Die Farbe der Gier - Jeffrey Archer - E-Book

Die Farbe der Gier E-Book

Jeffrey Archer

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Beschreibung

Bryce Fenston ist ein skrupelloser Finanzmakler. Seine Leidenschaft sind wertvolle Gemälde - für einen echten van Gogh geht er über Leichen. Das Objekt seiner Begierde: das berühmte »Selbstporträt mit abgeschnittenem Ohr«. Es befindet sich im Privatbesitz einer britischen Lady. Die junge Kunstexpertin Anna, die für Fenston arbeitet, schwebt in Gefahr, weil sie zu viel über dessen Machenschaften weiß. Und sie ahnt nicht, dass sie noch dazu von FBI Special Agent Jack Delaney sie beschattet wird. So beginnt an einem vermeintlich friedlichen Septembermorgen in New York eine atemlose Jagd nach einem Gemälde und ein spektakulärer Wettlauf gegen die Skrupellosigkeit.

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Seitenzahl: 529

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Bryce Fenston ist ein skrupelloser Finanzmakler. Seine Leidenschaft sind wertvolle Gemälde – für einen echten van Gogh geht er über Leichen. Das Objekt seiner Begierde: das berühmte »Selbstporträt mit abgeschnittenem Ohr«. Es befindet sich im Privatbesitz einer britischen Lady. Die junge Kunstexpertin Anna, die für Fenston arbeitet, schwebt in Gefahr, weil sie zu viel über dessen Machenschaften weiß. Und sie ahnt nicht, dass sie noch dazu von FBI Special Agent Jack Delaney beschattet wird. So beginnt an einem vermeintlich friedlichen Septembermorgen in New York eine atemlose Jagd nach einem Gemälde und ein spektakulärer Wettlauf gegen die Skrupellosigkeit.

Der Autor

Jeffrey Archer, geboren 1940 in London, verbrachte seine Kindheit in Weston-super-Mare und studierte in Oxford. Archer schlug zunächst eine bewegte Politiker-Karriere ein. Weltberühmt wurde er als Schriftsteller, Kain und Abel war sein Durchbruch. Mittlerweile zählt Jeffrey Archer zu den erfolgreichsten Autoren Englands. Seine historischen Reihen Die Clifton-Saga und Die Warwick-Saga begeistern eine stetig wachsende Leserschar. Archer ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in London, Cambridge und auf Mallorca.

JEFFREY ARCHER

DIE FARBE DER GIER

ROMAN

Aus dem Englischenvon Tatjana Kruse

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe FALSEIMPRESSION erschien erstmals 2005 bei Macmillan

Erstmals im Deutschen erschienen 2007 im S. Fischer Verlag Frankfurt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Neuausgabe 08/2025

Copyright © 2005 by Jeffrey Archer

Copyright © 2007 der deutschsprachigen Erstausgabe by S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 Mü[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)

Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München, unter Verwendung von Motiven von

Shutterstock.com (Igor Link) und Arcangel Images (Richard Nixon)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-32972-3V001

www.heyne.de

Für Tara

10. September

1

Victoria Wentworth saß allein an eben jenem Tisch, an dem Wellington mit sechzehn seiner Offiziere am Vorabend seines Aufbruchs nach Waterloo gespeist hatte.

An jenem Abend hatte General Sir Harry Wentworth zur Rechten des Eisernen Herzogs gesessen und hatte später dessen linke Flanke befehligt, während der geschlagene Napoleon vom Schlachtfeld ins Exil geritten war. Ein dankbarer Monarch hatte dem General den Titel Earl of Wentworth verliehen, den seine Familie seit 1815 voller Stolz trug.

Dieser Gedanke ging Victoria durch den Kopf, während sie Dr. Petrescus Bericht ein zweites Mal las. Als Victoria die letzte Seite umdrehte, seufzte sie erleichtert auf. Eine Lösung für all ihre Probleme hatte sich aufgetan, buchstäblich fünf vor zwölf.

Die Tür zum Speisesaal öffnete sich lautlos und Andrews, der im Laufe von drei Generationen der Wentworth-Familie vom Lakaien zum Butler aufgestiegen war, entfernte routiniert den Dessertteller ihrer Ladyschaft.

»Dankeschön«, sagte Victoria und wartete, bis er die Tür erreichte, dann fügte sie hinzu: »Wurde für die Abholung des Gemäldes Sorge getragen?« Sie brachte es einfach nicht über sich, den Namen des Künstlers auszusprechen.

»Ja, Mylady.« Andrews drehte sich zu seiner Herrin um. »Das Bild wird abgehängt, bevor Sie zum Frühstück nach unten kommen.«

»Und wurde alles für den Besuch von Dr. Petrescu vorbereitet?«

»Ja, Mylady«, wiederholte Andrews. »Dr. Petrescu wird am Mittwoch gegen Mittag erwartet und ich habe die Köchin bereits davon in Kenntnis gesetzt, dass Frau Doktor Petrescu mit Ihnen das Mittagessen im Wintergarten einnehmen wird.«

»Danke, Andrews«, sagte Victoria. Der Butler deutete eine Verbeugung an und schloss leise die schwere Eichentür hinter sich.

Noch vor dem Eintreffen von Dr. Petrescu würde sich eines der kostbarsten Erbstücke der Familie auf dem Weg nach Amerika befinden und obwohl das Meisterwerk nie wieder in Wentworth Hall betrachtet werden konnte, musste das außerhalb des engsten Familienkreises keiner wissen.

Victoria faltete die Serviette und erhob sich vom Tisch. Sie nahm Dr. Petrescus Bericht zur Hand und trat aus dem Speisesaal in den Flur. Ihre Schritte hallten auf dem Marmorboden wider. Sie blieb am Fußende der Treppe stehen und bewunderte Gainsboroughs lebensgroßes Porträt von Lady Catherine Wentworth in einem herrlichen, bodenlangen Gewand aus Seide und Taft, komplettiert von einer Diamantkette mit passenden Ohrringen. Victoria lächelte angesichts des Gedankens, dass eine derart extravagante Spielerei zu der damaligen Zeit zweifelsohne für reichlich schlüpfrig erachtet worden war.

Victoria sah unverwandt geradeaus, als sie die breite marmorne Rundtreppe zu ihrem Schlafzimmer im ersten Stock emporstieg. Sie fühlte sich nicht in der Lage, ihren Vorfahren in die Augen zu schauen, die von Romney, Lawrence, Reynolds, Lely und Keller lebensecht festgehalten worden waren. Victoria war sich bewusst, dass sie sie allesamt enttäuscht hatte. Sie musste ihrer Schwester schreiben und sie von ihrer Entscheidung in Kenntnis setzen, bevor sie sich zu Bett begab.

Arabella war so klug und so vernünftig. Wenn ihre geliebte Zwillingsschwester nur einige Minuten früher geboren worden wäre, dann hätte sie das Anwesen geerbt und das Problem zweifellos mit beträchtlich mehr Schwung gehandhabt. Schlimmer noch, sobald Arabella die Neuigkeit erfuhr, würde sie sich weder beschweren noch Protest einlegen. Sie würde einfach weiterhin die für die Familie typische Unerschütterlichkeit zur Schau stellen.

Victoria schloss die Schlafzimmertür, durchquerte den Raum und legte Dr. Petrescus Bericht auf ihren Schreibtisch. Dann löste sie ihren Haarknoten und verbrachte die nächsten Minuten damit, sich die Haare zu bürsten. Anschließend entkleidete sie sich und zog ein seidenes Nachthemd an, das eines der Zimmermädchen am Fußende ihres Bettes ausgebreitet hatte. Zu guter Letzt schlüpfte sie in ihre Pantoffeln, setzte sich an den Schreibtisch und nahm den Füllfederhalter zu Hand.

Wentworth Hall

10. September 2001

Meine liebste Arabella,

schon viel zu lange habe ich diesen Brief hinausgezögert, denn du solltest als Letzte die beunruhigende Neuigkeit erfahren.

Als unser lieber Papa verstarb und ich das Anwesen erbte, dauerte es eine Weile, bis mir das ganze Ausmaß der Schulden, die er angehäuft hatte, bewusst wurde. Ich fürchte, meine mangelnde Erfahrung in geschäftlichen Angelegenheiten, dazu die exorbitante Erbschaftssteuer, trugen zu dem Problem noch das Ihrige bei.

Ich glaubte anfangs, die Lösung darin zu finden, noch mehr Kredite aufzunehmen, aber das hat die Sache nur verschlimmert. Es kam so weit, dass ich fürchtete, aufgrund meiner Naivität müsse unser Familiensitz veräußert werden. Aber nun kann ich Dir voller Freude mitteilen, dass sich eine Lösung eröffnet hat.

Am Mittwoch treffe ich mich mit …

Victoria glaubte, gehört zu haben, wie hinter ihr leise die Schlafzimmertür geschlossen wurde. Sie fragte sich, wer vom Personal die Frechheit besaß, das Zimmer ohne anzuklopfen zu betreten.

Bis Victoria sich umgedreht hatte, um nachzusehen, um wen es sich handelte, stand die Frau bereits neben ihr.

Victoria sah zu der Fremden auf, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie war jung, schlank und noch kleiner als Victoria. Sie hatte ein süßes Lächeln, das sie verletzlich erscheinen ließ. Victoria erwiderte das Lächeln. Erst da fiel ihr das Küchenmesser in der rechten Hand der Frau auf. »Wer …«, fing Victoria an, doch da schoss die Hand schon nach vorn, packte sie an den Haaren und riss ihren Kopf gegen die Lehne. Victoria spürte die schmale, rasiermesserscharfe Klinge auf der Haut ihres Halses. Mit einer einzigen, raschen Bewegung schlitzte ihr die Klinge den Hals auf.

