2,49 €
Auf der Suche nach seinen Jugendfreunden führt es Shy zurück in die Stadt seiner Kindheit. Ein Vorfall durchtrennte das Band zwischen den Jungen und führte sie in unterschiedliche Richtungen. Doch wie sehr hat die Vergangenheit das Leben der Männer in der Hand? Hat das Schicksal mit Shy und seinen Freunden gespielt wie mit Puppen?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Impressum
PUPPEN
von Simon Kmetsch
2025
Dieses Buch ist NICHT autobiographisch.
Die Ich-Erzähler-Perspektive ist rein aus narrativen Gründen gewählt.
Die Dinge, die den Charakteren in meiner Geschichte widerfahren, kann ich aus einer privilegierten Position des Nicht-Betroffenseins schildern.
Dieses Buch ist meinen eigenen Freunden gewidmet. Denen, die mich so viele Jahre begleitet haben, zeitweise aus den Augen verloren wurden, aber nie weg gewesen sind.
Es tut mir Leid, Danni (meine Lektorin), dass ich immer so viele Rächtschreib- und Tipfpehler mache. Danke, dass du es durchziehst!
1.
Ich erinnere mich noch an diesen Tag im Sommer. Meine Freundin hatte es mir vorgeschlagen, aber ich lehnte es zunächst kategorisch ab.
"Du musst sie aufsuchen!", sagte sie mir.
Und ich? Natürlich verneinte ich sofort. Das war doch aussichtslos. Die Idee ließ mich seit dem aber nicht mehr los und ich entschied, dass es das einzig Richtige war. Wo sollte ich anfangen und was sollte ich überhaupt sagen? Irgendwer musste beginnen, sonst würde die Sache ewig über uns schweben, zwischen uns stehen und wer weiß - vielleicht, oder eher wahrscheinlich - ging es den anderen ebenso wie mir heute. Oder nicht nur heute sondern die ganze Zeit seit... Seit wann eigentlich? Seitdem es passiert war? Seitdem ich ging? Nein, eigentlich seit Anfang an. Die Geschichte begann doch schon eher.
"Zurück gehen bedeutet nicht, dass du zu dem zurück musst, wie du warst, als du ein Kind oder ein Jugendlicher warst. Heute bist du ein erwachsener Mann."
Sie hatte Recht, ich wäre ein Besucher meines eigenen alten Lebens. Die Jungs waren die Weggefährten, die Zeugen meiner Lebensgeschichte. Ich erfreute mich bei dem Gedanken daran, sie wieder zu sehen. Aber waren sie überhaupt noch die selben? Natürlich nicht. Sie waren heute erwachsen, wie ich auch. Nur waren tief drin immer noch die Kinder von damals oder waren es gänzlich neue Menschen?
Es wären die Jungs, die ich erkennen würde, wenn ich in ihre Gesichter sehe, aber alles andere wäre ausgetauscht. Das alte Ich, das Kind, weggewischt und ausgetauscht mit einem Ich, das mir fremd ist, das mich ebenfalls nicht mehr kannte. Es war eine Angst, die die anderen wahrscheinlich ebenso kannten. Oder waren sie da anders? Schauten sie zurück? Auf wann? Als schlimme Dinge passierten, unsere Wege sich voneinander entfernten, mit schlechten Erinnerungen? Oder daran, wie wir zusammen spielten, zusammen aufwuchsen, eine schöne Kindheit zusammen verbrachten? All diese Zweifel waren berechtigt, doch war die einzige Konsequenz, die ich aus allen Überlegungen zog, dass ich es tun musste. Ich würde dorthin zurück gehen. Doch in dem Moment, als sie es mir vorschlug, sah ich es noch nicht. Ich war noch nicht soweit.
"Erzähl mir davon", sagte sie und strich mir über den Kopf.
"Wo soll ich beginnen?"
"Irgendwo", sagte sie.
"So einfach, irgendwo? Von wem soll ich dir erzählen? Matt, Kiray, Kenni, Shio..."
"Erzähl mir von Matthew", sagte sie und goss einen Tee auf. Ich setzte mich aufs Sofa.
"Du kennst ihn selber", sagte ich, aber wusste natürlich, was sie meinte. Ich dachte sofort daran, wie Matt Gitarre spielte oder wie er seine Haare gelte. Aber etwas anderes war mir sofort wieder greifbar.
