Die Feuer von Murano - Giuseppe Furno - E-Book
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Die Feuer von Murano E-Book

Giuseppe Furno

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Beschreibung

Venezianisches Inferno.

1569, die freie Republik Venedig steckt im Klammergriff zwischen den anrückenden Osmanen und dem immer mächtiger werdenden Kirchenstaat. Als eine Explosion in der Werft einen halben Stadtteil vernichtet, ist man schnell von Brandstiftung durch die Türken überzeugt, das Klima der einst so liberalen Serenissima ist vergiftet. Indessen ermittelt Andrea Loredan, Dogensohn und Anwalt des Volkes in einer Serie mysteriöser Morde. Sie führen ihn auf die Spur eines Spiones in Mönchskutte, eines verschollenen Glasbläsers und einer Geheimgesellschaft weiser Frauen, die von der Kirche verbotene Bücher verstecken. Als Andrea und die Segelnäherin Sofia sich plötzlich auf der Seite der von der Inquisition und der mächtigen papsttreuen Partei Venedigs Verfolgten wiederfinden, wird ihr Kampf um Gerechtigkeit und Freiheit zum Kampf um ihr Leben und ihre Liebe ...

In seinem preisgekrönten Debüt erzählt Giuseppe Furno nicht nur das packende Abenteuer des Dogensohns Andrea Loredan, sondern malt darüber hinaus ein farbenprächtiges, detailgenaues Bild Venedigs auf dem Gipfel seiner historischen Bedeutung. Ein packender Abenteuerroman und zugleich eine atemberaubende Zeitreise in die Republik Venedig auf dem glanzvollen Höhepunkt ihrer Macht.

Mit historischer Venedig-Karte und Anhang zum zeitgeschichtlichen Hintergrund.

Gewinner des Premio Hemingway.

„Die Feuer von Murano lässt Sie Geschichte erleben, als wären Sie im Kino.“ Libero.

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Seitenzahl: 1365

Veröffentlichungsjahr: 2013

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GIUSEPPE FURNO

DIEFEUERVONMURANO

EIN VENEDIG-ROMAN

Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

Impressum

Die Originalausgabe mit dem Titel

Vetro

erschien 2013 bei Longanesi, Mailand.

ISBN 978-3-8412-0648-0

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, November 2013

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die deutsche Erstausgabe erschien 2013 bei Rütten & Loening, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

© 2013 Giuseppe Furno

Published by arrangement with Berla & Griffini Rights Agency

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung und Illustration Büro Süd, München

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Inhaltsübersicht

Cover

Impressum

Prolog

Feuer

Wasser

Erde

Luft

Dank

Anhang:

Venedig um das Jahr 1569

Glossar

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor/zur Übersetzerin

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

PROLOG

Vor zwei Jahren im September traf das hundert Meilen östlich von Great Abaco im Bahamas-Archipel entstandene tropische Tiefdruckgebiet Nummer elf, von der warmen Golfströmung nach Norden getragen, auf eine für die Jahreszeit verfrühte arktische Kaltfront. Der Zusammenstoß der beiden Luftmassen erzeugte einen extratropischen Sturm von außergewöhnlicher Stärke, der sich in nordöstlicher Richtung bewegte und die Küste Floridas von Cape Kennedy bis nach Jacksonville streifte.

Das reizende Atlantikstädtchen St. Augustine, Verwaltungssitz des St. Johns County, wurde von einem Hurrikan mit starken Regenfällen heimgesucht. Innerhalb weniger Stunden traten die Flüsse San Sebastian, Matanzas und North River über die Ufer, und der sturmgepeitschte Ozean brach über den Kanal St. Augustine in die Lagune ein, wo er den Rückfluss der riesigen Flutwelle hemmte. Neunzig Prozent der Stadt wurde überschwemmt: Die Gassen wurden zu Kanälen, die Straßen zu Flüssen voller Alligatoren, die mächtige Festung Castillo de San Marcos, die die Lagune beherrscht, wurde zu einer Insel, gegen die Wellen und Blitze tobten, und auf der Bridge of Lions und am Vilano Beach saßen Tausende Touristen fest, die von der Halbinsel Anastasia und dem Küstenstreifen geflohen waren.

Das Ganze dauerte von zwölf Uhr mittags bis zwei Uhr nachmittags, in diesen zwei Stunden fiel mehr Regen als in einem Jahr. Dann drehte der Wind und wehte kräftig vom Festland, die Tore des Ozeans öffneten sich wieder, und bei Sonnenuntergang waren von dem Wasser nur noch seine Spuren an den Gebäuden und ein schlammiger Überzug auf allen Flächen zu sehen.

Dank der Vertrautheit der Einwohner mit den Launen des Wetters und der Lagune, des prompten Einschreitens der Nationalgarde und einer guten Portion Glück gab es keine Opfer, sondern nur Schäden an allem, was vom Wind gerüttelt, ergriffen und weggerissen oder vom Wasser überschwemmt, umschlungen und versenkt worden war. In den folgenden Monaten verwandelten Heerscharen von Zimmerleuten, Tischlern und Malern St. Augustine in eine einzige Baustelle, und langsam strahlten die steinernen Gassen wieder vom Weiß der Häuser im hispanischen Stil, Balkone und Gärten füllten sich mit Blumen, und der extratropische Sturm wurde zu einer Erinnerung, an der im Familienkreis genippt wurde oder die man den Touristen als Zeitgeschichte in Pillenform verabreichte.

An einem sonnigen Tag Ende Dezember kam dann die größte Überraschung ans Licht, die der Sturm und seine Folgen für das Städtchen bereitgehalten hatten: Auf der Baustelle, wo die vom Hochwasser und einem Blitzeinschlag schwer beschädigte nördliche Bastion des Castillo restauriert wurde, ergriff eine Baggerschaufel jene Erdscholle, mit der sich Vergangenheit und Zukunft von St. Augustine verändern sollten. Denn in diesem Kubikmeter Ausschussmaterial, dem Ergebnis jahrhundertelanger Abfallbeseitigung der Festungsküchen, wurden aus einer Tiefe zwischen siebzig und hundertzehn Zentimetern einundsiebzig Scherben aus farblosem, fein bearbeitetem und mit Emaille und Gold verziertem Glas gefunden.

Wir erinnern daran, dass St. Augustine, 1565 von dem spanischen Admiral Don Pedro Menéndez de Avilés mitten im Gebiet der Timucua-Indianer gegründet, nach derzeitigem Forschungsstand als die älteste europäische Siedlung auf nordamerikanischem Boden gilt. 1586, auf dem Höhepunkt des Krieges zwischen Spanien und England um die Kontrolle über die Neue Welt, wurde St. Augustine von dem englischen Freibeuter Sir Francis Drake geplündert und zerstört. Das wiederaufgebaute Städtchen widerstand den fortwährenden Angriffen der Ureinwohner und der Seeräuber, doch erst 1865, mit dem Ende des Sezessionskriegs und der Wiedereingliederung Floridas in die Vereinigten Staaten, fand St. Augustine endlich Frieden.

Die Entdeckung der einundsiebzig Glasbruchstücke fügte den ohnehin beträchtlichen historischen Schätzen, die bei regelmäßigen Ausgrabungen im Stadtgebiet bereits gesammelt wurden, ein außerordentlich bedeutendes Element hinzu. Sofort richtete sich die Aufmerksamkeit der Forschergruppe von der University of Florida auf die raffinierten Dekorationen aus polychromer Emailmalerei, einem typischen Merkmal mittelalterlicher islamischer Kunst, die großen Einfluss auf die italienische Glasbläserei hatte.

Bei der chemischen Analyse der Bruchstücke wurde zudem Natriumkarbonat gefunden, ein Hinweis auf das Schmelzverfahren mit Sodaasche, wie es typisch ist für die Glashütten im nördlichen Mittelmeerraum und besonders in Venedig und Murano vom 12. bis in die Mitte des 18.Jahrhunderts.

