Die fantastischen Abenteuer der Henne Reba - Alexander Vassilenko - E-Book

Die fantastischen Abenteuer der Henne Reba E-Book

Alexander Vassilenko

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Beschreibung

Es war einmal eine Parallelwelt, in der fast alles wie bei uns ist. Nur hat sich in dieser Welt das Leben etwas anders entwickelt, weil eine Naturkatastrophe ausblieb. Dort leben intelligente Wesen, die unseren Hühnern ähneln. Allerdings sind sie größer, können sprechen und haben geschickte Hände an ihren Flügeln. Die Geschichten handeln von der Studentin Henne Reba, die in einem Dachgeschosszimmer bei Oma und Opa wohnt. Sie liebt es, Antiquariate nach interessanten alten Dingen abzuklappern und damit ihr Zimmer gemütlich einzurichten. Dabei verwickelt sie sich in ein Abenteuer nach dem anderen.

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Seitenzahl: 212

Veröffentlichungsjahr: 2021

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In Dankbarkeit Olga Mitleider gewidmet.

Inhalt

Der Temporator

Durch ein altes Rohr

Die Flasche

Toks Geschenk

Das Praktikum

Ungewöhnliche Gäste

Der Krug

Ein Tisch voller Geheimnisse

Der Temporator

Ich soll euch also eine Geschichte erzählen? Also gut: Es war einmal ein Großvater und eine Großmutter, die hatten eine Henne...

„Wie langweilig! Die Henne legte ein Ei, aber kein gewöhnliches, sondern ein goldenes…“

Nein, nein, ich will euch ein ganz anderes Märchen erzählen. Meine Henne heißt Reba und sie lebt in einem ungewöhnlichen Land – im Hühnerland. Das befindet sich in einem der vielen Parallelwelten. In dieser Welt ist fast alles wie bei uns, nur entwickelte sich das Leben dort etwas anders, weil eine Naturkatastrophe nicht stattfand. Die intelligenten Wesen, die dort durch die Evolution entstanden, ähneln unseren Hühnern, nur sind sie größer, können sprechen und haben geschickte Hände an ihren Flügeln.

Unsere Reba ist zwar noch keine richtige Henne, aber ein Küken ist sie auch schon lange nicht mehr. Letztes Jahr hat sie die Schule abgeschlossen und geht nun auf die Uni in ihrer Stadt. Ja, in ihrem überschaubaren, kleinen Städtchen gibt es sogar eine Universität.

Reba wohnt mit Großvater und Großmutter in einem kleinen Haus am Rande des Städtchens. In dieser Welt gibt es nämlich den Brauch, dass erstgeborene Küken den Großeltern zur Erziehung gegeben werden. Reba gefällt ihr kleines Häuschen sehr, sie hat dort ihr eigenes Zimmer im Dachgeschoss. Und mit diesem kleinen Zimmer hängen auch alle unsere Geschichten zusammen...

Früher mochte Reba moderne Möbel aus glänzendem Glas und Metall. Leider sehen solche Einrichtungsgegenstände nur am Anfang gut aus. Recht bald sammelt sich Staub auf ihnen, sie ziehen Fettflecken an und werden wackelig.

Nach und nach wanderte ein Möbelstück nach dem anderen auf den Sperrmüll. Inzwischen mag Reba nur noch alte Dinge, die sie im Antiquariat gekauft hat. Es gehört zu ihren liebsten Beschäftigungen, diesem Laden einen Besuch abzustatten. Was es dort nicht alles für kleine Wunder gibt! Zum Beispiel dieser massive, im Laufe der Zeit dunkel gewordene Schrank. Er hat Jahrhunderte überdauert, ist mit seinem Eigentümer alt geworden, hat danach noch mehrere Male den Besitzer gewechselt und steht nun hier in der finsteren, staubigen Ecke. Auf dem Schrank haben es sich eine uralte Uhr, ein Truthahn aus Bronze und eine Kaffeemühle mit Patina gemütlich gemacht. Außerdem hängen neben dem matten Spiegel Marionetten wie Spinnen an ihren Netzen. Schon Urgroßväter und Urgroßmütter haben damit gespielt... Eine Zauberwelt!

