Die Farbe des Schattens - Susanne Tägder - E-Book

Die Farbe des Schattens E-Book

Susanne Tägder

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Beschreibung

»Susanne Tägder ist eine Meisterin der scharfen Kontur.« Juli Zeh Ein Junge verschwindet. Mitten in einem Wohngebiet. Hauptkommissar Arno Groth startet eine großangelegte Suchaktion, doch die Beamten tappen im Dunkeln. Dann stößt Groth auf eine Spur, die ihn zu einem ungeklärten Mordfall führt – und mitten hinein in die Abgründe und Ängste der Wendezeit. Nach ihrem gefeierten Debüt ist Susanne Tägder zurück mit einem packenden Krimi über die Suche nach Gerechtigkeit in einer Welt voller Umbrüche. Mecklenburg, 1992. Das neue Jahr hat gerade erst begonnen, da erreicht Hauptkommissar Arno Groth ein Notruf: Im Mönkebergviertel, einer Plattenbausiedlung, verschwindet der elfjährige Matti Beck auf dem kurzen Weg zum Einkaufen spurlos. Was als Suchaktion beginnt, weitet sich schnell aus und gerät für Hauptkommissar Groth zur größten Herausforderung seines bisherigen Berufslebens. Denn Mattis Verschwinden weckt grausame Erinnerungen an einen unaufgeklärten Mordfall aus derselben Gegend. Mit den Ermittlungen war damals Kollege Gerstacker betraut – doch der wurde wegen seiner Stasi-Vergangenheit mittlerweile aus dem Dienst entlassen. Jetzt wird er dringend gebraucht. Groth gründet die Einsatzgruppe »Nachtschatten«, muss aber schon bald erkennen, dass sich hinter den Fassaden des Mönkebergs weit mehr Geheimnisse verbergen, als er ahnt. »Nichts beschönigen und Wahrhaftigkeit unwiderstehlich packend darstellen - das ist die große Gabe von Susanne Tägder.« Annemarie Stoltenberg, NDR

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Seitenzahl: 412

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dies ist der Umschlag des Buches »Die Farbe des Schattens« von Susanne Tägder

Susanne Tägder

Die Farbe des Schattens

Kriminalroman

Tropen

Impressum

Die vorangestellten Zitate erschienen zuerst in folgenden Publikationen: Friedrich Dürrenmatt, Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman, Verlag Die Arche, Zürich 1958 sowie Uwe Johnson, Jahrestage: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1970.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe zum Zeitpunkt des Erwerbs.

Tropen

www.tropen.de

J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH

Rotebühlstraße 77, 70178 Stuttgart

Fragen zur Produktsicherheit: [email protected]

© 2025 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte inklusive der Nutzung des Werkes für Text und Data Mining i. S. v. § 44 b UrhG vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Gaeb & Eggers

Cover: Hafen Werbeagentur gsk GmbH, Hamburg

unter Verwendung mehrerer Abbildungen von © Jacinta Bernard, Silas Manhood / Trevillion Images, Neil Bowman / Shutterstock, picture alliance / imageBROKER | Gabriele Hanke, kospar / Shutterstock

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-50273-2

E-Book ISBN 978-3-608-12477-4

Winter 1992

»Es ging wie in einem bösen Traume zu, wie verhext, als sollte ich dieses Land, diese Berge nie kennenlernen.«

Friedrich Dürrenmatt, Das Versprechen

»Die Dämmerung schärft die Lichter.«

Uwe Johnson, Jahrestage

1

Der Autodieb, der ihm an diesem frühen Morgen gegenübersitzt, gibt sich beim Lügen keinerlei Mühe. Hauptkommissar Arno Groth rollt auf seinem Bürostuhl näher an den Schreibtisch heran und balanciert dabei eine volle Tasse Kaffee, auf der »Held der Arbeit« steht. Die Armlehnen des Stuhls sind aus Hartplastik und passen nicht ganz unter die Tischplatte, sodass Groth aufpassen muss, sich nicht die Finger einzuklemmen. Es ist Mitte Januar. Das Deckenlicht brennt, und sein karges Büro spiegelt sich in der Fensterscheibe. Erdgeschoss mit Blick auf den Innenhof des Wechtershagener Polizeireviers. Auf die dünne Gardine, die hier mal hing, verzichtet Groth inzwischen. Es gibt nichts zu beschönigen. Groth stellt die Kaffeetasse ab, ein Abschiedsgeschenk seiner Hamburger Kollegen. Mittlerweile ist es über drei Monate her, seit er sein altes Revier in Hamburg verlassen hat, um als Aufbauhelfer Ost ins mecklenburgische Wechtershagen zu ziehen. Eine Entscheidung, die er nicht ganz freiwillig getroffen hat. Angekommen ist er noch nicht.

Der Autodieb besitzt weder Führerschein noch Ausweis und beantwortet die Frage nach seinem Alter mit einem Schulterzucken. Groth schätzt ihn auf siebzehn und trägt die Zahl, gefolgt von einem Fragezeichen, ins Protokoll ein.

»Was hattest du vor mit dem Auto?«, fragt Groth.

»Rumfahrn?«

»Wohin?«

»Keine Ahnung. Rumfahrn eben.«

»Und dann?«

Groth erntet einen düsteren Blick.

»Das Auto hätte ich wieder zurückgebracht und genau da abgestellt, wo ich’s gefunden habe.«

Groth notiert das.

»Ge-FUN-den«, betont er laut beim Schreiben und versucht, seiner Stimme einen Unterton von Sarkasmus zu verpassen. Doch der Versuch bleibt ungehört, denn just in diesem Moment setzt im Gebäudeflügel gegenüber der Abbruchhammer ein. Das Erdgeschoss wird renoviert, die Wandfliesen der alten Kantine abgemeißelt. Groth wartet ab, bis die Hammerschläge verstummen. Bekendorf, sein Chef, der aus Lübeck stammt, hat den Umbau veranlasst. Nun wechselt Bekendorf in Kürze ans neue Landeskriminalamt in Schwerin und hinterlässt ihnen zum Abschied eine Baustelle. Was Bekendorf ebenfalls hinterlässt, ist sein Chefposten. Groth soll ihn ab Februar übernehmen, vorübergehend, bis ein Nachfolger gefunden ist.

Groth überfliegt den Bericht von Polizeimeisteranwärter Bunterode. Die Streife hat den Autodieb in den frühen Morgenstunden bei Pragsdorf aufgegriffen, da war er zu Fuß unterwegs zurück nach Wechtershagen. Allein. Einen halben Kilometer weiter stand das Auto, das er in einen Weidezaun gefahren hat. Groth kann nur annehmen, dass auch andere dabei waren und längst über alle Berge sind. Dieser hier muss das Pech gehabt haben, nicht per Anhalter mitgenommen worden zu sein.

In letzter Zeit haben sie es fast wöchentlich mit Autodiebstählen wie diesem zu tun, begangen von Jugendlichen, die beliebige Autos aufbrechen, zu einer wilden Spritztour benutzen und auf vereisten Straßen in den Graben setzen. Die wenigen, die vors Jugendgericht kommen, werden von mild gestimmten Richtern ohne größere Konsequenzen nach Hause geschickt. Bekendorf setzt große Hoffnung in einen neu berufenen Staatsanwalt aus Kiel, der bei seinen Fällen die höchste Verurteilungsquote im Kollegium erreicht haben soll.

Manchmal hat Groth das Gefühl, dass die ganze Stadt verrücktspielt. Bereits am zweiten Januar tauchte eine Frau bei ihm auf, um einen Entführungsfall zu melden, der bereits zehn Jahre zurücklag. Als er sich bei den Kollegen danach erkundigte, erfuhr er, dass die Frau im Revier hinlänglich bekannt sei, die Entführung habe es nie gegeben. Am siebten Januar hatten sie es mit zwei Bombendrohungen zu tun, eine betraf den Sonderschulkomplex in der Jahnstraße, die andere das voll besetzte Arbeitsamt in der Sponholzer. In der Nacht zum Sonntag ein Kioskeinbruch in der Oststadt. Und heute in aller Frühe nun also wieder ein paar Jugendliche, die im gestohlenen Auto über Landstraßen rasen, im Weidezaun landen und den Wagen dann einfach dort stehen lassen.

In den Gesichtern der Jungen immer derselbe Ausdruck von aufgesetzter Langeweile, hinter dem sich, das kann Groth riechen, eine diffuse Wut auf alles verbirgt.