"Ich bin mal irgendwo mit Matt gewesen, ich weiß gar nicht mehr wo." Ich überlegte kurz.
"Ist auch egal", sagte ich einige Sekunden später, "jedenfalls wollte Matt ein Mädchen treffen, auf das er schon lange abgefahren ist."
"Diese... wie hieß sie noch?", warf Karin ein.
"Nein, nein, ich weiß, wen du meinst, aber die war's nicht", sagte ich grinsend.
"Auf welche stand er denn nochmal? War sie mit uns auf der Schule?"
Ich grinste sie an: "Ich sag nichts, das geht gegen die Verschwiegenheits-Vereinbarung unter Freunden und da du früher zu den Mädels gehörtest, darf ich auch heute nicht darüber sprechen."
Karin lachte: "Du redest so einen Blödsinn."
"Jedenfalls wollte er dorthin und musste dafür mit dem Bus Richtung Norden fahren."
"Wer von den Mädels wohnte denn im Norden..."
"Ey, Schluss damit", sagte ich, Karin kicherte und ich erzählte weiter, "wir sind also zur Haltestelle hin und ich wollte zurück in die Ost-Stadt, nach Hause..." "Achso, ihr wart an der Einkaufspassage bei der Schule?", fragte sie.
Dies war ein Verkehrsknotenpunkt in der Südstadt, dort nahm man sehr oft den Bus, egal wohin man wollte.
"Richtig, und wir schlenderten sogar rechtzeitig hin", betonte ich, "was mit Matt eigentlich unmöglich war."
"Weil seine Haare nicht lagen", ergänzte Karin.
"...oder seine Hose nicht zum Shirt passte und ihm das zu spät auffiel", bestätigte ich, "aber weil wir unterwegs waren, sind wir früh genug hin und mussten sogar noch warten." Ich grinste einige Sekunden vor mich hin.
"Die Geschichte muss ja gut sein!", meinte meine Freundin.
"Jedenfalls haben wir halt gequatscht und mein Bus fuhr ein und ich stellte mich in den Eingang wir redeten noch kurz und dann verabschiedeten wir uns. Der Bus fuhr los und ich wusste, der fährt immer vor dem von Matt in Richtung Nordstadt. Ich schaute aus dem Fenster. Matt stand da noch rum und stieg in den komplett falschen Bus ein."
Karin schüttelte den Kopf.
"Ja, ich seh das noch, wie er da in Zeitlupe auf den falschen Bus zuläuft und dann wahrscheinlich südlich gefahren ist."
"Hat er dann sein Date mit Maria verpasst?"
Ich schaute Karin fragend an: "Ich meine, er hat's verpasst, ja, oder kam zu spät, was für ihn ja eh normal war, aber es war nicht Maria. Wie kommst du darauf?"
"Die kam doch aus der Nordstadt und eine andere ist mir nicht eingefallen."
"Man, das sind ja verzweifelte Versuche, mir das zu entlocken", sagte ich.
"Ist dann noch was draus geworden, mit der, mit der er das Date hatte?", fragte sie.
"Ich glaube nicht. Aber irgendwie hab ich das im Kopf, wie er so selbstverständlich in den völlig falschen Bus einsteigt, obwohl er schon zig mal dort gefahren ist."
"Vielleicht weil er dorthin nach Hause fuhr, dass er wie automatisch dort einstieg", meinte Karin.
"Aber Matt war echt cool", sagte meine Freundin.
"Der Typ und seine Haare", sagte ich und musste lachen. Ich versuchte Matthews Versuch nach-zuahmen, sich unterwegs die Haare zu legen. "Cool war wohl das Stichwort für Matt... obwohl, vielleicht eher eitel."
"Eitelkeit, ja. Irgendwas mit seinen Haaren hatte er echt immer, oder?", fragte sie kichernd.
"Ja, wirklich. Wie oft sind wir zu spät gekommen?" Ich dachte darüber nach, wie man sich damals ärgerte über Matt, aber es eigentlich gar nicht schlimm war. Und vor allem so vermeidbar. "Er musste sich noch die Haare glätten oder sowas. Oder seine Hose wechseln, weil sie nicht perfekt zum Oberteil passte. Sowas war es immer. Das sind keine Übertreibungen. Aber du siehst ja, dass es zum Running-Gag geworden ist."
