Die Farben des Himmels - Christina Baker Kline - E-Book

Die Farben des Himmels E-Book

Christina Baker Kline

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Beschreibung

Die abgeschiedene Farm ihrer Familie in Maine ist die einzige Welt, die Christina Olson kennt. Eine seltene Krankheit schränkt ihren Radius extrem ein und verhindert, dass sie diesen kleinen Kosmos verlassen kann. Als ihre ersehnte Verlobung in die Brüche geht, platzt ihre letzte Hoffnung, der klaustrophobischen Enge ihres Lebens zu entkommen. Doch dank ihres unbeugsamen Willens gelingt es Christina, sich eine ganz eigene Welt zu erschaffen – in deren Mittelpunkt die tiefe Freundschaft mit dem Maler Andrew Wyeth steht. Er zeigt ihr, dass es mehr als eine Art gibt zu lieben, und verewigt sie in einem der berühmtesten amerikanischen Gemälde des 20. Jahrhunderts.

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Buch

Die abgeschiedene Farm ihrer Familie in Maine ist die einzige Welt, die Christina Olson kennt. Eine seltene Krankheit schränkt ihren Radius extrem ein und verhindert, dass sie diesen kleinen Kosmos verlassen kann. Als ihre ersehnte Verlobung in die Brüche geht, platzt ihre letzte Hoffnung, der klaustrophobischen Enge ihres Lebens zu entkommen. Doch dank ihres unbeugsamen Willens gelingt es Christina, sich eine ganz eigene Welt zu erschaffen – in deren Mittelpunkt die tiefe Freundschaft mit dem Maler Andrew Wyeth steht. Er zeigt ihr, dass es mehr als eine Art gibt zu lieben, und verewigt sie in einem der berühmtesten amerikanischen Gemälde des 20. Jahrhunderts.

Christina Baker Kline

Die Farben des Himmels

Roman

Aus dem Amerikanischen von Anne Fröhlich

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »A Pie ce Of The World« bei Harper Collins, New York, NY.
Dieses Buch ist ein Werk der Fiktion.
Copyright © der Originalausgabe by Christina Baker Kline Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagmotiv: Stephen Mulcahey / arcangel images Gemälde: Christina’s World © 2016 Andrew Wyeth / Artists Rights Society (ARS), New York FinePic®, München Redaktion: Alexander Behrmann AG · Herstellung: Han Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling ISBN: 978-3-641-17398-2V002www.goldmann-verlag.de
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Für meinen Vater,

der mir die Welt gezeigt hat

»Da war eine eigenartige Verbindung zwischen uns. Manchmal gibt es solche merkwürdigen Zusammentreffen. Wir waren uns ein bisschen ähnlich; ich war ein kränkliches Kind gewesen, das man im Haus behielt. Deshalb herrschte ein unausgesprochenes Gefühl zwischen uns, das wunderbar war, eine vollkommene Natürlichkeit. Wir konnten stundenlang dasitzen, ohne ein Wort zu sprechen, bevor sie etwas sagte und ich ihr antwortete. Ein Reporter fragte sie einmal, worüber wir redeten. Sie antwortete: ›Nichts Überflüssiges.‹«

Andrew Wyeth

Prolog

Später erzählte er mir, er habe sich davor gefürchtet, mir das Bild zu zeigen. Er dachte, mir würde nicht gefallen, wie er mich dargestellt hat: wie ich mich über das Feld ziehe, die Finger in die Erde gekrallt, die Beine verdreht. Weizenstroh und Lieschgras, öde wie eine Mondlandschaft. Dieses baufällige Haus in der Ferne, drohend wie ein Geheimnis, das nicht verborgen bleiben mag. Die Fenster sind dunkel und undurchdringlich. Im struppigen Gras die Radspuren eines unsichtbaren Fahrzeugs, die nirgendwohin führen. Ein trüber Himmel.

Die Leute glauben, das Bild sei ein Portrait, aber das ist es eigentlich nicht. Er war nicht einmal draußen auf dem Feld, sondern in einem Zimmer im Haus und hat es von dort aus heraufbeschworen, ein völlig anderer Blickwinkel. Er hat Felsen, Bäume und Nebengebäude weggelassen. Die Größe der Scheune stimmt nicht. Und ich bin nicht dieses zerbrechliche junge Ding, sondern eine alternde Jungfer. Das ist nicht mein Körper, wirklich nicht, und vielleicht nicht einmal mein Kopf.

Doch eine Sache hat er richtig verstanden: Mal Zufluchtsstätte, mal Gefängnis, war dieses Haus auf dem Hügel immer mein Zuhause. Ich habe mich mein Leben lang nach ihm gesehnt, während ich ihm gleichzeitig entfliehen wollte, gelähmt von der Macht, die es über mich hatte. (Im Lauf der Jahre habe ich gelernt, dass man auf vielerlei Arten verkrüppelt sein kann, auf unterschiedliche Weise gelähmt). Meine Vorfahren flohen aus Salem nach Maine, aber wie jeder, der versucht, seiner Vergangenheit zu entkommen, haben auch sie sie mitgebracht. Die eigene Herkunft bricht sich unweigerlich Bahn. Man kann den Bindungen seiner Familiengeschichte niemals entfliehen, egal, wie weit man reist. Und das Skelett eines Hauses kann in seinen Knochen das Mark all dessen tragen, was zuvor geschah.

Wer bist du, Christina Olson?, fragte er mich einmal.

Niemand hatte mir je diese Frage gestellt. Ich musste eine Weile darüber nachdenken.

Wenn du das wirklich wissen willst, sagte ich, dann müssen wir bei den Hexen anfangen. Und bei den ertrunkenen Jungen. Bei den Muscheln aus fernen Ländern, die ein ganzes Zimmer füllen. Bei dem schwedischen Matrosen, der im Eis festsaß. Ich werde dir vom falschen Lächeln des Harvard-Mannes und dem Händeringen dieser brillanten Bostoner Ärzte erzählen müssen, von dem kleinen Boot auf dem Heuboden und dem Rollstuhl im Meer.

Und irgendwann – auch wenn uns das damals nicht bewusst war – würden wir hier ankommen, an diesem Ort, innerhalb und außerhalb der Welt des Gemäldes.

Der Fremde vor der Tür

1939

An einem strahlenden Julinachmittag arbeite ich in der Küche an einem Quilt, auf dem Tisch neben mir kleine Stoffquadrate, Nadelkissen und Schere, als ich das Brummen eines Autos höre. Ich schaue aus dem Fenster in Richtung der Bucht und sehe einen Kombi etwa hundert Meter entfernt auf das Feld einbiegen. Der Motor wird abgestellt, die Beifahrertür geht auf, und Betsy James steigt aus, sie ruft und lacht. Ich habe sie seit letzten Sommer nicht gesehen. Sie trägt kurze Baumwollhosen, eine ärmellose weiße Bluse und ein rotes Halstuch. Ich sehe zu, wie sie auf das Haus zukommt, und ich bin verblüfft, wie sehr sie sich verändert hat. Ihr hübsches Gesicht ist schmaler geworden, das dichte, kastanienbraune Haar reicht ihr bis zu den Schultern, ihre Augen sind dunkel und glänzend. Ein Hauch von rotem Lippenstift. Ich denke daran, wie sie als Neunjährige zum ersten Mal zu Besuch kam, wie sie hinter mir auf der Eingangstreppe saß und mir mit ihren kleinen, flinken Fingern die Haare flocht. Und jetzt ist sie hier, siebzehn Jahre alt und plötzlich erwachsen.

»Hallo, Christina«, sagt sie atemlos, als sie an der Fliegengittertür angekommen ist.

»Komm rein«, antworte ich von meinem Stuhl aus. »Es macht dir doch nichts aus, wenn ich sitzen bleibe?«

»Natürlich nicht.« Sie tritt ein, und im Raum duftet es nach Rosen. (Seit wann trägt Betsy Parfum?) Schon ist sie bei meinem Stuhl angelangt und umarmt mich. »Wir sind vor ein paar Tagen angekommen. Ich bin so froh, wieder hier zu sein.«

»Das sieht man dir an.«

Sie lächelt, die Wangen leicht gerötet. »Wie geht es dir und Al?«

»Ach, du weißt schon. Wie immer.«

»Wie immer heißt gut, oder?«

Ich lächele. Natürlich. Wie immer heißt gut.