Sekundenbruchteile, bevor Victoria starb, schnitt ihr die junge Frau das linke Ohr ab.

11. September

2

Anna Petrescu drückte auf den Knopf des Weckers neben ihrem Bett. 5 Uhr 56 verkündete die Leuchtanzeige. Weitere vier Minuten und der Wecker hätte sie mit den Frühnachrichten geweckt. Aber nicht heute. Die ganze Nacht hatte sie gegrübelt. Und als sie schließlich aufwachte, hatte Anna beschlossen, was sie tun würde, falls der Vorsitzende ihren Empfehlungen nicht nachkommen sollte. Sie schaltete den automatischen Weckruf ab, sprang aus dem Bett und ging direkt ins Badezimmer. Anna verharrte etwas länger als gewöhnlich unter dem kalten Strahl der Dusche. Sie hoffte, dadurch vollständig wach zu werden. Ihr letzter Liebhaber – Gott allein wusste, wie viel Zeit seitdem vergangen war – hatte es für amüsant gehalten, dass sie immer vor ihrer morgendlichen Joggingrunde zu duschen pflegte.

Nachdem Anna sich abgetrocknet hatte, zog sie ein weißes T-Shirt und blaue Shorts an. Obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen war, musste sie die Vorhänge ihres kleinen Schlafzimmers nicht aufziehen, um zu wissen, dass auch dieser Tag wolkenlos und sonnig werden würde. Sie schloss den Reißverschluss des Oberteils ihres Trainingsanzugs, auf dem noch ein blasses ›P‹ zu sehen war, wo sie den aufgestickten, leuchtend blauen Buchstaben aufgetrennt hatte. Anna wollte den Umstand, dass sie einst Mitglied des Laufteams der University of Pennsylvania gewesen war, nicht öffentlich zur Schau stellen. Schließlich war das vor neun Jahren gewesen. Zu guter Letzt zog sie ihre Nike-Joggingschuhe an und band die Schnürsenkel fest zusammen. Nichts ärgerte sie mehr, als mitten in ihrem Morgenlauf eine Pause einlegen zu müssen, um sich die Schnürsenkel neu zu binden. Das Einzige, was sie an diesem Morgen noch trug, war ihr Haustürschlüssel an einer schmalen Silberkette um den Hals.

Anna drehte den Schlüssel in der Tür zu ihrem Vier-Zimmer-Apartment zweimal um, lief durch den Flur und drückte auf den Fahrstuhlknopf. Während sie wartete, dass die winzige Kabine knarzend in den zehnten Stock kletterte, führte sie eine Reihe von Dehnübungen durch, die sie beendet hatte, noch bevor der Aufzug das Erdgeschoss erreichte.

Anna betrat die Lobby und lächelte ihrem Lieblingstürsteher zu, der sich beeilte, ihr die Eingangstür zu öffnen.

»Morgen, Sam«, rief Anna, als sie aus dem Thornton House auf die East 54th Street in Richtung Central Park rannte.

An Werktagen lief sie die südliche Schleife. An den Wochenenden nahm sie die sechs Meilen längere Schleife in Angriff. Am Wochenende war es egal, ob sie sich ein paar Minuten verspätete. Heute aber nicht.

Bryce Fenston stand an diesem Morgen ebenfalls vor sechs Uhr auf, da auch er einen frühen Termin hatte. Während er duschte, hörte er die Nachrichten, doch nicht einmal ein Selbstmordattentäter, der sich an der West Bank mit einer Bombe in die Luft gesprengt hatte, brachte Fenston dazu, den Ton lauter zu drehen – dieses Ereignis war so alltäglich geworden wie der Wetterbericht.

»Wieder ein herrlicher Sonnentag mit einer sanften Brise aus Nordwest, Höchsttemperaturen um die 25 Grad, Tiefsttemperaturen um die 19 Grad«, verkündete eine muntere Wetterfrau, als Fenston aus der Dusche trat. Sie wurde von einer ernsteren Stimme abgelöst, die ihn darüber informierte, dass der Nikkei in Tokio um vierzehn Punkte gestiegen und Hongkongs Hang Seng um einen Punkt gefallen war. Die FTSE in London hatte sich noch nicht entschlossen, in welche Richtung sie sich bewegen wollte. Fenston ging allerdings davon aus, dass die Fenston-Finance-Aktien wahrscheinlich weder dramatisch steigen noch fallen würden, da nur zwei Menschen außer ihm von seinem kleinen Coup wussten. Mit einem von ihnen würde Fenston frühstücken und den anderen um kurz nach acht Uhr feuern.

Um 6 Uhr 40 war Fenston geduscht und angezogen und betrachtete sein Spiegelbild. Er wäre gern ein paar Zentimeter größer und ein paar Kilo leichter gewesen. Aber es gab nichts, was ein guter Schneider und kubanische Schuhe mit speziell gefertigten Einlagen nicht hätten kaschieren können. Fenston hätte sich auch gern die Haare wieder wachsen lassen, aber das ging nicht, solange es so viele im Exil lebende ehemalige Landsleute von ihm gab, die ihn immer noch erkennen konnten. Obwohl sein Vater Straßenbahnschaffner in Bukarest gewesen war, wäre jeder, der einen Blick auf den makellos gekleideten Mann geworfen hätte, der kurz darauf aus dem Backsteingebäude in der East 79th Street trat und in seine Limousine mit Chauffeur stieg, davon ausgegangen, dass er in die besten Kreise hineingeboren worden war. Nur diejenigen, die genauer hingesehen hätten, würden den kleinen Diamanten in seinem linken Ohr bemerkt haben – eine Affektiertheit, die ihn seiner Meinung nach von seinen konservativeren Geschäftspartnern abhob. Keiner seiner Angestellten wagte es, ihm das auszureden.

Fenston machte es sich im Fond seiner Limousine bequem. »Ins Büro«, bellte er, bevor er einen Knopf in der Armlehne drückte. Ein rauchgrauer Bildschirm surrte nach oben und unterband jedes unnötige Gespräch zwischen ihm und dem Fahrer. Fenston nahm die New York Times zur Hand, die auf dem Sitz neben ihm lag, und blätterte sie durch. Bürgermeister Giuliani schien sich verkalkuliert zu haben. Erst brachte er seine Geliebte im Gracie Mansion unter, dann verließ er auch noch seine Frau, die daraufhin nur allzu gern ihre Meinung zu diesem Thema jedem kundtat, der ihr sein Ohr lieh. Und an diesem Morgen war das die New York Times. Fenston war in die Finanzseiten vertieft, als sein Fahrer auf den Franklin-Delano-Roosevelt-Drive bog, und als die Limousine vor dem Nordturm hielt, hatte er die Seiten mit den Nachrufen erreicht. Der einzige Nachruf, an dem er interessiert war, würde frühestens morgen erscheinen, aber noch wusste ja auch niemand in Amerika, dass sie tot war.

»Ich habe um 8 Uhr 30 einen Termin in der Wall Street«, teilte Fenston seinem Chauffeur mit, als der ihm den Wagenschlag öffnete. »Holen Sie mich um 8 Uhr 15 ab.« Der Chauffeur nickte. Fenston marschierte in Richtung Lobby. Obwohl es in dem Gebäude 99 Aufzüge gab, führte nur ein einziger davon direkt ins Restaurant im 107. Stockwerk.

Kaum trat Fenston eine Minute später aus dem Aufzug, entdeckte der Maître seinen Stammgast, nickte leicht mit dem Kopf und führte Fenston zu einem Tisch in der Ecke mit Blick auf die Freiheitsstatue. Als Fenston einmal hatte feststellen müssen, dass sein üblicher Tisch anderweitig vergeben worden war, hatte er sich umgedreht und war schnurstracks wieder im Aufzug verschwunden. Seit jenem Tag blieb der Ecktisch jeden Morgen leer – nur für den Fall.

Fenston überraschte es keineswegs, dass Karl Leapman bereits auf ihn wartete. Leapman war in den zehn Jahren, die er nun schon für Fenston Finance arbeitete, niemals zu spät gekommen. Fenston fragte sich, wie lange Leapman schon dort saß, damit der Vorsitzende nicht womöglich vor ihm eintraf. Fenston sah zu dem Mann herab, der bewiesen hatte, dass es keine Kloake gab, die er für seinen Herrn nicht durchschwimmen würde. Aber Fenston war auch als Einziger bereit gewesen, Leapman nach seiner Entlassung aus dem Knast eine Stelle anzubieten. Aus der Anwaltschaft ausgeschlossene Rechtsanwälte mit einer Gefängnisstrafe wegen Veruntreuung erwarten normalerweise nicht, Vorstandsmitglied zu werden.

Noch bevor Fenston sich gesetzt hatte, fing er schon an zu reden.

»Jetzt, da wir im Besitz des van Gogh sind, müssen wir nur noch eines klären: Wie werden wir Anna Petrescu los, ohne dass sie misstrauisch wird?«

Leapman schlug die vor ihm liegende Akte auf und lächelte.

3

An diesem Morgen war nichts wie geplant gelaufen.

Andrews hatte die Köchin angewiesen, das Frühstückstablett ihrer Ladyschaft sofort nach der Abholung des Gemäldes hinaufzutragen. Die Köchin hatte jedoch einen Migräneanfall bekommen, darum war ihrer Nummer zwei – keinem sehr zuverlässigen Mädchen – die Verantwortung für das Frühstück ihrer Ladyschaft zugefallen. Der Laster der Sicherheitsfirma war vierzig Minuten zu spät aufgetaucht, mit einem unverschämten jungen Fahrer, der nicht eher abfahren wollte, bevor man ihm nicht Kaffee und Kekse angeboten hatte. Die Köchin hätte einen solchen Unsinn niemals geduldet, aber ihre Nummer zwei gab klein bei. Eine halbe Stunde später fand Andrews die beiden plaudernd am Küchentisch vor.

