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Im Roman „Die Farben der Finsternis“ geht es um die Fragen des Lebens und der Liebe in einer Welt zwischen Gewalt und Prostitution. Die Freunde Samuel und Richard arbeiten für eine Mafia-Familie im Rotlichtviertel. Sie kämpfen mit Gewalt für die Interessen dieser Familie, während sie sich privat mit ihren Frauenbekanntschaften und den Fragen der Liebe auseinandersetzen. Sowohl mit Humor als auch mit Ernsthaftigkeit schlagen sie sich durch ein Leben zwischen dem Elend und dem Vergnügen in der Großstadt. Am Ende steht die Frage: Ist in einem solchen Leben Platz für echte Liebe?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Die Farben der Finsternis
von Simon Kmetsch
2024
Besonderen Dank an meine Lektorin, Danni!
Ohne dich wäre dieses Buch
absolute Sch... nicht so gut wie es ist!
Dieses Buch ist den Armen und Schwachen
gewidmet.
Den Verrückten und Verzweifelten.
Sie sind das, an was sich eine Gesellschaft
messen lassen muss.
Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden.
Die Situationen basieren sehr wahrscheinlich
nicht auf einem echten Erlebnis des Autors
mit deiner Mutter.
1. Dunkler Abgrund
"Immer brauchst du meine Hilfe, Samuel", sagte Richard.
Sie liefen durch eine Gasse, direkt hinter den Etablissements. Der Wind pfiff leise um die Ecken und Musik dröhnte von irgendwo her. Pfützen standen in der Gasse. Eine dicke Katze schlenderte über das Pflaster und versuchte, nasse Pfoten zu vermeiden, indem sie geschmeidig drum herum stolzierte.
"Ich pack's allein, ist mir egal, Richard", antwortete Samuel. Die Tür sprang auf und die beiden verschafften sich Zutritt.
"Hier! Hier lang!", rief ihnen ein junger Mann zu.
"Ah, kommt endlich jemand, der Autorität besitzt", bäumte sich ein Typ in einem hellen Anzug auf. Er hatte perfekt frisierte Haare und trug eine offensichtlich teure Uhr am Handgelenk.
Zwei seiner Kumpanen waren ebenfalls anwesend. Typische Statur von Schergen aus dem Rotlicht. Abgerichtete Hunde der Grenouille - einer Mafiafamilie, deren Machenschaften sich im Rotlicht und allerhand Gaunereien durch die Stadt zogen. Menschenhandel mit Zuhälterei war nur einer ihrer Geschäftszweige. Sie betrieben Glücksspiel, Drogenhandel und waren verantwortlich für den Schmuggel in der Stadt. Sie waren der größte Konkurrent der Karasus, Richards und Samuels Familie.
"Autorität?", rief Richard, "wir sind nur ein paar Köter wie ihr, aber für euch wird's reichen!"
"Ich bin nicht hier, um mich zu kloppen", sagte der Wortführer im hellen Anzug, "ich will ein paar Geschäfte machen, aber wenn ich niemanden von euch zu einem Termin bekomme, muss ich wohl oder übel hier aufschlagen..."
Da knallte es. Richard schlug dem Typen mit der Faust direkt ins Gesicht.
"Verpisst euch, wenn ihr keinen Termin habt! Das hat vielleicht den Grund, dass euch niemand hier sehen will!", rief er.
Die anderen beiden Schergen der Grenouille gingen sofort in den Gegenangriff über, doch Samuel war schneller und traf den einen schwer. Der andere lieferte sich einen Schlagabtausch mit Richard. Dann ging ein Schuss los und Samuel fühlte einen brennenden Schmerz an der Stelle, wo sich die Kugel in sein Bein bohrte. Ein dumpfer Schlag auf den Kopf, dann wurde es dunkel.