»Wer macht da sonst noch mit?«, fragt Groth und lässt die Sekunden verticken, bis er nachhakt. »Wer von deinen Freunden war dabei, als das Auto im Zaun gelandet ist?«

»Es gibt keine anderen.«

»Das stimmt nicht. Wir haben um die Unfallstelle herum Fußspuren gefunden, Sohlenprofile von mindestens drei Personen. Deine, und dann noch mal zwei andere. Wer sind die?«

Als Antwort erhält Groth ein Schulterzucken.

»Ich sag doch, es gibt keine anderen.«

»War das geplant, oder habt ihr einfach beschlossen: Heute gehen wir auf Spazierfahrt?«

Der Junge hat seine Hände in den Taschen der Bomberjacke vergraben und starrt haarscharf an Groth vorbei. Groth kennt diesen Blick. Er ist wie eine Mauer, es gibt kein Durchkommen.

Auf Groths Telefon leuchtet die gelbe Ruftaste auf. Es ist Hellberg, ein Kollege der Schutzpolizei.

»Sie sollten gleich mal rüberkommen«, sagt Hellberg. Seine Stimme, sonst die Ruhe selbst, hat einen Anstrich von Dringlichkeit. Im Hintergrund kann Groth die Funksignalgeräusche der Einsatzleitstelle ausmachen, Stimmengewirr und hin und wieder die Bassstimme des Wachhabenden.

»Was gibt’s denn?«, fragt Groth noch. Aber Hellberg wiederholt nur das Wort »gleich« und legt auf.

Groth klappt die Akte zu und sagt dem Torsten, Sven oder Felix, der ihm gegenübersitzt – die Namen der Jungen verschwimmen inzwischen –, er müsse los, das sei es für heute gewesen, aber nur für heute, die Sache werde noch ein Nachspiel haben. Dann ruft er Bunterode an und bittet ihn, die vollständigen Personalien des jungen Mannes aufzunehmen und diesen in die Obhut seiner Eltern zu entlassen.

2

Als Groth im Gebäude gegenüber eintrifft und den Wachraum betritt, ist vom Stimmengewirr, das er eben noch durchs Telefon hörte, nichts mehr übrig. Stattdessen hat sich Schweigen ausgebreitet, als hätten alle gerade eine große Anstrengung hinter sich gebracht.

Hellberg ist der Erste, der Groth entdeckt.

Er winkt ihn heran und reicht Groth den Durchschlag eines Formulars. Eine Vermisstenanzeige mit dem Datum von heute, sieben Uhr zwölf. Groth überfliegt sie. Ein Junge wird gesucht, elf Jahre alt, er ist am Abend zuvor nicht nach Hause gekommen. Die Familie wohnt in der Wallstraße am Rand der Mönkebergsiedlung in einem Plattenbau.

»Die Krankenhäuser haben wir alle abtelefoniert«, sagt Hellberg leise zu Groth. »Die Eltern suchen seit gestern Abend um acht. Hatten einige Nachbarn zusammengetrommelt. Wir sind um zweiundzwanzig Uhr fünfzig verständigt worden und mit zwei Streifenwagen rauf ins Wohngebiet. Nichts.«

Groth nickt. »Und die Schulfreunde?«

»Wir haben schon einen Wagen zur Schule des Jungen geschickt. Der Unterricht beginnt um sieben Uhr fünfundvierzig. Nicht auszuschließen, dass er doch bei einem Freund übernachtet hat und direkt zur Schule geht.« Die Worte bleiben blass. »Unwahrscheinlich«, gibt Hellberg zu. »Aber nicht ausgeschlossen.«

»Nein«, sagt Groth mechanisch. Sein Blick ruht bereits auf den Eltern. »Auszuschließen ist es nicht.«

Groth betrachtet die Familie, die im Wartebereich auf einer Reihe aneinandergeschraubter Stühle Platz genommen hat. Der Vater, rotwangig und bullig gebaut, wechselt immer wieder die Sitzhaltung. Bei seinen Bewegungen knarrt die Rückenlehne des Stuhls. Auf dem Schoß der Mutter sitzt ein Junge von vielleicht fünf Jahren, der unter der Latzhose noch sein Schlafanzugoberteil trägt. Immer wieder drückt er den Rücken durch und stößt sich vom Oberkörper der Mutter ab, bis diese ihn unter den Armen packt und zurück auf den Schoß zerrt. Sein kleiner Winterstiefel ist ihm vom Fuß gerutscht und liegt auf dem Boden. Die Mutter schaut starr auf ein Fahndungsposter an der Wand, bis sie zu spüren scheint, dass Groth sie von der anderen Seite des Raumes beobachtet. Er wendet sich dem Formular in seiner Hand zu, bevor sich ihre Blicke treffen.

Der vermisste Junge heißt Matthias, genannt Matti, Beck. Groth sucht nach den Personalien der Eltern. Die Mutter, Marlies Beck, von Beruf Krankenschwester. Der Vater, Heiko Beck, Maschinist, zurzeit arbeitslos.

Er hat es im Lauf seines Berufslebens nur wenige Male erlebt, dieses augenblickliche Begreifen, dass etwas Schwerwiegendes geschehen ist. Vor vielen Jahren in Hamburg schauten sein damaliger Chef Jo Allers und er mit dem gleichen Gefühl auf das Foto eines vermissten Mädchens, das bei einsetzendem Regen auf dem kurzen Weg vom Spielplatz nach Hause verschwunden war. Die Vermisstenanzeige von Marlies und Heiko Beck spricht genau diese Sprache. Matti Beck, elf Jahre alt, ein dunkelblonder, schlanker Junge, zuletzt gesehen am Mittwochabend um achtzehn Uhr von einem gleichaltrigen Freund auf dem Mönkeberg, Nähe Kaufhalle, etwa fünf Minuten Fußweg von seinem Zuhause in der Wallstraße entfernt, das er am gestrigen Abend nicht mehr erreicht hat. Bekleidet mit einem wattierten Anorak, blauweißen, stark verwaschenen Jeanshosen mit Latz, schwarzen Gummistiefeln, vermutlich behaftet mit Matschresten. Die Mutter, so heißt es im Protokoll, habe ihn um kurz vor achtzehn Uhr noch mal zum Einholen geschickt, um Graubrot zu besorgen, aber von diesem Gang sei er nicht zurückgekehrt. Er komme sonst immer pünktlich zum Abendessen, ihr mittlerer Sohn und zugleich der verlässlichste, um den sie sich von jeher am wenigsten gesorgt habe. Bis um neun Uhr abends habe sie immer wieder den Teller auf seinem Platz angestarrt und fest geglaubt, er würde gleich an der Tür klingeln. Doch dann sei die Sorge in Angst umgeschlagen. Alles haben sie abgesucht, den Fahrradkeller, die Kaninchenställe im nahe gelegenen Kleingarten, auch die Nachbarn im Haus seien dabei gewesen. Geklingelt habe man bei den Schulfreunden, bis weit nach zehn Uhr, gibt der Vater im Protokoll an, da sei das Viertel schon ganz still gewesen, die Lampen des Suchtrupps gespenstisch dort oben auf dem Berg. Die Polizei habe er gegen elf Uhr verständigt. Matti sei reif für sein Alter, immer sei Verlass auf ihn, wie er sich ganz allein um die Kaninchen kümmere, und nun einfach so zu verschwinden, das sehe ihm gar nicht ähnlich. Weglaufen? Wieso denn? Nein, das sei ausgeschlossen, niemals würde er das tun. Niemals. Er war doch nur fünf Minuten von zu Hause entfernt.

Groth wirft jetzt einen genaueren Blick auf die Mutter. Sie ist von zwei Beamten umringt. Ihr Gesicht ist fast weiß. Jemand hält ihr in diesem Moment eine Kaffeetasse hin, ihre Augen richten sich darauf, aber sie weiß nichts mit diesem Gegenstand anzufangen.

Dann sagt sie an einen der Beamten gewandt: »Können wir jetzt gehen? Was, wenn Matti gerade jetzt zurückkommt? Ich muss doch da sein, wenn er zurückkommt.«

Groth nimmt sich einen Stuhl und setzt sich zu den Eltern. Als er sich vorbeugt, riecht er an den Becks den Schweiß einer angstdurchwachten Nacht.