Eines Tages... (ihr habt sicher schon bemerkt, dass in Märchen alles Interessante mit „Eines Tages“ beginnt) fuhren Oma und Opa in den Urlaub ans Meer und Reba blieb alleine zu Hause.

Draußen war schönster Sommer, die Vorlesungszeit an der Universität war zu Ende und unsere Reba hatte nun massenhaft Freizeit. Ich muss noch erwähnen, dass Henne Reba noch eine Leidenschaft neben den Antiquitäten hat, nämlich Lottospielen. Beim Bummeln durch die Stadt schaute sie beim Lottohäuschen vorbei, kaufte sich einen Lottoschein und füllte ihn aus. Und tatsächlich gewann sie etwas! Eine ganz anständige Summe sogar, zwar keine Million, aber doch einiges. Vielleicht sogar mehr, als sie in ihrem ganzen, noch nicht langen Lottoleben verspielt hatte!

Nachdem sie das Geld in Empfang genommen hatte, ging sie als Erstes gleich zu ihrem Lieblingsantiquariat. Bedächtig und fachmännisch betrachtete sie dort die Kaminuhren und vergilbten Bilder, den Messingleuchter, die gläsernen Armspangen, kunstvoll geschnitzte Schmuckkästchen und Statuetten aus Nephrit.

Schließlich landete ihr Blick auf einem alten Pfeilerspiegel. Das Kästchen unter dem Spiegel war stilvoll geschnitzt, der Spiegel selbst strahlte mit seiner überirdischen Reinheit inmitten der alten Sachen. Der Rahmen war ebenfalls aus Spiegelglas gefertigt. Dieser war wiederum schwarz eingefasst, was dem Spiegel eine unnatürliche Tiefe und Schwere verlieh.

Sprachlos stand Henne Reba vor dem wundersamen Spiegel. Auf ihre Frage nach dem Preis nannte der Besitzer des Ladens, der Rebas Kaufabsicht gleich gewittert hatte, eine unverschämt hohe Summe, die ihren Lottogewinn um das Dreifache überstieg.

Doch auch Reba war nicht von gestern.

„Sieht das etwa nach venezianischer Handarbeit aus?“, fragte sie skeptisch.

„Nein, das sicher nicht, aber es handelt sich hier zweifellos um eine sehr alte und wertvolle Antiquität.“

„Ach wirklich? Schwer zu glauben.“

„Wie können Sie nur so etwas sagen! Dieser Pfeilerspiegel ist mehrere Jahrhunderte alt! Der Eigentümer versicherte mir, dass...“

Nach einigem Verhandeln kaufte Reba den Spiegel schließlich. Tatsächlich ging dabei ihr ganzes gewonnenes Geld drauf. Am Abend fuhr der Ladenbesitzer den Spiegel zu Reba nach Hause und trug ihn sogar laut schnaufend zu ihrem Zimmer hinauf. Er stellte ihn an die freie Wand gegenüber dem Fenster und verabschiedete sich. Reba überlegte eine Zeit lang, wo sie den Spiegel am besten hinstellen sollte. Sie beschloss, ihren Freund, den Hahn Tok, um Rat zu fragen, schließlich lassen sich Möbel zu zweit auch viel besser verrücken. Er versprach ihr, am nächsten Morgen zu helfen.

Bis in den späten Abend schaute Reba noch Fernsehen, sprang allerdings die meiste Zeit nur von einem Kanal zum anderen. Schließlich wurde sie müde und ging schlafen. Der große, runde Mond schien durchs Fenster. Reba dachte sich, dass es bestimmt schön wäre, mit diesem stillen, geheimnisvollen Licht einzuschlafen, und verzichtete darauf, die Rollos herunterzulassen. Aber gut schlief es sich bei Mondschein nicht gerade. Reba hatte sich schon mehrere Male in ihrem Bett hin und her gewälzt, als sie aus der Richtung des Spiegels ein seltsames, melodisches Läuten hörte. Dann sah sie, dass die Oberfläche des Spiegels sich zu wellen begann.

Unheimlich! Sie stand auf und machte das Licht an. Die Spiegeloberfläche war glatt wie eh und je. Gleichzeitig schien der Spiegel nun noch tiefer und klarer zu sein. Im Bett starrte sie bei eingeschaltetem Licht noch lange auf den Spiegel, aber es geschah nichts mehr. Irgendwann schlief Reba ein.

