Die Insel am Ende der Welt - Christina Baker Kline - E-Book
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Die Insel am Ende der Welt E-Book

Christina Baker Kline

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Beschreibung

London 1840: Die junge Hebamme Hazel wird wegen Diebstahls zu einer Haftstrafe in einer australischen Sträflingskolonie verurteilt – eine Verbannung ans Ende der Welt. Der Schiffsalltag auf der Überfahrt ist hart, und die verurteilten Frauen sind der männlichen Besatzung schutzlos ausgeliefert. Trost und Freundschaft findet Hazel bei Evangeline, einer schwangeren Mitgefangenen. Sie verspricht der ehemaligen Gouvernante, ihr Kind sicher in die neue Welt zu bringen. Doch das Schicksal stellt die Frauen auf eine harte Probe, und als Hazel in Australien an Land geht, steht sie schon bald vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens ...

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London 1840: Die junge Hebamme Hazel wird wegen Diebstahls zu einer Haftstrafe in einer australischen Sträflingskolonie verurteilt – eine Verbannung ans Ende der Welt. Der Schiffsalltag auf der Überfahrt ist hart, und die verurteilten Frauen sind der männlichen Besatzung schutzlos ausgeliefert. Trost und Freundschaft findet Hazel bei Evangeline, einer schwangeren Mitgefangenen. Sie verspricht der ehemaligen Gouvernante, ihr Kind sicher in die neue Welt zu bringen. Doch das Schicksal stellt die Frauen auf eine harte Probe, und als Hazel in Australien an Land geht, steht sie schon bald vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens …

Mehr Informationen zu Christina Baker Kline

und lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Christina Baker Kline

Die Insel am Ende der Welt

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Anne Fröhlich

Die englische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel

»The Exiles« bei Harper Collins, London.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2022

Copyright © der Originalausgabe 2020 by Christina Baker Kline,

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH

Umschlagmotiv: Frau: © Magdalena Russocka/Trevillion Images

Reling: GettyImages/Alexis Gonzalez

Meer, Horizont: GettyImages/AlexanderNikiforov

Schiff: GettyImages/Walter Bibikow

Kompass, Landkarte: GettyImages/ideabug

Redaktion: Susann Rehlein

AG · Herstellung: ik

Satz: KCFG – Medienagentur Neuss

ISBN: 978-3-641-17399-9V001

www.goldmann-verlag.de

Für Hayden, Will und Eli

Niemand soll sagen, die Vergangenheit sei tot.

Die Vergangenheit ist überall um uns und in uns.

Oodgeroo Noonuccal, Aborigine und Dichterin

PROLOG

Flinders Island, Australien 1840

Als die Regenzeit begann, versteckte sich Mathinna schon seit beinahe zwei Tagen im Busch. Auch wenn sie erst acht war und in ihrem Leben noch nicht viel gelernt hatte – wie man sich versteckte, das wusste sie. Seit sie laufen konnte, erkundete sie jeden Winkel und jede Felsspalte von Wybalenna, der abgelegenen Region von Flinders Island, in die ihr Volk wenige Jahre vor ihrer Geburt verbannt worden war. Hoch oben rannte sie am Kamm der Granitfelsen entlang, grub am Strand in den weißen Dünen Tunnel, spielte im Gebüsch Verstecken. Sie kannte alle Tiere: Possums, Wallabys und Kängurus, Filander, die im Wald lebten und nur nachts herauskamen, Robben, die sich auf den Felsen rekelten und von Zeit zu Zeit in die Brandung rollten, um sich abzukühlen.

Vor drei Tagen waren Gouverneur John Franklin und seine Frau, Lady Jane, mit dem Schiff in Wybalenna angekommen. Ihr Wohnsitz auf der Insel Lutruwita – oder Van-Diemens-Land, wie die Weißen es nannten – lag mehr als zweihundertfünfzig Meilen entfernt. Mathinna hatte mit den anderen Kindern auf dem Berg gestanden, während der Gouverneur und seine Frau, begleitet von sechs Bediensteten, vom Strand zu ihnen heraufstiegen. Lady Jane in ihren glänzenden Satinschuhen tat sich schwer; immer wieder rutschte sie auf den Steinen aus. Sie musste sich am Arm ihres Mannes festklammern, während sie mit einem so säuerlichen Gesicht vorantaumelte, als hätte sie in eine Artischocke gebissen. Die Falten an ihrem Hals erinnerten Mathinna an die federlosen rosa Lappen am Hals des Roten Honigfressers.

Am Abend zuvor hatten die Stammesältesten der Palawa ums Feuer gesessen und über den bevorstehenden Besuch diskutiert. Die christlichen Missionare waren seit Tagen mit den Vorbereitungen beschäftigt gewesen. Den Kindern hatte man einen Tanz beigebracht. Mathinna saß im Dunkeln am äußeren Rand des Kreises, wie sie es oft tat, und hörte den Alten zu, die am Feuer Sturmtaucher rupften und in der glühenden Asche Muscheln brieten. Die Franklins, da war man sich im Großen und Ganzen einig, waren impulsive, törichte Menschen; es gab zahlreiche Geschichten, die ihr merkwürdiges und exzentrisches Verhalten bewiesen. Lady Franklin zum Beispiel hatte furchtbare Angst vor Schlangen. Einmal war sie auf die Idee gekommen, für jede getötete Schlange einen Schilling zu bezahlen, und das hatte sich natürlich zu einem einträglichen Geschäft für Züchter entwickelt und sie und Sir John ein kleines Vermögen gekostet. Im letzten Jahr hatten die beiden Flinders besucht, um sich Schädel von Eingeborenen für ihre Sammlung zu besorgen – Schädel, für die man Leichen enthauptet und die man ausgekocht hatte, um das Fleisch zu entfernen.

Der Engländer mit dem Pferdegesicht, der für die Siedlung auf Flinders zuständig war, George Robinson, wohnte mit seiner Frau in einem der acht Backsteinhäuser, die im Halbkreis standen und außer den Zimmern für seine Männer auch eine Krankenstation und eine Arzneiausgabe boten. Dahinter befanden sich die zwanzig Hütten der Palawa. Nach ihrer Ankunft übernachteten die Franklins bei den Robinsons. Früh am nächsten Morgen inspizierten sie die Siedlung, während ihre Bediensteten Perlen, Murmeln und Taschentücher verteilten. Nach dem Mittagessen wurden die Einheimischen zusammengerufen. Die Franklins saßen auf zwei Mahagonistühlen auf dem sandigen Platz vor den Backsteinhäusern, und ein paar kräftige Palawa-Männer mussten einen Schaukampf vor ihnen austragen und einen Wettkampf im Speerwerfen präsentieren, was ungefähr eine Stunde dauerte. Dann wurden die Kinder vorgeführt.

Während Mathinna auf dem weißen Sand mit den anderen im Kreis tanzte, betrachtete Lady Franklin sie mit einem neugierigen Lächeln.

Als Tochter eines der Häuptlinge der Palawa war Mathinna an besondere Aufmerksamkeit gewöhnt. Vor ein paar Jahren war ihr Vater Towterer an Tuberkulose gestorben. Mathinna war stolz darauf, die Tochter eines Stammeshäuptlings zu sein, aber tatsächlich hatte sie ihn kaum gekannt. Mit drei Jahren hatte sie die Hütte ihrer Eltern verlassen müssen, um im Backsteinhaus des Lehrers zu wohnen, eines Weißen, der sie Hauben tragen ließ und Kleider mit Knöpfen und der ihr auf Englisch Lesen und Schreiben beibrachte und wie man Essbesteck benutzte. Dennoch hatte sie jeden Tag so viel Zeit wie möglich mit ihrer Mutter und den anderen Stammesangehörigen verbracht, von denen die meisten weder Englisch sprachen noch sich um die Gebräuche der Briten scherten.

Es war erst ein paar Monate her, dass Mathinnas Mutter gestorben war. Wanganip hatte Flinders vom ersten Tag an gehasst. Oft war sie auf den gezackten Berg nahe der Siedlung gestiegen und hatte über das türkisfarbene Meer in die Richtung ihrer Heimat gestarrt, sechzig Meilen entfernt. Dieser schreckliche Ort hier, so hatte sie Mathinna erklärt – diese unfruchtbare Insel, wo der Wind so stark war, dass er das Wurzelgemüse aus der Erde riss und selbst kleine Feuer zu einem wütenden Inferno anfachte, und wo die Bäume ihre Rinde abwarfen wie sich häutende Schlangen –, dieser Ort sei ganz anders als das Land ihrer Vorfahren. Er sei ein Fluch. Seit es hier lebte, war ihr Volk geschwächt; die meisten Babys, die auf Flinders geboren wurden, starben vor ihrem ersten Geburtstag. Man hatte den Palawa ein Land des Friedens und der Fülle versprochen. Sie dürften ihre bisherige Lebensweise hier weiterführen, hatte man ihnen zugesichert. »Aber das war eine von vielen Lügen, und wir waren so dumm, sie zu glauben«, sagte Wanganip bitter. »Was hätten wir tun sollen? Die Briten hatten uns alles genommen.«

Wenn Mathinna ihrer Mutter ins Gesicht gesehen hatte, war da Hass in ihren Augen gewesen. Aber Mathinna hasste die Insel nicht. Sie war hier geboren und kannte kein anderes Zuhause.