Die durch Verbrennung von Meeresalgen gewonnene Sodaasche wurde als Flussmittel benutzt, um die Schmelztemperaturen des Glasbreis zu senken und das Endprodukt klar und kristallin zu machen. Anders die Technik der spanischen und nordeuropäischen Glasbläser, die dem Brei Pottasche untermischten, gewonnen aus der Verbrennung von Hartholz, und so ein matteres Glas von grau-bläulicher Tönung erhielten.

Ein weiteres Element, das die Gläser von St. Augustine als Originale aus Murano kennzeichnete, war der doppelte Abdruck des pontello, eines massiven Eisenrohrs, mit dem der Glasbläser die Stücke über dem Feuer bearbeitete. Wenn die erlesenen Dekorationen hinzukamen, für die die Glaskünstler in Murano vom 15. bis zum 18.Jahrhundert berühmt waren, wurden die vom Glasmeister und seiner Mannschaft geschmolzenen Stücke Malern anvertraut, welche die Emailverzierungen kalt auftrugen. Das so dekorierte Stück wurde dann abermals auf der Spitze des Pontello in den Ofen geschoben.

Was dank der Hartnäckigkeit der Forscher herausgefunden wurde, hat das friedliche St. Augustine in einen wimmelnden Ameisenhaufen verwandelt. Ein Hotelzimmer findet nur, wer lange im Voraus bucht. In den Gässchen im reinsten spanischen Kolonialstil drängen sich die Touristen. Sogar der Sightseeing-Train musste seine Fahrten zwischen den neuen Parkplätzen am Stadtrand und dem Castillo de San Marcos vervierfachen. Denn vor allem dieses gewaltige, kantige Bollwerk aus Stein wollen die Touristen besuchen, während sie die Muschel- und Korallenstrände und die Golfplätze, die St. Augustine einst berühmt gemacht haben, links liegenlassen. Im Saal dieser Festung haben die einundsiebzig Bruchstücke aus Glas nämlich zu ihrer ursprünglichen Identität zurückgefunden. Hier kann man eine kostbare acquereccia, einen Wasserkrug in Form einer Galeere, und drei glockenförmige Trinkgläser Muraneser Machart aus der Mitte des 16.Jahrhunderts bewundern.

Der Krug zeigt außer geometrischen Mustern und Blumenverzierungen aus Glas am Heck der Galeere eine mythologische Figur, die möglicherweise einen Greif, wahrscheinlicher aber einen vergoldeten Drachen darstellt, dazu die Inschrift: In Hoc Signo Vinces. Das am vollständigsten erhaltene Trinkglas trägt neben Dekorationen mit Blumen, Rhomben, Zacken und Bändern aus rotem, weißem und gelbem Lack die teilweise gelöschte weiße Inschrift: Magister Jacobus. Das zweite, zum Großteil rekonstruierte Glas ziert eine Galeere mit geblähten Segeln. Vom dritten sind nur der bucklige Boden, der rundum ausgestellte Rand und ein großes Stück vom Mittelteil erhalten, auf dem ein Kreuz durchschimmert.

So haben diese Fundstücke und die darauffolgenden Entdeckungen in den Archiven, Museen, öffentlichen Bibliotheken und privaten Sammlungen Venedigs und einem Dutzend anderer Orte auf der Welt die Vergangenheit von St. Augustine untrennbar mit der Vergangenheit Venedigs verbunden – und mit der Geschichte, die hier erzählt werden soll.

FEUER

1

Venedig, 13.September 1569

Alles war in der Zeitspanne eines einzigen Atemzugs geschehen, kurz vor Mitternacht. Von diesem kurzen Moment waren Andrea ein Blitz, das Beben, der Knall, dann der Wind und zuletzt die Hitze und die Flammen in Erinnerung geblieben. Wer weiß, warum, aber im ersten Augenblick hatte er die Explosion dem Ende seiner Geschichte mit Taddea zugeschrieben. Wahrscheinlich hatte der Schlaf die beiden Ereignisse verbunden, die nichts miteinander gemein hatten, außer einer plötzlichen Veränderung.

Das Gefühl war noch lebendig, ja, glühend stark. Andrea hatte sich an diesem Tag von Taddea getrennt, bei Sonnenuntergang. Er erinnerte sich an die rote Sonnenscheibe mitten über dem Rio Foscari, an Taddeas Tränen, während sie sich den Verlobungsring abstreifte und ihm zurückgab, an die Vorhänge aus violetter Seide, das Glucksen des Wassers an den Wänden der Gondel. Mehr erinnerte er nicht. Reue und Sehnsucht waren nachts gekommen, als Andrea sich hingelegt hatte. Reue wegen des Eheversprechens, das er gegeben und bei jeder Begegnung erneuert hatte, in Erwartung wer weiß welcher Entwicklungen. Sehnsucht nach Taddeas zarter, aber sinnlicher Schönheit, ihrem Duft, dem intensiven Geschmack ihrer Küsse. Sie hatten sich getrennt, weil ihre in früher Jugend entstandene Liebe verbraucht war. Für Taddea trug er die Hauptschuld.

»Ich möchte einen Mann an meiner Seite…«, hatte sie einmal während eines Streits gesagt.

Und so wälzte er sich in dieser kühlen Septembernacht im Bett, gequält vom Summen einer Mücke und wirren Gedanken, die auf der Suche nach den Bedeutungen des Wortes »Mann« hierhin und dorthin trieben, als die bleigefassten Fensterscheiben sich plötzlich verfärbten und ein blendend heller Lichtschein in das Zimmer fiel. Andrea öffnete die Augen, unsicher, ob er geträumt hatte, und dachte an ein Spätsommergewitter. Er richtete sich auf, die Arme fest auf die Rosshaarmatratze gestützt.

Ein leises Klingeln ertönte vom Bord am Kopfende seines Bettes: Der Löffel, mit dem er einen Aufguss aus Weißdorn und Honig umgerührt hatte, zitterte am Rand des Glases. Im nächsten Augenblick wurde die leichte Vibration zu einem Beben des ganzen Zimmers, das mit Macht aus der Tiefe aufstieg. Die Erde bebte. Wie der Boden des Campo San Geremia, wenn die Stiere beim Rennen am Gründonnerstag durchgingen. Doch jetzt wankten auch die in die Erde gerammten Eichenholzpfeiler, das Floß aus Bohlen und die darauf gestützten Mauern, die die Herberge aus dem Wasser hoben. Sofort dachte Andrea an ein Erdbeben und an die Erzählungen seines Vaters. Aber er hatte weder Zeit nachzudenken noch aufzustehen. Der Knall, der jetzt folgte, hatte nichts mit dem rollenden, schlingernden Dröhnen des Donners zu tun. Er war trocken und scharf umrissen, eine tönende Kugel, die alles umhüllte und betäubte. Die beiden Fensterflügel flogen gleichzeitig auf wie durch den Hieb eines wütenden Dämons. Der Rückstoß auf dem Mauerbogen drückte die Scheiben aus der Bleifassung, sie platzten und zersplitterten. Andrea spürte den Hagel aus Glasscherben auf seinem nackten Körper und schloss die Augen, während ein glühendheißer Luftstrom, der nichts von einer Naturkraft hatte, im Zimmer zu toben begann, die Gardinen an die Decke peitschte, die Kleider vom Boden aufwirbelte und die Spiegelkommode mit dem Gestell für das Waschbecken umstürzte. Instinktiv erkannte er, dass er Schutz suchen musste. Mit einem Hüftschwung, den er seiner jugendlichen Kraft verdankte, drehte er sich um sich selbst und ließ sich auf den Boden aus Olivenholz fallen. Er spürte einen starken Schmerz im Knie, rollte jedoch weiter über den Boden unter das Bett. Genau in diesem Moment fiel ein großer Brocken Putz von der Decke. Andrea hörte den Aufprall des Rohrgeflechts, das zerplatzte, und sah einen Teil der schweren Mörtelbrocken in der Matratze versinken, einen anderen auf den Dielen des Fußbodens zerschellen. Ein Deckenbalken löste sich, zusammen mit einer Handvoll Dachziegel. Auch im Kamin an der linken Zimmerwand stürzte etwas herab. Ein Teil des Rauchfangs war heruntergekommen und blies eine schwarze Rauchwolke ins Zimmer. Wie ein Hagelschauer prasselten Gegenstände auf das Dach. Einige fielen durch das Loch, das sich im Dach geöffnet hatte. Andrea sah sie aufprallen und qualmend über den Boden rollen. Es schienen Teile von Ziegelsteinen und Metallsplitter zu sein.