»Was machst du da?«

»Nichts Besonderes. Eine Babydecke. Lora ist wieder schwanger.«

»Was für eine großzügige Tante.« Sie greift nach einem der Stoffquadrate, ein Stück Kaliko, rosafarbene Blüten und grüne Blätter auf braunem Grund. »Den Stoff kenne ich.«

»Ich habe ein altes Kleid aufgetrennt.«

»Ich erinnere mich daran. Kleine, weiße Knöpfe und ein weiter Rock, stimmt’s?«

Ich denke an meine Mutter und daran, wie sie mit dem Butterick-Schnittmuster, den schillernden Knöpfen und dem Kaliko-Stoff nach Hause kam. Ich denke an Walton, der mich in diesem Kleid zum ersten Mal gesehen hat. Ich bin überwältigt. »Das ist lange her.«

»Nun, es ist schön, wenn ein altes Kleid ein neues Leben bekommt.« Sie legt das Stoffstück vorsichtig zurück auf den Tisch und sieht sich die anderen an: weißer Musselin, dunkelblaue Baumwolle, ein zart bedruckter Chambray. »All diese kleinen Einzelteile. Das wird ein Familienerbstück.«

»Ich weiß nicht«, sage ich. »Das ist doch nur ein Haufen alter Fetzen.«

»Was der eine wegwirft …« Sie lacht und blickt aus dem Fenster. »Ich habe ganz vergessen, dass ich eigentlich gekommen bin, um ein Glas Wasser zu holen, wenn du nichts dagegen hast.«

»Setz dich, ich bring dir eins.«

»Oh, es ist nicht für mich.« Sie zeigt auf den Kombi draußen auf dem Feld. »Mein Freund möchte euer Haus malen, aber er braucht Wasser dazu.«

Ich werfe einen Blick auf den Wagen. Ein junger Mann sitzt auf dem Autodach und schaut in den Himmel hinauf. Er hat einen großen, weißen Malblock in der einen Hand und etwas, das wie ein Bleistift aussieht, in der anderen.

»Das ist N. C. Wyeths Sohn«, flüstert Betsy, als ob sie außer mir irgendjemand hören könnte.

»Wer?«

»Du kennst doch N. C. Wyeth. Den berühmten Illustrator? Die Schatzinsel?«

Ah, Die Schatzinsel. »Dieses Buch hat Al geliebt. Wir müssten es noch irgendwo haben.«

»Ich glaube, jeder Junge in Amerika hat es noch irgendwo. Jedenfalls, sein Sohn ist auch ein Künstler. Ich habe ihn gerade heute kennen gelernt.«

»Du hast ihn heute kennen gelernt und fährst im Auto mit ihm durch die Gegend?«

»Ja, er ist … Ich weiß nicht. Er wirkt vertrauenswürdig.«

»Und deine Eltern haben nichts dagegen?«

»Sie wissen nichts davon.« Sie lächelt verlegen. »Er stand heute Morgen bei uns vor der Tür und hat nach meinem Vater gefragt, aber meine Eltern waren unterwegs zum Segeln. Ich habe ihm die Tür geöffnet, und jetzt sind wir hier.«

»Solche Dinge passieren manchmal«, sage ich. »Wo kommt er her?«

»Aus Pennsylvania. Seine Familie hat hier einen Sommerwohnsitz, in Port Clyde.«

»Du scheinst ja furchtbar viel über ihn zu wissen«, sage ich mit hochgezogenen Augenbrauen.

Auch sie hebt die Augenbrauen, als sie antwortet. »Ich habe vor, noch mehr herauszufinden.«

Betsy kehrt mit einem Becher Wasser zurück zum Kombi. An der Art, wie sie geht, mit straffen Schultern und hoch erhobenem Kopf, erkenne ich, dass sie weiß, dass der junge Mann sie beobachtet. Und dass es ihr gefällt. Sie gibt ihm den Becher und klettert zu ihm auf das Autodach.

»Wer war das?« Mein Bruder Al steht an der Hintertür und trocknet sich die Hände an einem Tuch ab. Ich merke nie, wenn er kommt; er ist so leise wie eine Katze.

»Betsy. Und ein Junge. Er malt ein Bild vom Haus, hat sie gesagt.«

»Wozu tut er das?«

Ich zucke mit den Schultern. »Manche Leute sind schon komisch.«

»Stimmt.« Al setzt sich in seinen Schaukelstuhl und holt Pfeife und Tabak hervor. Während er die Pfeife stopft und anzündet, tun wir beide so, als würden wir Betsy und den jungen Mann nicht durch das Fenster beobachten.

Nach einer Weile steigt der Junge herunter und legt seinen Malblock auf die Motorhaube. Er reicht Betsy die Hand, und sie lässt sich hinunter und in seine Arme gleiten. Sogar aus dieser Entfernung kann ich die Leidenschaft zwischen den beiden spüren. Sie bleiben einen Augenblick stehen und unterhalten sich, dann nimmt Betsy ihn an der Hand und zieht ihn mit sich – oh Gott, sie bringt ihn hierher zum Haus. Einen Moment lang überkommt mich Panik: Der Fußboden ist staubig und mein Kleid schmutzig, meine Haare sind ungekämmt. Auf Als Arbeitsanzug sind Schlammspritzer. Es ist lange her, dass ich mir zuletzt Gedanken darüber gemacht habe, wie ich auf einen Fremden wirken könnte. Aber während sie auf das Haus zukommen, fällt mir auf, wie der Junge Betsy ansieht, und mir wird klar, dass ich mir keine Sorgen machen muss. Er hat nur Augen für sie.

Jetzt ist er da, steht vor der Tür. Schlaksig, lächelnd und strotzend vor Energie, füllt er den ganzen Türrahmen aus, als er die Fliegengittertür öffnet. »Was für ein wunderbares Haus«, murmelt er und reckt den Hals, während er seinen Blick durch den Raum und zur Decke schweifen lässt. »Das Licht hier ist außergewöhnlich.«

»Christina, Alvaro, das ist Andrew«, sagt Betsy, die hinter ihm durch die Tür tritt.

Er nickt uns zu. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass ich hier so ohne Einladung hereinplatze. Betsy hat geschworen, das sei in Ordnung.«

»Wir legen nicht viel Wert auf Förmlichkeiten«, sagt mein Bruder. »Ich bin Al.«

»Leute ganz nach meinem Herzen. Und nennen Sie mich Andy, bitte.«

»Also, ich bin Christina«, sage ich.

»Ich sage Christie zu ihr, aber das tut sonst niemand«, fügt Al hinzu.

»Dann also Christina«, sagt Andy und richtet den Blick auf mich. Ich kann kein Urteil darin erkennen, nur eine gewisse anthropologische Neugier. Trotzdem lässt mich seine offenkundige Aufmerksamkeit erröten.

Schnell drehe ich mich zu Al und sage: »Erinnerst du dich an das Buch Die Schatzinsel? Sein Vater hat die Bilder dazu gemalt, sagt Betsy.«

»Wirklich?« Al strahlt. »Das sind Bilder, die man nicht vergessen kann. Ich habe das Buch wahrscheinlich ein Dutzend Mal gelesen. Wenn ich es mir recht überlege, ist es vielleicht das einzige, das ich je zu Ende gelesen habe. Ich wollte Pirat werden.«

Andy grinst. Er hat große, weiße Zähne wie ein Filmstar. »Ich auch. Eigentlich will ich das immer noch.«

Betsy hat den riesigen Malblock in der Hand. Stolz wie eine junge Mutter kommt sie zu mir herüber, um ihn mir zu zeigen. »Schau, was Andy gemacht hat, Christina, in der kurzen Zeit.«

Das Papier ist noch feucht. Mit kräftigen Pinselstrichen hat Andy das Haus auf einen weißen Kasten mit zwei Giebeln, die in Richtung Meer zeigen, reduziert. Die Felder sind grün und gelb, mit stacheligen Grashalmen, die hier und da aufragen. Beinahe schwarze Tannen, in Violett angedeutete Berge, wässrige Wolken. Obwohl das Aquarell nur eine flüchtige Skizze ist, weisen die Pinselstriche eine Bewegung auf, als würde ein Wind durch das Bild fegen – es ist offensichtlich, dass der Junge etwas von der Sache versteht. Die Fenster sind bloß angedeutet, aber man hat das merkwürdige Gefühl, hineinsehen zu können. Das Haus wirkt wie in der Erde verwurzelt.