"Wie ein Mädchen", kicherte Karin.
"Aber echt", bestätigte ich, "und wir sagten ihm, es spiele keine Rolle, aber das spornte ihn nur an, weil wir keine Ahnung hatten."
"Kannst du dich noch an deine erste Begegnung mit Matt erinnern?", wollte Karin von mir wissen. Sie stellte mir meinen Tee hin und machte es sich neben mir mit einem Kissen auf dem Schoß bequem.
"Nein, ich kannte ihn einfach aus der Schule. Matthew und ich kamen damals in die selbe Klasse in der Grundschule, hatten aber nicht viel miteinander zu tun. Wir hatten andere Freunde bis wir uns durch den Fußball im Verein immer besser kennenlernten und schließlich anfreundeten. Er war dann einfach dabei. Das muss sich so über die Zeit ergeben haben. Uns verbanden die Schule und der Fußball, aber Matt hatte noch andere Kreise, wie durch seine Musik."
Nach der Trennung seiner Eltern verbrachte Matthew den größten Teil seiner Jugend bei seinem Vater in der Südstadt und sein Bruder lebte bei seiner Mutter in einem anderen Stadtteil. Der Familie ging es finanziell gut und er pflegte ein gutes Verhältnis zu seinem Bruder und seiner Mutter und so war er oft unterwegs, wenn er sich mit uns traf, wenn er zum Fußball fuhr oder seine Mutter besuchte. Ich fing an, mich daran zu erinnern, dass er gar nicht immer mit dabei war, wenn wir uns trafen, auch wenn sich das anders anfühlte, da er trotzdem ein fester Bestandteil der Gruppe war. Doch bei ihm war es eben alles ganz anders als bei uns anderen. Matt hatte verschiedene Freundeskreise und irgendwie auch Familien. Vielleicht waren dies Faktoren, die dafür sorgten, dass ihm unser Freundeskreis nicht so viel bedeutete oder es ihm eben dann leichter fiel, die Jungs loszulassen.
Ich trank einen Schluck Tee und schaute aus dem Fenster. Karin holte mich wieder aus den Gedanken: "Und Kenneth? Erinnerst du dich, wie du dich mit ihm angefreundet hast?"
"An eine Sache erinnere ich mich, aber ich kann es zeitlich schwer einordnen..."
Ich überlegte, dass wir noch sehr jung gewesen sein mussten und ich Kenneth überhaupt nicht kannte, da er ein Jahr unter mir war. Aber im Nachhinein wusste ich natürlich, dass es Ken war. "Wir waren in der Schule und in der Pause gerade mit dem Ball auf dem Weg zum Schulsportplatz, aber irgendwas war. Entweder es war zu matschig oder der Platz war mit etwas besetzt, ich erinnere mich wirklich nicht. Auf jeden Fall war Ken dort und hatte eine Verletzung. Sein Bein oder Fuß war eingegipst..."
"Und dann hat er Fußball gespielt?", fragte Karin.
"Nein, eben nicht", sagte ich, "das war's ja. Er konnte wohl nicht kicken oder klettern oder was auch immer man dort gemacht hat und hat sich ein eigenes Spiel ausgedacht, was ich dann später noch gespielt habe..."
Karin schien sich darüber zu amüsieren.
"Ja, schon komisch.", sagte ich.
"Was für ein Spiel denn?"
"Er leitete uns sozusagen an, bestimmt Sachen auf dem Schulgelände zu platzieren und sie dann mit einer maximalen Anzahl von Schüssen zu treffen."
"Machen das nicht alle Kinder?", fragte meine Freundin.
"Doch, vielleicht, aber nicht so wie wir", sagte ich und grinste breit.
"Aha, Kens Version war besser?"
"Ja, genau", erklärte ich, "ausgereifter!"
"Ihr ward doch Grundschüler", kicherte Karin.
"Trotzdem", sagte ich, "es gab verschiedene Ziele, zum Beispiel eine leere Dose, einen anderen Ball oder irgendein Spielzeug." Ich gestikulierte wild, als wollte ich ihr das Spiel verkaufen wollen.
"Dann wurden diese Objekte platziert, an verschieden schwer zu treffenden Orten. Ein zweiter Ball auf dem Boden liegend ist natürlich leichter zu treffen, als ein kleines Spielzugfigürchen, das auf einer Schaukel platziert wurde. Und je nach Schwierigkeit und Entfernung gab es mehr Versuche!" Ich klang wohl wirklich begeistert.
