sahen mit Zähneknirschen, wie sie und ihre brave Mannschaft durch die Pflichtlosigkeit der Obern dem Hohngelächter der Fremden preisgegeben waren. Wo indessen der Muth der Seeleute nicht durch die Ungeschiklichkeit oder Verrätherei ihrer Anführer fruchtlos gemacht wurde, behaupteten sie ihre Ehre; und einige durch Tapferkeit und Klugheit geglükte Unternehmungen brachten Seldorf früher in seinem Dienst empor, wie er als Ausländer und Bürgerlicher unter andern Umständen je hätte erwarten können. Die Thätigkeit, zu welcher er dadurch immer mehr Anlaß bekam, hatte den wohlthätigsten Einfluß auf seinen Geist; statt müssiger Spekulation, sah er nun Würklichkeit um sich her, und wenn er auch dabei auf Gestalten stieß, die gegen die Bilder seiner ehemaligen Betrachtungen ihm sehr verzerrt vorkamen, so traf er auch freundliche, anziehende Gruppen, die durch ihre menschlichen Unvollkommenheiten Zutrauen, und durch manche einzelne Züge Ahnungen hoher Tugend erwekten. In der erzwungnen Achtung seiner unwürdigen Obern schien ihm die zertretene Menschheit einigermassen gerächt, und ihr richtiges Verhältniß schien ihm in der zutraulichen Liebe seiner muthigen, sorglosen Untergebenen zum Theil wieder hergestellt. Sein Herz erweiterte sich, denn er fühlte die mangelhafte Würklichkeit beglükkender als seine vollkommnen Ideale.

Der Zustand, in welchen das arme Frankreich immer tiefer versank, sezte den guten Seldorf, als er nach beendigtem Kriege in das bürgerliche Leben zurükkehrte, zwar in Gefahr, den kleinen Vorrath von Lebenslust, den er aufgesammelt hatte, wieder einzubüssen. Allein jene unbestimmten Triebe seiner Jugend waren nun verraucht, des Mannes ruhiger Sinn begnügte sich mit den gewöhnlichen Hülfsquellen des gesellschaftlichen Lebens; er wollte sich nun auf immer vor Schwärmerei schüzzen, und beschloß, so nah er auch seinem Herbst war, mit noch ganz neuem Herzen eine Gattin zu suchen.

Das weibliche Geschlecht war ihm bisher unbekannt geblieben. Der Begrif von weiblicher Tugend und weiblichem Adel war seinem Ideengang überhaupt angemessen. Das einzige Weib, das er je kannte, seine Mutter rechtfertigte diesen Begrif; ihr Andenken heiligte bei ihm ihr ganzes Geschlecht, und machte es ihm so ehrwürdig, daß er die einzigen weiblichen Geschöpfe, die er in seinem Dienst und durch den Umgang mit seinen Kameraden zu sehen Gelegenheit gehabt, nie mit diesem Geschlecht in die mindeste Verbindung gebracht hatte.

Der Zufall führte ihm ein Mädchen zu, die er zu seinem Weibe machte, nachdem er sie schon durch alle Bande der Dankbarkeit an sich gefesselt hatte. Leidenschaftlich lieben konnte der vierzigjährige Mann wohl nicht mehr, aber mit dem vollsten Zutrauen sein ganzes Glük aus den Händen eines reizenden Weibes erwarten, die ihm mehr wie das Leben zu verdanken hatte, das konnte er mit mehr Einmischung seiner ganzen Seele als manche heftige Leidenschaft erfordert. Er ward auch glüklich, und zwei Kinder, Theodor und Sara, schienen ihn auf immer an die Fehler, Leiden und Genüsse der gebrechlichen Menschheit zu knüpfen, als die unergründliche Staatskunst des französischen Hofs seine Unterthanen nach Amerika schikte, um dem kühnen Volke eines andern Welttheils ein Gut erkämpfen zu helfen, das bei ihnen Majestätsverbrechen geheissen hätte. Seldorf konnte bei seinem Gefühl und seiner Denkungsart dem Ruf seines Monarchen für Freiheit und Volksglük zu streiten, nicht als blosser Miethling folgen. Erstaunt durch einen Dienst, wie der seinige, aufgefordert zu seyn, für die Sache der Menschheit zu fechten, flog er auf seinen Posten, und die Freude seiner Seeleute jauchzte ihm entgegen. Das wohlgemute Volk hatte unter Seldorf gesiegt, und sein Blut vergossen aus gewohntem Gehorsam, die wenigsten darunter bekümmerten sich ernsthaft um das Wesen und den Grund des Kampfes; indessen trieben sich manche unbestimmte Begriffe und Sagen von den Thaten und dem Vorhaben der neuen Bundsgenossen jenseit des Oceans in den leichtfassenden Köpfen dieser Nation umher, und ob es schon verworren genug darum aussah, so gibt es doch einen Ton, der rein angeschlagen in jedem denkenden Wesen wiedertönt – Freiheit heißt er, und der Lerche kühner Flug im Duft der Morgenröthe verkündet ihn der ganzen Schöpfung wie das geopferte Leben von Tausenden ihn in das Ohr der Tirannei ruft.

Für Seldorf war dieser Krieg ein wichtiges, ernstes Schauspiel. Er hielt sich lange in den amerikanischen Häfen auf, und folgte mit spähendem Blik der Schöpfung der Freiheit um ihn her. Jezt sah er die Menschheit in einem neuen und wohlthätigen Lichte, er verglich die Bewohner jenes Landes mit dem braven, empfänglichen Volke, unter welchem er seit seiner Kindheit lebte, dachte den Abgrund von Elend, worinn es verschmachtete, und wenn mancher schwarzlokkiger Knabe mit kindischem Muth den oft gehörten Ruf von Freiheit und Eigenthum nachrief, sah er seines Theodors unterdrüktes Verdienst an den Stufen des Throns zertreten. Er selbst war mit seinem kleinen Haufen fast immer des Sieges gewiß gewesen, aber was vermochte die edelmüthige Tapferkeit eines Seldorfs gegen die Machinationen des Eigennuzzes und der treulosen Selbstsucht? Im lezten Jahre des Kriegs zerschmetterte ihm eine Kugel die rechte Schulter, lange verzweifelte man an seinem Leben, und unter den unsäglichen Schmerzen seiner Krankheit mußte er über sich selbst lächeln, wenn in den Händen des Wundarztes ihn der Gedanke stärkte, für die Sache der Freiheit zum Krüppel zu werden, er, der als Söldling eines Königs in einer fremden Sache sein Blut vergoß!