»Es ist nur ein Entwurf«, sagt Andy und tritt neben mich. »Ich werde noch weiter daran arbeiten.«

»Sieht aus wie ein Ort, an dem es sich gut leben lässt«, sage ich. Das Haus wirkt lauschig und gemütlich, eine Märchenversion von dem Haus, in dem Al und ich tatsächlich wohnen. Die Zeichen seines Verfalls sind nur durch einige blaue und braune Farbkleckse angedeutet.

Andy lacht. »Das wisst ihr besser als ich.« Er fährt mit zwei Fingern über das Papier und sagt: »So klare Formen. Dieser Ort hat etwas Außergewöhnliches … Lebt ihr hier schon lange?«

Ich nicke.

»Das spüre ich. Das Haus ist voller Geschichten. Ich wette, ich könnte es hundert Jahre lang immer wieder malen, ohne dass es mich langweilen würde.«

»Oh doch, es würde dich langweilen«, sagt Al.

Wir alle lachen.

Andy klatscht in die Hände. »Hey, wisst ihr was? Ich habe heute Geburtstag.«

»Tatsächlich?«, fragt Betsy. »Davon hast du mir gar nichts gesagt.«

Er legt einen Arm um sie und zieht sie an sich. »Wirklich nicht? Ich habe das Gefühl, als wüsstest du schon alles über mich.«

»Noch nicht«, sagt sie.

»Wie alt bist du?«, frage ich ihn.

»Zweiundzwanzig.«

»Zweiundzwanzig! Betsy ist erst siebzehn.«

»Reife Siebzehn«, platzt Betsy heraus und errötet.

Andy wirkt belustigt. »Na ja, mir war Alter noch nie besonders wichtig. Oder Reife.«

»Wie willst du feiern?«, frage ich.

Er sieht Betsy an und zieht eine Augenbraue hoch. »Ich würde sagen, ich bin schon dabei.«

Betsy taucht erst mehrere Wochen später wieder auf, kommt in die Küche gestürmt und tanzt beinahe dabei. »Christina, wir sind verlobt«, sagt sie atemlos und umklammert meine Hand.

»Verlobt?!«

Sie nickt. »Kannst du es glauben?«

Du bist so jung, möchte ich sagen, das geht zu schnell, ihr kennt euch doch kaum …

Dann denke ich an mein eigenes Leben. All die Jahre des Wartens haben zu nichts geführt. Ich habe diese beiden zusammen erlebt. Habe den Funken zwischen ihnen gespürt. Ich habe das Gefühl, als wüsstest du schon alles über mich. »Natürlich kann ich das«, sage ich.

Zehn Monate später bekommen wir eine Postkarte. Betsy und Andy haben geheiratet. Als sie im Sommer nach Maine kommen, gebe ich ihnen mein Hochzeitsgeschenk: zwei Kissenbezüge, die ich genäht und mit Blumen bestickt habe. Vier Tage habe ich für die Gänseblümchen im französischen Knötchenstich und für die winzigen Blätter um die Knopflöcher gebraucht. Meine Hände, steif und knorrig, funktionieren nicht mehr so wie früher.

Betsy sieht sich die Stickerei genau an und drückt die Kissenbezüge an ihre Brust. »Ich werde sie in Ehren halten. Sie sind perfekt.«

Ich lächele ihr zu. Sie sind nicht perfekt. Die Nähte sind nicht gerade, die Blütenblätter sind unregelmäßig und zu groß, und der Stoff lässt die Spuren aufgetrennter Stiche erkennen.

Betsy ist schon immer freundlich gewesen.

Sie zeigt mir Fotos von ihrer Hochzeitsfeier in Upstate New York. Andy im Smoking, Betsy in Weiß mit Gardenien im Haar, beide strahlend vor Freude. Nach ihrer fünftägigen Hochzeitsreise hatte sie eigentlich gedacht, sie würden nach Kanada zur Hochzeit eines engen Freundes fahren, erzählt sie mir. Aber Andy sagte, er müsse wieder an die Arbeit.

»Er hat mir vor unserer Hochzeit gesagt, dass es so sein würde«, sagt sie. »Aber bis zu diesem Augenblick habe ich es nicht geglaubt.«

»Dann bist du alleine hingefahren?«

Sie schüttelt den Kopf. »Ich bin bei ihm geblieben. Das ist es, worauf ich mich eingelassen habe. Seine Arbeit bedeutet ihm alles.«

Durch das Küchenfenster sehe ich Andy über das Feld stapfen und auf das Haus zukommen. Dabei schiebt er das eine Bein ruckartig vorwärts und zieht das andere nach. Merkwürdig, dass ich nicht früher bemerkt habe, dass er hinkt. Nun steht er vor der Tür in mit Farbe bespritzten Stiefeln, die Ärmel seines weißen Baumwollhemds sind hochgekrempelt, und er trägt einen Skizzenblock unter dem Arm. Er klopft zweimal kräftig und zieht dann die Fliegengittertür auf. »Betsy hat ein paar Besorgungen zu erledigen. Ist es okay, wenn ich ein bisschen hierbleibe?«

Ich bemühe mich um Ungezwungenheit, aber mein Herz rast. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt mit einem anderen Mann als Al allein war. »Ganz wie du möchtest.«

Er tritt ein.

Er ist größer und hübscher, als ich ihn in Erinnerung hatte, mit sandbraunem Haar und durchdringenden, blauen Augen. Seine Art, den Kopf zurückzuwerfen und von einem Bein aufs andere zu treten, lässt mich an ein Pferd denken. Er scheint ständig in Bewegung zu sein.

Im Muschelzimmer lässt er seine Hand über das Kaminsims gleiten und wischt den Staub fort. Hebt Mutters angeschlagene, weiße Teekanne hoch und dreht sie herum. Nimmt die Nautilus-Muschel meiner Großmutter in beide Hände, blättert dann durch die dünnen Seiten ihrer alten, schwarzen Bibel. Seit Jahrzehnten hat niemand mehr die Seemannstruhe meines armen Onkels Alvaro geöffnet, der im Meer ertrunken ist; es quietscht, als er den Deckel anhebt. Andy nimmt ein Portrait von Abraham Lincoln in einem mit Muscheln besetzten Rahmen heraus, sieht es sich genau an und legt es dann zurück. »Man spürt die Vergangenheit in diesem Haus«, sagt er. »Die früheren Generationen. Es erinnert mich an Das Haus mit den sieben Giebeln: ›So viel an menschenmöglicher Erfahrung hatte sich dort zugetragen, dass es überall aus dem Gebälk troff wie aus einem Herzen.‹«

Die Zeilen sind mir vertraut. Ich erinnere mich daran, dass ich den Roman vor langer Zeit in der Schule gelesen habe. »Wir sind sogar verwandt mit Nathaniel Hawthorne«, erzähle ich ihm.