»Komm her, Kind«, sagte die Frau des Gouverneurs, als der Tanz vorbei war, und winkte sie zu sich. Mathinna gehorchte, und Lady Franklin musterte sie aufmerksam. Dann wandte sie sich an ihren Mann. »So ausdrucksvolle Augen! Und ein hübsches Gesicht, finden Sie nicht? Ungewöhnlich anziehend für eine Eingeborene.«

Sir John zuckte die Achseln. »Ehrlich gesagt kann ich sie kaum auseinanderhalten.«

»Ich frage mich, ob es möglich wäre, sie zu erziehen.«

»Sie wohnt bei unserem Lehrer, der ihr Englisch beibringt«, sagte George Robinson und trat vor. »Sie ist schon recht geübt.«

»Interessant. Wer sind ihre Eltern?«

»Das Mädchen ist eine Waise.«

»Verstehe.« Lady Franklin wandte sich wieder an Mathinna. »Sag was.«

Mathinna deutete einen Knicks an. Inzwischen wunderte sie sich nicht mehr über die arrogante Unhöflichkeit der Briten. »Was soll ich sagen, Ma’am?«

Lady Franklin machte große Augen. »Du meine Güte! Mr Robinson, ich bin beeindruckt. Sie verwandeln Wilde in respektable Bürger.«

»In London, so habe ich gehört, kleidet man Orang-Utans wie Lords und Ladys und bringt ihnen Lesen bei«, sagte Sir John nachdenklich.

Mathinna wusste nicht, was ein Orang-Utan war, aber von Wilden hatte sie am Lagerfeuer der Älteren schon gehört: britische Wal- und Robbenfänger, die lebten wie Tiere und die sich über alle Anstandsregeln hinwegsetzten. Anscheinend war Lady Franklin etwas verwirrt.

Mr Robinson lachte auf. »Das ist nicht ganz dasselbe. Schließlich sind die Eingeborenen Menschen. Nach unserer Theorie kann man durch eine Veränderung der äußeren Umstände die Persönlichkeit beeinflussen. Wir bringen ihnen bei, unsere Speisen zu essen und unsere Sprache zu sprechen. Wir erfüllen ihre Seelen mit christlichen Werten. Wie Sie sehen können, tragen sie Kleidung. Wir haben den Männern die Haare geschnitten und den Frauen Sittsamkeit beigebracht. Ihnen christliche Namen zu geben, hat diesen Prozess unterstützt.«

»Wie ich gehört habe, ist die Sterblichkeitsrate recht hoch«, sagte Sir John. »Ihre Konstitution ist schwächlich.«

»Leider zwangsläufig«, erklärte Robinson. »Wir haben sie aus dem Busch geholt, wo sie Gott nicht kannten und nicht einmal wussten, wer die Bäume erschaffen hat.« Er seufzte leise. »Wir alle müssen einmal sterben, das ist eine Tatsache, und vorher müssen wir zu Gott beten, um unsere Seelen zu retten.«

»Sehr richtig. Sie erweisen ihnen einen großen Dienst.«

»Und die hier, wie ist ihr Name?«, fragte Lady Franklin, die ihre Aufmerksamkeit wieder auf Mathinna richtete.

»Mary.«

»Und ursprünglich?«

»Ursprünglich? Ihr Eingeborenenname war Mathinna. Die Missionare haben sie Leda getauft. Wir haben uns für etwas … Ernsthafteres entschieden«, antwortete Mr Robinson.

Mathinna erinnerte sich nicht daran, dass man sie jemals Leda gerufen hätte, aber den Namen Mary hatte ihre Mutter gehasst, deshalb benutzten die Palawa ihn nicht. Nur die Briten nannten sie so.

»Nun, ich finde sie bezaubernd«, sagte Lady Franklin. »Ich würde sie gerne behalten.«

Behalten? Mathinna schaute zu Mr Robinson, aber der wich ihrem Blick aus.

Sir John wirkte amüsiert. »Sie möchten, dass wir sie mit nach Hause nehmen? Nach dem, was mit dem Letzten passiert ist?«

»Diesmal wird es anders sein. Timeo war …« Lady Franklin schüttelte den Kopf. »Das Mädchen ist eine Waise, sagen Sie?« Sie wandte sich an Mr Robinson.

»Ja. Ihr Vater war Stammeshäuptling. Ihre Mutter hat wieder geheiratet, ist aber vor kurzem gestorben.«

»Ist sie dann nicht eine Prinzessin?«

Er lächelte verhalten. »Irgendwie schon, vielleicht.«

»Was meinen Sie, Sir John?«

Sir John lächelte wohlwollend. »Wenn es Sie amüsiert, meine Liebe, dann habe ich nichts dagegen.«

»Ich denke in der Tat, es wird unterhaltsam sein.«

»Und wenn nicht, dann können wir sie immer noch zurückschicken.«

Mathinna wollte nicht mit diesen verrückten Leuten von der Insel fort. Sie wollte sich nicht von ihrem Stiefvater und den anderen Stammesältesten verabschieden. Sie wollte nicht an einen fremden Ort reisen, an dem niemand sie kannte und wo sich keiner für sie interessierte. »Bitte, Sir«, flüsterte sie und griff nach Mr Robinsons Hand, »ich möchte nicht …«

Mr Robinson zog seine Hand fort und wandte sich an die Franklins. »Wir werden alle nötigen Vorkehrungen treffen.«

»Sehr gut.« Lady Franklin legte den Kopf schief und sah sie abschätzend an. »Mathinna. So nenne ich sie lieber. Dann ist die Überraschung größer, falls es ihr gelingt, sich die Umgangsformen einer Dame anzueignen.«

Später, als die Gäste des Gouverneurs abgelenkt waren, schlich sich Mathinna hinter die Backsteinhäuser und rannte los. Sie trug immer noch den traditionellen Festumhang aus Wallabyhaut, den ihr Vater ihr vor seinem Tod geschenkt hatte, und die Halskette, die ihre Mutter aus winzigen grünen Muscheln für sie gefertigt hatte. Auf dem Weg durch das hohe Wallaby-Gras, das weich ihre Schienbeine streifte, hörte sie Hundegebell und das Lärmen der Currawongs, plumper schwarzer Vögel, die immer trillerten und mit den Flügeln schlugen, wenn Regen aufkam. Sie sog den vertrauten Duft des Eukalyptus ein. Als sie die Lichtung überquert hatte und in den Busch trat, blickte sie hoch und sah, wie ein Schwarm von Sturmtauchern in den Himmel aufstob.

EVANGELINE

Mir ist keine einzige weibliche Strafgefangene bekannt, deren Charakter ich als anständig bezeichnen würde. Man muss sagen, dass die Lasterhaftigkeit dieser Frauen offen und schamlos ist. Man sollte es kaum für möglich halten, wie wild und unbezwingbar sie in ihrer Dreistigkeit sind. Sie sind die Pest und der Wundbrand der Kolonialgesellschaft – eine Beleidigung für die menschliche Natur und niedriger als Vieh, eine Schande für die Tierwelt.

James Mudie, The Felony of New South Wales: Being a Faithful Picture of the Real Romance Life in Botany Bay, 1837

St. John’s Wood, London, 1840

Aus den Tiefen eines unruhigen Traums hörte Evangeline ein Klopfen. Sie öffnete die Augen. Stille.

Dann, noch beharrlicher: Klopf-klopf-klopf.

Durch das kleine Fenster hoch über ihrer Liege fiel ein schwacher Lichtschein. Panik wallte in ihr auf: Sie musste die Morgenglocke verschlafen haben.

Sie verschlief die Morgenglocke nie.

Als sie sich aufsetzte, wurde ihr schwindelig, und sie sank wieder auf ihr Kissen zurück. »Nur einen Augenblick.« Speichel sammelte sich in ihrem Mund, den sie hinunterschluckte.

»Die Kinder warten!« Die Stimme des Hausmädchens klang entrüstet.

»Wie viel Uhr ist es, Agnes?«

»Halb neun!«

Evangeline setzte sich erneut auf und schlug die Bettdecke mit einem Ruck zurück. Bittere Galle stieg in ihrer Kehle auf, und diesmal kam sie nicht dagegen an: Sie beugte sich vor und übergab sich schwallartig auf den Dielenboden.