Andrews war sehr erleichtert, dass ihre Ladyschaft sich nicht gerührt hatte, bevor der Fahrer sich endlich auf den Weg machte. Er prüfte das Tablett, faltete die Serviette neu und verließ die Küche, um seiner Herrin das Frühstück zu bringen.

Andrews hielt das Tablett auf der Handfläche der einen Hand, während er mit der anderen leise an die Schlafzimmertür klopfte und diese daraufhin öffnete. Als er ihre Ladyschaft in der Blutlache auf dem Boden liegen sah, schnappte er nach Luft, ließ das Tablett fallen und eilte zur Leiche.

Obwohl klar war, dass Lady Victoria schon seit mehreren Stunden tot sein musste, zog Andrews es nicht in Betracht, die Polizei zu rufen, bevor er nicht den nächsten Anwärter auf das Wentworth-Erbe von der Tragödie in Kenntnis gesetzt hatte. Rasch verließ er das Schlafzimmer und verschloss die Tür. Zum ersten Mal in seinem Leben rannte er die Treppe hinunter.

Arabella Wentworth bediente gerade einen Kunden, als Andrews anrief.

Sie legte den Hörer auf. Dann entschuldigte sie sich bei ihrem Kunden und erklärte, dass sie unverzüglich aufbrechen müsse. Sie drehte das Offen-Schild auf die Geschlossen-Seite und verriegelte die Tür zu ihrem kleinen Antiquitätenladen in der High Street nur wenige Augenblicke, nachdem Andrews das Wort Notfall ausgesprochen hatte, ein Ausdruck, den er in den vergangenen 49 Jahren in ihrem Beisein noch nie in den Mund genommen hatte.

Fünfzehn Minuten später brachte Arabella ihren Mini auf dem Kies vor Wentworth Hall zum Stehen. Andrews wartete bereits auf der obersten Eingangsstufe auf sie.

»Es tut mir überaus leid, Mylady«, sagte er nur, bevor er seine neue Herrin ins Haus und die breite Marmortreppe hinaufführte. Als Andrews dabei am Geländer Halt suchte, wusste Arabella, dass ihre Schwester tot war.

Arabella hatte sich oft gefragt, wie sie in einer Krise reagieren würde. Zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, dass ihr zwar extrem übel wurde, als sie die Leiche ihrer Schwester sah, sie jedoch nicht in Ohnmacht sank. Nach einem zweiten Blick auf ihre Schwester hielt sich Arabella am Bettpfosten fest, dann wandte sie sich ab.

Das Blut war überallhin gespritzt und auf dem Teppich, den Wänden, dem Schreibtisch und sogar der Decke geronnen. Mit herkuleischer Anstrengung ließ Arabella den Bettpfosten los und schwankte zum Telefon auf dem Nachttisch. Sie ließ sich schwer auf das Bett fallen, nahm den Hörer zur Hand und wählte die 999. Als sich eine Stimme mit den Worten »Notrufzentrale, welchen Dienst wünschen Sie bitte?«, meldete, erwiderte sie nur: »Die Polizei.«

Arabella legte anschließend wieder auf. Sie war fest entschlossen, die Schlafzimmertür zu erreichen, ohne noch einmal auf die Leiche ihrer Schwester zu schauen. Doch es gelang ihr nicht. Es war nur ein Blick und dieses Mal fiel er auf den Brief. »Meine liebste Arabella.« Sie packte das unvollendete Schreiben, nicht bereit, die letzten Gedanken ihrer Schwester mit der örtlichen Gendarmerie zu teilen.

4

Anna joggte entlang der East 54th Street nach Westen, vorbei am Museum of Modern Art. Sie überquerte die 6th Avenue und bog dann nach rechts auf die 7th Avenue. Auf die vertrauten Wahrzeichen – die massive LOVE-Skulptur, die die Ecke an der East 55th Street dominierte, sowie die Carnegie Hall – verschwendete sie keinen Blick, als sie die 57th Street überquerte. Ein Großteil ihrer Energie und ihrer Konzentration floss in den Versuch, den frühmorgendlichen Pendlern auszuweichen. Anna hielt den Lauf zum Central Park nur für eine Aufwärmübung und setzte die Stoppuhr an ihrem linken Handgelenk erst in Gang, als sie durch das Artisan Gate in den Central Park einlief.

Sobald Anna einen gleichmäßigen Rhythmus gefunden hatte, versuchte sie, sich auf das Treffen mit dem Vorsitzenden zu konzentrieren, das für acht Uhr an diesem Morgen angesetzt war.

Anna war sowohl überrascht als auch irgendwie erleichtert gewesen, als Bryce Fenston ihr nur wenige Tage, nachdem sie als stellvertretende Leiterin der impressionistischen Abteilung bei Sotheby’s gekündigt hatte, eine Stelle bei Fenston Finance anbot.

Ihr unmittelbarer Vorgesetzter bei Sotheby’s hatte deutlich durchblicken lassen, dass ihr berufliches Fortkommen noch geraume Zeit auf Eis gelegt würde, nachdem sie zugegeben hatte, für den Verlust einer bedeutenden Sammlung an den Hauptkonkurrenten Christie’s verantwortlich gewesen zu sein. Anna hatte den betreffenden Kunden monatelang gehätschelt, umschmeichelt und ihm gut zugeredet, sich bei der Versteigerung des Familienbesitzes für Sotheby’s zu entscheiden, und sie hatte naiverweise angenommen, wenn sie dieses Geheimnis ihrem Geliebten erzählte, würde der es diskret behandeln. Schließlich war er ja Anwalt.

Als der Name des Kunden prompt im Kunstteil der New York Times auftauchte, verlor Anna sowohl ihren Liebhaber als auch ihre Stelle. Da half es auch nicht, dass dieselbe Zeitung einige Tage später berichtete, Dr. Anna Petrescu habe Sotheby’s in »beiderseitigem Einvernehmen« verlassen – ein Euphemismus für den Rauswurf –, und der Kolumnist noch hilfreich anmerkte, dass Anna sich gar nicht erst die Mühe machen solle, sich bei Christie’s um eine Stelle zu bewerben.

Bryce Fenston wohnte regelmäßig allen großen impressionistischen Auktionen bei und hatte Anna dabei nicht übersehen können, die stets neben dem Podium des Auktionators stand und sich Notizen machte. Ihr hatte stets jedwede Andeutung widerstrebt, dass ihr verblüffend gutes Aussehen und ihre durchtrainierte Figur der Grund waren, warum Sotheby’s sie regelmäßig an einer so augenfälligen Position platzierte und sie nicht einfach neben die anderen Deuter an der Seite des Auktionssaales aufstellte.

Anna sah auf ihre Uhr, als sie unter dem Playmates Arch hindurchlief: zwei Minuten 18 Sekunden. Sie hatte immer das Ziel, die Schleife in zwölf Minuten zu laufen. Das war nicht besonders schnell, aber es ärgerte sie dennoch, wenn sie überholt wurde, und das machte sie vor allem dann rasend, wenn eine Frau sie überholte. Anna war beim letztjährigen New York Marathon allerdings als 97. ins Ziel eingelaufen, darum wurde sie bei ihrer morgendlichen Runde im Central Park nur selten von etwas auf zwei Beinen überrundet.

Ihre Gedanken kehrten zu Bryce Fenston zurück. Die Insider der Kunstwelt – Auktionshäuser, die führenden Galerien und private Händler – hatten schon seit einiger Zeit gewusst, dass Fenston eine der größten impressionistischen Sammlungen anhäufte. Neben Steve Wynn, Leonard Lauder, Anne Dias und Takashi Nakamura gehörte er regelmäßig zu den letzten Bietern bei großen Auktionen. Bei solchen Sammlern verwandelte sich ein unschuldiges Hobby rasch in eine Sucht und wurde so intensiv wie ein Drogenrausch. Für Fenston, der von allen großen Impressionisten außer van Gogh mindestens ein Werk besaß, war allein der Gedanke, eine Arbeit des holländischen Meisters zu erwerben, wie ein Schuss pures Heroin, und sobald er einen Kauf getätigt hatte, sehnte er sich bereits nach dem nächsten Schuss, begab sich wie ein zittriger Süchtiger auf die Suche nach einem Dealer. Und dieser Dealer war Anna Petrescu.

Als Fenston in der New York Times las, dass Anna Sotheby’s verlassen hatte, bot er ihr sofort eine Stelle in seinem Vorstand an, mit einem Gehalt, das widerspiegelte, wie ernst es ihm mit dem weiteren Ausbau seiner Sammlung war. Den Ausschlag gab für Anna, dass Fenston ebenfalls aus Rumänien stammte. Er rief Anna immer wieder ins Gedächtnis, dass er ebenso wie sie dem tyrannischen Regime Ceauceșcus entronnen war und in Amerika eine Zuflucht gefunden hatte.

Innerhalb weniger Tage nach ihrem Eintritt in die Bank unterzog Fenston Annas Fachwissen einer Prüfung. Die meisten Fragen, die er ihr bei ihrem ersten Mittagessen stellte, betrafen Annas Kenntnisse hinsichtlich der großen Sammlungen, die sich in zweiter oder dritter Generation immer noch in Familienbesitz befanden. Nach sechs Jahren bei Sotheby’s kam kaum eine bedeutende impressionistische Arbeit unter den Hammer, die nicht durch Annas Hände gelaufen oder zumindest von ihr begutachtet und dann ihrer Datenbank hinzugefügt worden war.