2

So unmittelbar, wie sie gekommen waren, legten sich der Hagelschauer und das Beben. Der heiße Wind wich einer frischen nächtlichen Brise. Stille trat ein, als wäre dies die Pause zwischen der Ouvertüre und dem ersten Akt. Dann begannen die Schreie. Andrea hörte ihnen reglos zu. Es waren Schreie im Inneren des Hauses, gedämpft und erstickt.

Sie kamen aus den unteren Stockwerken. Kinder weinten. Eine Frau rief. Er erkannte die Stimme von Lorenzo, dem Besitzer der Locanda della Torre im Castello-Viertel. Andrea hatte ein Zimmer in diesem Wirtshaus am Zusammenfluss des Rio della Tetta mit dem Rio San Lorenzo genommen.

»Graziosa! Graziosa!«, rief der Mann nach seiner ältesten Tochter.

Jetzt kamen die Schreie von draußen, aus der calle San Lorenzo. Sie wurden lauter, häufiger. Jemand lief vorüber.

»Sie sind zu den Sagredo-Häusern gelaufen!«, erklang eine Frauenstimme, den benommenen Zustand der Ungewissheit durchbrechend.

»Weg, lauft weg von hier, ins Rialto, hier geht alles in die Luft!«, bestätigte ein Mann keuchend.

Andrea tastete nach seinem Knie und spürte, dass sich etwas hineingebohrt hatte. Eine Spitze ragte heraus. Er packte sie mit den Fingernägeln und zog, in der Hoffnung, dass sie nicht abbrechen würde. Einen Augenblick später hielt er fluchend eine Glasscherbe zwischen den blutverschmierten Fingern.

Er drückte einen Zipfel des Bettlakens auf die Wunde. Mit der anderen Hand strich er sich über die Haut. Er begann mit dem Gesicht, seine Fingerspitzen glitten über die hohe Stirn, wo die Zeit und die Mühen noch keine Falten hinterlassen hatten, dann spreizte er die Finger zu einem Fächer und untersuchte seine Wangen, strich sich über Hals und Brust bis zu den Leisten und Oberschenkeln, so weit sein Arm in dieser liegenden Position reichte. Da waren keine Glassplitter mehr. Wieder betrachtete er seine Hände und bemerkte, dass das Halbdunkel heller wurde. An der Wand sah er den Schatten des Betstuhls in einem schwachen, gelblichen Licht, das sich zitternd hin und her bewegte, als ginge jemand mit einer brennenden Kerze durch das Zimmer. Aus seiner beengten Lage drehte er sich mühevoll zu dem Rechteck des herausgerissenen Fensters um. Da war die Lichtquelle: Dort draußen hatte sich eine verfrühte Morgenröte über den Nachthimmel gelegt, ein purpurner Schleier, vor dem von Zeit zu Zeit eine Locke aus Flammen aufloderte, begleitet von einer Rauchwolke.

Vom Himmel fielen leichte Gegenstände, funkensprühend wie abgebrannte Feuerwerkskörper oder glühende Blätter von einem nahen Waldbrand. Der Lichtschein wurde stärker, ebenso die Schreie. Und zu diesen Schreien gesellten sich nun wie ein gewaltiger Chor aus flehenden Rufen zum Himmel die Glocken der Feuerwachen. Zuerst läutete die Marangona, die Glocke von San Marco. Erhaben und unverwechselbar. Dann stimmte, weiter entfernt, die Grande von Santa Maria Gloriosa in San Polo mit ihrem abfallenden Ton ein. Zu den beiden auseinanderstrebenden Klängen gesellten sich andere, die Andrea, noch benommen, an ihrer Richtung und ihrem Ton zu erkennen versuchte. Von Norden fiel plötzlich die große Glocke von San Zanipòlo ein, die kaum eine Viertelmeile von der Locanda entfernt lag. Ihr starker, lebhafter Klang gab Andrea den Antrieb zum Handeln. Er zog sich am Bett hoch und war mit einem Sprung auf den Füßen.

Die Wunde am Knie schmerzte pochend. Er warf seine Toga über die Scherben und ging darüber bis zu dem zweibogigen Fenster. Was er sah, ließ ihn erzittern wie der Schlag, den er als Junge bekam, wenn er den Kopf frisch gefangener elektrischer Fische berührte. Er hielt sich an der Säule fest, seine Lippen öffneten sich, sein Atem wurde zu einem mühevollen Hauchen, und seine großen, wasserblauen Augen weiteten sich zu einer Maske, auf der Staunen und Entsetzen einander abwechselten und sich mischten wie Farben auf einer Palette. Denn im Osten, kaum weiter als eine halbe Meile entfernt, erhob sich eine Wand aus Feuer, und hinter den Dächern des Benediktinerinnenklosters, zwischen der Kirche San Francesco della Vigna und dem westlichen Ende des Arsenale1 fehlte ein ganzes Stück Venedig.

3

Der Alte hatte sofort erkannt, dass die wirkliche Gefahr das Feuer sein würde. Nicht das Wasser. Denn das Feuer kannte er, er wusste mit ihm umzugehen und hatte es von Kind an am eigenen Leib gespürt. Darum respektierte er das Feuer. Er blickte sich um, dabei versuchte er, die Augen auf der Höhe des Wasserspiegels zu halten. Seine Stirn brannte. Ein Archipel aus glühenden Inseln umgab ihn. Inseln aus brennendem Öl, die auf dem Wasser schwammen.

Denn mit der Explosion waren die Zisternen aus Terrakotta zur Herstellung des griechischen Feuers, der Mischung aus Öl, Terpentin und Kalk, die für die Brandtöpfe benutzt wurde, zersprungen, und jetzt flossen hunderttausend Pfund dieser Flüssigkeit in die Lagune.

Der Alte tauchte wieder unter Wasser. Er riss sich die Knopfleiste der Tunika vom Hals bis zur Taille auf, schlüpfte aus dem linken, dann aus dem rechten Ärmel und ließ sie auf den Grund sinken. Dann tauchte er auf. Die tropfnassen, wallenden weißen Haare gingen über in einen ebenso weißen Bart, so dicht, dass man die Lippen und die mit Falten bedeckten Wangenknochen nur ahnen konnte. Er schnappte nach Luft und versank wieder bis zu den Augen. Das Meer wurde wärmer, die Feuerinseln schlossen sich zusammen. Er dachte an Öltropfen, die verstreut auf einer Flüssigkeit schwimmen, und an ihre Neigung, sich zu verbinden. Bald würde jeder Durchschlupf sich schließen, und dieser Wasserspiegel, in dessen Mitte er schwamm, würde sich in eine unermessliche Feuerfläche verwandeln.

Er dachte an den Tod. Es geschah selten, dass er an den Tod dachte, trotz seines Alters und seines stürmischen Lebens. Ihm fiel die Belagerung von Rodi ein, die von Brandtöpfen getroffenen, christlichen Soldaten, die er hatte verbrennen sehen. Der stechende Geruch versengten Fleisches, ihre Schreie, das Zappeln, dann die Zuckungen, das Röcheln, das Schweigen, schließlich die Starre, das alles hatte sich ihm unauslöschlich ins Gedächtnis geprägt. Die Toten blieben auf der feuchten, dampfenden Erde liegen, die einen über den anderen, wie Holzscheite im Kamin.

Er musste etwas tun, nicht nur in Erwartung des Endes an der Oberfläche bleiben. Er war nicht zweitausend Meilen gesegelt, hatte Schiffbruch riskiert, Piratenüberfälle abgewehrt und viele Male seine Haut gerettet, bis zu dieser entsetzlichen Explosion, um nun hier zu sterben, wo sein Kopf als Docht brennen würde. Einen Schritt vom Ziel entfernt.