Der Türknauf drehte sich, die Tür schwang auf, und Agnes nahm stirnrunzelnd die gelbe Masse auf dem Fußboden in Augenschein und rümpfte die Nase.

»Gib mir nur eine Minute. Bitte.« Evangeline blickte hilflos auf und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund.

Agnes rührte sich nicht vom Fleck. »Irgendwas Falsches gegessen?«

»Ich glaube nicht.«

»Fieber?«

Evangeline legte sich die Hand auf die Stirn. Kühl und feucht. Sie schüttelte den Kopf.

»Ist dir schon länger schlecht?«

»Erst seit heute Morgen.«

»Hm.« Agnes schürzte die Lippen.

»Mit mir ist alles in Ordnung, ich bin nur …« Wieder spürte Evangeline es in ihrem Bauch rumoren, und sie schluckte.

»Gar nichts ist in Ordnung, wie man sieht. Ich werde Mrs Whitstone Bescheid geben, dass heute kein Unterricht stattfindet.« Mit einem knappen Nicken wandte sich Agnes zum Gehen, dann hielt sie inne und schaute mit zusammengekniffenen Augen auf die Kommode.

Evangeline folgte ihrem Blick. Neben dem ovalen Spiegel glänzte ein Ring im Sonnenlicht. Der rote Edelstein warf tiefrote Flecken auf das weiße Taschentuch, auf dem er lag.

Ihr Herz zog sich zusammen. Am Abend zuvor hatte sie den Ring im Kerzenlicht betrachtet und dann törichterweise vergessen, ihn wegzuräumen.

»Woher hast du den?«, fragte Agnes.

»Der war … ein Geschenk.«

»Von wem?«

»Einem Familienmitglied.«

»Aus deiner Familie?« Agnes wusste genau, dass Evangeline keine Familie besaß. Sie hatte sich nur deshalb als Hauslehrerin beworben, weil es niemanden gab, zu dem sie gehen konnte.

»Er ist … ein Erbstück.«

»Hab ihn nie an dir gesehen.«

Evangeline setzte die Füße auf den Boden. »Du meine Güte. Ich habe auch nicht viele Gelegenheiten, so etwas zu tragen, oder?«, sagte sie, um einen barschen Tonfall bemüht. »Lässt du mich jetzt in Ruhe? Mir geht es wunderbar. In einer Viertelstunde treffe ich die Kinder in der Bibliothek.«

Agnes musterte sie noch einmal streng, dann verließ sie das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu.

Später würde Evangeline diesen Moment Dutzende von Malen in ihrem Kopf Revue passieren lassen – was sie hätte sagen oder tun können, um Agnes abzulenken. Wahrscheinlich hätte es keinen Unterschied gemacht. Agnes hatte sie von Anfang an nicht gemocht. Sie war nur ein paar Jahre älter als Evangeline, aber schon seit beinahe zehn Jahren im Dienst der Whitstones, und stellte ihren Erfahrungsvorsprung mit arroganter Herablassung zur Schau. Immer wieder warf sie Evangeline vor, die Regeln nicht zu kennen oder die Abläufe im Haus nicht zu begreifen. Als Evangeline dem Hilfsbutler, ihrem einzigen Verbündeten, anvertraut hatte, dass sie den Grund für Agnes’ offensichtliche Verachtung nicht verstand, hatte er den Kopf geschüttelt. »Komm schon, sei nicht so naiv. Bis du gekommen bist, war sie das einzige Mädel. Jetzt ziehst du alle Aufmerksamkeit auf dich – auch die des jungen Herrn, der vorher Agnes schöne Augen gemacht hat, jedenfalls dachte sie das. Und dann hast du auch noch die leichtere Arbeit.«

»Das ist nicht wahr!«

»Anders ist sie aber schon, oder? Agnes muss von morgens bis abends Bettwäsche in Lauge schrubben und Nachttöpfe leeren. Du dagegen wirst für deinen Grips bezahlt. Kein Wunder, dass sie sauer ist.«

Evangeline stand auf, umrundete vorsichtig das Erbrochene und ging zu ihrer Kommode. Dort nahm sie den Rubinring und streckte ihn in Richtung Fenster, beobachtete fasziniert, wie sich das Licht darin brach. Sie sah sich im Zimmer um. Wo konnte sie ihn verstecken? Unter der Matratze? Im Kopfkissen? Schließlich öffnete sie die oberste Kommodenschublade und steckte den Ring in die Tasche eines alten Kleides, das unter ein paar neueren lag.

Wenigstens hatte Agnes nicht das weiße Taschentuch unter dem Ring bemerkt, in der Ecke bestickt mit Cecils verschlungenen Initialen – C. F. W. für Cecil Frederic Whitstone – und dem Familienwappen. Evangeline steckte das Taschentuch unter den Bund ihres Unterrocks und fing an sauberzumachen.

Während die Kinder aus der Fibel vorlasen, erschien plötzlich Mrs Whitstone in der Bibliothek. Die beiden sahen überrascht auf. Es war nicht die Art ihrer Mutter, während des Unterrichts unangekündigt aufzutauchen.

»Miss Stokes«, sagte sie in ungewöhnlich aufgebrachtem Ton, »bitte beenden Sie den Unterricht, so gut es geht, und kommen Sie in den Salon. Ned, Beatrice – Mrs Grimsby hat eine besondere Süßspeise zubereitet. Wenn ihr fertig seid, könnt ihr in die Küche gehen.«

Die Kinder sahen einander verwundert an.

»Aber Miss Stokes bringt uns immer zum Tee nach unten«, sagte Ned.

Seine Mutter lächelte dünn. »Ich bin sicher, dass ihr den Weg auch alleine findet.«

»Werden wir bestraft?«

»Aber nein.«

»Und Miss Stokes?«, fragte Beatrice.

»Was für eine lächerliche Frage.«

Evangeline spürte Furcht in sich aufsteigen.

»Hat Mrs Grimsby einen Kuchen gebacken?«

»Das werdet ihr gleich sehen.«

Mrs Whitstone verließ die Bibliothek, und Evangeline atmete tief durch. »Lasst uns diesen Abschnitt zu Ende lesen, ja?«, sagte sie, aber sie war nicht mehr bei der Sache, und die Kinder waren ohnehin von der Aussicht auf Kuchen abgelenkt. Als Ned seinen Absatz über das Bootfahren heruntergeleiert hatte, lächelte sie und sagte: »In Ordnung, Kinder, das reicht. Ihr könnt loslaufen zu eurem Tee.«

Da war er: der Rubinring, glänzend im matten Schein der Tranlampen im düsteren Salon. Mrs Whitstone hielt ihn in der Hand. »Wo haben Sie den her?«

Evangeline zupfte an ihrem Schürzenzipfel, eine alte Angewohnheit aus Kindheitstagen. »Ich habe ihn nicht gestohlen, falls Sie das andeuten wollen.«

»Ich deute gar nichts an. Ich stelle eine Frage.«

Evangeline hörte ein Geräusch und erstarrte, als sie im Halbdunkel hinter einem Stuhl einen Constable gewahrte. Er hatte einen schlaffen Schnurrbart und trug eine enganliegende schwarze Weste. In seinem Holster steckte ein Knüppel. Er hielt einen Stift und ein Notizbuch in den Händen.

»Sir«, sagte sie und deutete einen Knicks an. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie fürchtete, er könnte es hören.

Er beugte sich über sein Notizbuch und notierte sich etwas.

»Dieser Ring wurde zwischen Ihren Sachen gefunden«, sagte Mrs Whitstone.

»Sie … sind in meinem Zimmer gewesen.«

»Sie sind eine Angestellte dieses Haushalts. Es ist nicht Ihr Zimmer.«

Darauf wusste Evangeline keine Antwort.

»Agnes hat ihn auf Ihrer Kommode entdeckt, als sie kam, um nach Ihnen zu sehen. Das wissen Sie. Und dann haben Sie ihn versteckt.« Mrs Whitstone hielt erneut den Ring hoch und sah an Evangeline vorbei den Constable an. »Dieser Ring ist Eigentum meines Mannes.«

»Das ist er nicht. Er gehört Cecil«, entfuhr es Evangeline.

Der Constable blickte zwischen den beiden Frauen hin und her. »Cecil?«

Mrs Whitstone bedachte Evangeline mit einem scharfen Blick. »Der junge Mr Whitstone. Mein Stiefsohn.«

»Können Sie bestätigen, dass dieser Ring Ihrem Stiefsohn gehört?« Wenn der Mann sprach, zitterte der Schnurrbart unter seiner Knollennase.

Mit einem verkniffenen Lächeln sagte Mrs Whitstone: »Er gehörte der Mutter meines Mannes. Ob er jetzt meinem Mann oder seinem Sohn gehört, sei dahingestellt. Aber ganz gewiss gehört er nicht Miss Stokes.«

»Er hat ihn mir geschenkt«, sagte Evangeline.