Eine der Lektionen, die Anna schon kurz nach ihrer Einstellung bei Sotheby’s gelernt hatte, war, dass es sich bei altem Geld eher um den Verkäufer und bei neuem Geld eher um den Käufer handelte, und so war sie ursprünglich auch in Kontakt mit Lady Victoria Wentworth gekommen, der ältesten Tochter des siebten Earl of Wentworth – altes, altes Geld – und zwar im Auftrag von Bryce Fenston – nouveau, nouveau riche.

Anna staunte über Fenstons Besessenheit in Hinblick auf die Sammlungen anderer Leute, bis sie herausfand, dass es seine Firmenpolitik war, Kunstwerke als Sicherheit für die Vergabe riesiger Kredite zu nehmen. Nur wenige Banken waren bereit, »Kunst« als Sicherheit in Betracht zu ziehen, gleichgültig in welcher Form. Grundbesitz, Wertpapiere, Häuser, sogar Schmuck, aber nur selten Kunst. Banker verstanden den Markt oft nicht und zögerten, den Kunstbesitz ihrer Kunden einzuziehen, nicht zuletzt deshalb, weil das Lagern der Kunstwerke, ihre Versicherung und schließlich der Verkauf häufig nicht nur zeitaufwendig waren, sondern auch unpraktisch. Fenston Finance bildete die große Ausnahme. Anna brauchte nicht lange, um den Grund dafür herauszufinden. Fenston liebte die Kunst nicht wirklich und kannte sich nicht einmal besonders gut aus. Aber es dauerte lange, bis Anna seine wahren Absichten durchschaute.

Einer der ersten Aufträge führte Anna nach England. Sie sollte den Wert des Besitzes von Lady Victoria Wentworth schätzen, einer potenziellen Kundin, die bei Fenston Finance ein beträchtliches Darlehen beantragt hatte. Die Wentworth-Sammlung erwies sich als typisch englisch. Der zweite Earl, ein exzentrischer Aristokrat mit viel Geld, beachtlichem Geschmack und einem guten Auge, hatte sie aufgebaut und war von späteren Generationen als begabter Amateur eingestuft worden. Von seinen Landsleuten hatte er Romney, West, Constable, Stubbs und Morland erworben, außerdem einen herrlichen Turner: Sonnenuntergang in Plymouth.

Der dritte Earl zeigte keinerlei Interesse an künstlerischen Dingen, darum setzte die Sammlung Staub an, bis der vierte Earl den Besitz erbte. Und der besaß den scharfen Kennerblick seines Großvaters.

Jamie Wentworth verbrachte fast ein Jahr fern seiner Heimat im Exil, währenddessen er sich dem unterzog, was man seinerzeit die »Große Bildungsreise« nannte. Er besuchte Paris, Amsterdam, Rom, Florenz, Venedig und Sankt Petersburg, dann kehrte er mit einem Raphael, einem Tintoretto, einem Tizian, einem Rubens, einem Holbein und einem van Dyck nach Wentworth Hall zurück – ganz zu schweigen von seiner italienischen Ehefrau. Charles, der fünfte Earl, war ebenfalls Sammler: nicht von Gemälden, sondern von Mätressen. Nach einem intensiven Wochenende in Paris – hauptsächlich auf der Rennbahn von Longchamp und später in einem Schlafzimmer im Crillon – überzeugte ihn seine damalige Gespielin, ihrem Arzt ein Gemälde von einem unbekannten Künstler abzukaufen. Charlie Wentworth kehrte nach England zurück, nachdem er die Geliebte abgelegt hatte, aber das Gemälde war ihm geblieben. Er verbannte es in ein Gästezimmer, obwohl mittlerweile viele Kunstliebhaber das Selbstporträt mit abgeschnittenem Ohr zu van Goghs besten Arbeiten zählten.

Anna hatte Fenston bereits gewarnt, vorsichtig zu sein, wenn es darum ging, einen van Gogh zu erstehen, denn die Zuschreibungen waren häufig dubioser als Wall Street Banker – ein Vergleich, den Fenston so gar nicht schätzte. Sie erklärte ihm, dass in privaten Sammlungen mehrere Fälschungen hingen, selbst in ein oder zwei großen Museen, einschließlich dem Nationalmuseum von Oslo. Aber nachdem Anna die Papiere geprüft hatte, die zum Selbstporträt von Vincent van Gogh gehörten und unter denen sich ein Brief von Dr. Gachet befand, in dem er Charles Wentworth namentlich nannte, dazu eine Quittung über 800 Francs aus dem Originalverkauf und ein Echtheitszertifikat, ausgestellt von Madame Telleband vom Van Gogh Museum in Amsterdam, war sie sich sicher genug, um dem Vorsitzenden zu bestätigen, dass dieses herrliche Porträt tatsächlich aus der Hand des Meisters stammte.

Für Van-Gogh-Süchtige stellte das Selbstporträt mit abgeschnittenem Ohr den ultimativen Kick dar. Obwohl der Meister in seinem Leben 35 Selbstporträts gemalt hatte, versuchte er sich nur noch zwei Mal daran, nachdem er sich nach einem Streit mit seinem Freund Paul Gauguin das linke Ohr abgetrennt hatte.

Was gerade dieses Werk für alle ernsthaften Sammler so heraushob, war der Umstand, dass das andere in einem Nationalmuseum hing. Anna machte sich immer größere Sorgen, wie weit Fenston zu gehen bereit war, um dieses zweite Selbstporträt in seinen Besitz zu bringen.

Anna verbrachte zehn angenehme Tage in Wentworth Hall, wo sie die Sammlung der Familie katalogisierte und schätzte. Als sie nach New York zurückkehrte, erklärte Anna dem Vorstand – der in erster Linie aus Fenstons Busenfreunden bestand beziehungsweise aus Politikern, die nur allzu freudig milde Gaben annahmen –, dass der Wert des Darlehens in Höhe von 40 Millionen Dollar mehr als abgedeckt wäre, falls jemals ein Verkauf nötig werden sollte.

Obwohl Anna sich nicht dafür interessierte, warum Lady Wentworth eine derart hohe Summe benötigte, hörte sie Victoria während ihres Aufenthaltes in Wentworth Hall häufig von ihrer Trauer über den »vorzeitigen Tod unseres lieben Papas« sprechen, von der Pensionierung ihres altvertrauten Vermögensverwalters und der schreienden Ungerechtigkeit von vierzig Prozent Erbschaftssteuer. »Wenn nur Arabella einige Augenblicke früher zur Welt gekommen wäre …«, lautete eines der Lieblings-Mantras von Victoria.

Anna erinnerte sich später an jedes Gemälde und jede Skulptur in Victorias Sammlung, ohne in ihren Papieren nachsehen zu müssen. Die besondere Gabe, die sie von ihren Kommilitonen an der Penn und ihren Kollegen bei Sotheby’s abhob, war ihr fotografisches Gedächtnis. Sobald Anna ein Gemälde gesehen hatte, vergaß sie weder das Bild noch seine Herkunft oder den Ort seiner Hängung. Jeden Sonntag stellte sie ihr Talent auf die Probe, indem sie eine neue Galerie besuchte, einen anderen Raum im Met oder einfach den neuesten Katalog studierte. Sobald sie in ihre Wohnung zurückkehrte, schrieb sie den Namen jedes Gemäldes auf, das sie gesehen hatte, bevor sie es in den diversen Katalogen verifizierte. Seit Anna die Universität verlassen hatte, waren der Louvre, der Prado und die Uffizien ihrem Gedächtnisspeicher hinzugefügt worden, ebenso die Nationalgalerie in Washington sowie das Phillips Museum und das Getty Museum. 37 private Sammlungen und zahllose Kataloge waren ebenfalls in der Datenbank ihres Gehirns gespeichert. Ein Schatz, für den Fenston nur zu gern mehr als das Übliche zahlte.

Annas Aufgaben reichten nicht weiter, als die Sammlungen potenzieller Bankkunden zu schätzen und anschließend dem Vorstand einen schriftlichen Bericht einzureichen. Sie wurde niemals in Vertragsverhandlungen einbezogen. Das oblag ausschließlich dem hauseigenen Anwalt der Bank, Karl Leapman. Allerdings hatte Victoria einmal erwähnt, dass die Bank ihr den astronomischen Zinssatz von sechzehn Prozent berechnete, und Anna merkte schnell, dass die Kombination aus Schulden, Naivität und einem Mangel an finanziellem Fachwissen der Dünger war, auf dem Fenston Finance gedieh. Die Bank zehrte von der Unfähigkeit ihrer Kunden, ihre Schulden zu bezahlen.

Anna machte größere Schritte, als sie am Carousel-Gebäude vorbeikam, und sah auf die Uhr – zwölf Sekunden hinter der Bestzeit. Sie runzelte die Stirn. Wenigstens hatte niemand sie überholt. Ihre Gedanken kehrten zu der Wentworth-Sammlung zurück und zu der Empfehlung, die sie an diesem Morgen Fenston gegenüber aussprechen würde. Anna hatte beschlossen, ihre Stelle zu kündigen, falls der Vorsitzende ihrem Rat nicht folgen würde – trotz des Umstandes, dass sie weniger als ein Jahr für die Firma gearbeitet hatte, und trotz des schmerzvollen Wissens, dass sie immer noch nicht hoffen durfte, von Christie’s eingestellt zu werden.

In den letzten zwölf Monaten hatte sie gelernt, mit Fenstons Eitelkeit zu leben und sogar die gelegentlichen Wutausbrüche zu tolerieren, wenn es einmal nicht nach seinem Kopf ging, aber sie konnte es unmöglich gutheißen, dass er eine Kundin in die Irre führte, besonders nicht eine so naive wie Victoria Wentworth. Fenston Finance nach so kurzer Zeit zu verlassen, mochte sich auf ihrem Lebenslauf nicht besonders gut ausnehmen, aber eine laufende Untersuchung wegen Betrugs würde weitaus schlimmer aussehen.