Am Morgen wurde sie vom Läuten der Türklingel geweckt. Es war schon halb zehn! Hahn Tok stand vor der Tür und klingelte, klingelte, klingelte…

Bei Tageslicht am Frühstückstisch mit Tee und Marmeladenbrötchen erscheinen sämtliche nächtliche Ängste albern. Was Reba Tok über die Wellen und das gläserne Läuten erzählte, war eher lustig als furchteinflößend.

Nach dem Frühstück begutachtete Tok wie ein erfahrener Möbelschieber lange den Pfeilerspiegel und sagte schließlich: „Wo soll er denn hinkommen?“

Eine Antwort auf diese Frage wusste Reba allerdings auch nicht. Also rückten sie ihn lange und ziellos von einer Stelle zur anderen. Am Ende stand der Spiegel wieder dort, wo ihn schon der Antiquar hingestellt hatte: an der Wand gegenüber dem Fenster. Von dieser Beschäftigung waren sie sehr hungrig geworden und beschlossen, im nahegelegenen Bistro zu Mittag zu essen und dann einen kleinen Ausflug mit ihren Fahrrädern zu machen.

Auch heute war wieder ein schöner Sommertag. Prächtig blühten die Blumen in den Gärten, die dunkelgrünen Blätter der Buchen und Kastanien glänzten in der Mittagssonne und die Luft war frisch und klar. Angenehm müde kamen sie wieder bei Rebas Haus an. Reba schlug Tok vor, noch zu ihr hinaufzukommen und bis zum Abend zu bleiben. Vielleicht würden Sie den Spiegel wieder hören?

Sie machten es sich in den Sesseln bequem und redeten über alles Mögliche. Unmerklich wurde es dunkel und der Vollmond schaute durch das Fenster. Die Freunde sahen zum Spiegel. Der zog es jedoch vor, ein stummer Gegenstand zu sein.

Im Flüsterton rätselten Sie über das Geheimnis. Schließlich entschied Tok, dass Reba das alles nur geträumt habe. Sie war schon nahe daran, ihm zuzustimmen, aber da erklang ein kristallener, wehklagender Ton.

Über den Spiegel liefen kleine Wellen, die zusammenstießen und erloschen. Das Läuten wiederholte sich noch einmal, dann war alles vorbei. Reba und Tok waren ganz still geworden und drückten sich gespannt in ihre Sessel.

Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten, entschieden sie, dass sie den geheimnisvollen Spiegel unbedingt ihrem klügsten Freund, Professor Gas, zeigen mussten. Sie vereinbarten, sich am nächsten Tag wieder zu treffen.

Gas war in jeder Hinsicht ein bemerkenswerter Professor. Er unterhielt sich gerne mit seinen Studenten, interessierte sich für alles Neue und wurde von seinen Studenten deshalb wie eine Glucke von ihren Küken umschwärmt. Während der Semesterferien war er, wenn er daheim blieb, in seinem häuslichen Labor beschäftigt. Nicht selten brach er aber auch mit seinen Studenten zu Expeditionen auf.

Am nächsten Tag trafen sich also unsere Freunde wieder und riefen den Professor an. Nachdem er sich die rätselhafte Geschichte angehört hatte, wollte er sich den Spiegel persönlich ansehen. Er kam bald mit einem großen Kombiwagen, entlud diverse Apparate und begann, den Spiegel zu untersuchen. Auch er fand, dass der Pfeilerspiegel übermäßig massiv wirke und schlug Reba vor – natürlich nur, wenn sie nichts dagegen hatte – den Spiegel für einige Zeit in sein Labor zu bringen. „Dort habe ich mehr Möglichkeiten, ihn zu untersuchen“, meinte Professor Gas.

Die junge Henne hatte nichts dagegen. Die beiden Hähne luden den Pfeilerspiegel ins Auto und der Professor fuhr wieder fort.

Am Abend gingen Reba und Tok ins Kino, saßen dann unter den Linden am Flussufer und gingen, als es ganz dunkel geworden war, wieder zu Reba nach Hause.