Seldorfwar nun zu ferneren Kriegsdiensten unfähig, und eilte nach Frankreich zurük, versöhnter mit dem Schiksal der Menschen, denn er hatte in jenem Lande den Keim ihrer Veredlung und ihres Glüks gesehen, und alle Freuden des Gatten und Vaters in seiner Heimath erwartend. Wie viel glüklicher wäre der Arme gewesen, wenn die Kugel, die seine Schulter zerschmetterte, sein gutes Herz mit allen seinen Hoffnungen und Aussichten getroffen hätte! Er kam zurük, und Zerrüttung seines häuslichen Friedens und Schande war der Lohn seines Vertrauens und seiner Wunden. Seine Gattin machte ihn zum drittenmale zum Vater, und brach in schuldvolle Thränen aus, als er das Kind mit bitterm Zähneknirschen aus den Händen der Wehmutter empfieng. Nach kurzer Zeit trennte sie der Tod, und in dem finstern, thränenlosen Blik, den er ihrem Sarg nachschikte, las man die ewige Scheidung zwischen ihm und den Freuden des Lebens. Sogleich nach diesem Vorfall schafte er alle seine Bedienten ab, brach mit seinen wenigen Bekannten und verließ die Hauptstadt, welche der Schauplaz dieser Begebenheiten gewesen war.

Seldorferschien seinen neuen Nachbarn und seinen Unterthanen bald als ein Wesen ganz andrer Art, wie die leztverstorbene Gutsbesizzerin. Jede seiner Einrichtungen, jedes Tagewerk bewies, daß er um so eifriger darauf bedacht war, alles um sich her zu beglüken, je ferner jedes frohe Gefühl von seinem eignen Herzen war. Keiner, der ihm nahte, konnte seinen Willen verkennen, aber aller Dank, der ihm wurde, konnte ihm nicht den schönsten Lohn seiner Tugend geben; er konnte Wohlthaten austheilen, aber Freude geben konnte der freudenlose Mann nie. Mit treuer Sorgsamkeit wachte er für seine Kinder, und pflanzte den reinsten Enthusiasmus für alles Edle und Gute in ihren Herzen, innig verehrten sie in ihm das Vorbild seiner Lehren; aber das theilnehmende Lächeln seines gramvollen Gesichts verscheuchte ihre jugendliche Fröhlichkeit. Mit weiser Menschlichkeit zog er seine Unterthanen aus Armuth und Elend, lehrte sie zuerst nach den Annehmlichkeiten des Lebens trachten, indem er es ihnen möglich machte, sie zu erlangen. Wenn aber ein schöner Sommerabend das Landvolk zu lustigen Spielen versammelt hatte, und er unerwartet erschien, verstummte die Freude vor dem trüben Blik ihres Schöpfers.

Saraund Theodor lebten von dem ersten Augenblik ihres ländlichen Aufenthalts ein neues Leben. Die ersten ohne deutliches Bewußtseyn verfloßenen Jahre ihrer Kindheit hatten eben keinen Eindruk weiter in ihrem Gedächtniß zurükgelassen, als daß sie die lange Abwesenheit ihres Vaters mit einem dunkeln Gefühl von ehemaligem Glük verglichen. Theodor, vier Jahre älter wie seine Schwester, hatte sich glühende Bilder von den Gefahren und Thaten des geliebten Vaters gemahlt, und von dem Entzüken des Wiedersehens. Unabläßig hatte er in seine Mutter gedrungen, daß sie ihm von Amerika erzählte, und das Wort Freistaat durchdrang ihn mit Ehrfurcht, seitdem er wußte, daß dafür seines Vaters Blut geflossen war. Nach des Vaters lang ersehnter Rükkehr lag ein schweres Schiksal auf der ganzen Familie, der Kinder unschuldiger Sinn entzifferte es nicht, aber jungen Vögeln gleich, die unter einer finstern drükenden Gewitterwolke leise mit gebükten Köpfchen an der Erde wegfliegen, war, ihnen selbst unbewußt, alle Freude gelähmt, und ihr heiterstes Geschwäz lispelte kaum hörbar dahin wie Gespenstermährchen. In Theodors lebhaftem Geist schienen manchmal wohl befremdliche Gedanken zu dämmern, aber kindlich begnügte er sich, seines Vaters Gram zu theilen, ohne tiefer in dessen Ursachen einzudringen. Seit sie indessen das Land bewohnten, war dieser Zauber gehoben; des Vaters Gesicht blieb zwar von Kummer umwölkt, aber die neue Lebensweise, Seldorfs unabläßiges Bemühen, ihnen jeden Genuß zu verschaffen, alles gab ihnen das Glük der Jugend zurük. Sein liebstes Geschäft war, die Kinder eines durch das andre zu bilden; Lage und Karakter hatten sie einander so genähert, daß der Unterschied ihrer Jahre verschwunden war. Theodor gewöhnte sich, Sara gleichsam als die Stellvertreterin ihres ganzen Geschlechts anzusehen, und achtungswürdiger konnte es ihm nie erscheinen als in ihr. Sara glaubte in ihrem Bruder das Urbild alles Schönen, das der theure Vater als Ziel der Vervollkommnung schilderte, zu erkennen. Bei so empfänglichen Herzen, und der Abgeschiedenheit, worinn sie lebten, mußte sich bald Enthusiasmus in diese Gefühle mischen. Oft sagte Seldorf zu seinem Sohn: Willst du ein Mann werden, so lerne die Weiber ehren. Nur wenn sie uns beglüken, sind sie liebenswürdig; nur wenn wir sie ehren, können sie uns beglüken. Die Natur sezte die Vollkommenheit beider Geschlechter in der größten gegenseitigen Abhängigkeit, indem sie ihr die größte Verschiedenheit gab. Der feste, treue, eiserne Mann kann nur der sanftesten Weiblichkeit huldigen; Schwächlinge lieben Amazonen. Damit aber das Weib diesen Zauber ihres Geschlechtes besize, muß ihr Herz kindlich bleiben, wie gebildet auch ihr Verstand sey; und unsre Achtung allein kann das Zutrauen hervorbringen, welches diese Kindlichkeit erhält. Fühlt das Weib nicht diesen Lohn seiner Liebenswürdigkeit, so sucht es sich von uns unabhängig zu machen, und dann wird es verächtlich. Die Natur, die uns stärker machte als sie, verträgt diese Unabhängigkeit nicht; alsdann erniedrigen wir sie dafür, gewaltsam oder listig, zu unsern Sklavinnen, und pflanzen auch alle Laster des Sklavensinnes in ihre entartete Brust. Aus Händen, die wir nicht achten, können wir den Lohn nicht mehr empfangen, der nächst unserm Selbstgefühl der reinste Antrieb zur Tugend ist, und alle einfachen Bande des geselligen Lebens lösen sich auf.