5

»Wann erfahren wir, ob sie tot ist?«, fragte Leapman und nippte an seinem Kaffee.

»Ich erwarte noch heute Morgen die Bestätigung«, erwiderte Fenston.

»Gut, denn ich muss mich mit ihrem Anwalt in Verbindung setzen, um ihn daran zu erinnern …«, er schwieg kurz, »… dass im Falle verdächtiger Umstände, die zum Tod führten …«, er schwieg erneut, »… Erfüllungsort und Gerichtsstand für den Vertrag New York ist.«

»Seltsam, dass keiner von denen jemals diesen Passus des Vertrages beanstandet hat.«

»Warum sollten sie?«, entgegnete Leapman. »Schließlich konnten sie ja nicht wissen, dass sie sterben würden.«

»Gibt es Grund zu der Annahme, dass die Polizei uns damit in Verbindung bringen wird?«

»Nein«, erwiderte Leapman. »Sie haben sich nie mit Victoria Wentworth getroffen, Sie haben den Originalvertrag nicht unterschrieben, Sie haben nicht einmal das Gemälde gesehen.«

»Das hat niemand, abgesehen von der Familie Wentworth und Anna Petrescu«, rief ihm Fenston in Erinnerung. »Ich muss aber wissen, wie viel Zeit verstreichen sollte, bevor ich ohne Bedenken …«

»Schwer zu sagen, aber es kann Jahre dauern, bis die Polizei zugibt, dass sie keinen Verdächtigen hat. Vor allem in einem derart hochkarätigen Fall.«

»Zwei Jahre reichen völlig aus«, erklärte Fenston. »Bis dahin sind die Zinsen für das Darlehen so weit aufgelaufen, dass ich den van Gogh behalten und den Rest der Sammlung verkaufen kann, ohne Einbußen an meiner ursprünglichen Investition.«

»Dann ist es ja gut, dass ich den Bericht der Petrescu gerade noch rechtzeitig gelesen habe«, meinte Leapman. »Weitere 48 Stunden und wir hätten den van Gogh verloren.«

»Stimmt«, sagte Fenston. »Aber jetzt müssen wir uns einen Weg überlegen, wie wir die Petrescu loswerden können.«

Leapman lächelte schmallippig. »Das ist nicht weiter schwer. Wir bedienen uns einer ihrer Schwächen.«

»Als da wäre?«, fragte Fenston.

»Ihre Ehrlichkeit.«

Arabella saß allein im Salon, unfähig, die Geschehnisse um sich herum aufzunehmen. Eine Tasse Earl Grey auf dem Tisch neben ihr war bereits erkaltet, doch sie bemerkte es nicht. Das lauteste Geräusch im Zimmer war das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims. Für Arabella war die Zeit stehen geblieben.

Mehrere Streifenwagen und ein Krankenwagen parkten draußen auf dem Kies. Uniformierte gingen ihren Geschäften nach, kamen und gingen, ohne sie zu belästigen.

Plötzlich klopfte es leise an die Tür. Arabella sah auf und entdeckte einen alten Freund auf der Schwelle. Als der Chief Superintendent den Raum betrat, nahm er die Mütze ab, die auf seinem silbergrauen Schopf thronte. Stephen Renton sprach sein Beileid aus, das von Herzen kam; er hatte Victoria viele Jahre gekannt. Arabella erhob sich vom Sofa, mit aschfahlem Gesicht, die Augen rot vom Weinen. Der groß gewachsene Mann beugte sich vor und küsste sie sanft auf beide Wangen, dann wartete er, bis sie sich wieder gesetzt hatte, bevor er sich in dem Ledersessel ihr gegenüber niederließ.

Anfangs sprach keiner von ihnen, dann setzte sich Arabella abrupt auf und verlangte zu wissen: »Wer kann so etwas Schreckliches getan haben? Wer kann einem so unschuldigen Geschöpf wie Victoria so etwas angetan haben?«

»Auf diese Frage scheint es keine einfache oder logische Antwort zu geben«, antwortete der Chief Superintendent. »Und es hilft auch nicht, dass mehrere Stunden vergangen sind, bis ihre Leiche gefunden wurde. Dadurch hatte der Täter genug Zeit, um sich aus dem Staub zu machen.« Er hielt inne. »Fühlen Sie sich schon in der Lage, ein paar Fragen zu beantworten, meine Liebe?«

Arabella nickte.

»Üblicherweise würde meine erste Frage bei einer Mordermittlung lauten, ob Ihre Schwester Feinde hatte, aber da ich Victoria kannte, scheint mir das unmöglich. Ich muss Sie allerdings fragen, ob Sie von irgendwelchen Problemen wussten, denen sich Victoria gegenübersah, denn …«, er zögerte, »… schon seit einiger Zeit gibt es im Dorf Gerüchte, dass sich Ihre Schwester nach dem Tod Ihres Vaters mit beträchtlichen Schulden konfrontiert sah.«

»Ich weiß es nicht, um ehrlich zu sein«, gestand Arabella. »Nachdem ich Angus geheiratet hatte, kamen wir nur für zwei Wochen im Sommer und alle zwei Jahre zu Weihnachten von Schottland herunter. Erst als mein Ehemann starb, kehrte ich nach Surrey zurück.« Der Chief Superintendent nickte, wollte sie aber nicht unterbrechen. »Da habe ich dieselben Gerüchte gehört. Der Dorfklatsch verbreitete sogar, dass einige Möbel in meinem Laden vom Anwesen stammen würden, damit Victoria das Personal bezahlen konnte.«

»Diese Gerüchte hatten keinen wahren Kern?«, erkundigte sich Stephen Renton.

»Überhaupt keinen«, erwiderte Arabella. »Als Angus starb und ich unsere Farm in Pertshire verkaufte, hatte ich genug Geld, um nach Wentworth zurückzukehren, meinen kleinen Laden zu eröffnen und ein Hobby, das ich schon mein Leben lang gepflegt hatte, zu einem lukrativen Geschäft zu machen. Ich habe jedoch meine Schwester mehrmals gefragt, ob die Gerüchte um Vaters pekuniäre Lage der Wahrheit entsprachen. Victoria leugnete, dass es Probleme gab, und behauptete stets, sie habe alles unter Kontrolle. Aber natürlich hatte sie Vater angebetet; in ihren Augen konnte er einfach nichts falsch machen.«

»Können Sie sich irgendeinen Grund denken, warum …«

Arabella erhob sich vom Sofa und ging wortlos zum Schreibtisch auf der anderen Seite des Raumes. Sie nahm den blutverschmierten Brief, den sie auf dem Schreibtisch ihrer Schwester gefunden hatte, kam zurück und reichte ihn dem Chief Superintendent.

Renton las das unvollendete Schreiben zwei Mal, bevor er fragte:

»Haben Sie irgendeine Ahnung, was Victoria dann mit ›dass sich eine Lösung eröffnet hat‹ gemeint haben könnte?«

»Nein«, räumte Arabella ein, »aber es wäre möglich, dass ich diese Frage beantworten kann, sobald ich mich mit Arnold Simpson unterhalten habe.«

»Das erfüllt mich nicht mit Zuversicht«, meinte Stephen Renton. Arabella registrierte seinen Kommentar, erwiderte aber nichts darauf. Sie wusste, dass der natürliche Instinkt des Chief Superintendent ihn veranlasste, allen Anwälten zu misstrauen, die ihre Überzeugung, sie seien jedem Polizisten haushoch überlegen, nicht zu verbergen vermochten.

Der Chief Superintendent erhob sich aus dem Sessel, ging zu Arabella und setzte sich neben sie. Er nahm ihre Hand. »Rufen Sie mich an, wann immer Sie wollen«, bot er einfühlsam an. »Und versuchen Sie, nicht allzu viele Geheimnisse vor mir zu verbergen, Arabella, denn ich muss alles wissen – und ich meine wirklich alles –, wenn wir denjenigen finden wollen, der Ihre Schwester ermordet hat.«

Arabella erwiderte nichts.

»Verdammt«, murmelte Anna, als ein sportlicher, dunkelhaariger Mann lässig an ihr vorbeijoggte, wie er es in den letzten Wochen schon mehrmals getan hatte. Er sah sich nicht um – das taten ernsthafte Läufer nie. Anna wusste, dass es sinnlos war, mit ihm mithalten zu wollen, da ihre Beine schon nach 100 Metern den Dienst versagen würden. Anna hatte einmal aus den Augenwinkeln einen Blick auf den geheimnisvollen Mann geworfen, aber dann war er schon an ihr vorbeigerauscht und sie hatte nur noch den Rücken seines smaragdgrünen T-Shirts gesehen, während er zu den Strawberry Fields gelaufen war. Anna versuchte, ihn zu vergessen und sich wieder auf ihren Termin mit Fenston zu konzentrieren.

Eine Kopie ihres Berichts hatte Anna bereits an das Büro des Vorsitzenden geschickt und darin empfohlen, dass die Bank das Selbstporträt so schnell wie möglich verkaufen sollte. Sie kannte einen Sammler in Tokio, der von van Gogh besessen war und immer noch über genügend Yen verfügte, um das auch unter Beweis zu stellen. Und bei diesem besonderen Gemälde gab es eine weitere Schwäche, die sie ausnützen konnten und auf die sie in ihrem Bericht hingewiesen hatte. Van Gogh hatte die japanische Kunst immer bewundert, darum hatte er bei seinem Selbstporträt auf die Wand hinter sich eine Abbildung von Geisha in Landschaft eingefügt, was nach Annas Meinung das Gemälde für Takashi Nakamura noch unwiderstehlicher machen würde.