»Mein Name ist Groth, ich bin von der Kriminalpolizei.«

Die Augen der Mutter, die eben noch ausdruckslos auf das Kleinkind gerichtet waren, schauen ihn jetzt erschrocken an.

»Die Kollegen haben mich informiert. Ich werde bei der Suche nach Matti helfen.«

Groth pausiert.

»Wer ist im Moment bei Ihnen zu Hause?«

»Das ist mein Sohn aus erster Ehe, Rickie.«

»Wie alt?«

»Neunzehn.«

»Wohnt er noch bei Ihnen?«

»Rickie? Nein. Der wohnt nicht mehr bei uns.« Als sie das sagt, meint Groth einen Hauch von Resignation in ihrer Stimme zu hören.

»Der kommt manchmal übers Wochenende aus der Kaserne«, schaltet sich Heiko Beck ein. »Hat noch sein Bett bei uns und seine Sachen.«

»Haben Sie Telefon?«

»Ja. Wieso fragen Sie das?«

»Kennt Matti die Nummer? Auswendig, meine ich?«

Die Mutter schaut den Vater an.

»Ich glaub schon«, sagt sie und scheint auf eine Bestätigung ihres Mannes zu warten. Dann wendet sie sich wieder an Groth. »Denken Sie, dass er vielleicht anrufen wird?«

»Das weiß ich nicht«, sagt Groth. »Aber Sie sollten jetzt tatsächlich in Ihrer Wohnung anwesend sein. Ich werde Sie beide in wenigen Minuten nach Hause fahren. Dort würde ich gerne Mattis Zimmer sehen. Für die Suche brauchen wir Fotos von ihm. Und danach sprechen wir weiter.«

Zwischen den Satzhappen macht Groth jeweils eine kurze Pause. Und Marlies Beck nickt hinein in die Pausen, sie klammert sich jetzt an das Gerüst der empfohlenen nächsten Schritte und an den Gedanken, den Groth gepflanzt hat. Zu Hause ist ein Telefon, und über das Telefon wird Matti sich melden.

Wahrscheinlich hätte er das nicht sagen sollen. Aber er weiß, was die Untätigkeit anrichten kann. Schlimme Dinge, und noch schlimmere Gedanken, er hat es selbst erlebt, damals, als Saskia, seine Tochter, nach einem Unfall sechs Wochen im Koma lag, bevor sie starb, und er nichts, aber auch gar nichts tun konnte, um sie da rauszuholen. Die Machtlosigkeit, denkt Groth. Das ist das Schlimmste.

Er kann es nicht beschwören, aber Marlies Beck scheint sich ein wenig zu entspannen.

Dann wendet er sich an den Vater.

»Ich muss Sie der Ordnung halber fragen, Herr Beck, wo Sie sich gestern zwischen achtzehn und neunzehn Uhr aufgehalten haben.«

Heiko Beck saß gerade noch nach vorne gebeugt da und starrte zu Boden, doch jetzt schießt sein Blick Groth entgegen.

»Wo soll ich gewesen sein? Ich war zu Hause.«

»Und am Nachmittag?«

»Unterwegs.«

»Geht das etwas konkreter?«

»Ich war beim Arbeitsamt. Und weil die halbe Stadt arbeitslos ist, gibt es dafür jede Menge Zeugen.«

Er spuckt Groth die Worte entgegen.

»Und wann kamen Sie nach Hause?«

»Na, das dürfte so um sechs gewesen sein. Matti war da schon zum Einholen.«

»In Ordnung«, sagt Groth, doch Heiko Beck starrt an ihm vorbei und schüttelt den Kopf.

3

Kaum eine halbe Stunde später fahren sie in langer Reihe auf den Mönkeberg, ein Dienstwagen und dahinter zwei Einsatzwagen. Groth hat in aller Eile einen Einsatzplan zusammengestellt und dabei Bekendorf verflucht, der ausgerechnet in dieser Woche seinen Antrittsbesuch im Landeskriminalamt macht, zwei ganze Tage lang, als hätte er sonst nichts zu tun. Nun bleibt die Koordinierung der Suche nach Matti Beck also an ihm als Dienstältestem hängen, und er hat kaum genug Leute zur Verfügung. Groth geht die Namen durch. Schaller, Krüger, Bunterode. Sein Blick fällt auf Marlene Thiese, die seit Anfang des neuen Jahres als Auszubildende bei ihnen ist. Groth kennt sie aus seinem Unterricht an der Polizeischule Pasewalk, da fiel sie ihm mit ihrer forschen Art auf, also holte er sie kurzerhand nach Wechtershagen. Bisher konnte sie nur im Innendienst eingesetzt werden, da die neuen Uniformen für die weiblichen Mitarbeiter noch nicht ausgeliefert wurden. Doch als er mit Hellberg durchzählt und auf lediglich zehn Kollegen kommt, da ist die Uniform plötzlich nicht mehr so wichtig.

»Scheiß drauf«, sagt Hellberg. »Die Thiese kommt mit.«

Die Becks wohnen in einem fünfstöckigen Plattenbau am Außenrand der Mönkeberg-Siedlung. Der Wohnblock ist schmucklos, bis auf einige Fassadenfliesen, deren Farbe Groth an Quittengelee erinnert. Sie warten, bis Heiko Beck die Haupttür aufschließt. Der Schlüsselbund fällt ihm einmal aus der Hand.

Hellberg sagt etwas, doch bis auf die Worte, er komme gleich nach, versickert seine Bemerkung in der allgemeinen Anspannung. Sie sind eine schwerfällige Karawane, als sie in einer Reihe die Steinstufen hinaufsteigen bis in den dritten Stock, ein schweigender Tross aus Helfern. Groth ist sicher, dass hinter den Türspionen alle Augen auf ihnen ruhen, auch wenn sie auf dem Weg nach oben niemandem begegnen. An der Wohnungstür der Becks erwartet sie ein blasser junger Mann in einer Sporthose.

Marlies Beck ist die Erste, die fragt.

»Hat er sich gemeldet?«

»Nein. Nichts.«

»Das ist mein Sohn Rickie«, sagt Marlies Beck, als Groth hinter ihr den Flur betritt.

Mit fahrigen Bewegungen hängt sie die Handtasche an einen der unteren Haken, die Winterjacke des Fünfjährigen ebenfalls, ihren eigenen Mantel in zweiter Reihe über eine Regenjacke, die Mütze des Kindes wirft sie abwesend hinterher, und tatsächlich bleibt sie am Fell einer Kapuze haften. Auf dem Weg ins Wohnzimmer streift sie ihre Stiefel ab und schiebt sie mit dem Fuß zur Seite. Im engen Flur staut es sich hinter Groth.

Erst als Schaller sich mit einem Hüsteln nach vorne drängt, kommt Bewegung in die Karawane. Heiko Beck hat inzwischen die Schlüssel abgelegt und führt den Suchtrupp ins Wohnzimmer. Es gibt wenig Platz, selbst ein Sessel ist mit Kleidungsstücken behängt, auf dem Sofa steht ein voller Wäschekorb.

Die Wohnung atmet schwer unter dem Gewicht der Nachlässigkeit. Groth schaut sich um und nimmt wahr, dass sich der Alltag der Becks an den verstreuten Habseligkeiten ablesen lässt. An der Garderobe haben sich die letzten Monate in Schichten angesammelt. Im Wohnzimmer häuft sich Liegengebliebenes – Spielsachen, Geschirr, ein Fieberthermometer. Aus dem Schuhschrank quellen Sandalen, Gummistiefel und Schnürschuhe, die Küche hat keinen unbesetzten Haken, selbst Taschen und Einkaufsnetze hängen noch halb voll da. Unter dem Tisch am Fenster ein Bierkasten.

Sie setzen sich auf die Polstergarnitur, Groth, Schaller und Krüger, während Marlies Beck zum Wohnzimmerschrank geht und ein Fotoalbum aus einem Stapel zieht. Als sie es aufschlägt, fallen ihr lose Bilder entgegen. Es erscheint Groth falsch, hier zu sitzen, die Unordnung des Zimmers erdrückt ihn. Der Federkern des Sofapolsters knarrt, sobald er sich rührt. Im Zimmer ist es zu warm, Groth zieht den Reißverschluss seiner Jacke auf, zerrt am Hemdkragen und versucht, einer inneren Unruhe Herr zu werden, indem er zum Fenster geht und in die Ferne schaut, links auf die Wechtershagener Oststadt und rechter Hand auf das alte Brauereigelände mit seinem gemauerten Schlot. Während er am Fenster steht, legt er sich die Worte zurecht, die er gleich zu den Becks sagen wird. Er wird das Wort Suche betonen. Er wird ihnen sagen, dass es eilt, ohne das Wort Eile zu benutzen. Er wird ihnen aufzeigen, dass sie systematisch vorgehen und Mattis Weg am gestrigen Abend so genau wie möglich nachzeichnen müssen. Er braucht die Namen von allen Personen, die Matti gut kennen und wissen könnten, was ihm gestern Abend auf dem Nachhauseweg … Als Groth in Gedanken zugestoßen sagen will, legt Marlies Beck drei Fotos auf den Wohnzimmertisch.