Eine Lohe verbrühte ihm den Nacken. Mit kräftigen Stößen der Arme und Beine drehte sich der geübte Schwimmer um sich selbst. Weniger als zehn Ellen entfernt hatten sich zwei Inseln aus brennendem Öl zischend und rauchend vereint und strebten nun der Halbinsel aus Feuer zu, die an der nördlichen Mauer des Arsenale begann und die Stelle anzeigte, wo das Öl ausfloss. Wieder fühlte er die Glut im Gesicht. Er atmete mehrmals ein und versank erneut im Wasser und in seinem Zorn. Nachdem er ein paar Faden tief untergetaucht war, begann er zu schwimmen, um sich so weit wie möglich von dem großen Feuer zu entfernen, das ihn verschlingen konnte. In dieser Tiefe war das Wasser eiskalt, und die Reflexe der Flammen über dem Wasser ließen das Licht tanzen wie auf einem von Sonnenstrahlen getroffenen Kristallglas. Das farbige Schauspiel wurde begleitet vom unheimlichen Zischen des Öls auf der Oberfläche, wenn es mit dem Wasser in Berührung kam. Ein Geräusch wie das Rollen der Kiesel am Strand beim Zurückfließen einer großen Welle.

Der Alte schwamm durch eine Algenbank, die Algen kitzelten sein Gesicht. Er spürte, wie der Zorn sich in Sehnsucht verwandelte. Als er aufblickte, erschien ihm der Wasserspiegel frei vom Feuer, also packte er das Wasser mit beiden Händen und ließ sich nach oben ziehen. Beim Auftauchen war aus der Sehnsucht ein fester Wille zu überleben geworden. Nicht, um weiterhin Tage und Nächte aneinanderzureihen, denn er hatte genug Dinge im Leben gesehen, sondern um die Aufgabe zu Ende zu bringen, die er sich gestellt hatte. Er hatte geschworen, dass er bis zum Äußersten gehen würde. Für die Menschen, die er geliebt hatte. Damit die Macht nicht in die falschen Hände geriet. Also musste er jetzt überlegen, wie er hier herauskommen sollte, aus diesem vom Feuer umringten Meeresauge, das um ihn herum rasch kleiner wurde, wie die Augen eines schläfrigen Kindes.

Wieder gab es einen Blitz, eine Explosion, das Wachtürmchen von San Cristoforo öffnete sich zum Himmel wie ein zerfetztes Kanonenrohr und zerbarst in die tausend Teile, aus denen es erbaut war.

4

Andrea stand geblendet am Fenster und starrte auf das schwarze, von Flammen umrahmte Loch. Plötzlich sah er aus dem Augenwinkel einen glühenden Gegenstand vom Himmel fallen, langsam, wegen der Entfernung, dann immer schneller, je näher er kam und je größer er wurde. Es schien, als stürzte das Ding direkt auf ihn zu. Er dachte an einen Brandtopf, von einem Katapult abgeschossen. Vielleicht war es ein Angriff der Türken. Er trat einen Schritt zurück und kauerte sich in der Zimmerecke zusammen. Die Flamme durchquerte sein Blickfeld und traf mit einem lauten dumpfen Krachen auf dem Boden auf.

Andrea schaute aus dem Fenster. Der Meteorit war an der Kalksteinmauer des nahen Gartens zerschellt, die versprengten Teile glühten und rauchten noch immer. Um ein Haar hätte er eine Frau und ihre beiden Kinder getroffen, jetzt betrachteten sie fassungslos das Durcheinander. In der Glut erkannte man Holzbalken, die mit Metallplatten verbunden waren, offenbar Teile einer Dachdeckung, die von der Wucht der Explosion in den Himmel geschleudert worden waren. Derart teure Dächer aus Kupfer oder Blei hatten in Venedig nur der Palazzo Ducale, die Kirche San Marco und wenige reiche Häuser am Canal Grande. Andrea zuckte zusammen, und als er in die Richtung des Arsenale spähte, sah er, dass dessen Mauer nicht mehr existierte, dieses Dachstück also nichts anderes sein konnte als die kupferne Fiale eines seiner Wachtürme.

»Grundgütiger…«, hörte er sich flüstern, als er das vom Feuer erleuchtete Panorama betrachtete. Die Flammen hatten sich ausgebreitet und die Masten und Segel zweier im inneren Becken ankernder Galeeren erfasst. In der Richtung, in die er blickte, hatte die Stadt ihre Geometrie und Architektur völlig verloren, sie erschien wie ein sturmgepeitschtes Meer voller Wellenkämme und planlos entstandener Höhlen und Wasserschluchten. Ein leichter Windhauch trug den süßen, stechenden Geruch von Schießpulver heran, wie nach einem Kanonenfeuer. Andrea wurde bewusst, dass in diesem schwarzen Tal bis vor wenigen Augenblicken die Häuser im Besitz von Bernardo Sagredo gestanden hatten, wo viele Arbeiter des Arsenale wohnten, Handwerker und Bürger, außerdem ein paar Patrizier aus altem Geschlecht. Von all dem existierte nichts mehr. Jenseits des Arsenale, gegenüber den Trümmern seiner einstigen Umfriedungsmauer, waren die Kirche und das Kloster Santa Maria della Celestia der Zisterzienserinnen verschwunden, außerdem eine Handvoll Häuser, die sie wie eine Kette umringt hatten.

In diesem Moment fiel ihm der Brief ein.

»Aus der Celestia wurde ein Brief für Euch gebracht, Avvocato, er liegt oben in Eurem Zimmer am gewohnten Platz«, hatte der paròn Lorenzo gesagt. Andrea, der noch unter dem Eindruck der schmerzhaften Trennung von Taddea stand, hatte ihm gedankt und den Brief vergessen.

Mit einem Ruck drehte er sich zum Zimmer um, einen Schritt entfernt stand das Schreibpult, der noch unzerstörte Teller aus blauem Glas, in den die Wirtsleute die Sendschreiben an ihn legten, war leer. Sein Blick ging auf das Durcheinander aus Scherben, Kleidern und Holzstücken auf dem Fußboden, der Brief war zwischen die Tischbeine geflogen. Er hob ihn auf. Das blaue Siegel mit dem aufgeprägten Kreuz war noch intakt. Ein Ritzen mit dem Fingernagel, und der Siegellack sprang splitternd auf. Das Blatt aus festem venezianischem Papier war sorgfältig gefaltet. Andrea öffnete es und ging zurück ans Fenster in das helle Licht des Feuers. In der Mitte des Blattes standen, mit purpurroter Tinte und eleganter, leicht nach links geneigter Handschrift geschrieben, nur zwei Zeilen und eine Unterschrift. Andrea überflog sie: Die Äbtissin der Celestia, Lucia Vivarini, bat ihn, wegen dringender und vertraulicher Nachrichten in das Kloster zu kommen.

Als wollte er sichergehen, las Andrea die Zeilen noch einmal. Dann schaute er wieder nach draußen, wo alle Sicherheit verloren war. Von diesem Fenster des Dachbodens, dem höchsten Punkt der Locanda direkt unter dem Altan, konnte er die Silhouetten der ersten Helfer erkennen, die begannen, sich an den Trümmern abzumühen, während andere an Bord der brennenden Schiffe kletterten, um die Flammen zu löschen und von den noch unversehrten Schiffen fernzuhalten. Je mehr Helfer herbeiströmten, desto mehr verbanden sich die vereinzelten Schreie zu einem entfernten, diffusen Hintergrundlärm, ähnlich dem Beifall der Menge während des Himmelfahrtsfestes, und dazu kam das Läuten hunderter Glocken, als wollten sie das Unglück segnen.