Das Gatter zu Rebas Hof stand weit offen. Die Eingangstür war aufgebrochen. Vorsichtig gingen sie hinein. Hier war offensichtlich jemand eingebrochen. Hilflos, wie sie sich fühlten, riefen sie den Professor heute nun schon zum zweiten Mal an. Normalerweise schlief er schon um diese Zeit, aber heute war er in seinem Labor und mit dem Spiegel beschäftigt. Er riet ihnen, sofort die Polizei anzurufen.

Die Polizisten fotografierten, notierten und vermaßen alles, ohne allerdings ihr Gähnen unterdrücken zu können. Dann fragten sie Tok und Reba lustlos aus und fuhren wieder.

Am nächsten Morgen räumte Reba das Haus auf und bestellte eine Firma, um die Tür zu reparieren. Gegen Mittag ging sie in den Hof und goss die Blumen.

Ein unbekannter, sehr hagerer und bleicher Hahn blickte über den Zaun.

„Guten Tag, die Dame“, sagte er.

„Tag“, erwiderte Reba mürrisch.

„Ich möchte Ihnen die neuesten wissenschaftlichen Errungenschaften vorstellen – eine Kollektion außergewöhnlich effektiver Mittel zur Pflege, Reinigung und Erhaltung von Möbeln, Silber und Bronze.“

„Ich habe bereits alles, was ich brauche“, meinte Reba.

„Aber, aber! Das sind erstaunliche, unglaublich moderne Mittel! Und sie sind nicht nur günstiger als die herkömmlichen! Wir haben in unserem Forschungslabor wahre Wunder erzielt!“

„Sind Sie ein wissenschaftlicher Mitarbeiter?“

„O ja! Aber jetzt will ich in den Semesterferien etwas dazu verdienen.“

„Na gut, zeigen Sie mir Ihre Wundermittel mal.“

Der hagere Hahn machte seine Tasche auf, die bis oben hin mit bunten Tuben, Flakons und anderen Behältern gefüllt war.

„Haben Sie neue Möbel oder antiquarische?“, fragte er. „Sehen Sie, als Experte brauche ich mir ein Möbelstück nur anzusehen, um zu wissen, was es braucht.“

„Ist in Ordnung, kommen Sie mit rauf“, seufzte Reba.

Oben betrachtete der Hahn alles ganz genau, zunächst das Sofa und die Sessel, dann den Schrank und die Regale, wo er eine Tonvase und eine Bronzestatuette hin und her drehte.

„Das ist alles ganz nett, aber wirklich antiquarische Möbel haben Sie hier nicht.“

Das war für Reba natürlich eine Beleidigung.

„Wenn jetzt ein bestimmtes Möbelstück hier wäre, würden Sie nicht so reden! Aber ich habe es eben jemandem ausgeliehen.“

„Ein Möbelstück? Nuss? Eiche?“

„Vom Äußeren her wohl Eiche... Jedenfalls ist es ein sehr alter Pfeilerspiegel mit Schnitzereien.“

„Oh! Für Spiegel habe ich ein sehr wertvolles Mittel bei mir! Es verhindert das Sichtbarwerden der Amalgamschicht.“

„Mein Spiegel sieht eigentlich einwandfrei aus.“

„Das kann nicht sein! Ich habe noch keinen einzigen alten Spiegel ohne Beschädigung der Amalgamschicht gesehen, man kann sie selbst mit einem einfachen Vergrößerungsglas ausmachen. Wie schade, dass ich ihn mir nicht ansehen kann.“

„Na, was soll’s. Der Spiegel ist bei Professor Gas“, sagte Reba. Der aufdringliche Experte wurde ihr langsam lästig.

„Sie sind also Studentin? Ist das Ihr Professor? Was studieren Sie denn bei ihm?“

„Vor allem Physik, aber auch Materialkunde und Kristallografie.“

„Ach wirklich!? Ich interessiere mich auch sehr für Kristallografie. Wie gerne würde ich mich mal mit so einem Experten auf diesem Gebiet unterhalten! Könnten Sie mir verraten, wo er wohnt?“

Henne Reba nannte die Adresse und der Hahn hatte es auf einmal sehr eilig. Er bedankte sich überschwänglich und ließ Reba ein Probeset mit Reinigungsmitteln als Geschenk zurück.