Erst vor ein paar Tagen hatte Cecil eine kleine blaue Samtschachtel aus der Tasche gezogen und ihr in den Schoß gelegt. »Mach sie auf.«

Sie hatte ihn überrascht angesehen. Ein Ringetui. Konnte das sein? Es war natürlich unmöglich, und doch … hatte sie sich einen kleinen Hoffnungsschimmer erlaubt. Redete er nicht immer davon, dass sie schöner, bezaubernder und klüger sei als alle Frauen aus seinen Kreisen? Sagte er nicht immer, er würde auf die Erwartungen seiner Familie pfeifen oder auf die albernen Moralvorstellungen der Gesellschaft?

Als sie den Deckel öffnete, hatte ihr der Atem gestockt: Ein Ring aus Gold, dessen filigrane Ornamente in vier Bögen mündeten, die einen tiefroten Stein umschlossen.

»Der Rubin meiner Großmutter«, erklärte er ihr. »Als sie gestorben ist, hat sie ihn mir vermacht.«

»Oh Cecil, er ist wunderschön. Aber willst du …«

»Oh, nein, nein! Lass uns nichts überstürzen! Fürs Erste ist es genug, wenn ich ihn an deinem Finger sehe.«

Er hatte den Ring aus dem kleinen Kissen gezogen und ihr auf den Finger gestreift, und es hatte sich aufregend und intim angefühlt und zugleich merkwürdig beklemmend. Sie hatte noch nie einen Ring getragen; ihr Vater, ein Vikar, hatte von Schmuck nichts gehalten. Cecil beugte sich sanft zu ihrer Hand herab und küsste sie. Dann ließ er die Samtschachtel zuschnappen, steckte sie zurück in seine Westentasche und zog ein weißes Taschentuch hervor. »Wickle den Ring darin ein und verstecke ihn, bis ich aus den Ferien zurück bin. Es wird unser Geheimnis sein.«

Mrs Whitstone stieß ein Schnauben aus. »Das ist lächerlich. Warum in aller Welt sollte Cecil Ihnen …« Ihre Stimme erstarb, und sie starrte Evangeline an.

Evangeline begriff, dass sie zu viel gesagt hatte. Es wird unser Geheimnis sein. Aber Cecil war fort. Sie war verzweifelt, fühlte sich in die Enge getrieben. Und in dem Versuch, sich zu verteidigen, hatte sie jetzt das eigentliche Geheimnis verraten.

»Wo ist der junge Mr Whitstone?«, fragte der Constable.

»Im Ausland. In Venedig.«

»Man könnte versuchen, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Haben Sie seine Adresse?«

Mrs Whitstone schüttelte den Kopf. »Das wird nicht nötig sein.« Sie verschränkte die Arme und sagte: »Es ist offensichtlich, dass das Mädchen lügt.«

Der Constable hob eine Augenbraue. »Gibt es diesbezüglich eine Vorgeschichte?«

»Ich habe keine Ahnung. Miss Stokes ist erst seit ein paar Monaten bei uns.«

»Fünf«, sagte Evangeline. Dann nahm sie all ihre Kraft zusammen und sah dem Constable in die Augen. »Ich habe mir bei der Erziehung der Kinder von Mrs Whitstone große Mühe gegeben und mein Bestes getan, um ihren Charakter zu festigen. Nie habe ich mir irgendetwas zuschulden kommen lassen.«

Mrs Whitstone lachte trocken auf. »Das sagt sie.«

»Es dürfte nicht schwer sein, das nachzuprüfen«, erklärte der Constable.

»Ich habe den Ring nicht gestohlen«, sagte Evangeline.

Der Constable trommelte mit seinem Bleistift auf das Notizbuch. »Ist notiert.«

Mrs Whitstone sah Evangeline kalt und abschätzend an. »Tatsächlich misstraue ich diesem Mädchen schon seit einiger Zeit. Sie kommt und geht zu den ungewöhnlichsten Tages- und Nachtzeiten. Ist verschlossen. Die Hausmädchen finden sie unnahbar. Und jetzt wissen wir auch, warum. Sie hat ein Familienerbstück gestohlen und dachte, sie würde damit davonkommen.«

»Wären Sie bereit, eine entsprechende Aussage zu machen?«

»Selbstverständlich.«

Evangeline wurde übel. »Bitte«, wandte sie sich an den Constable, »könnten wir auf Cecils Rückkehr warten?«

Mrs Whitstone drehte sich um und bedachte sie mit einem finsteren Blick. »Diese unangebrachte Vertraulichkeit dulde ich nicht. Für Sie ist er Mr Whitstone.«

Der Constable zupfte an seinem Schnurrbart. »Ich glaube, ich habe jetzt alle Informationen, Miss Stokes. Sie können gehen. Ich habe noch ein paar Fragen an die Herrin des Hauses.«

Evangeline blickte zwischen den beiden hin und her. Mrs Whitstone hob das Kinn. »Warten Sie in Ihrem Zimmer. Ich werde bald jemanden zu Ihnen schicken.«

Falls Evangeline sich über den Ernst ihrer Lage noch nicht im Klaren gewesen war, wurde er bald genug offensichtlich.

Auf dem Weg die Treppe hinunter zu den Dienstbotenzimmern begegnete sie mehreren Angehörigen des Hauspersonals, die alle kühl nickten und dann den Blick abwandten. Der Hilfsbutler lächelte ihr verkniffen zu. Als sie den Treppenabsatz passierte, auf dem das Zimmer lag, das sich Agnes mit einem anderen Hausmädchen teilte, ging die Tür auf, und Agnes kam heraus. Sie erblickte Evangeline, wurde blass und wollte sich an ihr vorbeidrücken, aber Evangeline packte sie am Arm.

»Was machst du da?«, zischte Agnes. »Lass mich los.«

Evangeline stieß Agnes ins Zimmer und schloss die Tür. »Du hast den Ring aus meinem Zimmer genommen. Dazu hattest du kein Recht.«

»Kein Recht, gestohlenes Eigentum zurückzuholen? Im Gegenteil, es war meine Pflicht.«

»Er war nicht gestohlen.« Sie nahm Agnes beim Arm. »Er war ein Geschenk.«

»Ein Erbstück, hast du zu mir gesagt. Du hast gelogen.«

»Er war ein Geschenk.«

Agnes schüttelte sie ab. »›Er war ein Geschenk‹«, äffte sie Evangeline nach. »Wie dumm du doch bist. Und das ist nur ein Teil des Problems. Du bist schwanger.« Sie lachte über Evangelines fassungsloses Gesicht. »Überrascht, was? Zu unschuldig, um es zu merken, aber nicht zu unschuldig, um es zu werden.«

Schwanger. In dem Moment, als Agnes es aussprach, wusste Evangeline, dass es stimmte. Die Übelkeit, ihre unerklärliche Müdigkeit in letzter Zeit …

»Ich hatte die moralische Verpflichtung, die Lady zu informieren«, sagte Agnes süffisant.

Cecils sanfte Worte. Seine beharrlichen Hände und sein einnehmendes Lächeln. Ihre Schwäche, ihre Leichtgläubigkeit. Wie töricht sie gewesen war! Wie hatte sie sich nur in eine solche Situation bringen können? Ihr guter Ruf war alles, was sie besaß. Jetzt hatte sie nichts mehr.

»Denkst wohl, du bist besser als wir anderen, was? Tja, bist du nicht. Und das hast du jetzt davon«, sagte Agnes, während sie den Türknauf drehte. »Alle hier lachen über dich.« Sie stieß Evangeline gegen die Wand und drängte sich an ihr vorbei zur Treppe.

Verzweiflung brach über Evangeline herein und erfüllte sie mit einer so wütenden Kraft, dass sie nichts dagegen tun konnte. Ohne nachzudenken folgte sie Agnes auf den Treppenabsatz und versetzte ihr einen heftigen Stoß. Mit einem merkwürdigen spitzen Aufschrei stürzte Agnes Kopf voran die Treppe hinunter und blieb unten zusammengekrümmt liegen.

Während Evangeline zusah, wie Agnes sich langsam hochrappelte, spürte sie, dass ihre Wut abflaute. Zurück blieb ein leises Gefühl des Bedauerns.

Innerhalb von Sekunden waren der Butler und ein Diener zur Stelle.

»Sie … sie hat versucht, mich umzubringen!«, schrie Agnes und hielt sich den Kopf.

Evangeline, die immer noch oben auf dem Treppenabsatz stand, fühlte sich merkwürdig, ja, beängstigend ruhig. Sie strich ihre Schürze glatt und steckte sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Das verächtliche Lächeln des Butlers und Agnes’ theatralisches Schluchzen nahm sie wahr, als fände das alles auf einer Bühne statt. Sie sah, wie Mrs Grimsby unter aufgeregtem Rufen herbeieilte.