»Da ist er neun«, sagt sie und zeigt auf ein Strandfoto. Matti mit Kescher und breitem Grinsen auf einem Stück Sandstrand. Sein Gesicht ist nur unscharf zu erkennen, hier wurde ins Sonnenlicht hinein fotografiert, sodass Matti wie ein Schatten vor gleißendem Hintergrund wirkt.

»Welches ist das neueste Foto?« Groth rückt die Bilder zurecht.

»Das hier.« Heiko Beck klopft mit dem Zeigefinger auf ein Klassenfoto. »Das wurde in diesem Schuljahr aufgenommen. Der Junge hier vorne links, das ist Matti.«

Sie werden das Gesicht stark vergrößern müssen, denkt Groth. Auch wenn er teilweise durch ein anderes Kind im Schneidersitz vor ihm verdeckt wird, bemerkt Groth, dass Matti zu den Kleinsten in der Klasse gehört. Etwas anderes fällt auf. Der Junge lächelt nicht. Er schaut ernst in die Kamera, soldatisch, möchte Groth das nennen. Er betrachtet die anderen Jungen auf dem Bild, aber da ist keiner, der heraussticht. Schräg hinter Matti, in dritter Reihe ganz außen, steht eine Lehrerin im Sommerkleid. Auch sie schaut mit erhobenem Kopf in die Kamera, als hätte der Fotograf zu größtmöglichem Ernst aufgerufen. Groth muss an die Schwarz-Weiß-Fotos seiner eigenen Grundschulzeit denken, als er sich mit Hupp, Penborn, Reinfarth und wie sie alle hießen verewigt sah und sie wie Kämpfer wirken wollten.

»Gibt es noch aktuellere Fotos?«, fragt Groth. »Vielleicht auf einem Film, der noch nicht entwickelt wurde?«

Beide Becks zögern kurz und schütteln dann den Kopf.

»Und an Weihnachten? Da haben Sie nicht fotografiert?«, schaltet sich Krüger ein.

Marlies Beck schaut zu ihrem Mann und sieht verlegen aus, als hätte man sie bei einem Fehler ertappt.

»Daran haben wir nicht gedacht. Wir waren ja nur unter uns.«

»Wer ahnt denn auch …« Heiko Becks Stimme bricht. Dann räuspert er sich und setzt erneut an: »Wer ahnt denn auch so was.«

»Sicher«, sagt Groth. »Sie haben natürlich recht. Das ist schon in Ordnung. Mit diesem Bild können wir arbeiten.«

Er reicht es an Krüger weiter, damit der es zu Hellberg bringt.

»Mit welchen von diesen Jungen ist Matti gut befreundet?«, fragt Groth.

»Länger befreundet ist er eigentlich nur mit Axel.«

»Axel«, notiert Groth. »Und wie weiter?«

»Bunge. Das ist der Schulkamerad, der Matti gestern Abend zuletzt gesehen hat. Er wohnt im Haus gegenüber. Sonst fällt mir da niemand ein. Matti erzählt ja nicht viel.« Marlies Beck schaut Hilfe suchend zu Rickie.

»In letzter Zeit hat er sich auch mit Dennis getroffen. Den kennt er aus dem Jugendklub.«

»Jugendklub?«, hakt Schaller nach.

In diesem Moment klingelt es. Marlies Beck schreckt auf. Aus dem Flur hören sie schwere Schritte und Männerstimmen, dann erscheint Hellberg in der Tür. Die Becks sehen ihm voller Anspannung entgegen. Doch Hellberg bringt keine Neuigkeiten. Er klappt eine Karte auf und legt diese quer über die Fotografien auf dem Wohnzimmertisch. Die Zonen der Suchaktion sind schraffiert.

»Die gesamte Strecke zur Kleingartensiedlung«, sagt Hellberg und zeigt auf den nordöstlichen Quadranten. »Die Kaninchenställe. Damit fangen wir an. Dann weiter hier entlang, als Nächstes, ganz wichtig, die Großbaustelle Ecke Breite Straße und weiter bis zum Fußweg, der zum alten Brauereigelände hinunterführt. Und die Kollegen von der Kriminalpolizei gehen in der Nachbarschaft von Tür zu Tür.«

Die Becks sehen Hellberg in diesem Moment mit so viel Dankbarkeit an, dass Groth sich fast schämt, hier zu sitzen und die dunkle Seite der Suchaktion zu verkörpern.

Denn das ist es doch, eine Suchaktion. Nicht mehr und nicht weniger. Der Junge ist elf Jahre alt. Von einer Straftat muss man noch lange nicht ausgehen. Groth erinnert sich an seinen Ausbilder, Dr. Seel, der von den vier Möglichkeiten des Verschwindens sprach, und nur eine davon, die seltenste, ist das Verbrechen. Weggelaufen, verlaufen, verunfallt. So lautete Seels Reihenfolge, wenn ein Kind verschwand. Als Groth nun die Seel’sche Formel durchspielt und das Alter, die Umstände, die äußerst geringe Wahrscheinlichkeit für eine Straftat einbezieht, kommt er bei genauer Überlegung zum wahrscheinlichsten Ergebnis, und das ist ein Unfall. Matti Beck muss gestern Abend in der Nähe seines Zuhauses einen Unfall gehabt haben. Dass er noch nicht gefunden wurde, kann nur bedeuten, dass er sich an einem Ort befindet, den man nicht ohne Weiteres einsehen kann – einer Garage vielleicht, einer Laube. Oder eben einer Baustelle.

Groth nickt sich selbst zu. Tatsächlich ist er jetzt wieder besser gestimmt. Warum er bei der Lektüre der Vermisstenanzeige so schwarzgesehen hat, versteht er selbst nicht mehr. Der Mönkeberg ist voller Fassaden mit Fenstern und Balkonen. Wo Fenster sind, sind auch Augen. Irgendjemand wird Matti Beck am Abend zuvor gesehen haben.

In Mattis Zimmer findet Groth den Bruder Rickie auf der Bettkante eines abgenutzten Etagenbettes sitzend, mit einer Zigarette in der Hand und einer zerwühlten Decke im Rücken. Als Groth den Raum betritt, springt der junge Mann auf und stößt mit dem Kopf an der Querlatte an. Rickies Gesicht verzerrt sich für eine Sekunde, doch obwohl sich sein Mund öffnet, kommt kein Schmerzenslaut heraus. Stattdessen beeilt er sich, auf dem Fensterbrett einen Platz für seinen Aschenbecher zu finden. Dann schaut er zur Mutter, die hinter Groth im Türrahmen steht.

»Matti und Sie teilen sich das Zimmer?«, fragt Groth.

»Rickie ist ja nur noch an den Wochenenden da«, erklärt Marlies Beck, obwohl Groth sie gar nicht gefragt hat.

»Und gestern Abend? Wo waren Sie da?«

»Ich war in der Kaserne«, sagt Rickie. »Aber um neun wurde ich verständigt und kam dann gleich her.«

Groth sieht sich im Zimmer um. Etagenbett, Kleiderschrank, Fenster, Schreibtisch und ein Regal, alles in Kirschholzfurnier.

»Schläft Matti hier oben?«

Er betrachtet die sauber gefaltete Bettdecke auf dem oberen Bett. Ein Poster von Guns N’ Roses an der Wand, darunter eine Bleistiftzeichnung von Michael Jackson, kaum größer als eine Postkarte.

Rickie hat die Zigarette ausgedrückt und scheint unentschlossen, wo er sich hinstellen soll. Groth durchquert das Zimmer. Im Gegensatz zum Rest der Wohnung liegt hier nichts herum. Er hebt die Gardine an und sieht einen bewachsenen Hang, dahinter einige Gartenparzellen, Felder und in der Ferne das schnurgerade Rollfeld eines Flugplatzes. Unter dem Fensterbrett strömt eine bleierne Hitze aus dem Heizkörper. Groth öffnet den Schrank, blättert die Kleidungsstapel durch.