»Ser Loredan, seid Ihr wohlauf?« Andrea blickte hinunter auf die Straße: Lorenzo, ein beleibter Vierziger, dessen Kleider stets nach Gewürzen rochen, schwenkte eine Laterne. Er trug zwei Säcke auf dem Rücken und hielt seine Tochter Graziosa an der Hand. »Kommt sofort herunter!«, rief er besorgt. »Das Arsenale brennt! Es scheint, dass eine Pulverkammer explodiert ist. Wenn die anderen auch hochgehen, stürzt ganz Castello ein! Ganz Venedig!«

Der Alarm schien Andrea so gleichgültig zu lassen, dass der Wirt sich bekreuzigte und den Warnruf mit deutlicheren Worten wiederholte: »Um Gottes willen, ser Loredan! Wenn Ihr hierbleibt, gibt es keine Rettung für Euch!«

In diesem Moment kam eine Frau im Nachthemd aus der Locanda. Sie hielt ein Kind von etwa drei Jahren im Arm, das in einen Schal gehüllt war, und an der Hand einen Jungen kurz vor dem Jugendalter in einer Tunika, die ihm bis zu den Füßen reichte. Es war Maria, die junge Frau des Wirts, mit den beiden anderen Kindern, Rocco und Bernardino. Humpelnd, denn sie hatte ein Hüftleiden, ging sie zu ihrem Mann und blickte ebenfalls hinauf.

In diesem Moment zeichneten mehrere Explosionen Blitze an den Himmel. Aus dem Heck eines brennenden Schiffes flogen lodernde Pfeile, die an das Feuerwerk einer Karnevalsapparatur erinnerten. Es war das Waffenlager im Achterdeck, das explodierte. Ein nächster, stärkerer Knall, und das ganze Achterkastell löste sich vom Heck und stürzte ins Wasser.

Die Frau packte Lorenzo am Arm. »Gehen wir!«, rief sie laut, damit auch Andrea sie hörte. »Ser Loredan ist erwachsen und kann für sich selbst entscheiden.« Der Griff um den Arm wurde zu einem resoluten Stoß, der den Wirt und seine Kinder auf der Calle in Bewegung setzte.

Dieser Aufbruch war eine Befreiung, dasselbe Gefühl verspürte Andrea jedes Mal, wenn er ein Fest verließ, das allzu höfliche und aufdringliche Hausherren gaben. Er spähte wieder zum Arsenale hin: Die Flammen breiteten sich aus, wurden höher und heller. Sicher hatten sie die Werften für die Galeassen und das nahe Lager des Tauwerks erreicht, denn das Gebäude glühte, und der Rauch war weiß wie von brennenden Stoppelfeldern im August. Die ersten Vorboten dieser Rauchwolke trugen den unverwechselbaren Geruch verbrannten Hanfs heran.

Er dachte an Taddea, deren Familie im sestiere San Marco ein Haus besaß, am Campo San Paternian, nicht weit vom Gefahrenherd entfernt. Sicher beobachtete sie gerade den Brand. Vielleicht sorgt sie sich um mich, dachte Andrea. Denn aus dieser Entfernung ließen sich die Grenzen der Zerstörung nicht klar genug erkennen, um Schäden an der Locanda della Torre auszuschließen. Taddea weinend im Arm ihres Vaters, den sie anflehte, sie gehen zu lassen. Andrea wurde bewusst, dass diese Katastrophe und die Gefühle, die sie auslöste, eine unwiederbringliche Gelegenheit boten, sie zu bitten, zu ihm zurückzukehren. Aber wollte er das wirklich?

Sein Blick wanderte zu der dreibogigen Brücke über dem Rio San Lorenzo, wenige Schritte von der Locanda entfernt. Auf dem höchsten Punkt der Brücke gingen, beleuchtet von einigen Ölfackeln, zwei Männer mit einer Trage. Hinter ihnen zwei weitere. Es waren die ersten Verletzten aus der Umgebung der Explosion. Am Ufer der Locanda angekommen, zögerten die Träger. Andrea konnte ihren aufgeregten Wortwechsel hören.

»Wir bringen sie zum Ospedaletto!«

»Nein, lieber in die Kirche Santa Maria Formosa«, entgegnete ein anderer. »Da ist es sicherer.«

»Ins Ospedaletto, sage ich dir!«, entschied der Erste und ging am Ufer San Lorenzo auf die Locanda zu. Als er näher kam, konnte Andrea die Trage und was sie transportierte, besser erkennen. Es war ein Türflügel, darauf lag ein kleines Mädchen mit blutigen Kleidern, der Kopf war unnatürlich verdreht, während der schlaffe Körper bei jeder Bewegung schaukelte, ein magerer Arm und die schmale Hand hingen herab.

Andrea hatte das deutliche Gefühl, dass sie tot war. Der nächste Verletzte, den er sah, verdrängte diesen Gedanken: es war ein Junge, der weinte und den Mund aufriss, als bekäme er keine Luft. Man hatte ihn auf eine Leiter gelegt, der Kittel, mit dem er zugedeckt war, drohte zur Seite zu rutschen und offenbarte, dass er nackt war. Eine Frau, wahrscheinlich seine Mutter, ging schluchzend an seiner Seite, manchmal zupfte sie den Kittel zurecht.

Das Grüppchen verschwand in der Calle Cappello. Doch schon tauchten weitere Verletzte auf. Andrea wartete nicht länger, eilig kleidete er sich an: Kniebundhosen aus Tuch und eine leichte Bluse, an den Füßen die Stiefel, die er zum Reiten benutzte. Zum Schluss warf er sich einen Ledermantel um. Dann faltete er den Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche. Er nahm die Öllampe, doch seinen Degen ließ er zurück. Einen Augenblick später lief er, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter und stürzte aus der Tür der Locanda. Ein letzter Zweifel ließ ihn innehalten. Jetzt musste er sich entscheiden: nach rechts, Richtung Sestiere San Marco zu Taddeas Haus, oder nach links, der Ungewissheit, vielleicht dem Tod entgegen, über die San-Lorenzo-Brücke zum Arsenale, der Celestia und dem Widerschein der Hölle. Diese Richtung nahm er.

5

Dichter Schneefall hatte eingesetzt. Wie im Winter, wenn der Schirokko sich mit den kalten Luftströmen verbindet, die von den sibirischen Steppen herunterkommen. Asche, weich und leicht wie Schnee. Grauer Schnee, der alles grau färbte und gleichmachte, was zum Himmel blickte: Altane, Dächer, Kamine und Mauervorsprünge, istrischen Kalkstein und Simse, die Oberfläche der Kanäle und die Decks der Boote, die Gassen und die Plätze, die großen Blätter der Pflanzen in den Gärten und die Menschen. Die streunenden Hunde schüttelten sich die Asche aus dem Fell, als kämen sie aus dem Wasser, und versuchten, in die Flocken zu beißen, während sie sich auf die Hinterbeine stellten und mit den Lefzen schnalzten.

Andrea sah eine Menge Fußspuren in der Asche, viele nackt, manche beschuht. Und er sah zwei Männer, grau wie alles ringsum, über eine Hand gebeugt, die aussah wie die Hand einer Statue aus grauem Marmor, aber es war eine menschliche Hand, sauber vom Puls getrennt. Sie war auf den Stufen einer Votivkapelle gelandet, und die beiden musterten sie konzentriert wie Naturwissenschaftler, die eine neue Tierart beobachten. Der eine mit nacktem Oberkörper über den Kniebundhosen versuchte sie mit einem Stock anzuheben, aber die Hand fiel in die Asche zurück und wurde paniert wie ein Stück Aal in Mehl.

Je näher Andrea dem Ort der Explosion kam, desto deutlicher hörte er die Stimme der Flammen: ein Ruf aus Prasseln, Zischen und Knallen wie von feuchtem Holz voller Salpeter, das ins Feuer geworfen wird. Die Flammen loderten so mächtig auf, als wollten sie die Himmelskuppel verbrennen, die mit den dichten Rauchwolken eher das Aussehen einer Höhle hatte. So hoch waren die Flammen, dass man ein Gesicht aus mehr als zwanzig Schritt Entfernung hätte erkennen können, wenn die Asche nicht gewesen wäre, die alle Gesichter wie Masken aus Tonerde bedeckte. Solchen Masken war Andrea auf seinem Weg zu Hunderten begegnet, Masken von Verletzten und von Helfern, denen sich die Verzweiflung der darunterliegenden Gesichtszüge eingeprägt hatte. Augen, Lippen, Zähne und Zunge hoben sich mit leuchtenden Farben von der Asche ab wie in Blei eingefasste Smaragde, Rubine und Diamanten.