Das war das Ende ihrer Zeit in der Blenheim Road, das wusste sie, es war vorbei mit Fibeln, Griffeln und Schiefertafeln, mit Neds und Beatrice’ Geplapper über Kuchen, vorbei mit ihrem kleinen Schlafzimmer mit dem winzigen Fenster. Mit Cecils heißem Atem an ihrem Hals. Es würde keine Erklärungen und keine Entschuldigungen geben. Vielleicht war es besser so – lieber spielte sie bei ihrem Untergang eine aktive Rolle, als passives Opfer zu sein. Wenigstens war ihr Schicksal jetzt nicht mehr unverdient.

Auf dem Gang der Dienstboten, der mit Tranlampen erleuchtet war, legten zwei Constables ihr Handschellen und Fußketten an, während der Constable mit dem schlaffen Schnurrbart zwischen den Dienstboten hin und her lief, das Notizbuch in der Hand. »Sie war furchtbar still«, sagte das Zimmermädchen, als wäre Evangeline schon fort. Jeder schien die Rolle, die von ihm erwartet wurde, zu übertreiben: Die Bediensteten waren ein bisschen zu entrüstet, die Constables ein bisschen zu wichtigtuerisch, und Agnes war verständlicherweise ganz außer sich angesichts der Aufmerksamkeit und des Mitgefühls ihrer Herrschaften.

Evangeline trug immer noch ihre blaue Uniform aus Kammwolle mit der weißen Schürze. Sonst durfte sie nichts mitnehmen. Ihre Hände vor dem Bauch gefesselt, an den Füßen klirrende Ketten, waren zwei Constables nötig, um sie über die enge Hintertreppe zu dem ebenerdigen Dienstboteneingang zu bringen. In die Gefängniskutsche musste man sie praktisch heben.

Es war ein kalter, regnerischer Abend im März. In der Kutsche war es feucht, und merkwürdigerweise roch es nach nassem Schaf. Die Fenster hatten statt einer Glasscheibe senkrechte Eisenstäbe. Evangeline saß neben dem Constable mit dem schlaffen Schnurrbart und gegenüber den zwei anderen, die sie anstarrten. Sie war nicht sicher, ob ihre Blicke anzüglich waren oder nur neugierig.

Während der Kutscher die Pferde fertig machte, beugte Evangeline sich vor, um noch ein letztes Mal das Haus zu sehen. Mrs Whitstone stand am Fenster und hielt die Gardine zur Seite. Als sie Evangelines Blick begegnete, ließ sie die Gardine los und zog sich hastig in den Salon zurück.

Die Pferde setzten sich abrupt in Bewegung. Evangeline bemühte sich vergeblich um eine Position, in der die Fußeisen ihr nicht in die Gelenke schnitten, wenn die Kutsche über Pflastersteine holperte.

Am Tag ihrer Ankunft in St. John’s Wood war es genauso kalt und regnerisch gewesen. Sie war mit der Pferdedroschke gekommen. Vor dem cremeweißen Haus in der Blenheim Road – die Zweiundzwanzig aus schwarzem Metall, die Haustür in glänzendem Zinnoberrot – hatte sie tief Luft geholt. Der Koffer, dessen Griff sie mit einer Hand umklammerte, enthielt alles, was sie besaß: drei Musselinkleider, eine Nachthaube und zwei Nachthemden, etwas Unterwäsche, eine Bürste aus Pferdehaar, einen Waschlappen sowie ein paar Bücher – die Bibel ihres Vaters mit seinen handgeschriebenen Notizen, ihre Lehrbücher für Latein, Griechisch und Mathematik sowie eine abgegriffene Ausgabe von Der Sturm. Das war das einzige Drama, das sie je auf der Bühne gesehen hatte; bei der Freilichtaufführung einer fahrenden Truppe, die in einem Sommer nach Tunbridge Wells gekommen war.

Sie rückte ihren Hut zurecht, klingelte an der Tür und hörte das Schrillen der Glocke bis nach draußen.

Niemand öffnete ihr.

Sie drückte erneut auf die Klingel. Gerade als sie sich fragte, ob sie sich im Datum geirrt hatte, ging die Tür auf, und ein junger Mann erschien. Seine braunen Augen waren lebhaft und neugierig. Sein braunes Haar, dick und leicht gewellt, reichte bis über den Kragen seines weißen Hemdes, das er nicht in die Hose gesteckt hatte. Er trug keinen Frack und keine Krawatte. Ganz sicher war er nicht der Butler.

»Ja?«, sagte er ungeduldig. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Nun, ich … ich bin …« Sie sammelte sich und machte einen Knicks. »Entschuldigen Sie, Sir. Vielleicht sollte ich später wiederkommen.«

Er betrachtete sie. »Werden Sie erwartet?«

»So dachte ich, ja.«

»Von wem?«

»Von der Lady des Hauses, Sir. Mrs Whitstone. Ich bin Evangeline Stokes, die neue Hauslehrerin.«

»Tatsächlich. Sind Sie ganz sicher?«

»Wie … bitte?«, stammelte sie.

»Ich wusste nicht, dass es so hübsche Hauslehrerinnen gibt«, sagte er und zeigte mit einer galanten Geste auf sie. »Verdammt unfair. Meine sah ganz anders aus.«

Evangeline konnte ihr Unbehagen kaum verbergen. Sie fühlte sich, als spielte sie in einem Theaterstück mit und hätte ihren Text vergessen. In ihrer Rolle als Pfarrerstochter hatte sie vor und nach dem Gottesdienst immer hinter ihrem Vater gestanden, um die Gemeindemitglieder zu begrüßen, und sie hatte ihn auch bei seinen Besuchen der Alten und Kranken begleitet. So begegnete sie allen möglichen Menschen, vom Korbflechter bis zum Stellmacher, vom Zimmermann bis zum Hufschmied. Aber sie hatte wenig Kontakt zu den Reichen gehabt, die in ihre eigenen Kirchen gingen und unter sich blieben. Mit dem schlüpfrigen Humor der höheren Klassen hatte sie keine Erfahrung, und sie war nicht geübt in deren Wortgeplänkeln.

»Ich mache nur ein wenig Spaß.« Der junge Mann lächelte und streckte ihr die Hand entgegen, die sie zögernd ergriff. »Cecil Whitstone. Halbbruder Ihrer Schutzbefohlenen. Ich wage zu prophezeien, dass Sie alle Hände voll zu tun haben werden.« Er machte die Tür weit auf. »Ich springe für Trevor ein, der ohne Zweifel unterwegs ist, um irgendeine der Launen meiner Stiefmutter zu erfüllen. Kommen Sie, treten Sie ein. Ich wollte gerade gehen, aber ich werde Sie ankündigen.«

Als sie mit ihrem Koffer in das schwarz-weiß geflieste Foyer trat, streckte Cecil noch einmal den Kopf zur Tür hinaus. »Sonst keine Taschen?«

»Das ist alles.«

»Meine Güte, Sie reisen mit leichtem Gepäck.«

In diesem Moment öffnete sich die Tür am anderen Ende des Flurs, und eine dunkelhaarige Frau Mitte dreißig erschien. Sie setzte sich gerade eine grüne Seidenhaube auf. »Ah, Cecil!«, sagte sie. »Und das ist vermutlich Miss Stokes?« Sie lächelte Evangeline zerstreut zu. »Ich bin Mrs Whitstone. Ich fürchte, hier ist heute alles ein wenig durcheinander. Trevor hilft Matthew, die Pferde anzuspannen, damit ich in die Stadt fahren kann.«

»Wir alle haben mannigfaltige Verpflichtungen, sagte Cecil in verschwörerischem Ton, als wären er und Evangeline alte Freunde. »Zusätzlich zum Lateinunterricht werden Sie bald auch Gänse rupfen und das Silber polieren müssen.«

»Unsinn«, sagte Mrs Whitstone, die vor dem großen goldgerahmten Spiegel ihre Haube zurechtrückte. »Cecil, würdest du bitte Agnes davon in Kenntnis setzen, dass Miss Stokes angekommen ist?« Wieder an Evangeline gewandt, sagte sie: »Agnes wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Das Abendbrot für Dienstboten ist um fünf Uhr. Sie werden Ihre Mahlzeiten mit ihnen zusammen einnehmen, wenn der Unterricht der Kinder rechtzeitig zu Ende ist. Sie sehen ein wenig abgeschlagen aus, meine Liebe. Vielleicht möchten Sie sich bis zum Abendessen ausruhen.«

Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

Als Mrs Whitstone gegangen war, sagte Cecil mit einem verschmitzten Lächeln: »›Abgeschlagen‹ ist nicht gerade das Wort, das ich benutzt hätte.« Er kam näher an sie heran, als es angemessen schien.