Samuel traf sich mit zwei Bekannten bei einem der Jungs, der schon ein paar Jahre älter war und ein eigenes Apartment hatte. Es war eine heruntergekommene Absteige, aber für die Jungs aus Samuels Freundeskreis damals ein beliebter Treffpunkt. Für diesen Abend war eine Party geplant. Lotta, ein Mädchen aus der Gruppe um die Jungs, war bereits da und sie erwarteten ein weiteres Mädchen, auf das der ältere Typ scharf war. Sie war ebenfalls einige Jahre älter als Samuel damals. Flaschenweise Alkohol und Cannabis sowie Tabletten lagen herum und würden den Abend über konsumiert werden. Eine vorfreudige Stimmung herrschte.
"Heute Abend ist sie fällig", brüstete sich der Wohnungsbesitzer bereits.
Es wurde angestoßen. Lotta war abgestumpft genug. Sie war von einigen der Jungs aus der Gruppe bereits gefickt worden, dennoch hatte sie überdauert und war weiterhin Bestandteil des losen Freundeskreises. Samuel mochte sie, sie war ein Kumpel. Kein typisches Mädchen, wie er die anderen jugendlichen Mädchen zu der Zeit sah. Sie war nicht falsch oder spöttisch. Sie war direkt, einfach cool und entspannt. Mit ihr war es nicht so, als würde man sich mit einem Mädchen treffen. Man musste sich nicht benehmen oder aufpassen, was man sagte. Die Jungs fanden das toll und so war sie oft dabei. Allerdings betrachtete Samuel es später so, dass die meisten Jungs das nicht wirklich zu schätzen wussten, da sie sie fast für selbstverständlich nahmen. Dabei war Lotta nicht unattraktiv. Sie war ein wenig korpulenter, hatte volle Brüste und sehr dunkle Haare. Ihre Haut war dabei fast gespenstisch hell und sie hatte hellblaue Augen. Meist trug sie keine typischen Mädchenklamotten, eher enge Jeans, schlichte T-Shirts und Pullover oder Kapuzenjacken, während die anderen Mädchen sich eher darin zu übertreffen versuchten, möglichst erwachsen und schlampig auszusehen. Kurzer Rock, großer Ausschnitt, dickes Makeup. Lotta wusste, wie Jungs in dem Alter drauf waren. Vielleicht waren auch einfach Männer aller Altersgruppen so, jedenfalls zu einem Teil. Sie war eine, mit der ein Junge schlafen konnte, ohne dass es danach komisch wurde oder irgendwer verliebt war. Samuel hatte allerdings nie etwas mit ihr, ohne zu wissen, warum eigentlich. Er wusste recht wenig über Lotta. Sie schien es wohl nicht leicht gehabt zu haben, aber Genaueres besprachen sie nie. Auch wusste er nicht, was aus ihr geworden war.
An diesem Abend der Party scherzten Samuel und Lotta herum, die anderen beiden Jungs rauchten Gras und es lief Musik. Ein Auto fuhr vor und ein junger Mann und ein junges Mädchen stiegen aus. Zum Unmut des Wohnungsbesitzers war das Mädchen mit ihrem Freund gekommen. Der Typ war nicht eingeplant. Es war gängige Praxis, dass man Mädels einfach einlud und versuchte, sie irgendwie gefügig zu machen, um sie ins Bett zu bekommen. Mit mehr oder weniger Erfolg. Das Mädchen war wirklich hübsch, erinnerte sich Samuel zurück. Nicht sein Typ, dachte er sich damals. 'Tussihaft', 'eingebildet' und 'gekünstelt' waren die Worte, die ihm zu ihrem Auftreten einfielen. Man stellte sich vor.
"Kommt rein in die gute Stube! Wir haben genug für alle, nehmt euch was zu trinken!"
Gönnerhaft tat der Kerl, er überspielte seinen Unmut darüber, dass das Objekt der Begierde einen männlichen Part mitbrachte, der ihm die Tour versauen würde - es gar unmöglich mache würde, bei dem Mädchen überhaupt etwas zu versuchen. Der mitgebrachte Freund war allerdings gar nicht mal unsympathisch. Er war ein typischer Schönling, trug sportliche Kleidung, war schlank und freundlich. Die beiden setzten sich auf die Couch und unterhielten sich. Auch Lotta unterhielt sich mit dem Mädchen.
"Wie lange seid ihr schon zusammen? Was macht ihr so?"