Die Verletzten und jene, die die Explosion aus nächster Nähe miterlebt hatten, wirkten apathisch, ihr Blick war starr und leer auf einen vagen Punkt in der Nacht gerichtet. Ob jung oder alt, Frauen oder Männer, viele nur durch ihre Nacktheit zu erkennen, sie ließen sich alle führen, manche stützen, wieder andere schienen ihre Helfer gar fortzuziehen, möglichst weit weg von dem Grauen.

Anders die Helfer, sie schienen von einer Erregung gepackt, die sie zwang, sich fortwährend umzublicken, als fürchteten sie einen Hinterhalt, oder sie wechselten wirre, widersprüchliche Sätze mit denen, die eben erst am Ort des Unglücks angekommen waren.

»Geht in die Celestia! Dort werden starke Arme zum Ausgraben gebraucht!«, sagte ein schmächtiger Mensch im Tonfall des katastrophenerfahrenen Veteranen, während er mühsam eine untersetzte, korpulente Nonne stützte, deren helle Ordenstracht zerrissen und rauchgeschwärzt war.

»Sie sind tot«, jammerte die Nonne. »Sie sind alle tot…«

Andrea ging schnell auf sie und ihren Helfer zu.

»Was sagt Ihr, ehrwürdige Mutter?«, fragte er, um sich dann an den Mann zu wenden: »Sind sie alle tot oder gibt es noch Hoffnung?«

»Tot, tot…«, sagte die Nonne kopfschüttelnd und schien ihren letzten Atemzug auszuhauchen. Ihre Worte wurden vom widersprechenden Ausruf des Helfers übertönt: »Lauft, Signore, in der Kirche gibt es viele Seelen zu retten!«

»Kehrt um, das Arsenal wird gleich in die Luft gehen!«, schrie wiederum ein Mann, der wie ein Pestdoktor gekleidet war, um sich vor Asche und Rauch zu schützen. Er trug einen knöchellangen Umhang, einen breitkrempigen Hut und eine Maske mit einem langen Raubvogelschnabel.

Bei dieser Nachricht, ausgerufen von einem Mann der Wissenschaft, verlangsamten viele, die herbeieilen wollten, ihren Schritt.

»Schweig, Unglücksrabe!«, schrie ein Arsenalotto, ein Arbeiter des Arsenale, der für die öffentliche Ordnung verantwortlich und klare Worte gewohnt war. Er zog den roten Stock, der ihn als Garde auswies, und sagte: »Der Schaden, der entstehen konnte, ist entstanden. Dank der Jungfrau Maria konnten die übrigen Pulvermagazine auf die Inseln gebracht werden. Nur Mut, gehen wir!« Mit diesen Worten trat er festen Schrittes auf das Feuer zu, das die im Bau befindliche Kirche San Francesco della Vigna in schwarzen Rauch hüllte. Er ließ Andrea und die anderen mit dem lähmenden Zweifel zurück, wer von beiden, der Arzt oder der Arbeiter, die Wahrheit gesagt hatte. Und an diesem Scheideweg, wo wie bei einem Turnier die Feiglinge stehenbleiben, die Vorsichtigen abwarten, die Verrückten und die Mutigen loslaufen, war Andrea der Erste, der eine Entscheidung traf und die vom Arsenalotto eingeschlagene Richtung nahm.

6

Die Verwüstung begann hinter dem Campo San Francesco, im Rücken der Kirche und des Campanile. Andrea war innerhalb weniger Minuten dort angekommen, er hatte die Stufen des ponte San Francesco mit einem Sprung genommen, Palazzo Gritti gestreift und mit schnellen Schritten die mit Trümmern übersäten Plätze vor der Kirche und der Bruderschaft überquert.

Die Explosion hatte den oberen Teil des Campanile, der gerade gebaut wurde, abgerissen und das hölzerne Baugerüst in Flammen aufgehen lassen. Noch immer lösten sich Pfähle aus dem Gerüst und stürzten zu Boden, wo sie glosend und rauchend mehrmals aufprallten. Die ebenfalls eingerüstete Fassade der Kirche war nur verschont geblieben, weil sie aus massivem Marmor bestand und vom Körper des Gebäudes abgeschirmt wurde. Doch die Dachziegel und die gerade fertiggestellten Glasfenster waren verschwunden, ihre verstreuten Bruchstücke bedeckten den Kirchplatz wie ein Mosaik. Dennoch war dieser trostlose Ort, der Campo San Francesco, dessen Anlage Sansovino und Palladio so raffiniert entworfen hatten, die erste Insel der Ruhe für jene, die aus der Hölle kamen, und er wimmelte von Frauen, Männern und Kindern. Schon nach kurzer Zeit hatten die Verletzten die beiden Kreuzgänge des Klosters der Minoriten belegt, jetzt wurden sie auf dem Kirchplatz untergebracht. Viele auf improvisierte Liegen gebettet, andere unter Klagen und Seufzern auf die Pflastersteine. Ein Franziskaner mit dem Blick eines Besessenen, die Kutte zerrissen und versengt, als hätte er einen Zweikampf mit dem Teufel hinter sich, spendete einem mit dem Banner von San Marco bedeckten kleinen Körper die letzte Ölung.

»Lasst uns durch!« Eine entschlossene Stimme hinter Andrea hieß ihn beiseitetreten und lenkte ihn von dem traurigen Anblick ab. Zwei Arsenalotti zogen eine Rolle mit einem Hanfseil, das sich langsam abwickelte: eine Ankertrosse.

»Nehmt das hier!« Andrea hatte gerade noch Zeit, zwei schwielige Hände zu erkennen, schon reichte man ihm einen Saum aus dicker Baumwolle, der mit einem Seil verstärkt war. Er hob die Augen: Gemeinsam mit etwa zwanzig Arbeitern des Arsenale und Matrosen hielt er das Rahsegel einer Karacke in der Hand.

»Breitet es ordentlich aus!«, rief der Arsenalotto, der Andrea in die Arbeit hineingezogen hatte. Die Männer lehnten sich nach hinten, und das Segel entfaltete sich zu seiner ganzen Größe. Obwohl Andrea kräftiger und größer war als der Durchschnitt und lange, muskulöse Arme hatte, sah er sich einen Augenblick lang nach vorn gerissen und musste dem Ungleichgewicht bei dieser Art Tauziehen mit seinen Rückenmuskeln und einem Gegendruck der Fersen begegnen. Wie in einem immer wieder geprobten Tanz wurde das Segel endlich genau mittig über dem Tau platziert.

»Baut die Gabelstücke auf!«, befahl der Arsenalotto, der um die vierzig sein mochte und auch ohne Uniform, nur mit der schwarzen Mütze, die ihn auszeichnete, alle Merkmale eines Anführers hatte, vielleicht ein Vorarbeiter oder sogar ein Werkmeister war. Seine Hand war verbunden, und er hatte einen tiefen Schnitt auf der Stirn.

Etwa zehn Männer, fünf auf jeder Seite, ergriffen zwei starke Pfähle mit einer Einkerbung an der Spitze. Sie legten das Tau in die Gabelstücke. »Hochziehen und festmachen!«, befahl der Anführer. In perfektem Zusammenspiel richteten die zehn Männer die beiden Pfähle auf, das Tau spannte sich und wurde fest wie ein Balken. So verwandelte sich das Segel, das bis vor kurzem noch den Wind beherbergt hatte, in ein riesiges Zeltdach, an dem die Asche abglitt.

»Die Verletzten unter das Segel!«, befahl der Anführer in der knappen Art eines Mannes, der das Kommandieren gewohnt ist und weiß, dass man ihm umso weniger zuhört, je mehr Worte er verliert.