Alle Lehren, die Seldorf seinen Kindern gab, athmeten diese Grundsäze. Nach ihrem mehr oder weniger gebildeten Alter veränderte sich zwar die Einkleidung, aber der Sinn blieb derselbe. Er bedachte nicht, wie viel bittere Erfahrungen er einst in der würklichen Welt zwei einsamen, liebevollen Geschöpfen zubereitete, die er mit abgezognen Begriffen über Wesen ausrüstete, welche alle in tausend und aber tausend Abänderungen irgend einen Zug dieses Bildes darstellen, aber demselben nie gleichen würden. Seine Absicht war indessen berechnet und schön. Er selbst war auf seiner Laufbahn an einen Abgrund von Unglük gerathen, er hatte sich für Menschen geopfert, die sein Herz zerrissen hatten, und sein hoher Begriff von der Menschheit hatte sein eignes Selbst vom Untergang errettet, hatte ihm Muth gegeben, bei einer völlig zerstörten Existenz Schöpfer fremder Glükseligkeit zu werden. Die bürgerliche Gesellschaft und ihre Verhältnisse waren ihm verhaßt, er dachte mit Schaudern daran, seine Kinder in diesem schaalen Chaos kaltherziger Leidenschaft und geistloser Vernunftanstrengung zurükzulassen; da er aber keine Einsiedler aus ihnen machen wollte, so sollten sie in den Stand gesezt werden, sich einst ihren Weg selbst zu bahnen. Die einzige Sicherheit, die er ihnen gegen alle Gefahren geben zu können glaubte, war der höchste Begriff von ihrer moralischen Bestimmung; hatten sie den, so konnten sie unter so vielen entarteten Mitgeschöpfen wohl unglüklich, aber nie ihnen gleich werden.

Das Landleben und die sanfte Luft schienen anfangs Sara's Wünsche für Antoinetten, die leztgeborne Tochter von Seldorfs Weib, zu begünstigen, sie bekam Kräfte, und erwiederte die Liebe ihrer ältern Schwester mit der rührendsten Zärtlichkeit. Indeß Theodor bei dem Vater lernte, oder ihn in seinen landwirthschaftlichen Geschäften begleitete, war Antoinette beständig um Sara, ließ sich allerley kleine Spiele und Arbeiten von ihr weisen, oder ward von ihr, mit süsser Sorgfalt für ihre Gesundheit, im Garten und auf den Wiesen umher geleitet. Kamen der Vater und der Bruder zurük, so brachte die gute Sara ihren Pflegling der Wärterin wieder, denn es that ihrem weichen Herzen zu weh, ihren Vater bei dem Anblik und den Liebkosungen des kleinen Geschöpfes finster werden zu sehen. Anfangs, und so lange Antoinette krank war, hielt sie das für Schmerz über ihr vieles Leiden; nun war sie aber gesund, und wenn Sara ihrem Vater erzählte, daß ihr Schwesterchen hübsch laufen, und schwazen, und sonst allerlei niedliche Dinge könnte, und er sie dann mit erzwungner Freundlichkeit anhörte, oder mit trüben Augen umarmte, und finster abbrach, strengte sie ihren liebenden Sinn an, um die Ursache dieses Unwillens zu ergründen. Natürlich erwachte dann in ihr das Andenken der Mutter, um derentwillen sie ihren Vater oft betrübt sah. So geschah es einmal, da er ihre kindische Freude über ihr Schwesterchen kalt zurükzustossen schien, daß sie furchtsam fragte: Vater ist es denn Antoinettens Schuld, daß die Mutter starb? Seldorf trat heftig zurük, und gieng mit sich selbst kämpfend im Zimmer umher. Das gute Mädchen glaubte es nun errathen zu haben, und ergrif weinend des Vaters Hand: Zürne nicht, verzeih ihr! Sie ist so allein, weil du sie nicht magst – bringe sie dann her, gute Sara, ich will sie mögen, ich will ihr verzeihen – – weiter ließ ihn seine Bewegung nicht sprechen, und weiter hätte auch Sara nichts gehört, denn sie war schon hinaus geeilt, um ihrer Schwester ein Glük zu verschaffen, das sie für das schönste, wünschenswertheste hielt. Die Kleine spielte im Garten unter den Blumen, und folgte Sara's freudigem Ruf, zum Vater zu kommen, mit furchtsamen Schritten; denn sie war seiner Gegenwart fast entwöhnt, und liebte ihn nur aus Sara's Lehren, wie die unbekannte Gottheit ihres kleinen Herzens. Seldorf empfieng sie tief gerührt, mit offnen Armen, und Antoinette blikte scheu bei den Thränen und Liebkosungen des Vaters. Ihre schönen, wenn gleich matten Augen, suchten kindisch staunend auf Sara's Gesicht eine Erklärung dieses Auftritts; indeß, wie sie ihre kleine Mama so fröhlich sah, ward sie auch munter und wakker, suchte die schönsten Blumen aus ihrem Körbchen, und stekte sie dem Vater erst in die Hand, dann gar an die Brust, eilte geschäftig hin und her, und holte alle ihre kleinen Arbeiten, und zeigte sie ihm mit einem sanften, um Beifall bittenden Blik; und wenn ihr Wunsch gewährt wurde, rief sie: das hat mich alles Sara gelehrt, das hat mir meine Sara geschenkt; Sara erzählt mir auch viel schöne Geschichten, soll ich dir eine erzählen, lieber Vater? – Es war deutlich, daß Seldorfs Herz bei diesem ganzen Auftritt von tausend Empfindungen zerrissen wurde; aber je länger er Saras inniger Theilnahme an der liebenden Geschäftigkeit dieses Kindes zusah, und je vertraulicher die arme Kleine, in der Bemühung ihm zu gefallen, wurde: je sanfter schien sein Schmerz zu werden. – Ja, erzähle mir deine schönste Geschichte, die dich Sara zulezt lehrte, die erzähle mir. – Nun Vater, da war einmal ein Mann, der war sehr gut, so gut wie du, und hatte auch ein hübsches Haus, und Garten, und allerlei Schönes; und da kam einmal eine arme Frau zu ihm mit einem kleinen Kinde; das war ein Mädchen, und Sara sagt, es wäre ganz klein gewesen, und hätte noch nicht gekonnt allein gehen, und essen, und um nichts bitten. Die Frau bat den guten Mann, daß er ihr doch ein Stübchen gäbe, und ihrem Nettchen eine Suppe, die bösen Menschen hätten ihr alles genommen. Und das that auch der gute Mann, und die Frau bekam auch ein Stübchen, und durfte in dem schönen Hause wohnen. Einmal, da mußte der gute Mann ausgehen, weit weg, daß er erst spät am Abend wieder kommen konnte, und da gab er der armen Frau alle Schlüssel, und sagte: sieh hübsch auf das Haus, daß die Diebe nicht hineinkommen, und – Vater, das habe ich vergessen: der Mann hatte zwei Kinder, daß es war, wie bei uns, eine grosse Schwester, und einen Bruder wie Theodor – Liebe Sara, nicht wahr, der Bruder in der Geschichte, der war wie unser Bruder, aber – aber er hatte das arme kleine Mädchen lieb, ob sie gleich nur von einer armen Frau war – – der kleinen Erzählerin standen die Augen voll Thränen. Seldorf sagte: liebe Kleine, Theodor liebt dich auch, erzähle du nur! nun, der Mann gieng fort? – Ja, sagte Antoinette, und blikte auf Theodorn, dessen flammendes Gesicht schon längst abwechselnd Strenge und Rührung ausgedrükt hatte – ja, er gieng fort, und die Frau legte sich zu Bett, und ließ das Licht brennen, und auf einmal da war grosses Feuer in der Stube, und das ganze Haus brannte, und wie der gute Mann wiederkam, da sah er sein Haus brennen, und da rief er: ach meine Kinder! da kamen ihm die Kinder halb nakkend entgegen, aber die arme Frau war todt vom Rauche, und die Kleine hatte überall Weh vom Feuer, und des guten Mannes Gesicht war auch verbrannt, daß seine Augen finster wurden, und er nie mehr die Sonne sah, und die Blumen, und seine Kinder nicht mehr sah; er nahm aber doch das gute kleine Mädchen auf seine Arme, und sagte: du armes Mädchen, deine Mutter hat mich zum Bettler gemacht, und es wird nicht mehr hell um mich seyn, denn meine Augen sind finster; aber ich will dich lieb haben, und dich nicht verlassen – – die Kleine erzählte schon lange mit stokkender Stimme, die lezten Worte lispelte sie an Seldorfs Brust gelehnt, die sich gewaltsam hob bei dem kindischen Geschwäz. Theodor war still zum Vater getreten; wie aber die Kleine verstummte, und der Vater mit inniger Rührung ihre Stirn küßte, schlug er seine Arme um sie, und drükte sie schweigend an sein Herz; dann sprang er zu Sara, die stumm auf ihre Arbeit niedersah, indeß grosse Tropfen über ihre glühenden Wangen rollten, und umarmte sie stürmisch.