Beim Gastgeber und seinem Freund kippte merklich die Stimmung. Zwar versuchte er dem Mädchen Komplimente zu machen und sich freundlich und offen zu geben, aber in ihm brodelte es. Er kippte einen weiteren Becher hochprozentiges Zeug herunter. Er und sein Freund tuschelten.
"Ich will die geile Sau heute Abend noch. Ich muss nur diesen Wichser loswerden", fauchte er.
"Lotta lenkt ihn ab", schlug der andere vor.
"Ihn verführen oder was?", fragte Lotta.
"Ist doch Schwachsinn", sagte Samuel, "der kommt hier mit seiner Freundin an und lässt sich dann von einer wildfremden mit ins Schlafzimmer nehmen, während seine Freundin drüben sitzt?"
Mit fortschreitendem Abend wurde der Ton rauer.
"Ich werd' sie ficken, ist mir egal", hörte er den Gastgeber sagen.
Das Schlimme war, dass der Freund und das Mädchen nicht mal wussten, weswegen sie eigentlich hergekommen waren. Sie wurde eingeladen. Natürlich kann ein junges, attraktives Mädchen sich denken, in welche Richtung das Interesse eines Typen geht, aber den Ruf, der dem Mann vorauseilte, kannte sie wohl nicht. Sie und ihr Freund waren aus einer anderen Stadt. Mit dem Auto schnell erreichbar, aber gerade bei Jugendlichen war es nicht so üblich, sich über die Stadtgrenzen hinaus zu treffen.
"Hast du schonmal geleckt?", fragte Lotta Samuel.
Er schüttelte den Kopf. "Ne, ich weiß auch nicht, ob ich das richtig hinkriegen würde."
"Na, beim ersten Mal wohl nicht", lachte sie.
Sie machte ein paar Zungenbewegungen vor. Samuel lachte etwas verlegen mit.
"Glaubst du, es ist betrügen, wenn ich einem Typen einen runter wichse, wenn ich einen Freund hab?"
"Natürlich", meinte Samuel, "wieso sollte das ausgenommen sein?"
"Na, wenn ich ihm nur einen wichse, hab ich nichts davon."
"Meine Güte, was ne Logik", ächzte er lachend. "Geht ja ums Gefühl", ergänzte er, "Wie fühlt er sich dabei?"
"Ich hoff ma gut, wenn er ihn gewichst bekommt", grinste Lotta.
"Nein. Ja, schon. Ich meinte aber den Freund. Er fühlt sich wahrscheinlich trotzdem scheiße, wenn du einem anderen einen runter holst."
"Aber ich fühl ja nichts dabei", wand Lotta ein.
"Nuttenlogik", nannte es Samuel.
Lotta hatte einen richtigen Lachanfall. Ob es wirklich so lustig war oder ob es die Substanzen und der fortschreitende Abend waren, kann sich Samuel nachträglich nicht erklären.
"Hey, Samuel!", rief eine Stimme, "komm mal rüber!"
Samuel stand auf und lief zu den anderen beiden Jungs. Lotta verblieb mit dem weiblichen Gast im Wohnzimmer. Der andere Junge, der Freund des Mädchens, lag auf dem Badezimmerboden.
"Was ist denn los?", fragte Samuel und sah dann den Typen.
"Psst! Ey! Tür zu und ruhig!"
Der arme Kerl sah, dass alle drei fremden Jungs inklusive Samuel nun bei ihm waren und er begann, sich zu wehren, obwohl ihm der eine auf dem Rücken saß und ihn fixiert hielt.
"Ich hab ihm gesagt, wenn er keine Faxen machst, passiert seiner Süßen nichts."
Der Gastgeber eilte aus dem Bad.
"Was treibt ihr denn hier? Seid ihr verrückt geworden oder was?", fauchte Samuel.
"Machst du jetzt mit oder was?", gab es als Gegenfrage.
"Mitmachen bei was?"
Der Junge zappelte stark, er hatte einen Socken als Knebel im Mund. Sie hatten ihn überwältigt und vom Flur ins Bad geschafft, ohne dass man im Wohnzimmer etwas mitbekommen hatte. Reflexartig half Samuel, den Mann ruhig zu halten.