Als der Händler weg war, setzte Reba sich an ihren Tisch und blätterte in den Katalogen, die in den letzten Tagen gekommen waren. Aber ein unbehagliches Gefühl störte sie bei dieser sonst spannenden Beschäftigung. Es war, als steckte eine Zecke in ihrem Gewissen. Reba legte den Katalog zur Seite und überlegte, was und wann sie etwas falsch gemacht haben könnte. Plötzlich überkam sie es mit voller Wucht und ihr wurde ganz heiß. Sie hatte die Adresse von Professor Gas an einen unbekannten Handelsvertreter, der sich irgendwie übermäßig für Spiegel interessierte, gegeben. Adresse und Spiegel! Spiegel und Adresse!

Die aufgeregte Henne Reba rief Tok an. Sie verhedderte sich beim Erzählen, sprang hin und her und geriet immer mehr in Panik.

„Na, na“, sagte Tok, „Bleib, wo du bist. Ich komme gleich.“

Tok stand auch bald vor ihrem Haus. Er pfiff und rief: „Komm, lass uns schwimmen gehen! Unterwegs erzähl ich dir alles.“

Die Sonne stand hoch. Lediglich zwei kleine Wolken sah man am Himmel, die dessen Blau nur noch mehr betonten. Der Asphalt schien vor Hitze zu schmelzen. Wie Wasser wogten kleine Spiegelungen über den Straßen.

Auf dem Weg erzählte Tok, dass er schon mit dem Professor gesprochen hatte und der hatte ihm versichert, dass er die notwendigen Maßnahmen treffen würde. Zum Mittag erwartete er sie bei sich.

So kamen unsere Freunde mit leichtem Herzen am Strand an. Das kühle Wasser und der goldene Sand, der die ganze Wärme der Sonne in sich aufgenommen hatte – gibt es etwas Schöneres auf der Welt? Tok und Reba badeten im Fluss, ließen sich in dem seichten Wasser mit den vielen Algen auf dem Schwimmreifen treiben und beobachteten die wundersamen Welten des Unterwasserdschungels im Kleinformat mit all seinen ruhelosen Bewohnern.

Sie hätten sich noch lange so des Lebens freuen können, wenn ihre knurrenden Mägen sie nicht an ihr Treffen mit dem Professor erinnert hätten. Nachdem sie sich abgetrocknet und umgezogen hatten, brachen die Freunde zum Professor auf.

Die kleine Villa des Professors versteckte sich im Laub der Linden. Reba und Tok bahnten sich ihren Weg zum Haupteingang und klingelten. Stille. Sie klingelten noch mal. Wieder geschah auf der anderen Seite der Tür nichts. Weder Gas’ fröhliche Stimme noch das Poltern seiner Schritte war zu hören. Sonst kam er seinen Gästen immer entgegen.

Die Freunde sahen sich an.

„Wo kann er bei so einer Hitze hingegangen sein?“, brummte Reba.

„Schau mal, die Tür ist offen“, flüsterte Tok ihr zu.

Sie betraten vorsichtig den Eingangsflur und sahen sich um. Alles war wie immer, nur lagen da ein Dutzend Auberginen auf dem Boden.

Plötzlich hörten sie ein gedämpftes Röcheln. Reba erstarrte vor Angst und Tok sprang zur Seite. Wieder hörten sie das Röcheln. Sie sahen nach oben und erblickten ein Netz an der Decke, in dem ein seltsames Wesen baumelte.

Reba berührte Toks Flügel. „Tok! Er hat den Lieblingsanzug von Professor Gas an!“

„Das ist ja der Professor selbst in dem Netz!“

Von der Decke kam ein zustimmendes Brummen.

„Warum stehen wir dann noch herum?!“, sagte Reba. „Hast du ein Messer?“

„Nein, aber ich kann eins aus der Küche holen!“

Vom Netz hörten sie ein missgelauntes Röcheln.

„Was will er uns sagen?“, dachte Reba und neigte den Kopf zur Seite.

„Hier ist ein kleiner Karabinerhacken. Das wird’s sein! Wir müssen ihn einfach lösen...“, sagte Tok.

Mit vereinten Kräften lösten sie den Haken und das Netz donnerte samt dem Inhalt zu Boden. Sie stürzten sich auf Professor Gas und befreiten den Gefangenen.