Evangeline verspürte ein ungewohntes Herzklopfen. »Sollten Sie jetzt nicht … ähm … Agnes Bescheid sagen, dass ich da bin?«

Er strich sich nachdenklich übers Kinn, dann sagte er: »Meine Erledigungen können warten. Ich werde Sie selbst herumführen. Es ist mir ein Vergnügen.«

Hätten sich die Dinge anders entwickelt, wenn Evangeline Mrs Whitstones Anweisungen gefolgt wäre – oder am besten gleich ihrem Instinkt? Hatte sie nicht gemerkt, dass sie sich auf dünnem Eis bewegte und beim leisesten Fehltritt einbrechen würde?

Nein, das hatte sie nicht. Sie lächelte Cecil an und steckte sich eine lose Haarsträhne zurück in ihren Haarknoten. »Das wäre wunderbar«, sagte sie.

Nun, da sie in der zugigen Kutsche saß, tastete sie mit ihren gefesselten Händen nach dem Taschentuch mit dem Monogramm unter ihrem Unterrock. Mit den Fingern der einen Hand fuhr sie seine schwachen Umrisse nach und bildete sich ein, das Garn von Cecils Initialen spüren zu können, die sich mit den Linien des Familienwappens verflochten – ein Löwe, eine Schlange, eine Krone.

Das war alles, was sie von ihm hatte und je haben würde. Abgesehen natürlich von dem Kind, das in ihr heranwuchs.

Sie fuhren in Richtung Westen, auf den Fluss zu. Niemand in dem kühlen Kutschraum redete. Unwillkürlich rückte Evangeline etwas näher an den Constable heran, dessen Körperwärme sie neben sich spürte. Er verzog das Gesicht, blickte zu Boden und rückte von ihr ab in Richtung Fenster.

Evangeline war schockiert. Noch nie in ihrem Leben hatte sie die Erfahrung gemacht, von einem anderen Menschen verabscheut zu werden. Die kleinen Aufmerksamkeiten, die ihr andere aus Freundlichkeit und Fürsorge zuteilwerden ließen, hatte sie immer als selbstverständlich hingenommen: Wenn ihr der Metzger die besten Fleischstücke heraussuchte, der Bäcker den letzten Brotlaib für sie aufbewahrt hatte.

Nun war sie dabei zu lernen, wie sich Verachtung anfühlte.

Newgate Prison, London, 1840

In diesem Teil von London stank es nach Pferdemist und verfaultem Gemüse. Die Luft war schwer vom Rauch der Kohleöfen, Frauen in zerschlissenen Umhängen lungerten unter Gaslaternen herum, Männer drängten sich um Feuertonnen, Kinder rannten trotz der späten Uhrzeit kreischend auf der Straße herum, wühlten in Abfällen und verglichen ihre Fundstücke. Einen solchen Ort hatte Evangeline noch nie gesehen. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte auszumachen, was die Kinder in den Händen hielten. Knochen. Sie hatte von diesen Kindern gehört, die sich ein paar Pennys verdienten, indem sie Tierknochen sammelten, die man zu Asche verbrannte und mit Lehm vermischte, um die Keramikwaren herzustellen, die die feinen Damen in ihren Geschirrvitrinen aufbewahrten. Noch ein paar Stunden zuvor hätte sie Mitleid empfunden; jetzt war sie wie betäubt.

»Da wären wir«, sagte einer der Constables und zeigte aus dem Fenster. »Der Knast.«

»Der Knast?« Evangeline beugte sich vor und reckte den Hals.

»Newgate.« Er grinste. »Dein neues Zuhause.«

In Groschenromanen hatte sie Geschichten von gefährlichen Verbrechern gelesen, die im Newgate-Gefängnis einsaßen. Und da lag es nun vor ihr, eine langgezogene Festung im Schatten der St Paul’s Cathedral. Als sie näher kamen, sah Evangeline, dass die Fenster zur Straße hin seltsam stumpf aussahen. Erst als der Kutscher den Pferden etwas zurief und vor dem großen schwarzen Tor kräftig die Zügel zog, wurde ihr klar, dass sie nicht echt, sondern aufgemalt waren.

Eine kleine Gruppe von Menschen, die in der Nähe des Eingangs gestanden hatten, drängte sich nun um die Kutsche. »Gaffer«, sagte der Constable mit dem schlaffen Schnurrbart. »Diese Vorstellung wird nie langweilig.«

Die drei Constables stiegen nacheinander aus und herrschten die Umstehenden an, zurückzutreten. Evangeline kauerte sich in dem engen Kutschraum zusammen, bis einer sie ungeduldig herauswinkte. »Komm schon!« Sie schob sich vor zur Tür, und er zog an ihrer Schulter. Als sie aus der Kutsche stolperte, packte er sie wie einen Sack Mehl und ließ sie zu Boden plumpsen. Ihre Wangen brannten vor Scham.

Kinder mit großen Augen und grantig dreinblickende Erwachsene starrten sie an, während sie mühsam wieder auf die Beine kam. »Was für eine Schande«, stieß eine Frau hervor. »Gnade Gott deiner Seele.«

Ein Constable stieß Evangeline in Richtung des eisernen Tors, wo die kleine Gruppe von zwei Wachmännern empfangen wurde. Während sie zwischen den beiden durch das Tor stolperte, die Constables hinter sich, blickte sie hoch und las die Inschrift an der Sonnenuhr über dem Torbogen. Venio Sicut Fur. Wahrscheinlich verstanden die meisten Gefangenen, die durch das Tor traten, diese Worte nicht, aber Evangeline verstand sie. Ich komme als Dieb.

Scheppernd fiel das Tor ins Schloss. Sie hörte ersticktes Klagen, wie maunzende Katzen in einem Sack, hob den Kopf und lauschte. »Die anderen Huren«, erklärte der Wachmann. »Du wirst früh genug bei ihnen sein.«

Huren! Sie zuckte zusammen.

Ein schlanker Mann, der einen großen Ring am Gürtel trug, an dem Schlüssel hingen, kam eilig auf sie zu. »Hier entlang. Nur die Gefangene und zwei andere.«

Evangeline, der schnurrbärtige Constable und einer der Wachmänner folgten ihm durch eine Vorhalle und mehrere Treppen hinauf. Mit ihren Fußketten kam sie nur langsam vorwärts; der Wachmann stieß ihr immer wieder seinen Knüppel in den Rücken. Sie gingen durch ein Labyrinth von Korridoren, nur schwach beleuchtet von Öllaternen, die an den dicken Mauern hingen.

Vor einer doppelt verriegelten Holztür blieb der Gefängniswärter stehen. Er ging seine Schlüssel durch, fand schließlich den gesuchten und steckte ihn erst in das obere, dann in das untere Schloss, um die Tür zu öffnen. Dann durchquerte er einen kleinen Raum, in dem nur ein Eichentisch und ein Stuhl standen, beleuchtet von einer Hängelampe an der hohen Decke, und klopfte an eine andere, kleinere Tür.

»Entschuldigen Sie, Oberin. Eine neue Gefangene.«

Stille. Dann, leise: »Einen Moment.«

Sie warteten. Die Männer lehnten sich an die Wand und unterhielten sich. Evangeline in ihren Ketten stand unsicher in der Mitte des Raumes. Ihre Unterarme waren feucht, und die Fußketten scheuerten an ihren Knöcheln. Ihr Magen knurrte; sie hatte seit dem Morgen nichts mehr gegessen.

Nach einer Weile wurde die Tür geöffnet. Offensichtlich hatten sie die Oberin geweckt. Ihr kantiges Gesicht war voller Falten, ihr angegrautes Haar zu einem unordentlichen Knoten gesteckt. Sie trug ein ausgebleichtes schwarzes Kleid.

»Fangen wir an«, sagte sie gereizt. »Ist die Gefangene durchsucht worden?«

»Nein, Ma’am«, sagte der Gefängniswärter.

Sie gab ihm ein Zeichen. »Na dann los.«

Grob fuhr er mit den Händen über Evangelines Schultern und an ihren Seiten entlang, unter ihre Arme und sogar kurz zwischen ihre Beine. Sie wurde rot vor Scham. Als er der Oberin zunickte, ging sie zum Schreibtisch, zündete eine Kerze an und ließ sich auf den Stuhl sinken. Sie schlug ein dickes Buch auf, dessen Seiten in einer winzigen Schrift dicht beschrieben waren. »Name«, sagte sie.

»Evangel…«

»Nicht Sie«, sagte die Oberin, ohne aufzublicken. »Sie haben das Recht zu sprechen verwirkt.«

Evangeline biss sich auf die Unterlippe.