»Das sind meine Sachen«, erklärt Rickie. »Mattis sind auf der anderen Seite.«

Pullover, Hemden, eines davon ein altes Pionierhemd, zwei Hosen. Er fasst ganz nach hinten in die Schrankfächer. Tatsächlich findet er im untersten ein gutes Dutzend Motorradzeitschriften und eine Blechschachtel, darin zu seiner Überraschung eine große Menge Kronkorken und mehrere Telefonkarten. Die meisten sind zerkratzt, Groth fragt die Mutter, ob Matti damit jemanden angerufen habe.

Marlies Beck sieht Groth überrascht an. »Davon weiß ich nichts. Wen sollte Matti denn anrufen?«

»Einen Verwandten vielleicht? Haben Sie Verwandtschaft? Jemanden, dem Matti nahesteht?«

»Meine Eltern. Die wohnen in Grimmen. Telefon haben die gar nicht.«

»Wissen Ihre Eltern, dass Matti vermisst wird?«

Marlies Beck will antworten, aber die Stimme gehorcht ihr nicht. Sie hält sich eine Hand vor den Mund und nickt Groth zu.

»Wir haben die Nachbarn in Grimmen angerufen«, sagt Rickie. »Noch gestern Abend.«

Groth macht sich die Notiz, eine Streife bei den Großeltern vorbeizuschicken.

Jetzt geht sein Blick zum Schreibtisch. Mattis Schulbücher stehen ordentlich aufgereiht zwischen zwei Buchstützen. Am Tisch lehnt ein Schulranzen, ein viel zu kindliches Exemplar für einen Elfjährigen, gelb, mit zwei Riemen und abgerundeten Ecken. Von der Stuhllehne tropft eine Trainingsjacke. Groth rückt den Stuhl ab und bemerkt, dass im Papierkorb nur wenig liegt, als wäre er kürzlich geleert worden. Einige Holzflocken, ein Bleistiftstummel, das silberne Papier eines Kaugummistreifens.

Groth öffnet die einzige Schublade unter der Tischplatte. Der Inhalt sieht zerwühlt aus; Kaugummipackungen und Stifte liegen durcheinander, dazwischen Münzen, ein Kinderausweis. Auf dem Foto lächelt Matti in die Kamera, ein oberer Schneidezahn fehlt.

»Wir haben dort schon gesucht«, sagt Marlies Beck. Sie zeigt auf die Schublade. »Und nichts gefunden. Aber vielleicht fällt Ihnen ja etwas …« Sie beendet den Satz nicht.

Der Inhalt eines Federmäppchens ist in die Schublade gekippt worden. Unter einem Zeichenblock zieht Groth einen blauen Pappausweis hervor, die Mitgliedskarte der Jungpioniere. Im Innern das gleiche Foto wie im Kinderausweis. Ich verspreche, ein guter Jungpionier zu sein, liest Groth.

»Ist es möglich, dass Matti Geld mitgenommen hat? Wo ist sein Erspartes?«

»Hier.« Rickie greift nach einer Schatulle auf dem Regalbord über dem Schreibtisch und gibt sie Groth. »Es ist alles noch da.«

»Ich habe Matti zwei Mark und einige Groschen für den Einkauf gegeben«, sagt Marlies Beck. »Aber damit kommt man nicht weit.«

»Nein«, sagt Groth. In der Schatulle findet er einen Geldschein, zehntausend Złoty, und eine Menge Münzen, 10-Pfennig-Stücke, 5-Pfennig-Stücke, dazwischen auch Alupfennige und zwei silberne DDR-Markstücke. »Weit kommt man damit nicht«, wiederholt er.

Als er die Schatulle auf das Bord zurückstellt, fällt sein Blick auf einige Bücher. Die Reise nach Sundevit. Käuzchenkuhle. Groth blättert eins davon auf und bemerkt, dass Matti mit Bleistift einzelne Wörter angestrichen hat. »Troff«. Am Seitenrand steht in Schreibschrift »triefen«. Auf der nächsten Seite fällt Groths Blick auf einen Satz, den er überlesen möchte. »Ein Fremder stand da in der Dunkelheit.« Er klappt das Buch zu und stellt es zurück.

»Dieser Freund aus dem Jugendklub«, fragt Groth und dreht sich zu Rickie um. »Dennis. Wie heißt der weiter?«

Rickie kratzt sich am Kopf.

»So gut kenn ich den gar nicht.«

»Der Name ist wichtig.«

Rickie scheint mit der Antwort zu zögern. »Also schön. Er heißt Haude.«

Groth notiert sich das.

»Ist Matti ein guter Schüler?«

»Ich glaub schon.«

Groth wendet sich an Marlies Beck.

»Gibt es andere Probleme in der Schule? Streit mit einem Mitschüler?«

Marlies Beck schaut zu Rickie. »Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.«

Im Schulranzen findet Groth Hefte, ein Federmäppchen und eine Zeitschrift. IMS, Illustrierter Motorsport, mit der Schlagzeile »Motorrad WM: Starker Auftakt in Japan«. In der Zeitschrift liegen lose Arbeitsblätter. Groth will sie gerade zurückstopfen, als ihm auffällt, dass sich auf der Rückseite eines Blattes mit Rechenaufgaben und der Note »Gut« eine Bleistiftzeichnung befindet.

Groth hält Marlies Beck das Blatt hin.

»Hat Matti das gezeichnet?«

Sie nickt. »Ja, das ist von Matti. Er zeichnet sehr viel, das hat er von meinem Vater.«

Groth sieht sich die Zeichnung genauer an. Ein Wolf mit aufgerissenem Maul. Durch einen Wechsel von hellen und dunklen Schattierungen hat Matti es geschafft, das Fell des Tieres echt wirken zu lassen. Nur das Maul ist nicht fertig. Groth bemerkt, dass anstelle von Zähnen eckige Buchstaben eingezeichnet sind.

Groth schließt die Schultasche und schiebt sie zurück an ihren Platz. Das Blatt mit der Zeichnung aber rollt er ein und steckt es in die Innentasche seiner Jacke.

Auf dem Weg durchs Treppenhaus nach draußen stellt sich Groth vor, wie Matti Beck am Abend zuvor diesen Weg genommen hat, das war vor genau sechzehn Stunden. Im Treppenhaus herrscht eine künstliche Stille, die Groth an Krankenhausflure während einer Operation erinnert. Auch Schaller, der vor ihm geht, dämpft seine Schritte, als sei die Stille eine Blase, die bei Unachtsamkeit platzt. Als sie draußen auf den Gehweg treten, ist die Suchmannschaft bereits ausgerückt. Einige Nachbarn stehen bei Hellberg, in einem von ihnen erkennt Groth Heiko Beck. Sie treten in der Kälte auf der Stelle, reiben ihre Handschuhe aneinander. Zwei Männer deuten jetzt auf etwas, was sich den Gesten zufolge hinter dem Wohnblock befinden muss. Schließlich nickt Hellberg, und die Gruppe schwärmt aus.

»Scheißkälte«, sagt Hellberg, als Groth und Schaller auf ihn zukommen. Er führt sie ins Haus zurück, eine Treppe nach unten, wo Krüger, Marlene Thiese und Bunterode in einem fensterlosen Raum an die Wand gelehnt unter Wäscheleinen zur Lagebesprechung auf sie warten. In der orangefarbenen Beleuchtung zwischen Wäschestücken wirken sie unsicher, deplatziert.

Hellberg schließt die Tür hinter sich. »Der Suchradius steht. Wir bekommen in Kürze Verstärkung aus Anklam und werden dann mit insgesamt zwanzig Einsatzkräften vor Ort sein. Außerdem ist der Vater des Jungen mit etwa einem Dutzend Nachbarn unterwegs. Rückmeldung an mich jeweils zur vollen Stunde per Funk.«

Hellbergs Blick wandert über die Wäschestücke, die auf den Leinen hängen, Kniestrümpfe, gerippte Unterhemden, Frotteehandtücher, eine geblümte Bluse, ein Kinderpullover mit aufgedrucktem Schlumpf.