„Etwas sanfter hättet ihr mich schon herunterlassen können!“, sagte der zerzauste, halb erwürgte und nun auch noch blau gestoßene Professor. „Na, na, rechtfertigen braucht ihr euch nicht. Habt Dank für die Hilfe. Aber mit dem Mittagessen werden wir wohl noch warten müssen – an der Decke hängend konnte ich keine Auberginen zubereiten.“

Während der Professor in der Küche zugange war, naschten Reba und Tok junge Erbsen und Erdbeeren im Garten. Sie konnten es gar nicht erwarten, zu erfahren, was denn passiert war, trauten sich aber nicht, zu fragen. Der Professor schwieg wie zum Trotz.

Irgendwann fing er jedoch endlich mit seiner Geschichte an: „Als mich Tok anrief, war ich gerade im Garten beschäftigt. Ich richtete die Falle für die Springechse ein, die es sich zur Gewohnheit gemacht hat, meine Beete zu verunstalten. Der Besuch dieses verdächtig neugierigen Hahns musste irgendwie mit dem gestrigen Einbruch bei Reba zu tun haben. Ich musste mich also auf ungebetene Gäste gefasst machen und beschloss, die fertige Falle für eben solche Eindringlinge zu verwenden. Also stellte ich den Mechanismus mit den automatischen Fotoelementen ein, ersetzte das Netz aus Nylon durch ein größeres und hängte diese Falle im Flur an der Decke auf.

Um nicht aus Versehen selbst hineinzugeraten, legte ich Auberginen auf die gefährliche Stelle. Dieselben, die ich für das Mittagessen verwendet habe. Nun musste ich nur noch die Tür offen lassen. Der Dieb brauchte meine Tür ja nicht unbedingt aufzubrechen. Als ich damit fertig war, wollte ich die Auberginen wieder entfernen und da reagierten diese dummen Fotoelemente... Hm... Der Mechanismus funktionierte jedenfalls und da hing ich baumelnd an der Decke.“

Er stellte sich vor, wie das für Außenstehende ausgesehen haben musste und lachte herzhaft. Seine Studenten stimmten ein.

„Probiert doch mal die Auberginen“, sagte der Professor, als alle mit Lachen fertig waren. „Meines Erachtens sind sie genau richtig geworden.“

Die Auberginen aus dem Garten des Professors waren ausgezeichnet, die Freunde aßen mit großer Begeisterung.

Tok wurde auf einmal unruhig. „Ich glaube, jemand beobachtet das Haus, ich habe etwas im Gebüsch gesehen.“

„Vielleicht ist es dir nur so vorgekommen?“, fragte der Professor.

„Vielleicht, und wenn doch?“

„Wenn so viele Leute da sind, werden sie wohl nichts machen. Aber wir müssen etwas unternehmen.“

„Und wenn wir so tun, als ob wir weggehen“, schlug Reba vor, „aber in Wirklichkeit zurückkommen und eine Falle aufstellen?“

„Unser Weggehen können wir natürlich vortäuschen“, meinte Professor Gas nachdenklich. „Wie sollen wir aber unbemerkt zurückkommen?... Ich hab‘ s! Gehen wir durch das Himbeergestrüpp des Nachbarn. Ich habe gerade den Schlüssel von Professor Daun, er ist in den Urlaub gefahren und ich kümmere mich um seine Blumen.“

Gas präparierte die Falle, stellte im Flur eine weitere Videokamera auf und die drei gingen lautstark redend aus dem Haus. In der Gasse sprangen sie über den kleinen Zaun. Geduckt schlichen sie unter der Deckung der Büsche zum üppig wachsenden Himbeergestrüpp, das zwischen den Grundstücken wucherte. Sie schlüpften unter dem Draht hindurch (an ihm erkannten die Professoren, wo die Beeren von Gas aufhörten und die von Daun anfingen). Von hier huschten sie durch die Kellertür in das Haus von Professor Gas und begaben sich zum Labor.

Das Labor des Professors war zwar nicht so üppig ausgestattet wie das der Universität, aber dafür mit viel Liebe eingerichtet. Auf dem langen Arbeitstisch standen Oszillografen, Frequenzgeneratoren und ein leistungsstarkes Mikroskop. Auf der Werkbank war eine Drehmaschine angebracht, neben ihr lag Schmirgelpapier. Auf der anderen Seite des Zimmers gab es einen Miniaturmuffelofen, verschiedene Tiegelgefäße, eine Lötstation und eine Menge anderer wichtiger Instrumente und Vorrichtungen. Inmitten des Zimmers stand Rebas Pfeilerspiegel.