»Interessant. Ah ja – Hathorn.« Er tritt ans Fenster und zeigt hinaus auf das Feld. »Ich habe die Grabsteine auf dem Friedhof da drüben gesehen. Hawthorne hat eine Weile in Maine gelebt, glaube ich?«

»Darüber weiß ich nichts«, gebe ich zu. »Unsere Vorfahren kamen aus Massachusetts. Vor fast zweihundert Jahren. Drei Männer, mitten im Winter.«

»Wo in Massachusetts?«

»Salem.«

»Warum sind sie hierhergekommen?«

»Meine Großmutter sagte, sie wollten dem Makel entgehen, mit ihrem Ahnen John Hathorne in Verbindung gebracht zu werden. Er war Oberster Richter bei den Hexenprozessen. Als sie nach Maine kamen, ließen sie das ›e‹ am Ende des Namens weg.«

»Um die Verbindung zu verbergen?«

Ich zucke mit den Schultern. »Vermutlich.«

»Jetzt erinnere ich mich«, sagt er. »Nathaniel Hawthorne stammte ebenfalls aus Salem, und auch er hat die Schreibweise seines Namens geändert. Viele seiner Erzählungen sind Bearbeitungen seiner eigenen Familiengeschichte. Deiner Familiengeschichte, nehme ich an. Moralische Allegorien über Menschen, die anderen ihre Fehler austreiben wollen, während sie ihre eigenen leugnen.«

»Es gibt sogar eine Legende«, erzähle ich. »Sie besagt, eine der als Hexen verurteilten Frauen habe, als sie auf dem Schafott stand und auf die Schlinge wartete, noch einen Fluch ausgestoßen: ›Möge Gott an der Familie von John Hathorne Rache üben.‹«

»Dann ist deine Familie verflucht!«, sagt er entzückt.

»Vielleicht. Wer weiß? Meine Großmutter sagte immer, diese Hathorn-Männer hätten die Hexen von Salem mitgebracht. Sie ließ die Tür zwischen Küche und Schuppen immer offen, damit die Hexen ein- und ausgehen konnten.«

Er lässt seinen Blick durch das Muschelzimmer schweifen und sagt: »Was denkst du? Ist das wahr?«

»Ich habe nie eine gesehen«, sage ich. »Aber ich lasse die Tür auch immer offen.«

Innerhalb einer Familie verbreiten sich im Lauf der Jahre bestimmte Erzählungen. Sie werden von Generation zu Generation weitergegeben und gewinnen dabei immer mehr an Substanz und Bedeutung. Man muss lernen, sie zu filtern, Fakt von Fiktion zu unterscheiden, Wahrscheinliches von Unwahrscheinlichem.

Und ich weiß: Manchmal sind die unglaublichsten Geschichten die wahren.

1896 – 1900

Meine Mutter legt mir einen ausgewrungenen Lappen auf die Stirn. Kaltes Wasser rinnt mir über die Wange und tropft auf das Kopfkissen, und ich drehe den Kopf, um es abzuwischen. Ich schaue auf und sehe in ihre grauen Augen, die schmal sind vor Sorge, eine steile Stirnfalte zwischen den Brauen. Feine Fältchen um ihre zusammengekniffenen Lippen. Ich blicke zu meinem Bruder Alvaro, der neben ihr steht, zwei Jahre alt, die Augen groß und ernst.

Sie gießt Wasser aus einer weißen Teekanne in ein Glas. »Trink, Christina.«

»Lächle, Katie«, sagt meine Großmutter Tryphena zu ihr. »Angst ist ansteckend.« Sie führt Alvaro aus dem Zimmer, und meine Mutter greift nach meiner Hand, aber es ist nur ihr Mund, der lächelt.

Ich bin drei Jahre alt.

Meine Knochen schmerzen. Wenn ich die Augen schließe, habe ich das Gefühl zu fallen. Die Empfindung ist gar nicht so unangenehm – so, als würde ich in Wasser herabsinken. Durch die Lider sehe ich Farben, Violett und Rotbraun. Mein Gesicht glüht, und die Hand meiner Mutter auf meiner Wange fühlt sich eiskalt an. Ich hole tief Luft, atme die Gerüche von Holzfeuer und frisch gebackenem Brot ein und lasse mich treiben. Das Haus ächzt und wankt. Aus einem anderen Zimmer ertönt Schnarchen. Der Schmerz in meinen Knochen bringt mich zurück an die Oberfläche. Als ich die Augen öffne, kann ich nichts sehen, aber ich weiß, dass meine Mutter fort ist. Ich friere erbärmlich, und meine Zähne klappern laut in der Stille. Ich höre mein eigenes Wimmern, aber es ist, als käme es von jemand anderem. Ich weiß nicht, wie lange ich diesen Laut schon mache, doch er beruhigt mich, lenkt mich von den Schmerzen ab.

Die Decke wird hochgehoben. Meine Großmutter sagt: »Christina, psst, ich bin es.« In ihrem dicken Flanellnachthemd schlüpft sie neben mir ins Bett und zieht mich an sich. Ich schmiege mich in die Kurve ihrer angezogenen Beine, spüre ihren Busen wie ein Kissen an meinem Hinterkopf und ihren weichen, fleischigen Arm unter meinem Hals. Sie reibt meine kalten Arme, und in dem warmen Kokon, der nach Talkumpuder, Leinöl und Waschsoda riecht, schlafe ich ein.

So lange ich denken kann, habe ich meine Großmutter Mammey genannt. Das ist der Name eines Baums, der auf den Karibischen Inseln wächst, die sie mit meinem Großvater, Kapitän Sam Hathorn, auf einer ihrer zahlreichen Exkursionen besucht hat. Der Mammeyapfelbaum hat einen kurzen, dicken Stamm, nur wenige große Äste und spitze, grüne Blätter, mit weißen Blüten an den äußeren Zweigen, die aussehen wie Hände. Er trägt das ganze Jahr über Blätter und mehrmals Früchte. Als meine Großeltern einige Monate auf der Insel St Lucia verbrachten, kochte meine Großmutter Marmelade aus seinen Früchten, die schmecken wie überreife Himbeeren. »Je reifer sie sind, desto süßer werden sie. Wie ich«, sagte sie. »Nenn mich nicht Granny. Mammey passt viel besser zu mir.«

Manchmal finde ich sie alleine im Muschelzimmer, wie sie dasitzt und aus dem Fenster starrt. Das Muschelzimmer ist die vordere Stube, in der wir die Schätze präsentieren, die sechs Generationen von Seefahrern in Seemannstruhen von ihren Reisen rund um die Welt mitgebracht haben. Ich weiß, dass Mammey sich nach meinem Großvater sehnt, der vor meiner Geburt in diesem Haus gestorben ist. »Es ist schrecklich, Christina, wenn man die Liebe seines Lebens gefunden hat«, sagt sie. »Dann weiß man ganz genau, was einem fehlt, wenn sie nicht mehr da ist.«

»Du hast uns«, sage ich.

»Ich habe deinen Großvater mehr geliebt als all die Muscheln im Muschelzimmer«, sagt sie. »Mehr als alle Halme auf dem Feld.«

Mein Großvater, wie zuvor schon sein Vater und Großvater, begann sein Seefahrerleben als Schiffsjunge und wurde später Kapitän. Nachdem er meine Großmutter geheiratet hatte, nahm er sie mit auf seine Reisen, wenn er Eis von Maine zu den Philippinen, nach Australien, Panama oder auf die Jungferninseln transportierte und das Schiff vor seiner Heimreise mit Brandy, Zucker, Gewürzen und Rum belud. Was sie von ihren exotischen Reisen erzählte, wurde Familienlegende. Jahrzehntelang reiste sie mit ihm und nahm sogar ihre gemeinsamen Kinder mit, drei Jungen und ein Mädchen, bis mein Großvater auf dem Höhepunkt des amerikanischen Bürgerkriegs darauf bestand, dass sie zu Hause blieben. Kaperschiffe der Konföderierten waren entlang der Ostküste unterwegs wie plündernde Piraten, und kein Schiff war vor ihnen sicher.

Aber trotz seiner Vorsicht konnte mein Großvater die Familie nicht schützen: Alle seine drei Söhne starben in jungen Jahren. Einer erlag dem Scharlachfieber, und Sammy, sein vierjähriger Namensvetter, ertrank an einem Oktobertag, während Kapitän Sam auf See war. Meine Großmutter brachte es erst im darauf folgenden März über sich, ihrem Mann die Nachricht zu übermitteln. »Unser geliebter kleiner Sohn ist nicht mehr auf der Welt«, stand in ihrem Brief. »Während ich schreibe, bin ich fast blind von Tränen. Niemand hat ihn fallen sehen außer einem kleinen Jungen, der loslief, um es seiner Mutter zu erzählen. Der Lebensfunke ist erloschen. Mein lieber Gatte, du kannst dir meinen Kummer besser vorstellen, als ich ihn beschreiben kann.« Vierzehn Jahre später wurde Alvaro, ihr halbwüchsiger Sohn, der als Matrose auf einem Schoner vor der Küste von Cape Cod arbeitete, bei einem Sturm über Bord gespült. Die Nachricht von seinem Tod kam per Telegramm, schroff und unpersönlich. Seine Leiche wurde nie gefunden. Alvaros Seemannstruhe kam Wochen später in Hathorn Point an, mit einem Deckel, den er mit aufwendigen Schnitzereien versehen hatte. Meine untröstliche Großmutter verbrachte Stunden damit, die feinen Linien mit der Fingerspitze nachzuziehen, Mädchenfiguren mit Reifröcken und großzügigen Dekolletés.