Ob das Geschichtchen weiter gieng, das kindische Nachplauderei, und eben so kindische Divinationsgabe in den Köpfchen der Erfinderin und der Erzählerin zusammengesezt hatten, wissen wir nicht; aber das Bündniß schien von nun an besiegelt, und Seldorfs Schwermuth hatte eine weit sanftere Schattirung erhalten. Mit wehmüthiger Sorgfalt beschäftigte er sich mit dem Kinde, dessen unendlich empfängliches Gefühl und vorzeitig reifer Geist ihn oft überraschten, wenn er gleich wußte, daß diese Erscheinung bei Kindern, die von ihrer Geburt an ein kränkliches Daseyn fortschleppen, als eine traurige Art von Ersaz für ihr verkümmertes Leben, nichts seltnes ist. Antoinette genoß die kaum erwachte Liebe ihres Vaters nur kurze Zeit, plözlich stand sie in der Zunahme ihrer Kräfte still, und eine schnelle Auszehrung führte sie in ihr frühes Grab. Das verlöschende Leben des zarten Geschöpfes schien von leisen Ahnungen jener Welt umgeben; fast schon entkörpert, schien ihr Geist hinter den dichten Schleier zu blikken, und oft war in den kindischen Bildern, die sie ihren neuen Gefühlen anpaßte, ein Sinn, der Seldorfs ganze Seele traf. Eines Abends hielt er sie auf seinen Knieen, und das Kind schwazte in matten Träumen von den Freuden, die es sich in jener Welt verspräche. Der Vater suchte sie von dem Begriff vom Tod abzulenken – Nein, nein, Vater! Ich will gern sterben, im Himmel ist es schön, noch schöner als im Garten, wenn es Frühling ist, und die Bäume blühen, und die Vögel singen – im Himmel ist immer Frühling, Vater! Sie schwieg erschöpft, aber plözlich fuhr sie auf: Vater, ist die Mutter nicht im Himmel? – Ja, Antoinette. – Nun Vater, so gieb mir einen Kuß für die Mutter, den will ich ihr bringen bis du kömmst. – Sie legte ihre Arme um seinen Hals, drükte krampfhaft ihr Gesicht an seinen Mund, und ihr Kopf fiel leblos auf seine Brust herab. – O bringe ihr ihn, bringe ihr ihn, und meine Verzeihung für mein vergiftetes Leben! rief Seldorf, wie er den Tod auf ihrem starren Gesicht las. Sanft küßte er noch einmal die Lippen, die ihr leztes Leben in Liebe ausgehaucht hatten, und übergab sie dem Grabe.

Dicht an Seldorfs Ländereien gränzte ein schönes Freigut, dessen Eigenthümer, ein Anwald aus Saumür, es bisher nur sehr selten auf einige Tage besucht hatte, um Pachtgeschäfte zu berichtigen. Berthier – dies war sein Name – hatte von Jugend auf die Rechte erlernt. Seinem geraden Verstand, seinem wohlwollenden Herzen war das Labirinth alter Irrthümer, verjährter Misbräuche, willkührlicher Deutungen, niederträchtiger Bemäntelungen, eigenmächtigen Zwanges, das sein Gewerb ihn täglich durchzuwandern zwang, schon früh ein Gräuel; er hatte sich versucht gefunden, die ganze Rechtswissenschaft aufzugeben, und in dem kleinen Erbtheil seiner Väter das Feld zu bauen, als ihm, ziemlich in den ersten Zeiten seiner Amtsführung, das Glük wiederfuhr, einzig durch gewissenhafte Aufmerksamkeit in seinen Geschäften einen abscheulichen Betrug zu entdeken, der eine ganze Familie durch einen Rechtshandel in's Elend gestürzt haben würde. Er nahm alle seine Kräfte zusammen, um den unterdrükten Theil zu vertheidigen; der mächtige Gegner sah daß er mit einem gefährlichen Mann zu thun hatte, und versuchte Bestechung. Berthier wies ihn ohne Prunk von sich, verfolgte seinen Weg mit unerschroknem Eifer, und verschafte der gerechten Sache den Sieg.

Der ganze Handel hatte nichts ausserordentliches; selbst der verlierende Theil war durch andere Geschäfte seiner glorreichen Laufbahn zu zerstreut, um sich lange dabei aufzuhalten, daß ihm eine kluge Maasregel, seine Einkünfte zu vermehren, unter so vielen mislungen war, und daß sein gelindes Mittel, dem natürlichen Gang der Gerechtigkeit etwas nachzuhelfen, diesmal bei Herrn Berthier nicht besser angeschlagen hatte. Auf Berthier war aber die Würkung dieses Vorfalls daurender; er hatte bis jezt nur das Widersinnige, das Empörende der gerichtlichen Formen und der sogenannten Geseze empfunden, jezt erkannte er, wie wohlthätig, gerade im Verhältniß mit der Mangelhaftigkeit dieser Einrichtungen, ein redlicher Mann in seinen Geschäften seyn konnte. Je mehr er fürchten konnte, daß seine Kollegen manche Gelegenheit, Vertheidiger des Rechts zu seyn, entschlüpfen liessen, desto tiefer fühlte er den Beruf, selbst jede zu ergreifen. Der Dank der geretteten Familie, das Gefühl, durch einfache Redlichkeit dem Einfluß des gefürchteten Grafen von ** die Wage gehalten zu haben, entschied seine Bestimmung; er blieb auf der angefangnen Laufbahn, und hatte in der Zeit, von welcher hier die Rede ist, seinem Amte nah an sechzig Jahre vorgestanden. Nie hatte ihn sein Entschluß gereut; Gelegenheiten, die Unschuld zu beschüzen, boten sich oft dar, und er ließ sie nie unbenuzt. Stand es auch nicht immer in seiner Macht, Ungerechtigkeit zu verhindern, so blieb er sich doch bewußt, nie ein Werkzeug der Unterdrükung gewesen zu seyn.