Nakamura war der Vorstandsvorsitzende des größten Stahlkonzerns in Japan, doch in den letzten Jahren hatte er mehr und mehr Zeit darauf verwendet, seine Kunstsammlung aufzubauen, die, wie er hatte verlautbaren lassen, Teil einer Stiftung werden sollte, welche nach seinem Tod an den Staat gehen würde. Anna hielt es außerdem für einen Vorteil, dass Nakamura eine höchst verschwiegene Persönlichkeit besaß und er die Feinheiten seiner Privatsammlung mit typisch japanischer Unergründlichkeit für sich behielt. Ein solcher Verkauf würde Victoria Wentworth erlauben, das Gesicht zu wahren – etwas, das die Japaner nur zu gut verstanden. Anna hatte für Nakamura einmal einen Degas erworben, Tanzstunde bei Madame Minette. Der Verkäufer hatte das Gemälde privat veräußern wollen, eine Dienstleistung, die große Auktionshäuser all jenen anboten, die den neugierigen Augen der Journaille bei den Versteigerungen entgehen wollten. Anna war zuversichtlich, dass Nakamura mindestens 60 Millionen Dollar für dieses seltene holländische Meisterwerk bieten würde. Wenn Fenston also ihren Vorschlag annahm – und warum sollte er nicht? –, wären alle Parteien mit dem Ergebnis zufrieden.

Als Anna an der Tavern on the Green vorbeikam, sah sie erneut auf ihre Uhr. Sie musste an Tempo zulegen, wenn sie immer noch in unter zwölf Minuten wieder am Artisans Gate sein wollte. Als sie den Hügel hinuntersprintete, dachte sie über die Tatsache nach, dass ihre persönlichen Gefühle für einen Kunden ihr Urteilsvermögen eigentlich nicht trüben sollten, aber tatsächlich brauchte Victoria Wentworth alle Hilfe, die sie kriegen konnte. Als Anna durch das Artisans Gate kam, drückte sie den Knopf auf ihrer Stoppuhr: zwölf Minuten und vier Sekunden. Verdammt!

Anna joggte langsam in Richtung ihrer Wohnung. Sie bemerkte nicht, dass sie dabei von dem Mann in dem smaragdgrünen T-Shirt aufmerksam beobachtet wurde.

6

Jack Delaney war sich immer noch nicht sicher, ob Anna Petrescu eine Kriminelle war.

Der FBI-Agent beobachtete, wie sie auf dem Rückweg zum Thornton House in der Menge verschwand. Sobald sie außer Sicht war, joggte er über Sheep Meadow auf den See zu. Er dachte über die Frau nach, die er in den vergangenen sechs Wochen observiert hatte. Eine Ermittlung, die von dem Umstand behindert worden war, dass Anna nicht herausfinden sollte, dass sie auch ihren Chef unter Beobachtung hatten, bei dem es sich ohne jeden Zweifel um einen Kriminellen handelte.

Es war nun fast ein Jahr her, seit Richard W. Macy, Jacks vorgesetzter Special Agent, ihn in sein Büro gerufen und ihm für einen Sonderauftrag ein Team aus acht Agenten unterstellt hatte. Jack sollte drei heimtückische Morde auf drei unterschiedlichen Kontinenten untersuchen, die nur zwei Dinge gemeinsam hatten: Jedem der Opfer war die Kehle durchtrennt worden und das zu einer Zeit, als sie jeweils gewaltige Kredite bei Fenston Finance abzuzahlen hatten. Jack war sicher, dass es sich um die Arbeiten eines Profikillers handelte.

Auf dem Weg zu seinem kleinen Apartment nahm Jack an der West Side die Abkürzung durch den Shakespeare Garden. Er hatte seinen Bericht über Fenstons neueste Rekrutin so gut wie fertig, obwohl er sich immer noch nicht sicher war, ob es sich bei ihr um eine willige Komplizin oder um ein naives Unschuldslamm handelte. Jack hatte mit Annas Herkunft begonnen und festgestellt, dass ihr Onkel, George Petrescu, 1972 aus Rumänien ausgewandert war und sich in Danville, Illinois, niedergelassen hatte. Wenige Wochen, nachdem sich Ceauceșcu selbst zum Präsidenten hatte ausrufen lassen, schrieb George seinem Bruder und flehte ihn an, zu ihm nach Amerika zu kommen. Als Ceauceșcu Rumänien zur sozialistischen Republik erklärte und seine Ehefrau Elena zu seiner Stellvertreterin ernannte, schrieb George seinem Bruder erneut und wiederholte seine Einladung, die auch für seine kleine Nichte Anna galt. Obwohl Annas Eltern sich weigerten, ihre Heimat zu verlassen, erlaubten sie ihrer siebzehnjährigen Tochter im Jahr 1987, sich aus Bukarest herausschmuggeln zu lassen und sich nach Amerika einzuschiffen, wo sie bei ihrem Onkel leben sollte. Sie musste nur versprechen, sofort zurückzukehren, sobald Ceauceșcu entmachtet würde. Anna kehrte niemals zurück. Regelmäßig schrieb sie nach Hause, flehte ihre Mutter an, zu ihr nach Amerika zu kommen, erhielt aber keine Antwort. Zwei Jahre später traf schließlich doch ein Brief ein und sie erfuhr, dass ihr Vater bei dem Versuch, den Diktator zu stürzen, in einem Grenzgefecht getötet worden war. Ihre Mutter jedoch würde ihr Geburtsland niemals verlassen. Ihre letzte Ausrede lautete: »Wer soll sich sonst um das Grab deines Vaters kümmern?«

All das konnte Jacks Team einem Aufsatz entnehmen, den Anna für ihre Highschool-Zeitung verfasst hatte. Einer ihrer Klassenkameraden hatte über das sanfte Mädchen mit den langen blonden Zöpfen und den blauen Augen geschrieben, das aus einem Ort namens Bukarest stammte und bei ihrer Ankunft so wenig Englisch sprach, dass sie bei der morgendlichen Schulversammlung nicht einmal den Treueschwur auf die amerikanische Flagge zitieren konnte. Am Ende ihres ersten Jahres war Anna die Herausgeberin der Schülerzeitung, aus der Jack so viele Informationen gewinnen konnte.

An der Highschool gewann Anna ein Stipendium für die Williams University in Massachusetts, wo sie Kunstgeschichte studierte. Die örtliche Tageszeitung vermeldete, dass sie das universitäre Wettrennen gegen Cornell in einer Zeit von vier Minuten und 48 Sekunden gewonnen hatte. Jack verfolgte Annas weiteren Lebensweg zur University of Pennsylvania, an der sie promovierte und für ihre Doktorarbeit die Fauve-Bewegung untersuchte. Jack musste den Begriff im Lexikon nachschlagen. Er bezog sich auf eine Gruppe von Künstlern, angeführt von Matisse, Derain und Vlaminck, die sich von dem Einfluss der Impressionisten befreien und sich der abstrakten Kunst zuwenden wollten. Er erfuhr auch, dass der junge Picasso Spanien verlassen hatte, um sich dieser Gruppe in Paris anzuschließen, wo er die Öffentlichkeit mit Gemälden wie Paris Match schockierte, das Kunstkritiker zur Beruhigung ihrer Leserschaft mit den Worten »nicht von dauerhafter Bedeutung: Die Vernunft wird zurückkehren« beschrieben. Daraufhin wollte Jack mehr über Vuillard, Luce und Camois lesen – Künstler, von denen er bis dahin noch nie gehört hatte. Aber das musste warten, bis er nach Dienstschluss Zeit dafür fand, außer er könnte dadurch Beweise erlangen, um Fenston festzunageln.

Nach ihrem Studium an der University of Pennsylvania ging Dr. Petrescu als Trainee zu Sotheby’s. Ab da wurden Jacks Informationen vage, da er seinen Agenten nur beschränkten Kontakt mit ihren ehemaligen Kollegen und Kolleginnen erlauben konnte. Er erfuhr jedoch von ihrem fotografischen Gedächtnis, ihrer konsequenten Gelehrsamkeit und der Tatsache, dass alle sie mochten, vom Portier bis zum Vorsitzenden. Doch niemand wollte offen darüber sprechen, was »in gegenseitigem Einvernehmen« bedeutete, obwohl er herausfand, dass sie bei Sotheby’s unter dem gegenwärtigen Management nicht wieder willkommen sein würde. Jack konnte sich nicht vorstellen, warum sie trotz ihrer Probleme jemals ernsthaft darüber nachgedacht hatte, zu Fenston Finance zu gehen. Dieser Teil seiner Untersuchung beruhte ausschließlich auf Spekulationen, da er es nicht riskieren konnte, jemanden von der Bank zu fragen, obwohl offensichtlich war, dass Tina Forster, die Sekretärin des Vorsitzenden, sich eng mit Anna angefreundet hatte.

In der kurzen Zeitspanne, die Anna für Fenston Finance arbeitete, hatte sie mehrere Neukunden der Bank aufgesucht, die vor Kurzem umfangreiche Kredite aufgenommen hatten und die allesamt bedeutende Kunstsammlungen besaßen. Jack fürchtete, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis einer von ihnen dasselbe Schicksal erleiden würde wie Fenstons frühere drei Opfer.

Während Jack zur West 86th Street joggte, gingen ihm drei Fragen durch den Kopf, die immer noch auf eine Antwort warteten: Erstens, wie lange hatte Fenston Petrescu schon gekannt, bevor sie zur Bank kam? Zweitens, hatten sie oder ihre Familien bereits in Rumänien Kontakt? Und drittens, war Anna Petrescu die Auftragsmörderin?