In meinem Schlafzimmer ist es still und hell. Licht dringt durch die Spitzengardinen, die Mammey gehäkelt hat, und wirft komplizierte Muster auf den Fußboden. Staubkörner schweben wie in Zeitlupe durch die Luft. Ich strecke mich auf dem Bett und hebe unter den Laken die Arme an. Kein Schmerz. Ich habe Angst, meine Beine zu bewegen. Ich wage nicht zu hoffen, dass es mir besser geht.

Mein Bruder Alvaro kommt, beide Hände am Türknauf, ins Zimmer geschwungen. Er starrt mich mit großen Augen an, dann ruft er, an niemand Bestimmten gerichtet, »Christie ist wach!« Er wirft mir einen langen Blick zu und schließt die Tür. Ich höre, wie er absichtlich laut die Treppe hinunterpoltert, dann die Stimmen meiner Mutter und meiner Großmutter, das Klappern von Kochtöpfen weit weg in der Küche, und ich gleite wieder in den Schlaf. Das Nächste, was ich wahrnehme, sind Al, der mit seiner Klammeräffchenhand an meiner Schulter rüttelt und »Wach auf, Faultier!« ruft, und Mutter, die mit ihrem dicken Babybauch durch die Tür watschelt und ein Tablett auf dem runden Eichentisch neben meinem Bett abstellt. Haferbrei, Toast und Milch. Mein Vater hinter ihr wie ein Schatten. Zum ersten Mal seit ich weiß nicht wie langer Zeit spüre ich plötzlich ein Ziehen im Magen, das Hunger sein muss.

Mutter lächelt ein echtes Lächeln, stopft mir zwei Kissen in den Rücken und hilft mir, mich aufzusetzen. Löffelt mir Haferbrei in den Mund, wartet, bis ich einen Bissen hinuntergeschluckt habe. »Warum fütterst du sie, sie ist kein Baby«, sagt Al, und Mutter ermahnt ihn, still zu sein, aber sie lacht und weint gleichzeitig, Tränen rollen über ihre Wangen, und sie muss einen Moment innehalten, um sich das Gesicht an ihrer Schürze abzuwischen.

»Warum weinst du, Mama?«, fragt Al.

»Weil es deiner Schwester bald besser gehen wird.«

Später erinnere ich mich an diese Worte, aber es dauert noch Jahre, bis ich verstehe, was sie bedeuten. Sie bedeuten, dass meine Mutter Angst hatte, es würde mir niemals besser gehen. Sie alle hatten Angst – alle außer Alvaro und mir und dem ungeborenen Baby, weil wir eifrig mit Wachsen beschäftigt waren und nicht wussten, wie schlimm manche Dinge ausgehen können. Sie aber wussten es. Meine Großmutter mit ihren drei toten Kindern. Meine Mutter, die Einzige, die überlebt hatte, die Kindheit überschattet von Schwermut, und die ihren erstgeborenen Sohn nach einem Bruder benannt hat, der im Meer ertrunken ist.

Ein Tag vergeht, ein weiterer, eine Woche. Ich werde weiterleben, aber irgendetwas stimmt nicht. Ich liege im Bett und fühle mich wie ein ausgewrungener Lappen, der zum Trocknen auf der Leine hängt. Ich kann mich nicht aufsetzen, kann kaum den Kopf drehen. Ich kann meine Beine nicht bewegen. Meine Großmutter setzt sich mit ihrer Häkelarbeit auf einen Stuhl neben mich und sieht mich dann und wann über ihre randlose Brille hinweg an. »Es ist gut, Kind. Ruhe ist gut. Kleine Schritte machen, wie ein Baby.«

»Christie ist kein Baby«, sagt Al. Er liegt bäuchlings auf dem Fußboden und schiebt seine grüne Dampflok vor sich her. »Sie ist größer als ich.«

»Ja, sie ist ein großes Mädchen. Aber sie braucht Ruhe, damit sie sich erholt.«

»Ruhe ist blöd«, sagt Al. Er will, dass alles wieder wie früher ist, möchte mit mir zur Scheune laufen und zwischen den Heuballen Verstecken spielen oder mit langen Stöcken in den Erdhörnchenhöhlen herumstochern.

Ich finde, er hat recht. Ruhe ist blöd. Ich habe genug von diesem engen Bett und dem schmalen Fenster darüber. Ich will draußen sein, über die Wiesen rennen, die Treppen hinauf- und hinunterlaufen. Im Traum rase ich den Hügel hinab, mit ausgebreiteten Armen, meine kräftigen Beine wirbeln über den Boden, Grashalme peitschen gegen meine Waden, und ich halte auf das Meer zu, schließe die Augen und strecke mein Gesicht der Sonne entgegen, bewege mich ohne Mühe, ohne Schmerzen, ohne hinzufallen. Wenn ich in meinem Bett aufwache, sind die Laken feucht von Schweiß.

»Was stimmt nicht mit mir?«, frage ich meine Mutter, als sie ein frisches Laken über mich breitet.

»Du bist so, wie Gott dich gemacht hat.«

»Aber warum hat er mich so gemacht?«

Ihre Augenlider zucken. Es ist kein richtiger Wimpernschlag, eher ein erschrockenes Blinzeln, das ich inzwischen gut kenne: Sie macht es, wenn sie nicht weiß, was sie sagen soll. »Wir müssen seinem Plan vertrauen.«

Meine Großmutter, die in ihrem Stuhl sitzt und häkelt, schweigt. Aber als Mutter mit den schmutzigen Laken die Treppe hinuntergeht, sagt sie: »Das Leben besteht aus Prüfungen. Du lernst es nur früher als die meisten Leute.«

»Aber warum bin ich die Einzige?«

Sie lacht. »Oh, Kind, du bist nicht die Einzige.« Sie erzählt mir von einem Matrosen in ihrer Schiffsbesatzung, der nur ein Bein hatte und auf einem Holzstumpf über das Deck polterte. Ein anderer hatte einen Buckel, der ihn zwang, wie ein Krebs zu krabbeln, und wieder ein anderer hatte sechs Finger an jeder Hand. (Wie schnell dieser Junge mit den Knoten zurechtkam!) Einer hatte einen Klumpfuß, ein anderer die schuppige Haut eines Reptils. Und erst die zusammengewachsenen Zwillinge, die sie einmal auf der Straße gesehen hat … Die Leute haben Leiden aller Art, sagt sie, und wenn sie nur ein bisschen Verstand haben, dann verschwenden sie ihre Zeit nicht damit, darüber zu lamentieren. »Jeder Mensch hat seine Last zu tragen«, sagt sie. »Du weißt jetzt, welche deine ist. Das ist gut. So wirst du nie davon überrascht werden.«

Mammey erzählt mir von einem Schiffbruch, den sie und Kapitän Sam einmal bei einem Sturm erlitten haben. Sie schildert, wie sie auf einem unsicheren Holzfloß mitten auf dem Meer dahintrieben, zitternd und einsam, mit äußerst knappem Proviant. Die Sonne ging auf und unter, immer wieder, und Nahrungsmittel und Wasser schwanden dahin. Sie waren verzweifelt und fürchteten, niemals gerettet zu werden. Sie riss Kleidungsstücke in Fetzen, band sie an ein Ruder und schaffte es, diese jämmerliche Flagge aufzurichten. Wochenlang sahen sie niemanden. Sie leckten sich die salzverkrusteten Lippen, schlossen ihre sonnenverbrannten Lider und fügten sich in ihr unausweichliches Schicksal; selige Bewusstlosigkeit und Tod. Und dann, eines Abends kurz vor Sonnenuntergang, nahm ein Punkt am Horizont die Form eines Schiffes an, das direkt auf sie zukam, angezogen von den flatternden Lumpen.