»Wir müssen so schnell wie möglich einen zentralen Raum finden, wo unsere Leute sich aufwärmen können. Der Trockenraum«, Hellbergs Blick geht wieder zu den Leinen, »ist ungeeignet.«

»Turnhalle?«, sagt Schaller.

»Ich kümmere mich darum.« Hellberg nickt Groth zu, um ihm das Wort zu erteilen.

»Da Bekendorf nicht da ist, übernehme ich stellvertretend die Aufgabenzuweisung für den heutigen Tag«, sagt Groth. »Das Wichtigste ist, Zeugen zu finden, die Matti gestern Abend gesehen haben. Wir sollten mit zwei Hypothesen arbeiten. Hypothese eins: Matti befindet sich noch im Wohngebiet. Nach der Erstbefragung der Eltern halte ich das für die wahrscheinlichste Variante. Wir haben keine Anhaltspunkte dafür, dass Matti weglaufen wollte. Bleibt die Möglichkeit eines Unfalls.«

»Die immer unwahrscheinlicher wird, je länger wir suchen«, sagt Schaller.

Krüger stimmt ihm zu. »Seine üblichen Aufenthaltsorte sind bereits durchsucht worden. Kellerräume im Wohnhaus und den Nachbarhäusern, die Böschung hinter dem Haus und der Kleingarten der Familie Beck, einschließlich Laube. Wenn Matti einen Unfall gehabt hat, dann müsste das an einem anderen, weitaus ungewöhnlicheren Ort passiert sein.«

»Die Großbaustelle für das neue Mönkeberg-Center«, schlägt Marlene Thiese vor. »Vielleicht hat er sich dort mit älteren Freunden zum Rauchen getroffen.«

»Das lässt sich in Erfahrung bringen.« Krüger macht sich eine Notiz.

»Hypothese zwei«, fährt Groth fort. »Matti ist einer Straftat zum Opfer gefallen. Was ist hier denkbar?«

»Machen wir den Anfang bei der Familie«, sagt Schaller. »Da ist der Vater, der arbeitslos ist. Der Halbbruder Rickie. Beide waren zum Zeitpunkt von Mattis Verschwinden nicht da, der Vater auf dem Rückweg vom Arbeitsamt, der Bruder in der Kaserne. Diese Angaben werden wir noch prüfen. Wir haben keine Anhaltspunkte für Konflikte oder Streit in der Familie. Die Mutter war mit dem jüngsten Sohn in der Wohnung und hat Matti zum Einkaufen geschickt.«

»Sind gestern Abend irgendwelche Notrufe oder sonstige Meldungen aus dem Viertel bei uns eingegangen?«, fragt nun Hellberg. »Irgendein Diebstahl, Drogendelikt, eine Schlägerei? Vielleicht ist Matti gestern Abend jemandem in die Quere gekommen.«

»Ich kann das überprüfen«, sagt Bunterode.

»Bleibt die Möglichkeit, dass Matti in ein fremdes Fahrzeug gestiegen ist und aus dem Wohngebiet transportiert wurde.« Krüger schaut in die Runde.

Schaller nimmt den Stift aus dem Mund. »Das passt doch gar nicht zu dem Jungen. Sollten wir nicht besser davon ausgehen, dass er das Auto, also den Fahrer, kannte?«

»Richtig«, sagt Groth. »Ich bin einverstanden. Es ist wahrscheinlicher, dass Matti mit jemandem gehen würde, den er kennt. Wer käme infrage?«

»Na, der ältere Bruder, denke ich mal.«

»Wer noch?«

»Der Vater.«

»Unwahrscheinlich. Die Familie hat kein Auto. Ganz abgesehen von einem Motiv.«

»Nachbarn.«

»Eltern von Schulfreunden.«

Die Liste wächst. Groth wartet ab, bis sich alle die Stichpunkte notiert haben.

»Vor allem müssen wir die Stelle, an der Matti verschwunden ist, so genau wie möglich eingrenzen«, sagt Schaller. »Je genauer, desto bessere Chancen haben wir, Zeugen zu finden.«

»Richtig«, sagt Groth. »Das ist das Ziel: Wir konzentrieren uns auf Augenzeugen. Wenn Matti tatsächlich in der Kaufhalle war, dann gibt es sicher jemanden, der das bestätigen kann. Die Kreuzung vor der Kaufhalle war um diese Zeit belebt. Der Bus muss vorbeigefahren sein. Leute sind noch schnell ins Geschäft gelaufen vor Ladenschluss.«

»Vergesst nicht die Rückseite der Kaufhalle und die Mülltonnen«, sagt Schaller an Hellberg gewandt. Auf die Bemerkung folgt ein kurzes Schweigen.

Nachdem Groth die Aufgaben verteilt hat, bittet Hellberg um Rückmeldung bei ihm bis spätestens sechzehn Uhr.

»Mit Einbruch der Dunkelheit«, sagt Krüger. Das Wort hallt einen Moment lang von den Wänden des Trockenraums.

»Mit etwas Glück ist Matti bis dahin gefunden«, sagt Hellberg. Da ist Entschlossenheit in seinen Bewegungen, als er seine Mappe zuklappt und zur Tür geht.

»Genau das ist das Ziel«, sagt Groth und versucht, seiner Stimme ebenso viel Entschlossenheit zu verleihen.

Trotzdem verlassen sie den Raum mit einer gewissen Schwere, Groth kann es spüren.

Als er aus dem Keller ins Freie tritt, erscheint ihm das monotone Grau der Wallstraße im Tageslicht fast wie eine Filmkulisse. Er misst die Fassade des gegenüberliegenden Wohnblocks mit den Augen ab. Mindestens dreißig Fenster, dazu Balkone in Doppelreihen, manche verglast. Hier und da bewegt sich eine Gardine. Im windgeschützten Eck einiger Balkone wird geraucht. Groth sieht Arme, die sich zu Aschenbechern hinstrecken, kurz verharren, um wieder im Schatten zu verschwinden. Plötzlich überkommt ihn ein solches Gefühl von inszenierter Normalität, dass er überzeugt ist, Matti, oder jemand, der aussieht wie Matti, werde im nächsten Moment von der Angerstraße kommend auf die Wallstraße einbiegen, und er beginnt bereits, mit den Augen die Gehwege nach einem schmalen Jungen im wattierten Anorak abzusuchen.

4

In der Stadt ist an diesem Morgen viel Polizei unterwegs, das sagte Ulo schon beim Schichtwechsel zu ihr, und auch Ina bemerkt es jetzt, als sie nach der Nachtschicht auf den Mönkeberg zurückfährt. Zuerst denkt sie an Verkehrskontrolle, drosselt ihre Geschwindigkeit, wartet brav hinter jedem Bus. Aber die Polizei interessiert sich nicht für ihr Taxi. Die suchen etwas, aber was, kann Ina nicht erkennen. Sie biegt von der Angerstraße auf den Schotterweg zu den Garagen ein. Ausgerechnet heute trifft ihr linker Voderreifen den Buckel aus Altschnee, der seit Tagen hier liegt und den sie bisher mit Leichtigkeit umfahren hat. Es knirscht, als der krustige Schnee über den Unterboden des Wagens kratzt. Im angrenzenden Wohnblock steht ein älteres Paar im Mantel auf dem Balkon und verfolgt Inas Kurve so genau, als wollten sie den Fahrweg protokollieren. Wahrscheinlich haben sie auch die neue Delle vorne rechts im Visier. Ina gibt Gas, der Motor heult auf, und im nächsten Moment rutscht der Reifen zurück auf den Weg. Sie fährt im Schritttempo weiter. Im Rückspiegel sieht sie, dass der Schneeklumpen in kleine Stücke zerborsten ist. Wie nervös sie ist. Sie schiebt es der langen Schicht zu, ihrer Müdigkeit, die langsam alle Sinne befällt. Ina hält vor ihrer Garage und wirft einen Blick aufs erleuchtete Armaturenbrett. Zehn Uhr elf. Normalerweise endet ihre Nachtschicht um fünf, aber heute Morgen kamen drei frühe Krankenfahrten dazu, eine nach der anderen, und Ina sagte jedes Mal Ja.

Sie redet sich ein, dass sie das Geld braucht. Aber in Wahrheit braucht sie Ablenkung. Sie wollte nicht nach Hause. Sie wollte verdrängen, was ihr gestern Abend auf dem Weg zur Arbeit passiert ist.