"Unser Kumpel nimmt sich drüben deine Freundin vor, wenn du hier nicht ruhig bleibst."
Ähnliches sagte der Besitzer der Wohnung nun drüben zu der jungen Frau: "Wir haben uns deinen Freund drüben geholt, der hat ein Messer an der Kehle und du tust, was ich sage."
Lotta lief rüber zum Badezimmer. Vor der Tür bleib sie stehen und rief leise: "Samuel?"
"Ja, komm nicht rein."
Aber der andere Junge öffnete die Tür, Lotta sah den Jungen hilflos und mit Schrecken in den Augen am Boden liegen. Sie ging einige Schritte zurück und bog dann in die Küche ab Richtung Haustür.
"Lotta!", rief Samuel.
"Samuel!", rief der andere Junge.
"Ey, ich folg ihr!"
"Ja, die soll nicht abhauen", sagte der Junge, als sei er sich gar nicht bewusst, was für eine schwerwiegende Straftat hier stattfand.
"Lotta! Hey!", rief Samuel.
Sie stand vor der Haustür des Apartments.
"Man, was ist das?", fragte sie, ohne eine Antwort zu erwarten. Ihre Stimme klang verzweifelt. "Wusstest du davon?"
"Nein!"
Er fasste sie an die Schulter. Sie drückte seine Hand weg.
"Echt? Du hast ihn auch fest..."
"Ich hab eben aus Reflex den Jungen mit am Boden gehalten, nun bin ich mit schuldig, aber du glaubst doch nicht, dass ich dabei freiwillig mitmache, so einen Plan zu..."
Er bemühte sich, leise zu sprechen. Die Gegend war nicht gerade ein gutes Pflaster, draußen war allerdings auch niemand zu sehen, der sie hätte hören können.
"Ey, du kennst mich doch, ich bau auch mal Scheiße und hab kein Problem, wenn einer einen Laden knackt oder sowas, aber das...?"
"Nein, ich kenne dich eigentlich gar nicht, Samuel", sagte Lotta. Ein Satz, der Samuel hier wirklich in Erinnerung geblieben war.
"Ich geh wieder rein und schau", sagte er.
Er kam durch die kleine Küche in den Flur. Die Musik lief zwar echt laut, aber man konnte trotzdem das Mädchen hören. Es war eine Mischung aus wimmern, stöhnen und einem Versuch zu schreien. Ihr steckte ein Kleidungsstück notdürftig als Knebel im Mund und sie wurde von dem Typen von hinten durchgefickt. Er hatte ihr gesagt, dass sie und ihr Freund sterben, wenn sie es nicht über sich ergehen lassen würde. Auf allen Vieren auf dem Sofa prügelte der Junge ihr immer wieder seinen Schwanz bis zum Anschlag rein. Sie schaute zur geöffneten Tür, in der Samuel stand. Der Junge nahm seinen Joint zur Hand und zog daran.
"Willst du auch?", rief er Samuel zu.
In Samuel kochten verschiedene Gefühle hoch. Überfordert empfand er sowohl Ekel, Wut und Abscheu, aber auch Angst, dafür als Mittäter belangt zu werden. Er spürte auch eine Form von Erregung, die sowohl falsch als auch gänzlich schwer zu deuten war. Der Junge nahm nun zwei Finger und schob sie dem Mädchen in den Arsch, ohne dass sie es kommen sah. Samuel drehte sich zurück in den Flur, als das Mädchen aufschrie.
"Ey, halt den Typen hier mal, ich will sie auch gleich durchnehmen!", rief der andere Typ aus dem Badezimmer, als er Samuel im Flur bemerkte.
Mittlerweile war sich Samuel sicher, dass die Situation bereits zu Nachbarn und irgendwelchen Anwohnern durchgedrungen sein musste.
"Samuel, tu doch was, man, das geht doch nicht!", rief Lotta, die nur einen Meter hinter Samuel stand.