»Die wichtigsten Eigenschaften, über die ein Mensch verfügen kann, sind Ausdauer und ein eiserner Wille«, erklärt Mammey. Sie sagt, ich hätte diese Eigenschaften von ihr geerbt, und dass ich einen Weg finden werde, mich nicht unterkriegen zu lassen, egal, was passiert. So wie sie den Schiffbruch überlebt hat, obwohl alle Hoffnung verloren war, und den Tod ihrer drei Söhne, als sie dachte, ihr Herz würde wie eine Muschel zu Sand zermahlen werden. Die meisten Menschen haben nicht das Glück, einer so widerstandsfähigen Linie zu entstammen.

»Bis zu dem Fieber ging es ihr gut«, sagt Mutter zu Dr. Heald, während ich auf der Untersuchungsliege in seiner Praxis in Cushing sitze. »Und jetzt kann sie kaum noch gehen.«

Er klopft und zerrt an mir herum, nimmt Blut ab, misst meine Temperatur. »Lass uns mal sehen«, sagt er und greift nach meinen Beinen. Er untersucht die Haut mit den Fingern, tastet meine Beine ab bis hinunter zu den Fußknochen. »Ja«, murmelt er, »Unregelmäßigkeiten. Interessant.« Er umfasst meine Fußgelenke und sagt zu meiner Mutter: »Es ist schwer zu sagen. Die Füße sind verformt. Vermutlich ist die Ursache viral. Ich empfehle Beinschienen. Es gibt keine Garantie dafür, dass sie helfen, aber ein Versuch kann wahrscheinlich nicht schaden.«

Meine Mutter presst die Lippen zusammen. »Was ist die Alternative?«

Dr. Heald windet sich auf übertriebene Weise, als wäre das, was jetzt kommt, für ihn ebenso hart auszusprechen, wie für uns, es zu hören. »Nun ja, die Sache ist die … Ich glaube nicht, dass es eine gibt.«

Die Schienen, die Dr. Heald mir anlegt, klemmen meine Beine ein wie ein mittelalterliches Folterinstrument, graben blutige Striemen in meine Haut und lassen mich vor Schmerz weinen. Nach einer Woche bringt mich meine Mutter wieder zu Dr. Heald, und der entfernt sie. Sie schnappt nach Luft, als sie meine Beine sieht, die mit roten, eitrigen Wunden bedeckt sind. Bis heute habe ich Narben.

Für den Rest meines Lebens bin ich stets vor Ärzten auf der Hut. Wann immer Dr. Heald zu uns nach Hause kommt, um Mammey zu untersuchen, oder wegen Mutters Schwangerschaft oder Papas Husten, mache ich mich aus dem Staub, verstecke mich auf dem Dachboden, in der Scheune oder im Toilettenhäuschen.

Auf den Kiefernholzdielen in der Küche übe ich, auf einer geraden Linie zu gehen.

»Einen Fuß vor den anderen, wie eine Seiltänzerin«, weist meine Mutter mich an, »immer an der Ritze entlang.«

Es ist schwer, das Gleichgewicht zu halten, denn ich kann nur auf den Außenkanten meiner Füße gehen. Wenn das wirklich ein Seiltanz im Zirkus wäre, erklärt Al, dann wäre ich schon ein Dutzend Mal in den Tod gestürzt.

»Ganz ruhig«, sagt Mutter. »Das ist kein Wettrennen.«

»Doch, es ist ein Wettrennen«, sagt Al. Auf einer anderen Diele, parallel zu meiner, setzt er mühelos mit bestrumpften, kleinen Füßen seine präzisen Schritte und ist in wenigen Augenblicken auf der anderen Seite. Er wirft die Arme hoch. »Gewonnen!«

Ich tue so, als würde ich stolpern, und während ich falle, stoße ich gegen seine Beine, und er landet unsanft auf dem Hintern. »Geh ihr aus dem Weg, Alvaro«, schimpft Mutter. Auf dem Boden ausgestreckt sieht er mich finster an. Ich starre zurück. Al ist dünn und stark, wie ein Stahlband oder wie der Stamm eines jungen Baums. Er ist nicht so brav wie ich, stiehlt manchmal Hühnereier oder versucht, auf Kühen zu reiten. Ich spüre eine Art harten, spitzen Stachel in meinem Magen. Neid. Verbitterung. Und noch etwas: das unerwartete Vergnügen der Rache.

Ich falle so oft, dass Mutter mir Baumwollpolster für Knie und Ellbogen näht. Egal, wie viel ich übe, ich kann meine Beine nicht dazu bringen, sich so zu bewegen, wie sie sollen. Doch irgendwann sind sie so stark, dass ich in der Scheune Verstecken spielen und im Garten die Hühner jagen kann. Al stört sich nicht an meinem Hinken. Er drängt mich immer, mit ihm zu kommen, auf Bäume zu klettern, auf Dandy, dem alten braunen Maultier, zu reiten oder Holz für ein Lagerfeuer am Strand zu suchen. Mutter schimpft immer mit ihm, sagt, er solle weggehen und mich in Ruhe lassen, aber Mammey schweigt. Ich glaube, sie findet, dass es gut ist für mich.

Ich erwache in der Dunkelheit von dem Geräusch des Regens, der auf das Dach trommelt, und von einem Aufruhr im Elternschlafzimmer. Mutter stöhnt, Mammey murmelt etwas. Unten im Flur höre ich die Stimme meines Vaters und zwei weitere, die ich nicht erkenne. Ich schlüpfe aus dem Bett und ziehe meinen Wollrock und dicke Socken an. An das Treppengeländer geklammert, stürze ich mehr, als dass ich gleite, bis ganz hinunter. Am Fuß der Treppe steht mein Vater mit einer stämmigen, rotgesichtigen Frau, die ein Kopftuch über ihrem krausen Haar trägt.

»Geh wieder ins Bett, Christina«, sagt Papa. »Es ist mitten in der Nacht.«

»Babys kümmern sich nicht um die Uhrzeit«, leiert die Frau ihren Spruch herunter. Sie streift ihren Mantel ab und reicht ihn meinem Vater. Ich klammere mich ans Treppengeländer, während sie wie ein Elefant die schmale Treppe hinauftrampelt.

Ich schleiche hinter ihr her und öffne die Tür von Mutters Schlafzimmer. Mammey ist da, sie beugt sich über das Bett. Auf dem hohen Himmelbett aus Mahagoni kann ich nicht viel erkennen, aber ich höre meine Mutter stöhnen.

Mammey dreht sich um. »Oh Kind«, sagt sie bestürzt. »Das hier ist kein Ort für dich.«

»Es ist in Ordnung«, sagt der Elefant und wendet sich mit einem Ruck zu mir um. »Willst du dich nicht nützlich machen? Sag deinem Vater, dass er Wasser heißmachen soll.«

Ich blicke zu Mutter, die sich krümmt und windet. »Geht es ihr gleich wieder gut?«

»Deiner Mutter geht es bestens. Hast du gehört, was ich gesagt habe? Heißes Wasser. Das Baby kommt gleich.«

Ich gehe hinunter in die Küche und sage es Papa, und der setzt einen Topf mit Wasser auf den schwarzen, eisernen Glenwood-Herd. Während wir in der Küche warten, bringt er mir zum Zeitvertreib Kartenspiele bei, Siebzehnundvier und Mau-Mau. Der Regen, den der Wind gegen das Haus prasseln lässt, klingt wie getrocknete Bohnen in einem ausgehöhlten Aststück. Noch bevor der Tag anbricht, hören wir das schrille Wimmern eines gesunden Babys.

»Er heißt Samuel«, sagt Mutter, als ich neben sie auf das Bett klettere. »Ist er nicht perfekt?«

»Hmm-hmmm«, mache ich, obwohl ich denke, dass das Baby genauso verschrumpelt aussieht wie der Elefant.