Der Constable zog einen Bogen Papier aus der Innentasche seiner Weste und starrte darauf. »Name … äh … Evangeline Stokes.«

Sie tunkte ihre Feder in ein Tintenfass und schrieb in das Buch. »Verheiratet?«

»Nein.«

»Alter?«

»Ah … mal sehen. Sie wird zweiundzwanzig.«

»Sie wird oder sie ist?«

»Geboren im August, steht hier. Also … einundzwanzig.«

Die Oberin warf ihm einen scharfen Blick zu, den Stift in der Luft über dem Papier. »Drücken Sie sich deutlich aus, Constable, sonst sitzen wir noch die ganze Nacht hier. Ihr Vergehen. In so wenigen Worten wie möglich.«

Er räusperte sich. »Nun, Ma’am, es sind mehrere.«

»Beginnen Sie mit dem ungeheuerlichsten.«

Er seufzte. »Zuerst … Sie ist eine Schwerverbrecherin. Der schlimmsten Art.«

»Das Delikt.«

»Versuchter Mord.«

Die Oberin sah Evangeline stirnrunzelnd an.

»Ich habe nicht …«, begann Evangeline.

Die Oberin hob die Hand. Dann blickte sie wieder in ihr Buch und schrieb weiter. »An wem, Constable.«

»An einem Zimmermädchen, angestellt bei … äh« – er suchte auf dem Blatt in seiner Hand –, »bei einem gewissen Ronald Whitstone, wohnhaft in der Blenheim Road 22, St. John’s Wood.«

»Auf welche Weise.«

»Miss Stokes hat sie eine Treppe hinuntergestoßen.«

Sie sah auf. »Ist das Opfer … wohlauf?«

»Es scheint so. Erschüttert, aber im Wesentlichen … wohlauf, denke ich.«

Aus dem Augenwinkel sah Evangeline eine Bewegung in der Ecke: eine magere Ratte, die sich durch einen Spalt unter der Fußleiste zwängte.

»Und was noch?«

»Ein Erbstück, das dem Hausherrn gehörte, ist in Miss Stokes’ Zimmer gefunden worden.«

»Was für ein Erbstück?«

»Ein Ring. Gold. Mit einem wertvollen Stein. Einem Rubin.«

»Ich habe ihn geschenkt bekommen«, platzte Evangeline heraus.

Die Oberin ließ die Feder sinken. »Miss Stokes. Das ist der zweite Verweis.«

»Es tut mir leid. Aber …«

»Sie sagen kein Wort mehr, wenn Sie nicht gefragt werden. Ist das klar?«

Evangeline nickte unglücklich. Ihre Angst und die Sorge waren einer beunruhigenden Starre gewichen. Beinahe nüchtern fragte sie sich, ob sie gleich das Bewusstsein verlieren würde. Gnädige Dunkelheit war sicher besser als das hier.

»Körperverletzung und Diebstahl«, sagte die Oberin zu dem Constable, die Hand auf der Buchseite. »Das wird ihr vorgeworfen?«

»Ja, Ma’am. Und außerdem ist sie … guter Hoffnung.«

»Verstehe.«

»Außerehelich, Ma’am.«

»Ich habe Ihre Andeutung verstanden, Constable.« Sie sah auf. »Also wird ihr versuchter Mord und schwerer Diebstahl vorgeworfen.«

Er nickte.

Sie seufzte. »Nun gut. Sie können gehen. Ich werde die Gefangene in den Zellentrakt bringen.«

Als der Mann hinausgegangen war, wandte sich die Oberin an Evangeline. »Vermutlich ein langer Tag für Sie. Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass es nicht besser werden wird.«

Evangeline spürte Dankbarkeit in sich aufwallen. Diese Worte waren an diesem Tag das Einzige, was entfernt an Freundlichkeit erinnerte. Tränen stiegen ihr in die Augen, und obwohl sie sich fest vornahm, nicht zu weinen, rollten sie ihr über die Wangen. Mit ihren gefesselten Händen konnte sie sie nicht abwischen. Für einen kurzen Augenblick erfüllte ihr ersticktes Schluchzen den Raum.

»Ich muss Sie jetzt runterbringen«, sagte die Oberin schließlich.

»Es war nicht so, wie er gesagt hat«, stieß Evangeline hervor. »Ich … ich habe nicht …«

»Sie können sich Ihre Worte sparen. Meine Meinung zählt nicht.«

»Aber es gefällt mir nicht, wenn Sie … schlecht von mir denken.«

Die Oberin lachte trocken. »Oh, Mädchen. Das ist neu für Sie.«

»Ja, das ist es.«

Während sie die Feder ablegte und das Buch zuschlug, fragte die Oberin: »War es Gewalt?«

»Wie bitte?«, entgegnete Evangeline verständnislos.

»Hat der Mann Sie gezwungen?«

»Oh. Nein, nein.«

»Dann war es also Liebe?« Die Oberin schüttelte seufzend den Kopf. »Sie lernen auf die unsanfte Weise, dass es keine Männer gibt, denen man vertrauen kann. Frauen übrigens auch nicht. Je eher Sie das verstehen, desto besser für Sie.«

Sie durchquerte den Raum und öffnete einen Schrank, aus dem sie zwei Stücke braunes Sackleinen, einen Holzlöffel und einen Blechbecher nahm. Nachdem sie Löffel und Becher in den Stoff gewickelt hatte, schnürte sie das Ganze zu einem Bündel, das sie mit Hilfe einer Schlaufe an Evangelines gefesselte Handgelenke hängte. Dann nahm sie den Kerzenleuchter von ihrem Schreibtisch, zog einen Schlüsselbund aus der Schublade und gab ihr ein Zeichen, ihr zu folgen. »Hier, halten Sie die«, sagte sie, als sie im Gang standen, und gab ihr die brennende Kerze. Evangeline umklammerte sie ungeschickt, und heißes Wachs rann über ihre Daumen, während die Oberin die Tür abschloss. Die Kerze roch stark nach Talg. Schaftalg, fleischig und fettig. Sie kannte den Geruch von den Besuchen bei den Armen aus der Gemeinde, bei denen sie ihren Vater begleitet hatte.

Die Oberin nahm ihr die Kerze wieder ab, und sie gingen durch den Korridor, vorbei an den zischenden Öllampen, und die Treppe hinunter. Draußen angekommen, bog die Oberin nach links in einen Innenhof ein. Evangeline hörte Ächzen und Jammern von Frauen, während sie ihr durch die Dunkelheit folgte und dabei versuchte, nicht auf den feuchten Pflastersteinen auszurutschen. Sie hätte gerne ihre Röcke hochgehoben, aber mit den Handschellen war das unmöglich. Der nasse Stoff klatschte gegen ihre Fußgelenke. Die Kerze erleuchtete nur ein kurzes Stück vor ihnen. Als sie sich der anderen Seite des Innenhofs näherten, wurden die Schreie lauter.

Evangeline musste selbst irgendeinen Laut ausgestoßen haben, vielleicht ein selbstmitleidiges Wimmern, denn die Oberin sah sie über die Schulter hinweg an und sagte: »Sie werden sich daran gewöhnen.«

Noch eine Treppe abwärts, dann einen kurzen Gang entlang. Die Oberin blieb vor einer schwarzen Eisentür stehen, deren obere Hälfte aus einem Gitter bestand, und reichte Evangeline erneut die Kerze. Nachdem sie den richtigen Schlüssel herausgesucht hatte, steckte sie ihn nacheinander in drei verschiedene Schlösser, dann öffnete sie die Tür, hinter der ein dunkler Gang lag.

Evangeline hielt inne, konnte kaum atmen wegen des üblen Gestanks. Er rief eine alte Erinnerung in ihr wach: der Schlachtraum des Metzgerladens in Tunbridge Wells, den sie nur einmal betreten und sich dann geschworen hatte, es nie wieder zu tun. Sie konnte die Frauen in den Zellen nicht sehen, hörte sie aber murmeln und stöhnen. Das klägliche Geschrei eines Babys, ein Husten, das sich anhörte wie Gebell.

»Kommen Sie jetzt«, sagte die Oberin.

Nur schwacher Kerzenschein beleuchtete den engen Gang, an dessen linker Seite Zellen lagen. Überall klopfte es leise, taptaptap, als sie vorbeigingen – wie von Stöcken, die gegen die Eisengitter der Zellentüren geschlagen wurden. Finger berührten Evangelines Haar, griffen nach ihrer Schürze. Sie schrie auf und wich nach rechts aus, so dass sie mit der Schulter gegen die Mauer prallte.

»Bist ne Feine, was?«, sagte ein Frau in affektiertem Tonfall.

»Das Kleid wird nich lang sauber bleiben.«

»Was haste angestellt, Missy?«

»Was haste angestellt?«

Vor einer Zellentür blieb die Oberin abrupt stehen. Wortlos reichte sie Evangeline wieder die Kerze und schloss auf. Murmeln und Rascheln von den Frauen im Inneren. »Macht Platz«, sagte die Oberin.