Bei einem weiteren Blick ins Wohnzimmer sah er, wie der Junge seinem Opfer gerade den Joint im Nacken ausdrückte, da reichte es. Es ging wie von selbst, wirklich als würde der sprichwörtliche Schalter im Kopf umgelegt worden sein - oder eher, als hätte sich die notwendige Reaktion Samuels final den Weg durchs Nervensystem bis hin zu einer Handlung gebahnt. Samuel prügelte auf den Typen ein. Dieser lag nun unbekleidet auf dem Boden. Samuel erinnerte sich nun kaum noch an diese Situation. Er sah noch vor sich, wie dem Vergewaltiger das Blut aus dem Mund und der Nase rann. Aber wirklich zu sich kam Samuel erst wieder, als er erschöpft vom Rennen durch die Nacht eine Pause machte und die kühle Nachtluft spürte. Seine Handknöchel taten weh. Ob es vom Stress, Substanzenkonsum oder der physischen Anstrengung kam, wusste er nicht, aber er musste sich übergeben.
Und auch nun war ihm kotzübel. Samuel schlug die Augen auf.
"Hab ich Sie geweckt? Sie sind im Aufwachraum des Krankenhauses. Ich fahr Sie gleich ins Patientenzimmer", sagte ein Pfleger über dem Kopfende des fahrbaren Krankenhausbettes.
"Wo sind meine Kippen?", fragte Samuel.
"Sie wollen doch jetzt nicht wirklich rauchen?", fragte der Pfleger. Wenige Sekunden später war Samuel wieder weg.
"Er kommt wieder zu sich", hörte er eine Stimme, "können Sie mich hören?"
Er wusste nicht, ob er geantwortet hatte oder nicht.
"Wie heißen Sie?"
"Samuel."
"Er spricht!" Über ihn gebeugt war ein recht junger Mann mit einem blonden, modischen Kurzhaarschnitt und eine junge, ebenfalls blonde Frau.
"Ich bin Dr. Roth. Wissen Sie, wo Sie sind?"
Samuel bewegte seinen nun dröhnenden Kopf langsam von links nach rechts durch den Raum. Er sah die weißen Wände, blanke Betten und die zwei Personen in ihren Kitteln.
"Krankenhaus", antwortete er.
"Wissen Sie, was passiert ist?", fragte Dr. Roth.
Samuel antwortete nicht.
"An was erinnern Sie sich?"
"Geschlossener Bereich der Psychiatrie, ich hab zu viel gesoffen und Tabletten geschluckt..."
Dr. Roth schaute ihn an, dann sagte er zur Krankenschwester: "Der Patient ist eventuell noch verwirrt."
Er richtete sich wieder an Samuel: "Sie wurden operiert, eine Kugel hat Sie erwischt und sich durch Ihren Oberschenkel gebohrt. Außerdem haben Sie eine Gehirnerschütterung, wohl durch einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand. Die Kugel wurde entfernt und Sie werden wohl keinerlei bleibende Schäden davon tragen. Bald werden allerdings Schmerzen einsetzen, dann geben wir Ihnen was dagegen. Melden Sie sich dann beim Pflegepersonal. Ich sehe später nochmal nach Ihnen."
Er stand auf und verschwand mit eleganten Schritten aus dem Zimmer.
"Wissen Sie denn nicht mehr, was passiert ist, wenn bald die Polizei kommt und Fragen dazu stellt?", fragte die Schwester, die noch an seinem Tropf hantierte.
"Polizei?", fragte Samuel.
"Naja, wenn jemand eine Schusswunde hat und in die Notaufnahme geschleppt wird, sind wir natürlich angewiesen, die Polizei zu alarmieren."
Samuel schloss die Augen erneut.
Die Krankenschwester kam mit einem der Pfleger wieder und sie fuhren Samuel in ein anderes Zimmer. Ein Polizist kam herein und bat um ein Gespräch unter vier Augen.
"Fühlen Sie sich in der Lage, ein paar Fragen zu beantworten?", fragte der Polizist.
"Darf ich rauchen?", fragte Samuel.
Die Schwester war schon im Begriff, das Zimmer zu verlassen. "Natürlich nicht", warf sie mit einem leichten Grinsen im Gesicht zurück.
"Sie müssen nicht gehen!", versuchte Samuel etwas lauter zu sagen, aber sie war bereits im Nebenraum verschwunden.