"Dann kann man einfach das Schaukelbrett abschießen und es fällt herunter, oder nicht?", merkte Karin an. Sie wollte mich wohl ärgern. "Aber ich verstehe schon Schatz, es war ein tolles Spiel."
Ich lachte: "Ja, war eine tolle Übung und ich glaube, wie ich es gerade erzählt hab, als Ken diesen Gips hatte, hat er das Spiel erfunden."
"Bahnbrechend", sagte Karin ironisch und lächelte.
"Das sag ich ihm, dass du das nicht wertschätzt", drohte ich. Aber dann überlegte ich weiter, wie es war, als wir uns in der frühen Jugend annäherten.
"Eigentlich gab es da keinen Moment. Ken war dann einfach dabei. Der war die bessere Hälfte von Kiray in der Jugend. Sonst hatte ich ihn nie wirklich wahr-genommen."
"Verständlich", meinte Karin, "er war unscheinbar, klein, schmächtig. Er hat auch nicht viel gesagt. Eigentlich war er wirklich..." Sie schien nicht die rich-tigen Worte zu finden oder sie empfand die Worte, die ihr in den Kopf kamen, als zu negativ.
"...ein Außenseiter?", fragte ich sie.
"Ich meine es nicht mal böse, aber irgendwie, ja, sowas", bestätigte sie.
"Ich versteh schon, ich meine es auch nicht böse, aber ich denke, ohne Kiray und schließlich uns wäre er vielleicht einer geworden. So zogen wir ihn mit. Kiray der große, starke Kerl verteidigte ihn und er hing mit den coolen Jungs wie Matt oder Shio ab."
Kenneth lebte bei seinen Eltern nicht allzu weit von mir entfernt in einem modernen Einfamilienhaus, so wie sie bei uns in der Oststadt häufig vertreten waren. Er hatte einen behinderten Bruder, der früh verstarb, und wuchs dann als behütetes Einzelkind auf. Die Eltern kannte ich kaum, aber ich hatte sie als sehr lieb und immer etwas besorgt in Erinnerung.
"Kenni war schon niedlich", meinte Karin dann.
"Er war in deinem Jahrgang?", fragte ich rhetorisch, denn ich wusste es genau. Kenneth war jünger, aber irgendwie den anderen voraus. Als meine spätere Freundin Karin und andere aus ihrem Jahrgang für uns noch sehr kindlich rüber kamen, war er schon irgendwie voraus. Er war definitiv sehr intelligent. Ein Überflieger.
Als Ken, Shio und ich mal ein Schulprojekt zusammen machen sollten, trafen wir uns bei mir und ich alberte fast die ganze Zeit nur mit Shio herum und Kenni machte die die Arbeit fast allein. Das kann sogar das erste Mal gewesen sein, das Kenni bei mir zuhause war. Ich war ein wenig beleidigt, als mein Vater abends nur Kenneth lobte. Aber fair wäre es anders auch nicht gewesen. Ken war einfach ein Fuchs und Eltern fanden ihn als Kind super, weil er nicht anstrengend, sondern immer höflich, freundlich und hilfsbereit war. Er war eigentlich der Anti-Kiray.
"Ken war wirklich nett, ruhig und schlau und seit ich ihn kenne, hing er an Kiray dran", sagte ich mit keiner negativen Konnotation. So kam er eben mit uns in Kontakt.
"Er war später sogar mit Kiray in einer Klasse, weil der zweimal sitzen geblieben ist." Ich schaute Karin an. Sie lachte kurz. Ich hatte es wohl so gesagt, dass es wie ein Witz zu deuten war, gemeint war es aber nicht so.
"Ich meinte nur", sagte ich.
"Ist okay", sagte Karin, "ich wollte mich nicht über ihn lustig machen."
"Er hätte damals nicht sitzen bleiben müssen", stellte ich klar.
"Ich weiß", sagte Karin, "er war definitiv klug, aber gab wirklich einen Scheiß auf die Schule und auf..."
"Ja", bestätigte ich: "Irgendwann auf alles, das wolltest du sagen, oder?"
Dann sagte sie: "Kiray war mir immer suspekt. Obwohl ich ihn auch schon lange kannte. Vielleicht weil er zwei Klassen über mir war. Das hatte eine gewisse Autorität. Vielleicht war es das oder es war einfach, weil er ein gruseliger Kerl war. Schon immer."