Er muss ein Werkmeister sein, der weiß, welche Verantwortung es bedeutet, ein Schiff aus der Erde entstehen zu lassen, dachte Andrea. Und dieser Gedanke verband sich mit dem Bild von den Docks des Arsenale, wo der Werkmeister Kiel und Spanten des zukünftigen Schiffes mit gebogenen Linealen und roter Kreide direkt auf den Boden zeichnet. Wie das Gerippe eines Wals. Vorzeichnen der Wölbung hieß das, und es endete mit einem Fest und einem großen Trinkgelage. Denn von dieser vorgezeichneten Form hing das Glück des Schiffes und seiner Besatzung ab.

»Befeuchtet das Segel!«, rief der Mann jetzt, weil er fürchtete, ein herabstürzender brennender Gegenstand könnte die Baumwolle entzünden. Und wie durch Zauber, als wäre alles schon längst vorbereitet gewesen, schütteten mehrere Werftarbeiter Eimer mit Wasser über dem Tuch aus, die sie einander weiterreichten, denn im Nu hatte sich für das Wasserschöpfen eine Menschenkette bis zum Rio San Francesco gebildet.

Nach dem heftigen Protest der Arsenalotti gegen die Lohnkürzungen, im März vor dem Palazzo Ducale, sah Andrea zum ersten Mal so viele von ihnen in Aktion. Mehrmals hatte er sie beobachtet, wenn sie bei den Sonntagssitzungen des Großen Rates Wache standen, dem Dogen auf seinem Staatsschiff, dem Bucintoro, Geleit gaben, einander Wettrennen mit Booten lieferten und sogar, wenn sie große Feuersbrünste löschen halfen. Doch es war etwas völlig anderes, die Katastrophe zu meistern, die in dieser Nacht ein ganzes Stück des Sestiere Castello ausgelöscht hatte. Die größte Verheerung, die Venedig seit seiner Gründung erlebt hatte. In dieser Nacht hätte ihnen kein Exerzieren, keine Übung und Erfahrung geholfen. Alles, was ringsum geschah, geschah zum ersten Mal.

»Wir brauchen Freiwillige!« Der Aufruf des Anführers der Arsenalotti rüttelte Andrea aus seinen Gedanken. »In der Celestia müssen Menschenleben gerettet werden«, fuhr der Mann in entschlossenem Ton fort, und um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, war er auf eine Karre mit Backsteinen gestiegen. »Kirche, Kloster und sieben Häuser sind eingestürzt, unter den Trümmern liegen viele Menschen begraben. Wer kommt mit?« Etwa fünfzehn Hände wurden gehoben. Andrea war einer der Ersten. »Gut!«, sagte der Anführer und musterte sie. »Los, folgt mir!«

Andrea ließ einen Teil der Gruppe vorbeiziehen und reihte sich etwa in der Mitte ein. Die Männer transportierten Eimer und Decken. Sie gingen an der Nordwand der Kirche entlang und gelangten zum rückwärtigen Teil, dem alten Obstgarten der Franziskaner: Er war verkohlt und qualmte. Sie gingen schnell, leicht gebückt, schauten sich fortwährend um. Die vom Widerschein des Feuers beleuchteten Gesichter waren angespannt, manch eines ängstlich. Bevor sie um die Ecke bogen, wo der Friedhof begann oder das, was von ihm übrig war, blieb der Werkmeister stehen.

»Ab hier wird es sehr heiß werden«, sagte er. »Meine Arsenalotti wissen, wie man mit dem Feuer und den Trümmern umgeht.« Beim Sprechen musterte er die Gesichter. »Alle anderen tun genau das, was ich tue.« Er fixierte Andrea. »Die Celestia liegt wenige Schritte von den Pulverkammern entfernt. Zwei Magazine mit dreißigtausend Pfund Pulver sind explodiert. Fünf wurden in den vergangenen Tagen geleert. Dort lagen zweihundertvierzigtausend Pfund Schwarzpulver.« Der Mann machte eine Pause, ohne die überflüssige Erklärung hinzuzufügen, was hätte geschehen können, wenn eine solche Menge Sprengstoff von den Flammen erfasst worden wäre. »Es bleiben hunderttausend Pfund in den drei zum Meer gelegenen Waffenlagern. Dort sind unsere Männer dabei, das Pulver zu befeuchten und das Feuer einzudämmen. Auch die Ölvorräte brennen, doch das Öl wird früher oder später versiegen. So ist die Situation. Wer umkehren möchte, tue das jetzt.«

Der Anführer ließ seinen Blick über die Männer schweifen. Mehr würde er nicht sagen, das war klar. Keiner erwiderte etwas. Keiner ging fort. Einige bekreuzigten sich. Er wartete einen Augenblick, dann nickte er leicht, und Andrea sah sein Gesicht eine Sekunde lang vor Stolz aufleuchten.

7

Wehmütig dachte der Alte an die Kraft zurück, die er in seiner Jugend gehabt hatte, als er zum Fisch wurde und zwanzig Faden tief tauchte, um verhakte Anker zu lösen. Als er wegen einer Wette mit Freunden vom Hauptmast der Galeere ins Meer sprang und zweimal unter dem Kiel hindurchschwamm, vom Heck bis zum Bug natürlich. Wenn er noch zwanzig gewesen wäre, hätte er versucht, unter den Flammen hindurchzutauchen, die sich über ihm zusammengeschlossen hatten. Doch jetzt war er über siebzig, seine Lungenkraft und Wendigkeit hatten nachgelassen, er hätte riskiert, mitten im Höllenfeuer aufzutauchen. Nur die Hoffnung, dass das Öl zur Neige ging, ließ ihn durchhalten. Die Schlinge aus knisterndem Feuer zog sich zusammen, die Meeresoberfläche hatte angefangen zu dampfen, die obere Handbreit Wasser kochte. Der Alte wirbelte mit den Armen, damit das kalte Wasser aufstieg, das ihn vom Nabel abwärts umgab. Eine große silberne Meeräsche schoss aus dem Wasser und schlug klatschend, mit dem Bauch voran, etwas entfernt wieder auf. Mehrmals wiederholte sie den Sprung, bis sie am Rand des Feuers angelangt war. Dann tauchte sie ab. Der Alte wollte sich vorstellen, dass die Meeräsche mit der Schicht warmen Wassers spielte, und hoffte, sie würde zurückkommen, damit er wenigstens die Gesellschaft eines zu Späßen aufgelegten Fisches hatte. Er drehte sich und blickte umher, doch die Oberfläche war glatt und glänzte wie ein Silbertablett. Hier und dort dümpelten dunkle Umrisse im Gegenlicht der Flammen: Holzstücke, Seile, Lumpen, eine Flasche, die der Explosion entkommen war.

In diesem Augenblick entdeckte er sein Boot. Es war umgekippt, der flache Kiel zur Seite geneigt. Es sah aus wie der Rücken eines toten, treibenden Wals und war der Feuerfront so nah gekommen, dass der Vordersteven, wo Flämmchen aufflackerten, schon rauchte, anscheinend unschlüssig, ob er brennen oder widerstehen sollte. Dennoch erkannte der Alte dank des Instinkts und der Erfahrung eines Menschen, der sein Leben außerhalb von Hausmauern verbracht hat, in diesem gespenstischen Anblick den süßen Vorboten der Rettung.

8

Der erste Eindruck, nachdem sie an der Kirche um die Ecke gegangen waren, eine Welle aus glühendheißer Luft, traf Andrea mitten ins Gesicht und lähmte ihn wie eine Böe Schirokko, doch fünfmal heißer als der Augustschirokko. Unwillkürlich schloss er die Augen, ergriff einen Zipfel seines Ledermantels und legte ihn sich über das Gesicht. Die Glutwelle stieg auf und fuhr ihm wie ein Kamm durch die Haare.