"Also, erinnern Sie sich daran, was passiert ist?"
Samuel schaute an die Decke, dann zum Fenster, aus dem man aufgrund der Lage des Bettes rein gar nichts außer einem völlig wolkenleeren Himmel sehen konnte.
"Nein", sagte er.
"Sie haben keinerlei Erinnerungen an den oder die Angreifer?" Er fragte nach einigen Sekunden Pause weiter: "Den Ort? Wo Sie vorher waren oder wohin Sie wollten? Kommen Sie schon!", drängte der Polizist.
"Ich war unterwegs", begann Samuel.
Der Polizist nickte ihm zu.
"... unterwegs, ich wollte einen saufen."
"Sehen Sie, es geht doch", meinte der Polizist.
"Wissen Sie, mein Leben ist nicht so ganz einfach."
"Das geht vielen von uns so", bestätigte der Polizist wohlwollend.
"Der Stress, der Druck. Manchmal weiß man einfach nicht, was der Sinn von der ganzen Scheiße ist."
Der Polizist hörte aufmerksam zu.
"Tag ein Tag aus der selbe Mist. Manchmal muss man abschalten. Man denkt darüber nach, was man eigentlich tut. Ich meine nicht nur in dem Moment, sondern überhaupt. Welchen Mehrwert hat das alles? Welchen größeren Plan? Man versucht, über die Runden zu kommen, natürlich. Aber isses das, was man wirklich machen will und isses das wert? Das hab ich mich gefragt. Warum kann es überhaupt so weit kommen? Man beginnt, nach etwas zu suchen: Geld, Anerkennung oder einfach dem Gefühl, an etwas teil zu haben. Einfach gebraucht zu werden. Vielleicht isses genau das. Nicht nachgeben zu wollen oder zu können. Sich einer Sache verschreiben und das Leben dieser zu widmen. Egal was es kostet. Ob du dadurch ein anderer wirst oder ob du langsam zu dem werden wirst, was du vorher eigentlich schon warst, was aber unter der Oberfläche lag. Und anderen geht es auch so. Wenn solche Menschen wie ich aufeinander treffen. Keiner kann einen Rückzieher machen. Dies würde nicht nur Schwäche, sondern auch einen Schaden an der eigenen Identität verursachen."
"Okay, kommen Sie nun bitte zu der Situation, wie Sie hier gelandet sind?", bat der Polizist.
"Keine Ahnung, ich hab zu viel gesoffen. Meine Erinnerung beginnt erst wieder, als ich hier aufwachte."
Der Polizist gab ein zischendes Geräusch von sich und klappte seinen kleinen Notizblock zu.
"Sie haben also keine Ahnung, was passiert ist, warum Sie hier mit Wunden von einem Kampf und einer Kugel im Arsch gelandet sind? Nicht, was davor los war? Nichts?"
"Hab ich Ihnen gerade erzählt", sagte Samuel. Er starrte dem Polizisten in die Augen. "Das war genau, was all die Jahre davor passierte."
Der Polizist verdrehte die Augen, als er sich den Block und den Stift in die Jackentasche schob, und verließ wortlos den Raum. Er wusste, dass es sinnlos war.
"Haben Sie Ihre Informationen erhalten?", hörte Samuel die Krankenschwester noch freundlich fragen, aber er vernahm keine Antwort mehr von dem Polizisten. Die Schwester kam ins Zimmer und schaute nach Samuel.
"Geht es Ihnen gut?", fragte sie, "...also den Umständen entsprechend?"
Samuel bejahte, obwohl sich die Schmerzen in seiner Brust nun deutlich bemerkbar machten.
"Was war denn mit dem? Ist doch nicht Ihre Schuld, wenn Sie sich nicht erinnern können. Das ist ganz normal, nach einem Sturz oder einem traumatischen Erlebnis kann es..."
"Eigentlich hab ich's ihm erzählt", warf Samuel ein.
"Oh, und warum war er so angepisst?", fragte sie.
"Weil ich's ihm erzählt hab wahrscheinlich", meinte Samuel.