„Mit diesem Spiegel ist irgendetwas nicht in Ordnung“, sagte der Professor. Das rätselhafte Phänomen, das ich gestern Abend beobachtet habe, war einer wissenschaftlichen Erklärung bisher noch nicht zugänglich.“

Tok, den wissenschaftliche Probleme weniger bekümmerten, schaute sich eine Funkstation für Kurzwellen genauer an.

„Sie sind auch Funkliebhaber, Herr Professor?“

„War ich mal“, entgegnete Professor Gas etwas verlegen. „Um genau zu sein, hat damit mein Weg zur Wissenschaft angefangen. Ist so eine Art Andenken.“

Henne Reba interessierte die Kristallsammlung. In allen Farben des Regenbogens schillerten die Steine hinter der Glasscheibe.

„Erzählen Sie doch mal etwas über diese Kristalle, Herr Professor!“, bat Reba.

Gas kratzte sich am Kamm, als würde er überlegen, wie er seinen Vortrag möglichst interessant einleiten könnte. Bevor er aber etwas sagen konnte, vernahmen die Freunde ein vom Mikrofon verstärktes Geräusch, das von der Eingangstür kam. Alle stürzten zum Monitor. Ein hagerer Hahn betrat das Haus.

„Das ist er!“, rief Reba. „Jetzt bekommt er, was er verdient!“

Währenddessen hatte es der Verkäufer der „erstaunlichen wissenschaftlichen Fortschritte“ gar nicht eilig, in die Falle zu tappen. Er zog die Tür hinter sich zu, ohne sie zu schließen und sah sich aufmerksam um. Kaum zwei Schritte vor dem Netz an der Decke sprang er zur Seite und versteckte sich hinter dem Schrank.

„Was macht er da?“, flüsterte Reba.

Professor Gas schlug vor, zunächst zu schweigen und mit Schlussfolgerungen zu warten. Im Labor herrschte Stille. Auch der Hahn hinter dem Schrank gab kein Lebenszeichen von sich.

Plötzlich tauchten vor der Tür drei Unbekannte auf.

Es klingelte. Und noch einmal.

Da die drei Gestalten feststellten, dass die Tür nicht abgesperrt war, schlich sich einer nach dem anderen ins Haus. Sie blieben im Flur stehen, flüsterten sich etwas zu und gingen weiter. Der erste näherte sich der Falle. Und dann kam alles so, wie es der Professor aus eigener Erfahrung beschrieben hatte! Ein unbekanntes Subjekt hing nun mit den Füßen nach oben in dem grünen Netz. Verblüfft sahen die anderen zwei ungebetenen Gäste zu ihm hinauf.

„Ein Hinterhalt!“, rief einer von ihnen und wollte zum Seil, doch der andere hielt ihn zurück.

„Um Pak kümmern wir uns später! Zuerst der Temporator! Schnell!“

Sie verschwanden aus dem Sichtfeld der Kamera.

Nach einiger Zeit hörten der Professor und seine Studenten, wie die Eindringlinge näher kamen.

„Hier muss er sein, brechen wir die Tür auf!“

Die Tür krachte und öffnete sich.

„Da ist er!“, schrie ein Eindringling. Er hatte ein Brecheisen in der Hand.

Der zweite zückte eine Pistole, als er den Professor und seine Studenten sah.

„Alle an die Wand!“

Henne Reba bekam vor Angst ganz große Augen.

„Achtung, Achtung!“, dröhnte plötzlich eine Stimme, die alle übrigen übertönte. „Werft die Waffen weg! Flügel hinter den Kopf! Bewegt euch nicht und dreht euch nicht um!“ Das war die Stimme eines Polizisten, ganz wie aus einer Fernsehserie. Die Einbrecher ließen Brecheisen und Pistole fallen.

Doch statt des vermeintlichen Polizeibeamten tauchte der hagere Hahn auf. Er umwickelte die Missetäter rasch von Kopf bis Fuß mit Klebeband und ließ nur ein kleines Loch an den Schnäbeln zum Atmen frei. Dann befreite er zusammen mit Gas und Tok den in der Falle hängenden Pak und ließ auch diesen in kürzester Zeit wie eine Mumie aussehen.