Von Jahr zu Jahr sah er indessen die Misbräuche zunehmen; in späterem Alter ward es dem braven Mann oft schwerer, den Zwang seines Amtes mit seinem Gewissen zu vereinigen; aber der Gedanke, wie viel schädlicher als sein gezwungnes Erdulden der böse Wille manches andern seyn möchte, hielt ihn noch aufrecht. Endlich ereignete sich bei einem Rechtshandel, in welchen eines von den ersten Häuptern im Königreich verwikelt war, der Fall, daß ein höherer Befehl dem Gerichtshof von Saumür andeutete, gegen den Vater einer zahlreichen Familie, dessen Unschuld sonnenklar war, die Galeerenstrafe zu erkennen; zwei seiner hofnungsvollen Söhne wurden zugleich mit Schimpf von ihren Regimentern hinweggejagt. Berthier bot seinen Collegen an, sich aufzuopfern und den Widerspruch allein über sich zu nehmen; die paßivste Rolle von ihrer Seite hätte alsdann hingereicht einen Frevel zu verhüten, der so ungereimt als abscheulich war; allein er fand nichts als bestochene Gewissen und verhärtete Herzen, man verwies ihn zur Ruhe, und drohte mit ernster Ahndung seiner Kühnheit. Nein, sagte der acht und siebenzigjährige Greis, meine Verdammniß soll wenigstens an jenem Tag meinen armen König nicht belasten; thut was Ihr nicht lassen könnt, ich will ruhig sterben! Er legte sein Amt nieder, und bezog mit seinem Enkel, dem lezten Zweig einer zahlreichen Familie, die ihm der Tod nach und nach geraubt hatte, sein väterliches Erbtheil in Seldorfs Nachbarschaft. Roger war der Trost und der Liebling des alten Mannes, der ihn erzogen, und seine unerschütterliche Redlichkeit, seine stille Würksamkeit, seine heitre Fähigkeit zu geniessen auf den Jüngling übergetragen hatte. Sein Unterricht bestand in Beispiel, in beständigem Hinweisen auf die Würklichkeit, und der Lohn, den er dem wilden Knaben und nachher dem feurigen Jüngling anbot, in dem Bewußtseyn erfüllter Pflicht. Bei seiner natürlichen Anlage zum Guten, war Rogers ganze Jugend eine Reihe praktischer Tugenden, die er in der Einfalt seines Herzens für eben so wenig ausserordentlich hielt als Essen und Trinken, und die ihm auch eben so unentbehrlich waren. Seine Leidenschaften, seine Thorheiten, die Wallungen seines heissen Bluts waren, bei seinem frohen Streben nach dem Besten, nur ein herzliches Band, das ihn mit Nachsicht gegen andrer Schwächen und dem Bewußtseyn, selbst Duldung zu bedürfen, an alle Menschen knüpfte. Ward die Welt um ihn her der ungebändigten Kraft des jungen Mannes zu schaal, stemmte er sich gegen einen Zwang, welcher der Tugend selbst so oft eine Hülle aufdringt, gegen Vorurtheile, die noch öfter dem Laster Weihrauch streuen, so sagte ihm der freundliche Großvater in der wortreichen Sprache seines Alters: »Lieber Sohn, ein Mensch allein baut kein Haus, es müssen viele daran arbeiten, und der Bursche der die Steine im Schurz herbeischleppt, hat auch ein Verdienst dabei, so gut wie der Baumeister, welcher den sinnreichen Riß angab. Wollte jeder Arbeiter nur das Ganze ausführen, und an die einzelne Theile keine Mühe wenden, wollte er das schöne Gebäude errichtet sehen, und doch von Schutt und Leim, von mismuthigen Aufsehern und groben oder ungeschikten Mitgesellen nichts wissen, so käme nie ein Haus zu Stande. So ist's mit dem Guten das wir thun, es geht dessen kein Stäubchen verloren, jeder schöne Gedanke deines edeln Geistes gehört mit zur Schönheit der ganzen Schöpfung. Alles schön und am besten machen kann das Menschengeschlecht nie, noch weniger ein einzelner Mensch; und in dieser Zeit, in diesem Lande, wo die lezten Bande der Gesellschaft vom Laster gelöst werden« – Schnell verlosch hier der glänzende Blik des alten Mannes; er kehrte von dem schaudernden Bild des Jahrhunderts wieder zu der Lehre zurük, die er dem aufblühenden Enkel gab. – »Aber glaube mir, Sohn, jede Bemühung etwas Gutes zu thun pflanzt dir dein verheissenes Paradies, sie ist ein Stein zum Gebäude; und siehst du es auch nie fertig, so kannst du doch einst zu deinem Enkel sagen, wie ich zu dir: ich hinderte den Bau niemals!« Dieses menschlich weise Geschwäz war für Rogers gutes Herz mehr gemacht, als für seinen gewaltigen Sinn. Wenn er – um in der Allegorie seines Großvaters zu bleiben – so manchen tauglichen Stein herbeischleppen sah, den der Baumeister verwarf, oder ein schlechter Arbeiter verkleisterte, ja wenn er alle Augenblike wahrnahm, das Gebäude könnte nach der Anlage unmöglich bestehen, sondern müßte krumm und schief und der Welt zum Spott ausfallen, bis es endlich gar über die saubern Künstler zusammenstürzte; so ward es ihm heiß vor der Stirne, er sann und maß seine Kräfte, und fragte furchtsam den freundlichen Ahnherrn: ob es nicht besser seyn möchte, die ganze Gaukelbude umzureissen? Lächelnd über den Feuereifer des Jünglings sagte dieser: Und wenn der Schutt nun da läge, wo wohnte man dann, und wer hälfe dir wiederbauen? – Vater, die Natur gab jedem Geschöpf die Freiheit sich seine Wohnung zu wählen, und sendet nur Sonne, Thau und Regen, damit es habe was es zu seinem Gedeihen braucht; warum sollte der Mensch nicht frei leben, wie sein Sinn ihn leitet? Und was braucht er andre Geseze, als die ihn sein bestes Gedeihen lehren? – Roger, mein Sohn! antwortete Berthier mit Ernst, fehlte dir je die Freiheit rechtschaffen zu seyn? Von der Tugend führt nur Ein Scheideweg – in's Grab; und kein Mißbrauch der Menschen versagte jemals der Seele die Wahl zwischen Rechtthun oder Sterben, und ich – hier nahm er seine Müze zwischen seine gefalteten Hände, und beugte sein weisses Haupt – Dank sei es meinem gnädigen Gott, ich entgieng acht und siebenzig Jahre der furchtbaren Wahl. – Tief gerührt drükte der wakere Jüngling des ehrwürdigen Greises Hände an seinen Mund, und lenkte heiter in seinen stillen Lebensgang wieder ein.