Sie zuckte die Schultern. "Was haben Sie eigentlich erzählt, als sie aufgewacht sind? Dass Sie zu viel getrunken haben und dass Sie irgendwem helfen wollten? War das einfach wegen der Narkose oder haben Sie sich da an was von früher erinnert?"
Tage später durfte Samuel zum Rauchen auf das Krankenhausgelände. Richard umarmte seinen Freund.
"Na, bist du fit?", fragte Richard.
"Klar. Du hast nichts abbekommen?", fragte Samuel zurück.
"Ne, aber ich hab auch den Ober-Frosch nicht erwischt."
"Welcher war das?", fragte Samuel.
"Der im hellen Anzug, mit der zichtausend Tacken teuren Uhr und der Schmierfrisur!", beschrieb Richard.
"Ja, ich versteh schon. Ich meinte, wo steht der dort bei den Grenouille in der Hierarchie?"
"Ist sozusagen der Außenminister, dieser Schmier-lappen", meinte Richard.
"Der hat gar nicht geschossen, oder?"
"Doch, aber ich fürchte, er wollte mich treffen, Bruder", sagte Richard mit entschuldigender, trauriger Stimmlage.
"Ach, wenn du einfach drauf feuerst, trifft's schon irgendwen", meinte Samuel, "viel entscheidender ist, dass wir ein Zeichen setzen, dass nicht irgendwer in unserem Territorium rumballert. Sowas muss Konsequenzen haben, sonst können wir dicht machen!"
"Du klingst wie der Boss", lachte Richard.
"Was sagt der überhaupt, der alte Kauz?"
"So ziemlich dasselbe wie du", meinte Richard erheitert.
"Aber überlass Grey mal die Politik. Wie lange bleibst du noch?"
"Hoffentlich lang genug, um bei der Krankenschwester zu landen", meinte Samuel.
"Guter Junge", säuselte Richard und tätschelte Samuel die Wange.
"Rauchen wir doch lieber noch eine und sparen uns das Fummeln!", schlug Samuel vor.
2. Schwarzlicht
Samuel wachte auf. Es war bereits Morgen. Das Mädchen zuckte zusammen. Sie richtete sich auf und warf sich dann zur Seite, die Couch herunter und erbrach sich. Mehrmals würgte sie. Samuel versicherte sich, dass es ihr gut geht.
"Du musst nach Hause. Wo wohnst du?"
"Noch nicht", ächzte Maren.
"Doch, es ist bereits Morgen."
"Schon? Verdammt, meine Eltern machen sich Sorgen."
"Ruf deine Eltern an, die sollen dich holen."
Er kam sich vor wie ein Jugendlicher. Früher gab es, wenn jemand einen über den Durst getrunken hatte, die Situation, dass die Eltern ihr Kind abholten. Später wurde dies weniger. Die Leute, mit denen man rumhing, waren die, die die Eltern für gewöhnlich nicht abholten. Die junge Frau war sicher um die zwanzig.
"Sie werden denken, dass ich einen Rückfall hatte", stöhnte Maren.
"Hattest du nicht?", fragte Samuel, aber es war wenig angebracht, Witze zu reißen, denn dem Mädchen schien es wirklich schlecht mit der Situation zu gehen. Sie schien sich ernsthaft schuldig zu fühlen. Wer weiß, was ihren Eltern bereits durchgemacht hatten mit dem, was sie hinter sich hatte.
"Gib her, ich ruf an."
Kurz weigerte sie sich, griff nach dem Telefon, aber ließ Samuel dann gewähren. Es schien das einzig Richtige zu sein.
"Ja, Hallo, Maren?", hörte er eine männliche Stimme.
"Nein, ähm", Samuel stockte kurz.
"Ist etwas mit meiner Tochter, wo ist sie? Ist sie..."
"Alles in Ordnung!", unterbrach Samuel den aufgeregten Herren, "ihr geht es gut, sie hat hier übernachtet und ich bin beauftragt, Sie anzurufen."
"Sind Sie von der Polizei?", kam die unerwartete Nachfrage. Und: "Wo ist sie?", gleich hinterher.