»Gibt keinen mehr.«

»Eine hier drin ist umgekippt, Ma’am. Ihr war furchtbar schlecht. Jetzt ist sie kalt wie Eis.«

»Sie nimmt Platz weg.«

Die Oberin seufzte. »Schiebt sie in eine Ecke. Am Morgen schicke ich jemanden.«

»Ich hab Hunger!«

»Dreckeimer ist voll!«

»Bringt das Mädchen woandershin!«

»Sie kommt jetzt rein.« Die Oberin wandte sich an Evangeline. »Heb deine Röcke hoch, damit ich die Fußketten abmachen kann.« Bevor sie sich hinkniete, berührte sie Evangelines Hand und sagte leise: »Hunde, die bellen, beißen nicht. Versuchen Sie, ein bisschen zu schlafen.«

Als Evangeline in die dunkle Zelle trat, stolperte sie über die Steinschwelle und landete mit dem Kopf voran in einem Knäuel von Frauen, bevor sie mit der Schulter auf dem Boden aufkam.

Empörte Stimmen wurden laut.

»Was soll das?«

»Dumme Nuss.«

»Steh auf, Trampeltier.«

Sie bekam einen Tritt gegen die Rippen.

Mühsam kämpfte sie sich hoch. Sich die Handgelenke reibend, stand sie an der Zellentür und sah zu, wie sich der schwache Lichtschein der Kerze der Oberin in dem langen Gang entfernte. Als die Tür am anderen Ende scheppernd ins Schloss fiel, war sie die Einzige, die zusammenzuckte.

Durch ein kleines vergittertes Fenster unter der Decke fiel mattes Mondlicht. Nachdem ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, betrachtete sie das Bild, das sich ihr bot. Dutzende Frauen füllten die Zelle, die ungefähr die Größe des Empfangssalons der Whitstones hatte. Der Steinboden war mit altem Stroh bedeckt.

Sie lehnte sich an die Wand. Von den Gerüchen, die vom Boden aufstiegen – metallisch wie Blut, vergoren wie Erbrochenes, dazu der Gestank menschlicher Ausscheidungen –, drehte sich ihr der Magen um, und als ihr die Galle hochkam, beugte sie sich vor und übergab sich auf das Stroh.

Die umstehenden Frauen wichen murrend und schimpfend zurück.

»Die widerliche Schlampe, sie kotzt!«

»Uaah, eklig.«

Evangeline wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab. »Tut mir …«, murmelte sie, als auch noch der Rest ihres Mageninhalts aus ihr herausbrach. Die Frauen um sie herum wendeten sich ab. Evangeline schloss die Augen und fiel auf die Knie, so dass sie ihr Kleid mit dem eigenen Erbrochenen beschmutzte. Ihr war schwindlig, und sie war unfassbar müde.

Nach einer Weile stand sie auf. Sie schnürte das Bündel auf, das die Oberin ihr gegeben hatte, und steckte den Blechbecher und den Holzlöffel in ihre Schürzentasche. Dann breitete sie eines der beiden Sackleinenstücke auf dem dreckverschmierten Boden aus, raffte ihre Unterröcke über den Knien zusammen und ließ sich nieder, um sich vorsichtig auf dem zu kleinen rechteckigen Stück Stoff auszustrecken. Noch am Morgen hatte sie in ihrem Bett gelegen, in ihrem eigenen Zimmer, und von einer Zukunft geträumt, die ihr zum Greifen nahe erschienen war. Jetzt war das alles vorbei. Während sie den Geräuschen der Frauen lauschte, die um sie herum schnauften, schnarchten, grunzten und seufzten, glitt sie in einen eigenartigen Dämmerzustand – und selbst im Traum war ihr bewusst, dass nicht einmal der schlimmste Alptraum an das herankommen konnte, was sie erwartete, wenn sie die Augen wieder öffnen würde.

Newgate Prison, London, 1840

Die Tür am Ende des Ganges öffnete sich scheppernd, und Evangeline entwand sich dem Schlaf. Es brauchte einen Moment, bis ihr einfiel, wo sie war. Rußgeschwärzte, feuchte Steine, Grüppchen von elenden Frauen, ein verrostetes Eisengitter … ihr Mund war trocken, ihre Unterröcke waren steif vor Dreck und rochen säuerlich …

Wie angenehm das Vergessen gewesen war …

Trotz der Morgendämmerung wurde es kaum heller, von oben fiel nur wenig trübes Licht durch das Fenster. Sie richtete sich auf und streckte ihren schmerzenden Rücken. Ein übelriechender Eimer stand in der Ecke. Wieder war das anhaltende Klopfen – taptaptap – zu hören, und jetzt sah sie, woher es kam: Die Frauen trommelten mit ihren Holzlöffeln an die Wände und Eisengitter.

Zwei Wachmänner tauchten mit einem Eimer vor ihrer Zelle auf. »Stellt euch auf!«, schrie einer, während der andere die Tür aufschloss. Evangeline sah, wie er eine Kelle in den Eimer tauchte und den Inhalt in den Becher klatschte, den ihm eine Gefangene entgegenstreckte. Sie wühlte in ihrer Schürzentasche, zog ihren eigenen schartigen Becher hervor und drehte ihn um, um den Schmutz herauszuschütteln. Trotz der Feuchtigkeit an ihren Fußgelenken, ihrer vollen Blase, der schmerzenden Glieder und der Übelkeit gewann der Hunger die Oberhand, und sie drängte nach vorne.

Während der Wachmann ihren Becher füllte, suchte sie seinen Blick. Merkte er nicht, dass sie mit diesen armseligen Gestalten mit den schmutzigen Gesichtern nichts gemein hatte?

Er sah sie nicht einmal an.

Sie trat zurück und nippte an ihrer wässrigen Hafersuppe, kalt und fade und womöglich vergoren. Ihr Magen rebellierte, aber sie schaffte es, sich nicht zu übergeben.

Frauen balancierten mit Bechern in der Hand und schreienden Babys auf dem Arm über andere hinweg, um ihre Hafersuppe zu bekommen, und streckten den Wachmännern ihre Becher hin. Ein paar blieben zurück, wahrscheinlich zu krank und erschöpft, um sich einen Weg zur Tür zu bahnen. Eine Frau – wahrscheinlich war es diejenige, von der man der Oberin in der Nacht berichtet hatte – bewegte sich gar nicht mehr. Evangeline betrachtete sie beunruhigt.

Ja, es war gut möglich, dass sie tot war.

Nachdem die Wachmänner die leblose Frau fortgetragen hatten, wurde es still in der Zelle. In einer Ecke hatte sich eine Gruppe von Gefangenen versammelt. Sie spielten ein Kartenspiel, das aussah wie aus den Seiten einer Bibel gebastelt. In einer anderen Ecke saß eine Frau mit einer Strickmütze und las Frauen aus der Hand. Ein Mädchen, das kaum älter als fünfzehn sein mochte, wiegte ein Baby und summte dabei eine Melodie, die Evangeline wiedererkannte: Mein Baby ließ ich liegen hier, liegen hier, liegen hier, denn Blaubeern wollt ich sammeln gehn … In Tunbridge Wells hatte sie Frauen gehört, die ihren Kindern dieses merkwürdige schottische Schlaflied vorsangen. Darin beschreibt eine verzweifelte Mutter, deren Baby verschwunden ist, ihren Weg: Ich suchte bei den Moorlandseen, Moorlandseen, Moorlandseen, durchquerte jedes stille Tal … Die Mutter findet die Fährte eines Otters, sieht auf einem See das von einem Schwan aufgewühlte Wasser. Nur Nebelspuren fand ich hier, fand ich hier, fand ich hier, doch nirgendwo mein Baby, oh! Das Schlaflied mit seiner deutlichen Mahnung an junge Mütter, ihre Kinder im Auge zu behalten, erschien ihr jetzt grausam düster. Der Verlust, von dem es erzählte, war kaum zu ertragen.

Evangeline bekam einen derben Stoß in den Rücken. »Also, was haste angestellt?«

Sie drehte sich um und sah eine rotgesichtige Frau von beachtlicher Körperfülle, mindestens fünf Jahre älter als sie, mit krausen blonden Haaren und Stupsnase.

In einem ersten Impuls wollte Evangeline ihr sagen, sie solle sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, aber Impulse hatten ihr in letzter Zeit keine guten Dienste geleistet. »Was hast du angestellt?«

Die Frau grinste und ließ dabei eine Reihe von Zähnen sehen, klein und gelb wie Maiskörner, mit einer breiten Lücke vorn. »Hab mir geholt, was mir zusteht, von so nem Scheißkerl, der nicht bezahlen wollte.« Sie tätschelte ihren Bauch. »Zukünftiger Vater, und jetzt wird er’s nie erfahren.«