So lohnend das Gefühl erfüllter Pflichten für den alten Berthier war, so mochte er Rogern doch nicht zu eben der dornenvollen Bahn anführen, die er durchwandert hatte; er hatte ihm vielmehr immer das Landleben als die einzige noch übrige Freistätte eines unabhängigen Gemüths; und den Akerbau als diejenige Beschäftigung, die den Menschen zum nüzlichsten Bürger macht, geschildert. Er hatte ihn einige Reisen machen lassen, um an Ort und Stelle praktische Kenntnisse zu erwerben, und als ihn der oben erwähnte Vorfall in seinem Amte von Saumür vertrieb, freute er sich, seinen Liebling in den Würkungskreis, den er für so wohlthätig hielt, selbst einzuführen.

Es waren nun seit Antoinettens Tod einige Jahre verflossen, und hatten das Band zwischen Sara und Theodor immer fester geknüpft. Der Bruder glaubte die kleine Abgeschiedne zu versühnen, indem er seiner übrig gebliebnen Schwester alle Liebe widmete, die er Antoinettens Liebe bedürfendem Herzen versagt hatte; und Sara vereinigte den ganzen Schaz ihres innigen Zutrauens, ihrer sorgenden schwärmerischen Herzlichkeit, den ihr armes Pflegkind sonst getheilt hatte, auf ihren theuern Theodor. Einsam und friedlich floß ihnen die Zeit dahin, und ihr thätiger Geist, ihre empfängliche Fantasie füllte den Mangel an Begebenheiten, bei welchem sie ihre erste Jugend verlebten, überflüssig aus. Mit wehmüthiger Freude sah Seldorf diese beiden Geschöpfe, in denen alle seine Pflichten, alle seine Bande an das Leben vereinigt waren, wachsen und sich vervollkommnen. Sonst war der Schimmer von Heiterkeit, der sich in der lezten Zeit vor Antoinettens Tod über ihn verbreitet hatte, mit ihr wieder verschwunden; ihr Grab verschloß zwar den lezten, erbitternden Zeugen seines Unglüks, aber die stumme Todte konnte nicht wie die lächelnde Leidende sein vergiftetes Herz mit der Vergangenheit aussöhnen.

In dieser Stimmung fand der Besuch des neuen Nachbars die Seldorfsche Familie. Das Gerücht, das in der ziemlich menschenleeren Gegend von ihr verbreitet war, konnte Berthier keinen Aufschluß weiter geben, und ließ ihn höchstens etwa auf einen in Ungnade gefallenen oder verarmten Grossen rathen. Zu bekannt mit dieser Art Menschen, um etwas vortrefliches zu erwarten, und viel zu brav, um unberechtigt das Böse vorauszusezen, gieng er, in Begleitung seines Enkels, aus blosser althergebrachter Höflichkeit zu Seldorfs. Solche Menschen waren aber früh genug über einander verständigt. Der Anblik von Seldorfs Kindern, die einfache und stille Güte in dem Betragen des Vaters gegen sie, Theodors lebhafte Bereitwilligkeit den Eindruk zu empfangen, den Rogers Bekanntschaft auf ihn machte, Sara's schüchterne Höflichkeit gegen den Jüngling, ihre kindlich-ehrerbietige Freundlichkeit gegen den braven Alten – alles flößte diesem gar bald Achtung und Zutrauen ein. Freimüthig empfahl er seinen Roger Seldorfs Güte, und forderte die beiden jungen Männer auf, nähere Bekanntschaft mit einander zu machen, um wo möglich Freunde und Gespielen zu werden. Sara erröthete in diesem Augenblik, und mit einem dunkeln Gefühl von Eifersucht trat sie näher zu Theodor, welcher, Rogers Hand drükend, ihn voll Eifer bat, den Gedanken, den sein Großvater angab, nicht fahren zu lassen.

BerthiersGespräch, in welchem Wohlwollen, gesunder Verstand, tiefe Empfindung und Erfahrung die Stelle des Welttons so reichlich ersezten, hatten auf Seldorf, der seit Jahren schon den Umgang der Menschen floh, einen ausserordentlichen Eindruk gemacht. Es war ihm bei den Menschen, mit welchen er bis dahin von Zeit zu Zeit gezwungner Weise zu thun gehabt hatte, sehr leicht geworden, seiner Abgeschiedenheit getreu zu bleiben: aber dieses graue Haupt, dieser heitre Blik der so theilnehmend auf ihm ruhte, die Herzlichkeit mit welcher der Alte ein Band zwischen ihren Kindern zu knüpfen bemüht war, erwekten das lang unterdrükte Bedürfniß der Mittheilung wieder in seinem Herzen, und verleiteten ihn, aus seinem einsamen Lebensgang herauszugehen. Wie der arme Verödete zum erstenmal seinen alten Nachbar aufsuchte, sträubte sich seine angewöhnte Schwermuth dagegen, und er suchte sich selbst zu überreden, als ob er blos vermeiden wollte, dem Greis durch Vernachlässigung wehzuthun. Einige Tage darauf dachte er mit Rührung an seinen freien und lebhaften Geist bei seinem hohen Alter – wer weiß, wie lange dieses reine Flämmchen noch lodert? so fragte er sich selbst, und betrat unwillkührlich den Weg nach seines Nachbars Haus. Endlich suchte er ihn willig auf, und überließ sich dem Gefühl, in Gegenwart eines Weisen, der am Scheideweg des Lebens stand, seine trostlose Fassung auf Augenblike zur ruhigen Ergebung werden zu sehen.