Genau genommen war es nicht ihre Schuld, das Moped kam aus dem Nichts. Sie fuhr eine Abkürzung über die Windigstraße, das hätte sie nicht tun sollen. Der hintere Teil der Windigstraße ist am Abend wie ausgestorben, niemand kümmert sich mehr um die Beleuchtung, denn das letzte Haus, das dort steht, soll im Sommer abgerissen werden. Rückbau nennt man das.

Warum das Moped aus einem Gebüsch heraus auf die Straße schoss, konnte Ina sich nicht erklären. Die Kollision hat sie durch eine Vollbremsung vermieden. Trotzdem hat ihr Kotflügel eine Delle und mehrere Kratzer abbekommen, wie reingekämmt sehen die aus. Ihre Kollegen am Taxistand fragten natürlich sofort, was passiert sei, und Ina sagte, sie sei zu blöd gewesen, aus ihrer eigenen Garage auszuparken. Die anderen haben gelacht und den Kopf geschüttelt. Nur Ulo, der hat ihr das nicht abgekauft. Erzähl mir doch so was nicht, sagte sein Blick. Aber er ließ sie in Ruhe, das ist bei Ulo so.

In der Garage stellt sie den Motor ab und muss ihre Hände fast gewaltsam vom Lenkrad lösen. Die Handbremse knarrt, als sie sie anzieht. Dann ist es still. Im nächsten Moment fühlt Ina, wie sich die Angst mit langen Spinnenbeinen über ihre Schultern tastet. Es ist Unsinn, was soll hier schon sein, aber sie wartet trotzdem im Auto, bis sie sicher ist, allein zu sein. Erst dann steigt sie aus.

Von den Garagen sind es nur einige Schritte bis zu Inas Wohnblock in der Wallstraße. Sie steigt gerade über einen Schneerest, als ihr Blick auf eine Gruppe frierender Menschen vor dem Nachbarhaus fällt. Drei Polizeiautos parken vor dem Eingang. Unter der Haustür klemmt ein Keil und hält sie offen. In allen Fluren brennt Licht. Da ist was passiert, denkt Ina und schaut verstohlen hin. Es kann nichts mit ihrem Unfall von gestern zu tun haben, oder doch? Sie justiert den Riemen ihrer Handtasche im Gehen, schiebt ihn auf die Schulter bis fast zum Jackenkragen. Mit den Knöcheln fühlt sie den Pelzbesatz, und die Weichheit lässt sie einen Moment innehalten. Vielleicht sollte sie die Straße überqueren und fragen, was los ist. Würde nicht jeder Mensch, der nach der Nachtschicht von der Arbeit nach Hause kommt und Polizei in der Nachbarschaft vorfindet, fragen, ob etwas geschehen ist? Die Antwort ist Ja, und Ina will schon den Fuß auf den Schneesaum am Fahrbahnrand setzen, um die Straße zu überqueren, als ein Polizeiauto unmittelbar vor ihr auf der Straße wendet und neben ihr hält.

Ina senkt den Blick. Eine Scheibe wird hinuntergekurbelt. Man sei auf der Suche nach einem elfjährigen Jungen aus der Nachbarschaft.

Das ist es also. Ein vermisstes Kind. Inas erster Gedanke geht zu ihrem Sohn, Benno, doch der kann es nicht sein. Benno ist fast dreizehn.

Vermisst seit gestern Abend. Ob sie etwas gesehen habe?

Gestern Abend.

»Nein«, sagt Ina. Und weil ihr das zu billig vorkommt, fügt sie hinzu: »Leider.«

Der Polizist auf der Beifahrerseite nickt.

»Bitte an uns wenden, wenn Sie etwas Verdächtiges bemerken.«

»Irgendwas bemerken«, setzt sein Kollege hinzu.

Und Ina versichert, das werde sie tun.

Sie hastet weiter. Nach Hause. Fast erwartet sie, dass auch ihre Haustür offen steht, aber nein, sie ist geschlossen, der Hausflur wirkt dunkel im spärlichen Tageslicht. Ina tritt auf die Steinstufe vor dem Eingang und sperrt auf. Ihr Herz klopft schnell, während sie die Worte verdaut. Ein verschwundenes Kind. Schon seit gestern. Sie versucht zu verstehen, was das bedeutet. Die Suchaktion, die Präsenz der Polizei, die Nachbarn vor dem Haus. Gestern. Ausgerechnet. Ist dieses Wort nicht im Grunde ein Todesurteil? Niemand überlebt bei diesen Temperaturen eine Nacht im Freien. Auch wenn sie nicht so denken sollte – nicht schwarzmalen, denn gibt es nicht auch ganz harmlose Erklärungen, Übernachtung bei einem Freund? Abgehauen? Streit mit den Eltern? –, kann Ina nicht aus ihrer Haut. Sie nennt die Dinge beim Namen. Zu lange hat sie sich in ihrem eigenen Leben alles schöngeredet, die aufopfernde Arbeit im Saatgutlager der LPG, die in Wahrheit eine elende Plackerei war, das Gefängnis ihrer Ehe mit Andi und die Quetschmale, die sie blaue Flecken nannte, obwohl sie nichts Geringeres waren als der exakte Abdruck von Andis Zangengriff auf ihrer Haut.

Im Hausflur strömen ihr erste Mittagsgerüche entgegen. Zwiebeln, Mehlschwitze, Angebranntes. Aus der Wohnung im Hochparterre erreichen sie Wortfetzen eines Streits, eine männliche Stimme und eine weibliche.

Sie kennt diese Art von Streit, sie kennt seine schaukelnde Melodie und sein Crescendo. Ein Hin und Her ist es, er provoziert, sie dementiert, er tritt nach, sie wird persönlich. Die Nachbarn heißen Hilprecht. Ihr Briefkasten hängt genau unter Inas. An der Hilprecht’schen Wohnungstür huscht Ina jeden Abend besonders schnell vorbei. Sie will nicht in den Strudel gezogen werden, nicht mal passiv. Sie befreit zwei längliche Briefe, Rechnungen, aus ihrem Briefkastenschlitz, dann rennt sie drei Treppen nach oben. Sie tritt fast lautlos auf die Steinstufen, das hat sie über die Jahre gelernt, hastet an den Türen der Nachbarn vorbei, bis zu ihrer Wohnung, steht dort einige Sekunden still und horcht. Erst dann schließt sie auf, drückt die Tür wieder ins Schloss und ruft: »Benno?«

Keine Antwort. Keine Jacke am Haken. Natürlich nicht. Benno ist in der Schule.

Ina schiebt den Türriegel vor.

Sie sieht, dass Benno seine Adidas-Tasche mit den Sportsachen vergessen hat. Muss er eben nach der Schule mit Straßenschuhen zum Training. Seine neuen Winterstiefel haben einen Salzrand auf dem Vorleger hinterlassen, Größe 43, als wäre er schon erwachsen. Die hat er sich zu Weihnachten gewünscht, schwarze Stiefel mit dicker Sohle und Stahlkappe, weil alle so was tragen. Die Schuhe gefielen ihr nicht, aber er wollte keine anderen und ließ nicht mit sich reden. Es missfällt ihr, dass Benno sich in dieser Weise von anderen beeinflussen lässt. Eigentlich sollte sie sich darüber freuen, denn offensichtlich hat er Freunde gefunden. Aber sie fragt sich, warum er keinen seiner Freunde je mit nach Hause bringt.

Ina hängt ihre Jacke auf und schlüpft in die Hausschuhe. Auch die mit Fell besetzt. Die hat sie vor Weihnachten gekauft, einfach so, weil die Verkäuferin aussah wie ihre Mutter. Sie konnte nicht anders, das Fell zog sie magisch an. Du verhätschelst dich, sagt Ina zu sich selbst. Einfache Pantoffeln hätten doch gereicht.

Ein Kind ist verschwunden. Im Nachbarhaus. Wie schrecklich. Das Wort stellt sich fast automatisch ein. Aber wenn Ina ehrlich ist, fühlt sie nichts. Sie hat gerade kein Mitleid übrig für die Sorgen anderer. Wer sich allein durchschlägt, so wie sie, braucht alle Kraft für sich selbst. Sie muss heute Abend mit Benno reden. Wer weiß, was mit dem verschwundenen Jungen passiert ist. Sie will Benno in Zukunft um sieben zu Hause wissen, besonders wenn sie Nachtschicht fährt, das ist nicht zu viel verlangt. Oder doch? Vielleicht muss sie ihm diese Freiheit gönnen, die Sorge aushalten, nach allem, was er durchgemacht hat.