Ohne darauf zu warten, dass Leapman seinen Kaffee ausgetrunken hatte, kritzelte Fenston seine Unterschrift auf die Frühstücksrechnung, stand auf und marschierte aus dem Restaurant. Er trat in den Aufzug und wartete, dass Leapman den Knopf zum 83. Stockwerk drückte. Eine Gruppe Japaner in dunkelblauen Anzügen und schlichten Seidenkrawatten stieg mit ein. Sie hatten ebenfalls im Windows on the World gefrühstückt. Fenston sprach in Aufzugskabinen niemals über geschäftliche Angelegenheiten; ihm war sehr wohl bewusst, dass mehrere Konkurrenten in den Stockwerken über und unter ihm residierten.

Als sich die Aufzugstüren im 83. Stock öffneten, folgte Leapman seinem Herrn und Meister aus der Kabine, entfernte sich jedoch dann zur anderen Seite und begab sich direkt zu Petrescus Büro. Er öffnete ihre Tür ohne anzuklopfen und stieß auf Annas Assistentin Rebecca. Sie bereitete gerade die Akten vor, die Anna für ihr Treffen mit dem Vorsitzenden benötigen würde. Leapman bellte eine Reihe von Anweisungen, die keine Fragen zuließen. Rebecca legte sofort die Akten auf Annas Schreibtisch ab und machte sich auf die Suche nach einem großen Pappkarton.

Leapman kehrte in den Flur zurück und marschierte in das Büro des Vorsitzenden, um die Taktik für den Showdown mit Anna durchzugehen. Obwohl sie dieselbe Prozedur in den vergangenen acht Jahren bereits drei Mal durchgezogen hatten, warnte Leapman den Vorsitzenden, dass es dieses Mal anders laufen könnte.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Fenston.

»Ich denke nicht, dass die Petrescu einfach kampflos gehen wird«, erklärte Leapman.

»Ich kann es kaum erwarten.« Fenston rieb sich die Hände.

»Herr Vorsitzender, unter den gegebenen Umständen wäre es vielleicht vernünftiger, wenn ich …«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihr Gespräch. Fenston sah Barry Steadman, den Sicherheitschef der Bank, in der Tür stehen.

»Tut mir leid, Sie zu stören, Herr Vorsitzender, aber da ist ein FedEx-Kurier, der behauptet, ein Päckchen für Sie zu haben, für das niemand anderes zeichnen darf.«

Fenston winkte den Kurier herein und setzte in dem kleinen, länglichen Gerät wortlos seine Unterschrift neben seinen Namen. Leapman sah zu, doch keiner von ihnen sprach, solange der Kurier nicht gegangen war und Barry die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Ist es das, was ich glaube?«, fragte Leapman leise.

»Das werden wir gleich feststellen.« Fenston riss das Päckchen auf und leerte den Inhalt auf den Schreibtisch.

Sie starrten beide auf das linke Ohr von Victoria Wentworth.

»Sorgen Sie dafür, dass die Krantz die andere halbe Million erhält«, ordnete Fenston an. Leapman nickte. »Wie passend«, meinte Fenston und betrachtete den wertvollen Diamantohrring.

Anna war kurz nach sieben mit dem Packen fertig. Sie stellte ihren Koffer in den Flur, um ihn nach der Arbeit auf dem Weg zum Flughafen gleich mitnehmen zu können. Ihr Flug nach London ging um 17 Uhr 40 und sollte am folgenden Tag kurz vor Sonnenaufgang in Heathrow eintreffen. Anna zog den Nachtflug vor, bei dem sie schlafen konnte und immer noch genug Zeit hatte, um sich herzurichten, bevor sie sich zum Mittagessen mit Victoria in Wentworth Hall traf. Sie hoffte nur, dass Victoria ihren Bericht gelesen hatte und einsah, dass ein Verkauf des van Gogh eine simple Lösung für all ihre Probleme darstellte.

Anna verließ ihr Apartmentgebäude kurz nach 7 Uhr 20 zum zweiten Mal an diesem Morgen. Sie rief sich ein Taxi – eine Extravaganz, aber gerechtfertigt, da sie für den Vorsitzenden so gut wie möglich aussehen wollte. Sie setzte sich in den Fond und prüfte im Schminkspiegel ihr Aussehen. Ihr vor Kurzem erstandenes Anand-Jon-Kostüm und die weiße Seidenbluse verdrehten sicher einigen die Köpfe. Obwohl manch einer über ihre schwarzen Turnschuhe staunen würde.

Das Taxi bog auf den FDR-Drive und legte an Geschwindigkeit zu. Anna holte ihr Handy hervor. Es gab drei Nachrichten, um die sie sich aber erst nach dem Treffen kümmern würde: eine von ihrer Sekretärin Rebecca, die dringend mit ihr sprechen wollte, was Anna überraschte, da sie einander doch in wenigen Minuten sehen würden; eine Bestätigung ihres Fluges durch British Airways und eine Einladung zum Abendessen von Robert Brooks, dem neuen Vorsitzenden von Bonhams.

Zwanzig Minuten später hielt ihr Taxi vor dem Eingang zum Nordturm. Anna bezahlte den Fahrer und sprang hinaus, um sich einem Meer von Arbeitsbienen anzuschließen, die zum Eingang und durch die Drehkreuze eilten. Sie nahm ebenfalls den Expressaufzug und weniger als eine Minute später trat sie auf den dunkelgrünen Teppich des Managementstockwerks. Anna hatte im Aufzug einmal mitgehört, dass jedes Stockwerk eine Fläche von 4000 Quadratmetern einnahm und ungefähr 50 000 Menschen in dem Gebäude arbeiteten, das niemals geschlossen war.

Anna begab sich direkt in ihr Büro und war überrascht, dass Rebecca dort nicht auf sie wartete, vor allem da Rebecca wusste, wie wichtig der Acht-Uhr-Termin war. Aber zu ihrer Erleichterung sah Anna, dass alle wichtigen Akten sauber auf ihrem Schreibtisch aufgehäuft lagen. Sie prüfte noch einmal, ob auch die Reihenfolge stimmte, die sie vorgegeben hatte. Anna hatte immer noch ein paar Minuten übrig, darum nahm sie sich noch einmal die Wentworth-Akte vor und las ihren Bericht durch. »Der Wert des Wentworth-Besitzes verteilt sich auf mehrere Kategorien. Als Erstes sollten wir in Erwägung ziehen …«

Tina Forster stand erst nach sieben Uhr auf. Ihr Termin beim Zahnarzt war für 8 Uhr 30 angesetzt und Fenston hatte deutlich gemacht, dass sie an diesem Morgen nicht pünktlich sein musste. Für gewöhnlich bedeutete das, dass er einen Termin außerhalb der Stadt wahrnahm oder jemanden feuern wollte. Bei Letzterem wollte er sie nicht im Büro haben, sie hätte sonst nur Mitgefühl mit dem Betroffenen gezeigt, der soeben seinen Job verloren hatte. Tina wusste, dass es sich dabei nicht um Leapman handeln konnte, da Fenston niemals ohne den Mann überleben würde. Und obwohl es ihr gefallen hätte, wenn es Barry Steadman treffen würde, konnte sie davon nur träumen, denn er ließ niemals eine Gelegenheit aus, dem Vorsitzenden um den Bart zu gehen, und Fenston sog Schmeicheleien auf wie ein Naturschwamm, der auf die nächste Welle wartete.

Tina räkelte sich in ihrem Badewasser – ein Luxus, den sie sich normalerweise nur am Wochenende gönnte – und fragte sich, wann sie wohl gefeuert werden würde. Sie war seit über einem Jahr Fenstons persönliche Assistentin und obwohl sie den Mann und alles, wofür er stand, verachtete, hatte sie dennoch versucht, sich unentbehrlich zu machen. Tina wusste, dass sie erst kündigen konnte, wenn …

In ihrem Schlafzimmer klingelte das Telefon, aber sie machte sich nicht die Mühe, den Anruf entgegenzunehmen. Sie ging davon aus, dass es Fenston war, der wissen wollte, wo er eine bestimmte Akte, eine Telefonnummer oder sogar seinen Terminkalender finden konnte. »Vor Ihnen auf dem Schreibtisch«, lautete für gewöhnlich die Antwort. Tina fragte sich einen Augenblick lang, ob es Anna sein könnte, die einzige echte Freundin, die sie gefunden hatte, seit sie von der Westküste hierher gezogen war. Unwahrscheinlich, schloss sie, da Anna ihren Bericht um acht Uhr präsentieren musste und wahrscheinlich in diesem Augenblick zum zwanzigsten Mal die Einzelheiten durchging.

Tina lächelte, als sie aus der Wanne stieg und ein Badetuch um ihren Körper wickelte. Sie schlenderte durch den Flur in ihr Schlafzimmer. Wann immer ein Gast eine Nacht in ihrem winzigen Apartment verbrachte, musste er entweder das Bett mit ihr teilen oder auf dem Sofa schlafen. Es gab keine Alternative, da sie nur ein Schlafzimmer besaß. Aber in letzter Zeit hatte sie nicht viele Übernachtungsgäste gehabt und das lag nicht an mangelnden Angeboten. Doch nach dem, was sie mit Fenston durchgemacht hatte, traute Tina niemandem mehr. Vor kurzem hatte sie sich Anna anvertrauen wollen, doch dieses eine Geheimnis durfte sie nicht mit ihr teilen.

Tina zog die Vorhänge auf. Es war zwar September, aber der wolkenlose, strahlende Morgen überzeugte sie davon, ein Sommerkleid zu wählen. Vielleicht würde es sie sogar entspannen, wenn sie zum Bohrer des Zahnarztes aufschaute.