»Vielleicht wird er später mal ein Abenteurer wie sein Großvater Samuel«, sagt Mammey. »Wie alle seefahrenden Samuels.«

»Gott bewahre«, sagt Mutter.

»Wer sind die seefahrenden Samuels?«, frage ich Mammey später, als Mutter und das Baby schlafen und wir alleine im Muschelzimmer sind.

»Sie sind deine Vorfahren. Der Grund dafür, dass es dich gibt«, antwortet sie. Sie erzählt mir die Geschichte von den drei Männern aus Massachusetts – zwei Brüder, Samuel und William Hathorn, sowie Williams Sohn Alexander –, die im Jahr 1743 all ihr Hab und Gut auf drei Wagen luden und mitten im Winter die lange Reise nach Maine antraten. Sie erreichten eine abgeschiedene Halbinsel, die zweitausend Jahre lang ein Versammlungsort für indianische Volksstämme gewesen war, und bauten ein Zelt aus Tierhäuten, das so robust war, dass es während der folgenden Monate Schnee, Eis und matschigem Tauwetter standhielt. Innerhalb eines Jahres holzten sie einen breiten Streifen Wald ab und bauten drei Blockhütten. Und sie gaben diesem Zipfel Land in Cushing, Maine, einen Namen: Hathorn Point.

Fünfzig Jahre später baute Alexanders Sohn Samuel, ein Schiffskapitän, auf dem Fundament der Familienhütte ein zweistöckiges Holzhaus. Samuel heiratete zwei Mal und zog in dem Haus sechs Kinder groß, bevor er im Alter von etwa siebzig Jahren starb. Auch sein Sohn Aaron, ebenfalls ein Schiffskapitän, heiratete zwei Mal, und er zog hier acht Kinder groß. Als Aaron starb und seine Witwe das Haus verkaufte (sie entschied sich für ein bequemeres Leben in der Stadt, in der Nähe der Bäckerei und des Kurzwarenladens), waren die seefahrenden Hathorns entsetzt. Fünf Jahre später kaufte Aarons Sohn Samuel IV. das Haus zurück und baute den Familienwohnsitz auf dem Land wieder auf.

Samuel IV. war mein Großvater.

All diese Schiffskapitäne, die damals hier ein- und ausgingen und oft monatelang fortblieben. Ihre vielen Frauen und Kinder, die die schmalen Treppen hinauf- und hinunterliefen. Bis heute, sagt Mammey, ist dieses alte Haus in Hathorn Point voll von ihren Geistern.

Wenn man in einer kleinen Welt lebt, kennt man sie in- und auswendig. Man findet sich im Dunkeln darin zurecht, findet jeden Weg im Schlaf. Mit sprödem Gras bewachsene Felder fallen in Richtung Felsküste und Meer leicht ab, und überall sind Schlupfwinkel, wo man spielen und sich verstecken kann. Der rußschwarze Herd, immer warm, in der Küche. Geranien auf dem Fensterbrett, Rot, das sich entfaltet wie das Taschentuch eines Magiers. Streunende Katzen in der Scheune. Die Luft riecht nach Kiefern und Seetang, nach Brathähnchen und frisch gepflügter Erde.

An einem Sommernachmittag blickt Mutter auf die Gezeitenkarte in der Küche und sagt: »Zieh deine Schuhe an, Christina, ich muss dir etwas zeigen.«

Ich schnüre meine festen, braunen Schuhe zu und folge ihr über das Feld, zwischen summenden Zikaden und flatternden Krähen hindurch bis zum Familienfriedhof. Meine Beine sind so stark, dass ich mich beinahe aufrecht halten kann. Ich streiche mit den Fingern über die moosbewachsenen, halb verfallenen Grabsteine, deren Inschriften kaum zu entziffern sind. Das älteste Grab gehört Joanne Smalley Hathorn. Sie ist 1834 im Alter von 33 Jahren gestorben, eine Mutter von sieben kleinen Kindern. Als sie im Sterben lag, so erzählt mir meine Mutter, hat sie ihren Mann gebeten, sie auf dem Grundstück zu begraben anstatt mehrere Meilen entfernt auf dem städtischen Friedhof, damit ihre Kinder ihr Grab besuchen konnten.

Auch ihre Kinder sind hier begraben. Alle nachfolgenden Hathorns sind es.

Wir gehen weiter in Richtung der Küste südlich von Hathorn Point, oberhalb der Buchten Kissing Cove und Maple Juice Cove, wo der St George River in die Muscongus-Bucht und schließlich in den Atlantik mündet. Dort gibt es einen Muschelhaufen, und Mutter sagt, dass der von den Abenaki-Indianern stammt, die vor langer Zeit ihre Sommer auf dieser Landspitze verbrachten. Ich versuche mir vorzustellen, wie es hier aussah, bevor dieses Haus gebaut wurde, in der Zeit vor den drei Blockhütten, bevor die Gegend von irgendwelchen Siedlern entdeckt worden war. Ich stelle mir ein Abenaki-Mädchen vor, wie ich, das an der felsigen Küste nach Muscheln sucht. Von der Spitze aus kann man weit auf das Meer hinausblicken. Behielt sie immer den Horizont im Auge, um nach Eindringlingen Ausschau zu halten? Hatte sie die leiseste Ahnung davon, wie sich ihr Leben verändern würde, wenn sie ankämen?

Es herrscht Ebbe. Ich stolpere auf den Felsen, aber Mutter sagt nichts, sondern bleibt nur stehen und wartet. Auf der anderen Seite des Watts liegt Little Island, eine etwa viertausend Quadratmeter große Wildnis mit Birken und trockenem Gras. Sie zeigt darauf. »Da gehen wir hin. Aber wir können nicht lange bleiben, sonst sitzen wir fest, wenn die Flut kommt.« Unser Weg ist ein Hindernislauf über Steine, die glitschig sind von Seetang. Ich wähle meinen Weg mit Bedacht, und dennoch stolpere und falle ich und schürfe mir an einem Klumpen Seepocken die Hand auf. Meine Füße in den Schuhen sind nass. Mutter wirft einen Blick zu mir zurück. »Steh auf. Wir sind fast da.« Als wir die Insel erreichen, breitet sie auf einer trockenen Stelle am Strand eine Wolldecke aus. Aus ihrem Rucksack nimmt sie ein Sandwich – dicke Scheiben Brot mit Ei –, eine Gurke und zwei Stück Apfelpfannkuchen. Sie gibt mir die Hälfte des Sandwichs. »Schließ deine Augen und spüre die Sonne«, sagt sie, und das tue ich, ich lehne mich auf die Ellbogen gestützt zurück und strecke mein Gesicht in die Sonne. Meine Lider sind warm und gelb. Die Bäume hinter uns rauschen wie frisch gestärkte, steife Röcke. Salzige Luft. »Warum sollte man irgendwo anders sein wollen als hier?«

Nachdem wir gegessen haben, sammeln wir Muscheln, blassgrüne Seeanemonen und violette, glänzende Miesmuscheln. »Schau«, sagt Mutter und zeigt auf einen Krebs, der aus einem Gezeitentümpel auftaucht und sich einen Weg über die Felsen sucht. »An diesem Ort sind sämtliche Arten von Leben versammelt.« Auf ihre spezielle Art versucht sie immer, mir etwas beizubringen.

Auf einer Farm zu leben bedeutet, einen anhaltenden Krieg gegen die Elemente zu führen, sagt Mutter. Wir müssen gegen die unbändige Natur ankämpfen, um uns das Chaos vom Leib zu halten. Draußen arbeiten Farmer mit Maultieren, Kühen und Schweinen im Dreck, aber ihr Haus muss eine Zufluchtsstätte sein. Wenn es das nicht ist, sind wir nicht besser als Tiere.