Eine Viertelstunde später saßen Tok, der Hausherr selbst und der hagere Hahn Bak, der sich Henne Reba als „Vertreter für Reinigungsmittel“ vorgestellt hatte, im Wohnzimmer. Reba war mit dem Aufstellen von Teetassen und Marmeladeschälchen beschäftigt. Auf dem Boden lagen die drei Klebebandmumien. Tok drückte an den Knöpfen von Baks kleinem Lautsprecher.

„Achtung, Achtung! Werft die Waffen weg! Flügel hinter den Kopf! Bewegt euch nicht und dreht euch nicht um!“, dröhnte es wieder.

„Tok, hör doch endlich damit auf!“, sagte Reba, als sie den verschütteten Tee wegwischte.

„Werter Hahn Bak“, begann der Professor nun, „würden Sie uns bitte erklären, was das alles zu bedeuten hat.“

Bak rückte seine Teetasse näher zu sich. „Was ich Ihnen erzählen werde, Professor Gas, wird nicht so leicht zu glauben sein. Ich werde ungewöhnliche Begriffe verwenden müssen und ein guter Erzähler bin ich auch nicht. Aber ich hoffe auf Ihren weiten Verständnishorizont und wissenschaftlich geschulten Verstand. Sie haben ja sicher von Paralleluniversen gehört. Wenn man eine Vorrichtung bauen könnte, die kohärente Zeitquanten generieren und deren Phasenverschiebung bewirken könnte, wäre das eine Möglichkeit, eine Brücke zwischen den Parallelwelten herzustellen. Kurz gesagt, diese Möglichkeit ist zur Wirklichkeit geworden. Wir haben es geschafft, solch eine Maschine zu bauen, mit der man ganz leicht in eine Parallelwelt gelangen kann.

„Das heißt, ihr reist zwischen den Paralleluniversen!“, rief Tok.

„Wenn ihr also aus einer anderen Zivilisation seid, müsstet ihr euch auch äußerlich von uns unterscheiden“, meinte der Professor.

„Das tun wir auch. In unserer Welt sind nicht Vögel die führende vernunftbegabte Rasse geworden, sondern eine Art der Säugetiere. Aber manchmal zweifle ich an dieser Vernunftbegabung. Doch das ist eine andere Geschichte.

Als wir das Prinzip der Phasenverschiebung der Zeitquanten entdeckten und den Phasentemporator entwickelt hatten – diesen Spiegel, der jetzt in Ihrem Labor steht – tauchte die Frage auf, wie wir es verhindern könnten, die Bewohner der fremden Welten durch unser Äußeres zu schockieren und eine ganze Reihe anderer problematischer Effekte zu beseitigen. Wir haben es geschafft, vor den Reisen Wesen zu erschaffen, deren sämtliche Atome sich im Einklang mit den Vertretern der fremden Welten befinden. Anschließend wird auf diese Wesen die Informationsmatrix eines Vertreters unserer Welt projiziert. Ein moderner Temporator verwandelt den Reisenden automatisch in ein Wesen, das am stärksten einem Vertreter der herrschenden Parallelzivilisation entspricht. Deshalb sehe ich jetzt wie einer von Ihnen aus.“

„Und Sie sind also in mein Haus eingedrungen, um an den Temporator zu kommen. Wie ich annehme, wollen Sie in Ihre Heimatwelt zurückkehren. Und diese drei? Was wollten die?“

Bak nahm einen Schluck aus der Tasse. „Ich muss Ihnen wohl doch alles erzählen. Erfindungen bringen nicht nur Nutzen, sondern haben manchmal auch Nebeneffekte. Wir machen im Nachhinein die Erfahrung, dass fast jede große Entdeckung mit einem Risiko und Opfern verbunden ist und nicht selten unvorhersehbare Folgen hat. Auch in diesem Fall war es nicht anders. Es geschah mitunter, dass der Vorstoß in andere Welten bei den Forschungsreisenden eine Veränderung des Bewusstseins herbeiführte, bedingt durch den zu großen Unterschied in der Psychologie, Weltwahrnehmung und Wissensstand. In manchen Fällen kam es dabei zum Zerfall der Persönlichkeit.