"Verständlich", bestätigte ich ihr, "das Gefühl hatten wohl viele und es lag nicht am Altersunterschied. Viele sahen das so, ob älter oder jünger. Shio und ich waren einen Jahrgang unter ihm und ich kann das, was du sagst, total bestätigen." Ohne einen Groll in irgendeiner Form gegen ihn zu hegen, verstand ich immer, warum er den Leuten - und das war das richtige Wort - suspekt war.
"Er hatte viel erlebt", meinte Karin, "vielleicht deswegen."
"Er war der Antiheld", sagte ich und mir gingen die Worte dafür mit allem Wohlwollen, das möglich war, über die Lippen. Ich hatte sehr zu ihm aufgesehen. Klar war Matthew der Musikalische, Shio der Sportliche und Kenni der Kluge - alles Dinge, die bewundernswert waren, ohne Frage. Aber für mich war Kirays Fähigkeit, andere zu begeistern, andere - so negativ das klingt - anzustiften, das was ich am meisten bewunderte. Jedenfalls wenn ich das heute auf eine einzelne Fähigkeit herunter breche.
"Antiheld. Andere würden sagen Arschloch", sagte Karin trocken, sodass ich ein wenig lachen musste. Aber sie hatte wohl Recht. Kiray konnte einem wirklich die Laune verderben und andere schlecht behandeln. Ohne mit der Wimper zu zucken wechselte seine Stimmung.
"Es war mal ein Event von der Schule, das klassen- und jahrgangsübergreifend war", erzählte ich, "wir hatten das so gedreht, dass wir möglichst wenig zu tun hatten, oder besser gesagt, keine unangenehmen Aufgaben übernehmen mussten. Außerdem versuchten wir gemeinsam in eine Gruppe zu kommen. Erinnerst du dich daran, musste man sich dafür eintragen?"
Karin nickte: "Ich meine, bei diesen Eventtagen gab es vorher Listen, ja. Man konnte sich eintragen fürs Aufbauen, Abbauen, Verkauf am Kiosk, sowas."
"Richtig", bestätigte ich, "das meinte ich. Und es hatte geklappt, dass Kiray und ich mit noch anderen zusammen Vorräte auffüllen mussten. Das Gute war, dass wir da die meiste Zeit nur rumgesessen haben und ab und an diesen dämlichen Wagen gefahren haben, um was aufzufüllen."
"Warum hieltet ihr das für eine gute Aufgabe?", fragte Karin verständnislos. Das musste ich dann zugeben. Ich wusste auch nicht mehr was die Idee dahinter war.
"War auch äußerst wichtig, diesen einen Tag was zusammen machen zu können", sagte ich.
"Ja, auch wenn man sich eh dauernd sah", bestätigte Karin, "war bei meinen Mädels und mir genauso. Warum einem das wichtig war, keine Ahnung, es war doch nur ein einziger Tag."
Da hatte sie Recht, es war aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbar, dass man darin Energie investiert hatte. Ich erzählte weiter: "Wir saßen dort herum und aus irgendeinem Grund hatte sich Kiray in den Kopf gesetzt, eher gehen zu dürfen. Und einige Zeit vor dem Ende der Dienstzeit wurde ihm und uns dann gesagt, wir müssten länger bleiben als wir uns das ausgemalt hatten. Und da kippte komplett seine Stimmung."
"Oh oh", machte Karin.
"Ja, das hatte uns irgendein älterer Schüler gesagt und wir, oder halt Kiray, hatte es vorher nur falsch verstanden. Er war komplett außer sich. Der hat diesen Schüler und jeden, der da mit ihm Dienst hatte, zusammengefaltet. Dabei ging's nur um... vielleicht ein oder zwei Stunden?"
Karin schien mir mein Unverständnis über diese Situation, das ich noch heute hatte, wohl wirklich anzusehen.
"Unglaublich", bekräftigte ich nochmal, "das war noch nicht mal schlimm und jeder hat mitbekommen, wie er da herumgeschrien hat. Das hat er beim Fußball zwar auch mal, aber das war irgendwie nachvollziehbarer für mich, verstehst du?"