Nachdem sie sich angezogen und ihr Spiegelbild geprüft hatte, ging Tina in die Küche und machte sich eine Tasse Kaffee. Sie durfte nicht frühstücken, nicht einmal Toast – auf Anweisung der grässlichen Zahnarzthelferin –, also schaltete Tina das Fernsehgerät ein, um sich das Morgenmagazin anzusehen. Es gab nichts Neues. Einem Selbstmordbomber auf der Westbank folgte eine 160-Kilo-Frau, die McDonalds verklagte, weil die Fastfoodkette ihr Sexualleben ruiniert hatte. Tina wollte Good Morning America gerade abschalten, als der Quarterback der 49ers auf dem Bildschirm auftauchte.

Sein Anblick ließ Tina an ihren Vater denken.

7

Jack Delaney traf an diesem Morgen kurz nach sieben Uhr in seinem Büro in der Federal Plaza 26 ein. Er fühlte sich deprimiert, als er auf die zahllosen Akten sah, die seinen Schreibtisch zumüllten. Jede einzelne betraf die Ermittlungen über Bryce Fenston. Nach einem Jahr an diesem Fall konnte er seinem Chef immer noch nicht genügend Beweise vorlegen, damit dieser durch einen Richter einen Haftbefehl erwirken konnte.

Jack öffnete Fenstons persönliche Akte in der vagen Hoffnung, er könnte über einen winzigen Hinweis stolpern, eine persönliche Eigenart oder einfach nur einen Fehler, der Fenston endlich mit den drei heimtückischen Morden von Marseille, Los Angeles und Rio de Janeiro in Verbindung brachte.

1984 hatte sich der 32-jährige Nicu Munteanu in der amerikanischen Botschaft in Bukarest eingefunden und behauptet, er könne zwei Spione identifizieren, die im Herzen von Washington arbeiteten – eine Information, die er im Austausch für einen amerikanischen Pass preisgeben wollte. Die Botschaft hatte es Woche für Woche mit einem Dutzend solcher Behauptungen zu tun, aber in Munteanus Fall erwies sich die Information als korrekt. Innerhalb eines Monats saßen zwei hochrangige Beamte im Flugzeug nach Moskau und Munteanu erhielt einen amerikanischen Pass.

Nicu Munteanu landete am 17. Februar 1985 in New York. Jack hatte nur wenig Geheimdienstmaterial über Munteanus Aktivitäten im folgenden Jahr finden können, aber plötzlich besaß der Mann genug Geld, um Fenston Finance zu übernehmen, eine kleine, kränkelnde Bank in Manhattan. Nicu Munteanu änderte seinen Namen in Bryce Fenston – was an sich noch kein Verbrechen war –, aber niemand fand je heraus, wer ihm das Geld gegeben hatte, trotz der Tatsache, dass die Bank in den nächsten Jahren große Einlagen von nicht notierten Firmen aus ganz Osteuropa akzeptierte. Im Jahr 1989 trocknete der Cashflow plötzlich aus. Im selben Jahr flohen Ceauceșcu und seine Frau Elena nach einem Aufstand aus Bukarest. Innerhalb weniger Tage wurden sie gefasst, im Schnellverfahren verurteilt und hingerichtet.

Jack sah aus seinem Fenster über Manhattan und erinnerte sich an die FBI-Maxime: Niemals an Zufall glauben, aber Zufälle auch niemals ausschließen.

Nach Ceauceșcus Tod schien die Bank ein paar magere Jahre durchzumachen, bis Fenston auf Karl Leapman traf, einen von der Anwaltskammer ausgeschlossenen Anwalt, der eine Haftstrafe wegen Betrugs abgesessen hatte. Nicht lange, da erlebte die Bank einen neuen Aufschwung.

Jack betrachtete mehrere Fotos von Bryce Fenston, der regelmäßig in den Klatschspalten der Zeitungen auftauchte, immer mit den schicksten Frauen von New York am Arm. Stets beschrieb man ihn als brillanten Banker, als einen führenden Finanzier, sogar als großzügigen Wohltäter, und wann immer sein Name genannt wurde, nahm man meist auch Bezug auf seine grandiose Kunstsammlung. Jack schob die Fotos zur Seite. Er mochte sich nicht mit einem Mann abfinden, der einen Ohrring trug, und war noch erstaunter, warum jemand, der bei seinem Eintreffen in Amerika volles Haar gehabt hatte, sich freiwillig kahl rasierte. Vor wem versteckte er sich?

Jack schloss die Munteanu/Fenston-Akte und wandte seine Aufmerksamkeit Pierre de Rochelle zu, dem ersten Opfer. Rochelle beantragte 70 Millionen Francs, um sich in ein Weingut einzukaufen. Seine einzige Erfahrung mit der Weinindustrie schien darin zu bestehen, dass er regelmäßig Weinflaschen leerte. Selbst eine oberflächliche Überprüfung hätte gezeigt, dass sein Investmentplan nicht der Maxime »gesund« entsprach, wie sie die Banken verstanden. Doch Fenstons Aufmerksamkeit wurde geweckt, als er herausfand, dass der junge Mann vor Kurzem ein Schloss in der Dordogne geerbt hatte, an dessen Wänden herrliche Impressionisten hingen, einschließlich einem Renoir, zwei Pissaros und einem Argenteuil-Gemälde von Monet.

Vier fruchtlose Jahre lang warf das Weingut keinerlei Profit ab und in dieser Zeit opferte das Schloss seine Schätze, bis nur noch Umrisse blieben, wo einst die Gemälde hingen. Als Fenston auch das letzte Bild nach New York geschifft und seiner eigenen Sammlung einverleibt hatte, hatte sich Pierres ursprünglicher Kredit zusammen mit den Zinsen mehr als verdoppelt. Schließlich wurde sein Schloss auf dem Markt feilgeboten und Pierre zog in eine kleine Wohnung in Marseille, wo er sich Nacht für Nacht besinnungslos trank. Bis eine kluge, junge Frau, frisch von der juristischen Fakultät, Pierre in einem seiner nüchternen Momente unmissverständlich klar machte, dass Fenston Finance nicht nur seine Schulden tilgen konnte, wenn man Pierres Renoir, seinen Monet und seine beiden Pissaros verkaufte, sondern er auch das Schloss wieder vom Markt nehmen und den Rest seiner Sammlung zurückfordern konnte. Dieser Vorschlag passte allerdings nicht in Fenstons langfristige Pläne.

Eine Woche später fand man die alkoholgeschwängerte Leiche von Pierre de Rochelle zusammengerollt in einer Gasse von Marseille. Mit durchtrennter Kehle.

Vier Jahre später schloss die Polizei von Marseille den Fall, mit dem Vermerk Non Resolu quer über der Akte.

Als der Nachlass schließlich abgewickelt war, hatte Fenston alle Gemälde verkauft, mit Ausnahme des Renoir, des Monet und der beiden Pissaros, und nachdem die aufgelaufenen Zinsen, die Bankgebühren und die Anwaltshonorare abgezogen worden waren, erbte Pierres jüngerer Bruder Simon de Rochelle gerade einmal die Wohnung in Marseille.

Jack erhob sich vom Schreibtisch, streckte seine verkrampften Glieder und gähnte erschöpft, bevor er sich der Akte von Chris Adams Junior zuwandte. Auch wenn er die Fallgeschichte von Adams beinahe auswendig kannte. Chris Adams Senior hatte eine enorm erfolgreiche Kunstgalerie in der Melrose Avenue in Los Angeles geführt. Er hatte sich auf die Amerikanische Schule spezialisiert, die von Hollywoods Glitterati so sehr bewundert wurde. Sein vorzeitiger Tod bei einem Autounfall brachte seinen Sohn Chris Junior in den Besitz einer Sammlung aus Rothkos, Pollocks, Jasper Johnses, Rauschenbergs und mehrerer Acrylbilder von Warhol, einschließlich einer Black Marilyn.

Ein alter Schulfreund riet Chris, er könne sein Vermögen verdoppeln, wenn er in die dot.com-Revolution investierte. Chris Junior wies darauf hin, dass er kein Bargeld besaß, nur die Galerie, die Gemälde und die Christina, die alte Yacht seines Vaters – und selbst die gehörte zur Hälfte seiner jüngeren Schwester. Fenston Finance sprang ein und lieh ihm zwölf Millionen Dollar zu den üblichen Konditionen. Doch wie so viele Revolutionen forderte auch die dot.com-Revolution zahlreiche Leichen auf ihrem Schlachtfeld, darunter Chris Junior. Fenston Finance ließ den Schuldenberg anwachsen, ohne seinen Kunden jemals damit zu belästigen. Bis Chris Junior in der Los Angeles Times las, dass Warhols Shot Red Marilyn für über vier Millionen Dollar verkauft worden war. Sofort setzte er sich mit Christie’s in Los Angeles in Verbindung, wo man ihm versicherte, dass er für seine Rothkos, Pollocks und Japser Johnses mit ähnlich guten Preisen rechnen durfte. Drei Monate später eilte Leapman in das Büro des Vorsitzenden, den neuesten Katalog von Christie’s in der Hand. Mit gelben Post-it-Zetteln hatte er verschiedene Posten markiert, die unter den Hammer kommen sollten. Fenston tätigte einen Anruf, dann buchte er den nächsten Flug nach Rom.

Drei Tage später entdeckte man Chris Junior auf der Toilette einer Schwulenbar. Mit durchschnittener Kehle.

Fenston war zu der Zeit immer noch auf Urlaub in Rom und Jack besaß Kopien seiner Hotelrechnung, seiner Flugzeugtickets und sogar seiner Kreditkartenabrechnungen in mehreren Geschäften und Restaurants.