Mutter ist ständig in Bewegung – fegen, wischen, scheuern, backen, putzen, waschen, Wäsche aufhängen. Morgens backt sie Brot und benutzt dazu Hefe, die sie aus der Hopfenrebe hinter unserem Schuppen herstellt. Wenn ich die Treppe herunterkomme, steht immer ein Topf mit Haferbrei auf der hinteren Herdplatte, mit einer dünnen Haut an der Oberfläche, die ich herausfische und der Katze zu fressen gebe, wenn Mutter nicht herschaut. Manchmal gibt es trockene Haferkekse und gekochte Eier. Baby Sam schläft in seiner Wiege in der Ecke. Wenn das Frühstücksgeschirr abgewaschen ist, fängt Mutter an, ein großes Mittagessen zuzubereiten: Hühnerpastete oder Schmorfleisch oder Fischeintopf. Pellkartoffeln oder Kartoffelbrei, Erbsen oder Karotten, frisch oder aus der Konservendose, je nach Jahreszeit. Was übrig bleibt, kommt als Auflauf oder Eintopf zum Abendessen wieder auf den Tisch.

Mutter singt während der Arbeit. Ihr Lieblingslied, Red Wing, handelt von einem Indianermädchen, das sich nach einem tapferen Helden verzehrt, der in den Kampf gezogen ist. Je länger er fort ist, desto mutloser wird sie, und tragischerweise wird der Mann, der ihre große Liebe ist, getötet.

Now, the moon shines tonight on pretty Red Wing

The breeze is sighing, the night bird’s crying,

For afar ’neath his star her brave is sleeping,

While Red Wing’s weeping her heart away.

Ich verstehe nicht ganz, warum Mutter dieses traurige Lied so mag. Die alten Griechen glaubten, in der Kunst Zeuge von Schmerz zu werden, führe dazu, mit dem eigenen Leben zufriedener zu sein, sagt Mrs Crowley, meine Lehrerin an der Wing School Nummer 4 in Cushing. Als ich das meiner Mutter erzähle, zuckt sie mit den Schultern. »Ich mag einfach die Melodie. Damit geht mir die Hausarbeit leichter von der Hand.«

Sobald ich groß genug bin, um an den Esstisch im Wohnzimmer zu kommen, ist es meine Aufgabe, ihn zu decken. Mutter zeigt mir, wie man das schwere Silberbesteck hinlegt:

»Die Gabel links. L-I-N-K-S. Fünf Buchstaben, genau wie ›Gabel‹. G-A-B-E-L«, sagt sie und legt die Gabel neben den Teller an die richtige Stelle. »Messer und Löffel auf die rechte Seite. Sechs Buchstaben. R-E-C-H-T-S, genau wie bei ›Messer‹ und ›Löffel‹. M-E-S-S-E-R.«

»L-Ö-F-F-E-L«, sage ich.

»Ja.«

»Und Becher. B-E-C-H-E-R. Rechts?«

»Kluges Mädchen!«, ruft Mammey aus der Küche.

Mit sieben Jahren kann ich hauchdünn Kartoffeln schälen, auf allen vieren die Kiefernholzdielen mit Bleichmittel schrubben, mich um die Hopfenreben hinter dem Schuppen kümmern und Hefe herstellen, um Brot zu backen. Mutter zeigt mir, wie man näht und flickt. Mit meinen ungeschickten Fingern habe ich Schwierigkeiten, eine Nadel einzufädeln, aber ich bin zielstrebig und versuche es wieder und wieder, auch wenn ich mir dabei in den Zeigefinger steche und der Faden ausfranst. »Ich habe noch nie so viel Entschlossenheit erlebt«, ruft Mammey aus, aber Mutter sagt erst etwas, wenn ich es geschafft habe, die Nadel einzufädeln: »Christina, du bist ganz schön ausdauernd.«

Mammey ist viel weniger schmutzempfindlich als Mutter. Was ist schon dabei, wenn sich Staub in den Ecken sammelt oder Geschirr im Spülbecken steht? Die Gegenstände, die sie am liebsten hat, sind abgenutzt: der alte Glenwood-Herd, der Schaukelstuhl am Fenster mit seiner Sitzfläche aus halb zerfasertem Bast, die Handsäge mit dem kaputten Griff in der Küchenecke. Jedes dieser Dinge, sagt sie, hat eine eigene Geschichte.

Mammey fährt mit den Fingern über die Muscheln auf dem Kaminsims im Muschelzimmer wie eine Archäologin, die eine Ruine freilegt und sie durch all ihr Wissen zum Leben erweckt. Die Muscheln, die sie in Alvaros Seemannstruhe gefunden hat, haben hier einen Ehrenplatz, genau wie ihre schwarze, durch viele Reisen in Mitleidenschaft gezogene Bibel. Pastellfarbene Muscheln aller Art liegen auf den Fensterbrettern und auf dem Fußboden an der Wand entlang aufgereiht. Es gibt mit Muscheln besetzte Vasen, Figuren, Bilderrahmen, Valentinskarten, Buchumschläge, Miniaturansichten des Familienwohnsitzes auf Muschelschalen, gemalt von einem lang verstorbenen Verwandten; sogar eine muschelgerahmte Gravur von Präsident Lincoln.

Sie reicht mir ihre Lieblingsmuschel, die sie in der Nähe eines Korallenriffs an einem Strand in Madagaskar gefunden hat. Sie ist überraschend schwer, etwa zwanzig Zentimeter lang, seidig glatt, mit einem braun-weißen Zebramuster oben, das weiter unten in Cremeweiß übergeht. »Man nennt sie Perlboot-Nautilus. ›Nautilos‹ ist das griechische Wort für ›Seefahrer‹.« Sie erzählt mir von einem Gedicht, das davon handelt, dass ein Mann an der Küste eine zerbrochene Muschel wie diese findet. »Bau dir ein stattlich’ Haus, oh meine Seele, solange Frühling, Sommer, Herbst vorüberfliegen!«, zitiert Mammey und breitet die Arme aus. »Und lass die Muschel, der du entwachsen, am stürmischen Meer des Lebens liegen. Es geht um die menschliche Natur, verstehst du? Du kannst lange Zeit in der Muschelschale leben, in der du geboren bist. Aber eines Tages wird sie dir zu klein sein.«

»Und dann?«, frage ich.

»Na ja, dann musst du dir eine größere suchen, in der du wohnen kannst.«

Darüber denke ich einen Augenblick nach. »Was ist, wenn sie zu klein ist und man trotzdem weiter darin wohnen will?«

Sie seufzt. »Meine Güte, Kind, was für eine Frage. Ich denke, wenn man nicht tapfer ist und sich ein neues Zuhause sucht, wird man in einer zerbrochenen Muschel wohnen müssen.«

Mammey zeigt mir, wie man Buchdeckel und Vasen mit kleinen Muscheln besetzt. Man muss sie leicht überlappend anbringen, so dass sie an der Oberfläche eine präzise, glatte Linie bilden. Während wir die Muscheln aufkleben, schwelgt sie in Erinnerungen an die Abenteuerlust und Tapferkeit meines Großvaters, schildert, wie er Piraten überlistete und Tsunamis und Schiffbrüche überlebte. Wieder einmal erzählt sie mir von der Flagge, die sie aus Stofffetzen machte, als sie alle Hoffnung verloren hatten, und von dem wunderbaren Auftauchen dieses Frachtschiffs am fernen Horizont, das ihnen zur Rettung kam.

»Setz dem Mädchen nicht all diese Legenden in den Kopf«, schimpft Mutter, die uns aus der Pantry, dem kleinen Raum zwischen Küche und Esszimmer, zugehört hat.

»Das sind keine Legenden, es ist die Realität. Du weißt das, du hast es selbst erlebt.«

Mutter kommt durch die Tür. »Du erzählst das so, als wäre es glanzvoll gewesen, obwohl du weißt, dass es die meiste Zeit das reine Elend war.«

»Es war glanzvoll«, sagt Mammey. »Dieses Mädchen wird niemals irgendwo hingehen. Da soll sie wenigstens wissen, dass sie das Abenteuer im Blut hat.«

Als Mutter hinausgeht und die Tür hinter sich zuschlägt, seufzt Mammey. Sie sagt, sie kann nicht glauben, dass sie ein Kind großgezogen hat, das durch die ganze Welt gereist ist und sich trotzdem damit zufriedengibt, die Welt von zu Hause aus zu betrachten. Sie sagt, dass Mutter eine alte Jungfer geworden wäre, wenn nicht eines Tages Papa aufgetaucht wäre und ihr eine Alternative angeboten hätte.