"Äh, nein, nur ein Freund. Wir haben zusammen gefeiert und ich möchte sicherstellen, dass sie vernünftig nach Hause kommt."
Keine Reaktion. Dann hörte er Stimmen im Telefon, der Vater schien der Mutter die Situation zu erklären.
"Ähm, junger Mann, entschuldigen Sie, meine Frau. Wir sind sehr dankbar. Wir wussten nicht, dass sie so gewissenhafte Freunde hat."
"Kein Problem..."
Es wunderte ihn. Diese wirklich nette, reizende junge Frau schien sich in einem so negativen Umfeld zu bewegen, dass sich nicht einmal eine Freundin um ihr Wohlergehen sorgte. Samuel hatte zwar in der Jungend solches Verhalten erlebt, aber nun schien es ihm, als sei ein wirklich wohlbehütetes Kind hier auf die schiefe Bahn geraten. Man sah es ihr nicht an. Sie wirkte weder verwahrlost, noch wie ein Junkie und es bestätigte sich wohl, dass sie kein Mädchen aus schlechtem Hause war.
"Einen Moment, ich gebe Ihnen die Adresse durch."
Der Mann notierte es sich und sagte ihm, wie lange er brauchen würde. Samuel versicherte, bei der Tochter zu bleiben und dass sich der Herr keine Sorgen zu machen brauchte. Die junge Frau nahm ihr Telefon an sich und schaute Samuel an. In ihrem Blick war eine Mischung aus Dankbarkeit und Erleichterung, aber auch große Scham war zu erkennen.
"Danke", sagte Maren. Sie umfasste seine Hand: "Du bist toll."
Samuel war die Situation natürlich unangenehm, dennoch empfand er es als eigentlich selbstverständlich, in einer solchen Situation zu helfen.
Es klopfte an der Tür, Samuel öffnete und grüßte den modisch gekleideten Herren. Er hatte volles, angegrautes Haar und sah sehr freundlich aus. Sein Blick hatte sogar eine gewisse Güte in sich. Wenn er vielleicht auch kein Verständnis für das Verhalten seiner Tochter hatte, so war er zumindest nicht wütend auf sie. Auf jeden Fall würde er ihr hier keine Szene machen.
"Wir hatten telefoniert?", fragte Samuel.
"Ja, genau.“
"Komm, Maren!", er hakte sie ein und brachte sie zur Tür. Er übergab sie praktisch in die Obhut des Vaters.
"Hallo, Papa", sagte sie leise.
Dieser reichte Samuel die Hand: "Ich danke Ihnen."
"Gern", sagte Samuel und zog die Tür hinter sich zu.
"Wohin gehst du nun?", fragte Maren.
"Wohnen Sie nicht hier?", fragte der Vater.
"Nein, ich war noch nie... Ich weiß gar nicht, wer hier wohnt", sagte Samuel und merkte, wie verwirrend diese Aussage für den Vater der jungen Frau sein musste.
"Wo müssen Sie hin?"
Samuel sagte nichts. Dann nahm er den Zettel aus der Tasche, den er von Richard bekommen hatte. Er zeigte dem Mann die Adresse.
"Hmm...", schnaufte er, "sind Sie sicher?"
"Sicher nur, dass ich dorthin kommen soll", erwiderte Samuel reflexartig.
"Ja", meinte der Mann, "ich dachte mir schon, Sie kennen sich in der Stadt gar nicht aus?"
"Nein, gar nicht", antwortete er, "ich bin mit dem Bus hergekommen, den ich mir rausgesucht hatte, direkt vom Krankenhaus."
Wieder merkte er nur Sekundenbruchteile später, wie verwirrend diese Aussage sich anhören musste. Maren wurde wohl erneut schlecht.
"Ich meinte nur, weil das direkt im Rotlichtviertel sein müsste, wenn ich richtig liege." Er wirkte nun etwas unsicherer.
"Maren, wenn's noch nicht geht, nicht aufhalten, spuck nochmal aus", sagte Samuel.
An einer Tür an einer der Wohnungen stand eine Frau und sah aus, als würde sie einer Fernsehserie zuschauen. Sie fixierte Maren und die beiden Männer.