"Ja, bei eurer Fußballleidenschaft, verständlich, aber wahrscheinlich stand er bei der Sache in der Schule grundsätzlich unter Strom", überlegte Karin.
"Ja, sicher hatte er ja Probleme zu Hause und so weiter, aber er war komplett entspannt davor, hat da Faxen gemacht. Wir haben uns unterhalten und den Dienst gemacht, gar kein Problem."
"Ja, aber typisch oder nicht? Irgendwie würden sich viele von früher eben an genau diesen Kiray erinnern, oder?"
Ich musste das bestätigen. "Ja, sowas bleibt hängen. Ein Kiray, der dir völlig entspannt irgendwas über Filme erzählt, der geht unter. Die Leute werden sich eben an das erinnern, was etwas auffällig war, die negativen Ausbrüche. Schade eigentlich, aber so ist es nunmal."
"Viele kannten ihn halt auch nicht besser", sagte Karin zutreffend.
"Genau."
"Wie kam es dazu, dass ihr Kiray getroffen habt? War das im Verein?", fragte sie. Wir waren schon einige Jahre zusammen und sie kannte uns alle von früher und war oft dabei. Bestimmt hatte ich ihr diese Geschichten schon erzählt, aber wir waren beide in der Stimmung, solche Dinge noch einmal Revue passieren zu lassen. Die schönen Zeiten.
"Nein, bereits vorher", erklärte ich, "aber richtig angefreundet haben wir uns dann erst im Verein. Ich erinnere mich noch, wie ich damals mit Kiray vor dem Schulgebäude saß. Das war, glaube ich, die erste Unterhaltung, die ich wissentlich mit ihm hatte."
"Über was habt ihr geredet?"
Ich antwortete nicht.
"Wann war das?", fragte sie weiter.
"Ich weiß nicht mehr, wann das war", sagte ich, "aber wir haben komischerweise über eine Fernsehsendung geredet."
"Hm, das passt, ich erinnere mich, dass Kiray Filme und Musik zu Hause gesammelt hatte. Stimmt doch, oder?"
"Ja", bestätigte ich, "er hatte damals einen von den neuartigen Fernsehern. Der Vater hatte wohl ein Interesse an sowas. Aber das war später. Als wir uns da unterhielten, waren wir noch jünger. Wir haben über eine Fernsehsendung geredet, die ich gar nicht kannte. Aber ich wollte ihn beeindrucken." Ich musste den Kopf schütteln über mein Verhalten. "Damals wollte ich Eindruck erwecken und mit ihm ins Gespräch kommen. Also erzählte ich, ich hätte diese Sendung auch gesehen, damit wir einen gemeinsamen Nenner haben."
Ich schaute meine Freundin an. Sie fühlte sich wohl bewogen, mir dazu etwas zu sagen: "Ist doch verständ-lich, ein älterer Junge, du wolltest ihm gefallen."
"Ja", sagte ich zögerlich, "es wirkt nur, als wäre unser erstes Gespräch eine Lüge als Fundament für die Freundschaft gewesen." Die Geschichte war mir etwas unangenehm.
"Ach was", meinte Karin, "meinst du, Kiray hat das damals durchschaut?"
"Ich denke schon, aber ich weiß es nicht, ich hab dann auch eigentlich nie darüber nachgedacht."
"Na siehst du", sagte sie lächelnd.
Karin schaute auf die bereits leere Tasse in ihrer Hand, während sie mit dem Löffel darin herumrührte. Sie war wohl in Gedanken verfallen. Über unsere Gruppe. Die Jungs um mich und ihren Bruder. Das Lächeln auf ihrem Gesicht verschwand langsam und ihre Augen wirkten nun traurig. Der letzte in unserer Gruppe war Shio. Er war nicht nur mein bester Freund, sondern auch Karins großer Bruder. Sie vermisste ihn.
Bester Freund schallte mir im Kopf herum. Er war mein Freund, bevor wir die anderen kennen lernten oder anders gesagt, uns mit ihnen anfreundeten. Matt kannte ich zwar ebenfalls seit der frühen Schulzeit, allerdings hatte ich noch nichts mit ihm zu tun. Sowieso war mir Shio näher als die anderen Jungs. Ich traf Shio abseits von den anderen, wir verbrachten viel Zeit zu zweit. Die anderen, Ken, Kiray und Matt, sah ich meistens im Kollektiv. Ich traf eigentlich nie einen der anderen allein. Aber so waren auch Ken und Kiray untereinander.