Auf ihren Jungen ist Verlass, sagt sie sich, als sie in der Küche steht und auf das ordentlich gestapelte Geschirr auf dem Abtropfgitter schaut. Benno hinterlässt nie einen ungespülten Teller. Dass er gefrühstückt hat, kann sie nur ahnen. Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel aus der Schule, darauf, quer gelegt, ein Stift für sie zum Unterschreiben. Ina muss lächeln. Manchmal fragt sie sich, wer hier auf wen aufpasst.

Als es an der Tür klingelt, fährt Ina vor Schreck zusammen.

Im Hausflur stehen ein Mann und eine Frau. Noch während sie durch den Spion schaut, hält der Mann einen Dienstausweis in ihre Richtung. Polizei. Natürlich. Sie suchen den verschwundenen Jungen. Ina entriegelt die Tür.

»Mein Name ist Groth. Kriminalpolizei. Und das hier ist meine Kollegin Frau Thiese.«

Als Ina nicht antwortet, sagt der Polizist: »Es geht um den Jungen aus dem Nachbarhaus, der vermisst wird. Sie haben sicher davon gehört.«

Ina nickt und spürt Zugluft im Haus. Das Licht im Treppenhaus geht aus und kurz darauf wieder an. Sie hört auch weiter unten im Haus Stimmen und das Wort Polizei. Wieder drückt der Wind gegen die Tür.

»Dürfen wir kurz stören?«, sagt er Polizist. Erst jetzt versteht Ina, dass er hereingelassen werden möchte.

Sie sitzen am Esstisch in Inas halbleerer Wohnung. Als die Polizisten ihre Blicke über die kahlen Wände und die wenigen Möbelstücke gleiten lassen, hebt sie ihr Kinn und lässt sich nichts anmerken.

»Frau …«, setzt der Polizist an. Er blättert in seinem Schreibblock, findet eine leere Seite.

»Pelz. Ina Pelz«, hilft Ina aus.

Es ist der Name, der auf dem Klingelschild steht. Ina überlegt, ob sie erklären soll, dass sie hier nur zur Untermiete wohnt. Ach übrigens, eigentlich heiße ich Paul. Meine Freundin hat mir die Wohnung überlassen. Aber jetzt ist der falsche Name schon raus. Und wozu etwas aufrühren, das der Polizist gar nicht wissen will. Tatsächlich nimmt er jetzt den Stift zur Hand, und Inas Zögern bleibt unbemerkt.

»Richtig.« Er trägt den Namen in seinen Block ein. »Wir sprechen heute mit allen Nachbarn, um etwas über den Verbleib von Matti Beck zu erfahren. Er ist seit gestern Abend verschwunden. Kennen Sie den Jungen?«

»Nein«, sagt Ina. Sie überlegt, ob es üblich ist, der Polizei etwas zu trinken anzubieten. Die Polizistin ist jung, sie hat sich nicht hingesetzt und schaut sich ein wenig um, sehr dezent, aber Ina kann aus den Augenwinkeln sehen, dass die Frau vor dem Fenster im Wohnzimmer stehen bleibt und den Hals streckt, um nach unten Richtung Hof zu blicken.

»Wohnen Sie hier alleine?«

»Nein. Mit meinem Sohn.« Und um nicht kurz angebunden zu wirken, fügt sie hinzu: »Wir sind gerade erst eingezogen.«

»Wie alt ist Ihr Sohn, wenn ich fragen darf?«

»Zwölf.«

»Kennt er Matti Beck?«

»Nein, den kennt er nicht.«

»Dann haben Sie ihn schon nach Matti gefragt?«

Ina zögert. Sie will sich nicht in Widersprüche verstricken.

»Nein. Gefragt habe ich ihn nicht. Aber er hat nie von einem Jungen gesprochen, der so heißt.« Der Name des Jungen will ihr nicht über die Lippen.

»Verstehe«, sagt der Polizist.

Seine Kollegin hat ihre Runde beendet und setzt sich jetzt zu ihnen an den Esstisch.

»Haben Sie gestern Abend zwischen achtzehn und zwanzig Uhr irgendetwas beobachtet, was mit dem Verschwinden des Nachbarjungen zu tun haben könnte?«

Zwischen achtzehn und zwanzig Uhr, denkt Ina. Also doch. Sie weiß, dass sie jetzt einfach Nein sagen muss. Nichts leichter als das. Aber erstens ist es gelogen, und zweitens muss sie zu diesem kleinen Wort Nein auch das passende Gesicht machen, und das fällt ihr schwer. Sie ist zu nervös, um ein Bedauern in ihre Miene zu legen. Früher gelang ihr das gut. Wie auf Knopfdruck konnte sie Unschuld, Anteilnahme, Gelassenheit produzieren. Vor allem Gelassenheit, das war ihre Spezialität. So tun, als wäre nichts gewesen. Morgens zur Arbeit gehen und aussehen, als hätte sie einen netten Abend vor dem Fernseher verbracht, während ihr Körper schmerzt. In den vielen Jahren ihrer Ehe mit Andi hat sie das Versteckspiel unter langen Blusenärmeln und Schlaghosen perfektioniert. Sie schlüpft in die Erinnerung wie in die Bühnenversion ihres alten Lebens. Dann sieht sie Andi vor sich, in Krawallstimmung, wie er sich ein drittes Bier holt und zu provozieren beginnt. Bereits da ist klar, wie der Abend enden wird. Und sie, Ina, an der alles abzuperlen scheint. Sie wirkt beinahe heiter da oben auf der Bühne, als ahne sie nicht, dass hinter dem Vorhang der Wolf lauert.

Doch ausgerechnet jetzt, wo es darauf ankommt, kann sie nicht in ihre alte Rolle schlüpfen. Sie hat den gestrigen Abend vor sich, den grellen Schreck im Gesicht des Mannes, einen Sekundenbruchteil bevor er den Lenker herumriss und stürzte. Ihr klingt auch das Geräusch des Aufpralls in den Ohren, gefolgt vom Quietschen ihrer Bremsen und dem Schlittern von Blech über Asphalt.

Ina zwingt sich, die Erinnerung wegzuwischen. Der Polizist hat sie etwas gefragt, er wartet auf ihre Antwort.

»Ich habe heute Nacht gearbeitet und bin eben erst zurückgekommen«, sagt sie.

Doch der Polizist scheint etwas bemerkt zu haben. Er schaut sie interessiert an. Forschend.

»Wo arbeiten Sie denn?« Es ist die junge Kollegin, die das fragt.

»Ich bin in der Fahrgastbeförderung tätig«, sagt Ina.

»Ach. Busfahrerin?«

»Taxi.«

»Sie sind Taxifahrerin?«

»Ja, genau.«

Der Polizist notiert das.

»Um wie viel Uhr sind Sie denn nach Hause gekommen?«

»Gegen zehn«, sagt Ina. »Wie gesagt, aufgefallen ist mir nichts.«

Der Polizist zieht einen waagerechten Strich unter die wenigen Wörter, die er in den Block geschrieben hat.

»Sie sind ganz sicher, dass Sie gestern Abend nichts bemerkt haben?«

Wieder hat der Polizist diesen forschenden Blick.

»Nein«, sagt Ina. »Ich meine, ja. Ich bin sicher.«

»Und irgendetwas im Haus oder in der Gegend, das Ihnen in letzter Zeit merkwürdig vorkam? Nachbarn, Besucher, Handwerker, Fremde?«

»Nein, nichts. Wir kennen ja auch noch nicht viele Nachbarn.«

»Richtig. Sie sagten, dass Sie noch nicht lange hier wohnen. Von wo sind Sie denn zugezogen?«

Ina erschrickt über die Frage. Wie dumm von ihr, den Umzug noch mal zu erwähnen.

»Ach, nur aus einem anderen Stadtteil«, lügt sie und lächelt dabei. Endlich stellt sich die einstudierte Leichtigkeit von früher auf ihrem Gesicht ein. »Ich habe Ihnen gar nichts angeboten.«

»Schon gut«, sagt der Polizist. Er steckt den Schreibblock in die Innentasche seiner Jacke und steht auf. »Wir müssen dann auch weiter. Danke für die Auskunft.«

Sie sind schon an der Tür, als er ihr eine Visitenkarte in die Hand drückt.

»Wenn Sie sich doch noch an etwas erinnern«, sagt er. »Hier erreichen Sie mich.«