Oft fand er den Greis, mit einem alten Schriftsteller in der Hand, in der Abendsonne sizend; vor ihnen liefen dann die jungen Leute auf einem Wiesenplan umher, und kämpften und rangen zusammen; Sara saß mit ihrer Arbeit, und sah den Spielen zu, oder war geschäftig um den Grosvater, (denn bald gaben sie und ihr Bruder dem alten Berthier diesen Namen,) und verband bei den kleinen Diensten, die sie ihm zu leisten beflissen war, alle mädchenhafte Liebenswürdigkeit mit der rührenden Ehrerbietung, welche das hohe Alter jungen unverdorbnen Herzen unfehlbar einflößt. Manchmal hörten auch die Jünglinge zu, wenn der Alte mit Entzüken von der Vorwelt sprach, die er in seinen Griechen und Römern studierte. Sein Auge blizte dann unter den weissen Wimpern hervor, und troz des bleichenden Alters färbten sich seine Wangen. Das ist, sagte er, die einzige Abschweifung von der Würklichkeit, die ich mir je erlaubt habe. Manchmal sah ich es in der Welt so bunt hergehen, daß ich mich selbst kaum mehr von den Menschen um mich her zu unterscheiden vermochte; wenn es aber nach einem Jahre von Arbeit einmal eine Feierzeit gab, und ich mich mit meinem Plutarch in meinem Kämmerchen einschloß, da gewann ich mich wieder lieb, und dachte zu meinem Trost: deine Schuld ist's ja nicht, wenn du kein Brutus, kein Cato, kein Mark Aurel geworden bist; vom Weibe geboren wie jene Helden, strebe ihnen nach, so weit deine Kräfte dich führen! Freilich ist sie vorbei, die Zeit wo es solche Menschen gab – Nach alter Sitte wagte es Roger selten, sich in die Gespräche seines Grosvaters zu mischen, wenn dieser seine Worte nicht gerade an ihn richtete; indessen riß ihn hier seine Theilnahme hin, er unterbrach lebhaft: Warum sollte es aber keine solchen Männer mehr geben, da sie noch vom Weibe geboren werden wie damals? Warum lehren wir unsre Jugend durch Beispiele, die wir nicht nachahmen können? Warum nähren wir unsre Seele mit Idealen, die unser Zeitalter zu Undingen macht, die uns selbst zu verächtlichen Misgeburten herabwürdigen? – Warum, mein Sohn? warum wächst dieser Baum – er wies hier auf einen gezognen Pfirsichbaum – nicht so mächtig und stark wie die Eiche, unter welcher du mir eine Bank bauen willst? – Weil er verkünstelt ist, Vater, weil er nicht in seinem angebohrnen Erdreich steht, weil seine Zweige gefesselt und gezwungen sind, Früchte zu tragen, die unsre Gierde erzwingt, der einfachen Ordnung der Natur zum Troz. Der Baum muß sich biegen und schneiden, und aus seiner Muttererde reissen lassen, weil er sich nur leidend verhalten kann; allein der Mensch .... siehst du, Vater! das Bild paßt nicht; denn der Mensch kann wollen – wohl, sagte der Alte ernst und bedeutend; so sorge daß nie ein Baum verstümmelt werde um deinen Uebermuth zu befriedigen, wache über dich, daß du nie durch Wort und Beispiel einen Menschen verhinderst, jenen grossen Mustern zu folgen; aber vergiß nie, daß du allein nicht allen verstümmelten Stämmen ihren natürlichen Wuchs zurükgeben kannst; vergiß nicht, daß Brutus in sein Schwert fiel, weil er allein wollte wozu die Welt verdorben war. – Roger schwieg erschüttert, da neben einem Namen, vor welchem der alte Berthier sein Haupt ehrerbietig zu neigen pflegte, der seinige erwähnt wurde, er fühlte es, als hätte er einen Frevel begangen, und unterbrach mit keinem Laut die Stille, während deren alle Augen auf dem begeisterten Greis ruhten: Sara war die erste, die mit schmeichelnder Stimme das Gespräch wieder belebte.

Der Geist dieses alten Mannes, der bis zur äussersten Spannung aller Kräfte ausdauerte, und so wie der Widerstand noch mächtiger wurde als diese Kräfte, in die heiterste Ergebung übergieng, war, obschon das Widerspiel von Seldorfs Geist, doch das Vorbild der höchsten menschlichen Weisheit für Seldorfs unbefangne Vernunft. Oft verglich er die wehmüthige Stille, mit welcher er auf sein vorfrühes Grab zuschlich, und den Siegerschritt, mit welchem Berthier dem Lohne jenseits entgegeneilte. Auch dieser hatte Betrug statt Wahrheit gefunden, hatte der Bosheit weichen müssen, und stand nun verkannt am Rande des Grabes; aber ihm war nicht Undank geworden für Liebe – Hier tönte laut die Stimme des alten Grams aus seinem armen Herzen, er wandte seinen Blik von Berthiers grauem Scheitel, und rief seiner Kinder Bild hervor, um damit seine Sehnsucht nach dem Tod zu bekämpfen.

TheodorsLebensweise hatte sich durch diese neue Nachbarschaft sehr verändert. So entfernt auch jede Spur von Menschenverachtung von seinem Gemüth und seines Vaters Grundsäzen war, so hielten ihn doch seine Sitten, sein früh verfeinertes Gefühl von den Kindern der rohen dürftigen Landleute, und das Lokale seiner Lage von jedem andern vertraulichen Umgang zurük. Seine Knabenjahre waren ohne Gefährten verflossen, und als Jüngling vermißte er oft einen Theilnehmer an seinen Zeitvertreiben; denn einen Freund hatte ihm seine lebhafte Zärtlichkeit für Sara bis jezt ganz entbehrlich gemacht. Roger war zwar einige Jahre älter wie er; aber die Einfachheit seines ganzen Wesens, seine ungleich weniger wissenschaftliche Erziehung, seine offene Art machten diesen Unterschied unmerklich. Seldorf fühlte den Vortheil, welchen sein Sohn für seine Bildung von der Gesellschaft dieses wakern Jünglings ziehen konnte; er suchte sie durch Beschäftigung und Zeitvertreib an einander zu knüpfen. Konnte Theodor bei den Haushaltsarbeiten seines Freundes auch seinen Eifer für Feld und Wiese und Weinberge nicht theilen, so horchte er ihm doch aufmerksam zu, und half ihm mit lustigem Fleiß. Roger nahm dagegen an manchem Unterricht Theil, den Theodor von seinem Vater empfieng. Er lernte zeichnen und fechten mit ihm, ob er sich gleich anfangs gegen das lezte geweigert hatte. In meinem Stande brauche ich es nicht, sagte er mit einem trozigen Wesen, indem er, gewiß unwillkührlich, auf Seldorfs Ludwigskreuz blikte. Seldorf, der ihn errieth, fragte lächelnd: nun, warum denn nicht so gut wie Steine schleudern, und Armbrustschiessen? Es soll Ihren Arm stark machen, und mit keiner dieser Künste werden weder Sie noch Theodor je in Friedenszeit irgend wen aus der Welt befördern. – Roger lernte mit treuem Fleiß, hielt fest was er einmal gefaßt hatte, blieb aber unaufhörlich hinter Theodors Schnelligkeit zurük, ohne darum jedoch sich irre machen zu lassen. Theodor machte hingegen, ohne die mindeste Anstrengung, die schnellsten Vorschritte, und benuzte alle Vortheile seines gewandten Körpers mit der zierlichsten Leichtigkeit; galt es aber einen starren Widerstand, so machte ihn seine unmäßige Lebhaftigkeit aller kaltblütigen Gegenwehr unfähig. In andern Uebungen, beim Kämpfen, Ringen, und in allen Spielen, die Kräfte und Festigkeit erfordern, war Roger immer Sieger, wenn er nicht absichtlich Blössen gab. Ward Seldorf dies gewahr, so rief er ihm wohl zu, und ermahnte ihn, redlich mit seinem Gegner zu verfahren, und dann fehlte es selten, daß Theodor nicht bald am Boden gelegen hätte; wenn er sich aber wieder aufgerafft hatte, schüttelte er freundlich seines biedern Ueberwinders Hand.