Shio und Karin lebten als Kinder mit ihren Eltern noch in der Nordstadt, zogen dann aber in der Jugend in die Oststadt, nur ein paar Minuten mit dem Fahrrad von mir entfernt. Beide Elternteile waren damals wie heute mit ihrem Beruf verheiratet, was sich auf ihre Ehe ausgewirkt hatte. Sie schienen sich gegenseitig bereits damals aus dem Weg zu gehen. Ihre Kinder waren etwas, was hauptsächlich erledigt werden musste, mehr wie eine Pflicht, finanzieller und organisatorischer Natur. Sie statteten ihre Kinder mit einer Wohnung und genügend Budget aus und es wurde maximal sporadisch überprüft, ob sie zur Schule gingen und ihre Leistungen erbrachten. Die Kinder schienen etwas zu sein, was man organisatorisch möglichst bei geringem Aufwand, entsprechend weit weg, möglichst kosten-effizient handhaben musste. Gerade Shio, so wie ich das erlebte, aber natürlich auch Karin, hätten ihre Eltern sicher öfter gebraucht, als sie für sie verfügbar waren. Dass meine Freundin damit gut umgegangen war, dessen war ich mir sicher. Was es damals und vielleicht noch heute mit Shio machte, konnte ich nicht einschätzen. Shio litt jedenfalls mehr unter Einsamkeit als wir anderen, wenn man das so bezeichnen konnte. Denn er war der, der von seinen Eltern am wenigsten hatte. Gleichzeit waren seine Eltern aber auch mit Abstand die wohlhabendsten. Karin hatte mir damals, als wir uns noch nicht so lange kannten und noch nicht zusammen waren, mal erzählt, dass ihre Eltern nur noch zusammen seien, weil sie zu faul wären, eine Gütertrennung vorzunehmen. Beide für sich hätten wahrscheinlich ein wohlhabendes Leben führen können, aber man hatte anscheinend den Weg gewählt, sich durch Arbeit weitestmöglich aus dem Weg zu gehen. Dass die beiden immer noch verheiratet waren, auch Jahre später, ließ diese Theorie aber nicht weniger plausibel erscheinen. Ein Paar waren sie wohl schon jahrelang nicht mehr und unterschieden sich damit auch von meinen und Kens Eltern.
Shios Vater war immer kalt, abwesend und desinteressiert gewesen. Er verlangte von den beiden Geschwistern immer unglaublich viel und gerade Shio litt darunter. Gleichzeitig gab er auf emotionaler Ebene nichts. Beide Elternteile waren Ärzte beziehungsweise im Gesundheitssektor tätig und hochgebildet. Bei meiner Freundin hatte das dafür gesorgt, dass sie sich davon abgekehrt hatte, alles so verbissen auf Leistung und Geld zu fokussieren. Sie war mit wenig zufrieden und schon damals zu Schulzeiten schien sie mit weniger guten Noten zufrieden zu sein, als ihre Eltern es vorgaben. Sie war aber auch eine Überfliegerin. Sie war klug und gleichzeitig sozial eingestellt, half anderen, war nett und respektierte andere.
Karin sagte nichts und ich begann mit einer seltsam präsenten Erinnerung: "Shio und ich waren zusammen im Kindergarten. Es gab da diesen Jungen, er war größer und stärker als alle anderen. Ich weiß nicht warum, vielleicht war er schon älter oder es lag an der Genetik. Wer weiß. Er ärgerte andere Kinder, provozierte sie und wenn sie sich dagegen wehrten, reagierte er mit Gewalt. Nur Shio und ich hatten eine Idee. Wenn er wieder kämpfen wollen würde, würden wir ihn jeder an einem Arm packen und in eine Richtung rennen. So würde er umgerissen werden und endlich mal zu Boden gehen."
"Eine komische Geschichte", sagte sie, "warum erinnerst du dich daran noch so?"
"Ich weiß es nicht, vielleicht weil's eine der ersten Sachen war, die ich mit Shio gemacht habe."
"Die ihr zusammen ausgeheckt habt", meinte sie und es breitete sich wieder ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. "Wie ging es denn aus, hat es geklappt?"
"Ich weiß es nicht mehr." Das wunderte mich selbst, das Ergebnis war mir nicht mehr Kopf geblieben.