So verlebten sie ungetrübt heitre Tage; Sara theilte jede Freude ihres Bruders, wohnte seinen Lehrstunden bei, und ermunterte ihn durch ihren eifersüchtigen Beifall. Roger diente ihr bei diesem zarten, zu lauter überspannten Empfindungen, zum Umgang mit lauter Idealen erzognen Geschöpfe nur zur Folie; sie ließ zwar seinem treuen Sinn, seinem kühnen Muth, seinem kindlichen Herzen volle Gerechtigkeit wiederfahren; aber gegen Theodors in glühende Leidenschaft übergehende Gefühle schien ihr das arme Naturkind nichts als ein froher, auf gut Glük loslebender Junge. Wurde sie von den beiden Jünglingen aufgerufen, bei ihren Spielen zu entscheiden, und Billigkeit nöthigte sie, für Rogern den Ausspruch zu thun, so sah sie deutlich, daß seine Geschiklichkeit ihn freute und nicht ihr Ausspruch; hatte hingegen Theodor den Sieg behalten, so war sein Gefühl nur Dank gegen sie, daß sie ihm den Preis zuerkannt hatte, und schmeichelnde Liebe, als sei er ihn ihrem Herzen, und nicht seinem Verdienst schuldig. Waren die beiden jungen Leute durch Feld und Wald gestreift, so brachte ihr Roger einen ungeheuern Strauß von allen möglichen Feldblumen, und legte ihr, treuherzig überzeugt, seinem guten Wort könnte die gute Stätte nicht fehlen, den ganzen Plunder auf den Nähtisch, so daß er von allen Seiten auf den Boden fiel. Aber Theodor zog eine einzelne Waldrose aus dem Busen, und stekte sie in ihr braunes Haar, und sie hatte kaum Zeit, dem armen Roger zu danken, der indessen seinen Kräuterkram geduldig auflas, und ihr anbot, ihn in's Wasser zu stellen. Erhöhte aber auch jeder Tag der Schwärmerin schwesterliche Liebe, so nahm sie doch mit der ihr eignen Innigkeit den Eindruk von Rogers unverkennbaren Tugenden auf. Theodor hatte zu viel Edelmuth, um ihn nicht nach seinem vollen Werthe zu schäzen; stolz auf seinen Freund erzählte er der Schwester jede seiner im Stillen, und doch so offen, ohne prunkvolle Verhehlung gethanen schönen Thaten. Einmal hatten die drei jungen Leute einen etwas weiten Spaziergang gemacht. Bei ihrer Rükkehr kamen sie an einer einzelnen ärmlichen Hütte vorüber, wo sie klagende Stimmen mitten unter einem heftigen Zank tönen hörten. Die beiden Jünglinge traten mit dem Gedanken, vielleicht helfen oder schüzen zu können, hinein, und fanden in einer fast ganz ledigen Stube ein Weib, dem Anschein nach schon in der Unempfindlichkeit, die dem Tod oft vorhergeht, auf dem Stroh liegend; ihr Mann hielt ein neugebohrnes, aus Hunger schreiendes Kind auf seinem Arm, und suchte mit geschwächter, klagender Stimme einen Frohnvogt zu erweichen, der eben gekommen war, um zur Tilgung des rükständigen Zehnten seine Kuh in's Amt abführen zu lassen. Theodor fuhr über die barbarische Härte auf, und kam mit dem Gerichtsdiener in einen heftigen Wortwechsel über die Strafbarkeit des Schuldners, von welcher dieser, wie natürlich, überzeugt war; Roger ließ sich von dem Manne seine Lage erklären: er war durch Miswachs in Schulden gerathen; voriges Vierteljahr hatte man ihm seinen Pflug und sein Rind genommen; mit der Kuh allein konnte er nichts anfangen, da lag nun das Feld brach, und er hatte die nächste Ernte eingebüßt; seine Frau war in's Kindbett gekommen, und lag jezt den siebzehnten Tag im hizigen Fieber; da konnte er nicht einmal wilde Kräuter zum Gemüs sammeln; diese einzige Kuh mußte ihn, und das unglükliche Weib, und das umsonst nach der Mutterbrust schreiende Kind nähren; endlich konnte er sein Weib auch nicht mehr verlassen, um die Kuh auf die Weide zu führen, denn eines Tages da er abwesend gewesen war, hatte die Arme in ihrer Raserei das Kind gegen die Mauer geschleudert; nun nahm man ihm auch diese Kuh, um das ablaufende Vierteljahr zu bezahlen – Ein neues Wimmern des elenden Kindes unterbrach den verzweifelnden Vater. Ach, rief er, und schwang das kleine Geschöpf gegen die Mauer, hätte dich die arme Mutter nur hingerichtet! Gott hätte ihr verziehen, und ich brauchte dich doch nicht verschmachten zu sehen – Nein, es soll nicht verschmachten! rief Roger voll Eifer, und hielt unwillkührlich das Kind mit beiden Händen auf; Ihm soll geholfen werden! – Jezt hatte Theodor den Gerichtsfrohn befriedigt, und die Kuh wurde dem Bauern gelassen. Theodor zitterte bei der wiederholten Erzählung seines Elends, und schüttete alles Geld, das er bei sich hatte, in seine Hände aus; der Mann war betäubt über diesen schnellen Glükswechsel, sein armer Verstand hatte keinen Dank für so ausserordentliche Wohlthaten: in trauriger Einfalt betete er lateinische Segenssprüche gegen seine Erretter her.

Sara, welche über die lange Abwesenheit ihrer Gefährten besorgt zu werden anfieng, und jezt die tiefste Stille in der Hütte zu hören glaubte, wagte sich endlich bis an die Stubenthüre. Roger erblikte sie, legte schnell das Kind, das er noch hielt, auf das Strohlager, und vertrat ihr, eh sie hereinkommen konnte den Weg; rasch rief er: nein Fräulein, hier haben Sie nichts zu thun; das wird mir schon schwer mit anzusehen, Sie sollen deswegen doch helfen. – Warum soll sie nicht sehen? rief Theodor, dessen Einbildungskraft mit jedem Augenblik lichter in Flammen stand, warum nicht sehen, Berthier? Halten Sie Sara