Shio war sehr beliebt auf der Schule. Er war sportlich, lustig und sein gutes Aussehen machte besonders bei den Mädchen Eindruck.
"Ich war immer ein wenig neidisch auf deinen Bruder, er hat sich rausgeputzt und alle Mädels flogen förmlich auf ihn."
"War's bei meinem Bruder so schlimm wie bei Matt?", fragte Karin. "Naja, es war schlimm, aber im Maßstab, den wir durch Matt hatten, war's das nicht. Er gab meist weniger auf sein Aussehen. Matt war ein anderes Level."
"Matt war aber wirklich ein toller Typ, viele mochten ihn...", sagte sie, "ich meine die Mädels."
Ich nickte: "Mädels und Musiker, das ist so ein Ding!"
"Aber Shio war doch der Mädchenschwarm schlechthin, ist doch so?!", sagte sie. Immer wenn sie an ihren Bruder dachte oder ihn erwähnte, was sie seltener tat in der heutigen Zeit, hatte sie diesen Gesichtsausdruck, den ich nicht deuten konnte. Ich wusste nicht, ob sie mit Stolz von ihrem großen Bruder sprach, mit Trauer, weil wir den Kontakt so lange verloren hatten, oder mit Enttäuschung, weil er eben weg war. Diese Gefühlslagen, die alle in ihr sein mussten, ließen in mir eine gewisse Dissonanz entstehen, die sicher auch in ihr war. Mir ging es so. Er war mein bester Freund gewesen. Natürlich waren wir eine Clique aus uns fünf, aber mit Shio war ich nochmal spezieller verbunden.
Shio war unheimlich sportlich und auch handwerklich geschickt. Aber er interessierte sich nicht so sehr für schulisch relevante Themen, war faul beim Lernen und hatte Probleme mit Autoritäten. Auch wurde er von vielen sicher als arrogant und angeberisch gesehen. Es war wohl einfach eine andere Art, wie die beiden mit ihrer Lebenssituation umgingen. Und, was wahr-scheinlich nur seine engen Freunde wussten, litt er sehr unter dem Leistungsdruck und der Missachtung seines Vaters. Dem Besagten reichte nie aus, was Shio tat, und er missbilligte eigentlich alles, was Shio gern machte. Sein Fußballtalent oder auch Talent für anderen Sport würdigte er nie. Die Mutter war da nicht anders, sie erwartete von Shio allein schon mehr als von ihrer Tochter, weil er der ältere und vor allem der Junge war.
Ich musste daran denken, was für ein Mädchenschwarm Shio im Gegensatz zu mir doch war. Er war einfach unglaublich hübsch. Dazu noch seine Sportlichkeit und dieser tolle Humor. Ich war, wie gesagt, damals neidisch auf ihn, weil er so gut beim anderen Geschlecht ankam. Besonders unangenehm war mir, als er mich einmal herrief, als wir vor dem Schulgebäude warteten. Wir wollten entweder gerade los nach Hause oder in die Pause, jedenfalls standen wir etwas abseits. Shio und das Mädchen rauchten eine Zigarette zusammen und unterhielten sich. Es war offensichtlich, dass sie auf ihn stand. Aber ihm war das wohl, in typischer Manier, herzlich egal oder sogar lästig. Er rief mich dazu und ich stand dann dort. Dem Mädchen war das sichtlich unrecht, weil sie sich sicher einige Minuten ungestörte Unterhaltung mit ihm gewünscht hatte. Wahrscheinlich wollte sie ihn um ein Treffen bitten oder über ihre Gefühle sprechen, aber Shio fing an, irgendwas mit mir zu besprechen. Irgendetwas Belangloses und ich antwortete mehr aus Höflichkeit. Ich hätte ihr natürlich gegönnt, ihre Zeit mit Shio zu haben, denn ich hatte ihn eh dauernd um mich. Wir waren in einer Klasse und ich fuhr mit ihm mit dem Bus zur Schule hin und wieder zurück. Wir hatten zusammen Training und trafen uns auch noch privat. Eigentlich waren wir das Pärchen. Aber in dem Moment schaute sie zu mir rüber und ich merkte ihre fast schon Verachtung. Ich wollte diese Situation nicht, aber ich bekam trotzdem ihr Missfallen ab. Das Schlimmste war, dass das ein Mädchen war, das ich selber wirklich gern mochte.