Was Andrea vor sich hatte, übertraf alle Vorstellungskraft, alle Voraussicht, die beim Betrachten des Feuers aus der Ferne entstanden war. Direkt vor ihnen ragte von Norden nach Süden über eine Länge von einer Viertelmeile eine Feuerwand auf. Noch vor einer Stunde hatte hier die westliche Umfriedung des Arsenale gestanden, eine drei Ellen starke Mauer aus Stein. Das Prasseln war ohrenbetäubend, es verlieh den flüchtig zuckenden Flammen Körperlichkeit. Ihr Farbspektrum variierte von Blau bis Violett, von Gelb bis Blassrosa, je nach dem Material, das verbrannte.

Von Zeit zu Zeit veränderten sich unter Knallen und Knattern die Farben und Bewegungen der Feuersäulen, sie wurden zusammengedrückt und gekräuselt. Am oberen Saum des Feuerwalls lösten sich Flammenzungen und Funken aus der lodernden Masse, um in einer Höhe von mindestens weiteren hundert Ellen Pirouetten und Sprünge zu vollführen und sogar den Campanile von San Francesco oder das, was von ihm blieb, zu überragen. Bevor sie aber auch noch die Sterne in Brand setzen konnten, nahmen die Lohen eine weißliche Färbung an und verwandelten sich in Asche und Rauch.

Und während dieses majestätische, entsetzliche Schauspiel die Bühne beherrschte wie eine allzu ausgefeilte und überbeleuchtete Theaterkulisse, brachte das, was sich im Vordergrund, zwischen Andreas Beobachtungspunkt und der Feuerwand darbot, Geist und Körper zum Erschauern. Denn dort gab es kein Stadtviertel aus Häusern mehr, kein Kloster mit Kirche und Campanile, keinen Rio, keine Gassen und Brücken, sondern nur noch ein verwüstetes Gelände, wo Hügel aus den Materialien der einstigen Gebäude aufragten: Marmorstücke, Backsteine, istrischer Kalkstein, Dachbalken, Pfeiler, Mörtel und Sand, Türen und Fensterrahmen, Stoffe und Glasscheiben. Durch diese Wüstenei irrten im Gegenlicht menschliche Silhouetten. Ihr Schreien und Rufen, ihr Weinen und ihre Gebete schufen, vermischt mit dem Prasseln der Flammen, eine eigene Welt, die man für die Unterwelt hätte halten können.

Kaum etwas war stehengeblieben. Nur die Apsis der Kirche der Celestia mit dem ganzen Hochaltar, um den sich kniend die Nonnen versammelt hatten, bot wie eine heilige Höhle Schutz vor den Flammen. Andrea war gewiss kein frommer Christ, doch bei diesem Anblick musste er unwillkürlich an ein Wunder denken, denn dort auf dem Hochaltar stand die Statue der Madonna mit dem Kind, die viele verehrten. Dann sah er den Stumpf des Campanile an die Rückwand der Kirche gelehnt, und eine rationale Erklärung gewann die Oberhand über das vermeintliche Wunder: Der Campanile hatte die Apsis vor der Explosion bewahrt, indem er zerberstend die Druckwelle abhielt.

Andrea war, als brenne er vor Erregung, aber er verwechselte wieder einmal eine Sinnesempfindung mit einem Gefühl. Denn Andrea brannte wirklich: Der Ledermantel, mit dem er sich schützen wollte, war glühendheiß und roch versengt, ebenso jene Stellen seiner Hose, die der Hitze des Feuers am nächsten gekommen waren, während seine Stiefel die Spuren kochenden Öls trugen. Er fühlte seinen Kopf erglühen und fuhr mit der Hand darüber. Sogar seine Haare hatten sich gekräuselt wie Wildschweinborsten. Das war ihm schon einmal als Kind passiert, in der Glasbrennerei Barovier in Murano vor dem Ofen, über dem Feinschmecker wie sein Vater gerne Aale rösteten.

Sofort dachte er daran, sich auszuziehen. Da packte ihn etwas wie eine Klaue am Arm und riss ihn nach hinten. Einen Augenblick später überflutete ihn ein Schwall eiskalten Wassers vom Kopf bis zu den Füßen und sogleich erhob sich eine Dampfwolke vom Boden und aus den erhitzten Kleidern, als wäre er Eisen, das im Wasser gekühlt wurde.

»Wolltet Ihr verbrennen?«

Der Anführer aus dem Arsenale starrte ihn an, einen Eimer in der Hand. Hinter seinem Rücken drängten sich die Freiwilligen in einem Winkel, den die Wand des Campanile mit der Kirchenmauer bildete. Sie gossen sich abwechselnd Wasser über den Kopf, das aus einem Brunnen geschöpft wurde, andere befeuchteten die Decken.

»Danke«, sagte Andrea aufatmend.

»Wusstet Ihr nicht, dass im Feuer leben dasselbe ist wie unter Wasser leben?«, fragte der andere.

Andrea betrachtete ihn, ohne den Sinn seiner Worte zu erfassen.

»Man muss entweder ein Teufel oder ein Fisch sein, meint Ihr nicht?«, erklärte der Mann. »Seid Ihr zufällig ein Teufel?«, und gleichzeitig reichte er ihm die Hand. »Bepo Rosso, Werkmeister der marangoni.«

Andrea drückte ihm kräftig die Hand – er hatte sich nicht geirrt.

»Andrea«, er zögerte, »Andrea Loredan.«

Bei diesem Namen schien der Werkmeister überrascht oder vielleicht eingeschüchtert zurückzuweichen.

»Aha!«, rief er aus. »Ihr kamt mir gleich bekannt vor«, er verbeugte sich leicht, »Ser Loredan.«

»Bitte nicht, das ist nicht nötig«, sagte Andrea verlegen.

Der Werkmeister musterte ihn mit fragender Miene, dann hellte sich sein Gesicht auf und nahm den verschwörerischen Ausdruck des Mitwissers um ein Geheimnis an.

»Geht in Deckung wie die anderen«, sagte er halblaut und begleitete Andrea zur Gruppe. »Durchtränkt Euch gründlich mit Wasser und nehmt eine nasse Decke mit, denn auf dem Weg zur Celestia werden wir wie die Hühner gegrillt.« Dabei reichte er ihm den Eimer.

Andrea nickte lächelnd, hob den Eimer über seinen Kopf und goss sich noch mehr kaltes Wasser über das Gesicht. Er öffnete den Mund und trank in tiefen Zügen, bis er sich erfrischt fühlte. Dann ließ er sich das Wasser am Körper hinabrinnen, auch in die Stiefel. Bis zum letzten Tropfen.

Unterdessen hatten sich die Freiwilligen, in die Decken gewickelt, zu zweit hintereinander aufgestellt. Sie sahen aus wie Mönche bei der Karfreitagsprozession. Bepo Rosso musterte sie prüfend, dann setzte er sich an die Spitze der Truppe.

»Nicht rennen«, sagte er. Er zeigte auf den Rio della Celestia, der hier und da mit den roten Lichtreflexen des Feuers zwischen den Trümmern der Häuser auftauchte, und fuhr fort: »Wir gehen zusammen zum Wasser, füllen die Eimer und gehen Richtung Kirche. Wer uns entgegenkommt, wird in eine Decke gehüllt und mitgenommen. Klar?«

9

Sie zogen los, ließen die Ruinen der Calle Sagredo zur Linken hinter sich und gingen zwischen den herausgerissenen Grabsteinen und den mit Schutt bedeckten Gräbern des Friedhofs von San Francesco hindurch. Vor ihnen lagen die Trümmer einer Reihe Häuser. Bei einem war die Innentreppe stehengeblieben. Dort versuchte ein Mann, einen Türflügel anzuheben. Sein Gesicht war von Brandwunden entstellt, die Haut dunkel und aufgedunsen, als wäre er leprakrank. »Caterina!«, rief er immer wieder verzweifelt zum Boden gewandt, in die Trümmerschicht hinein, die nichts anderes bedecken konnte als den Tod.

»Wen habt Ihr dort unten?«, schrie der Werkmeister, um das laute Prasseln der Flammen zu übertönen.

Der Mann hob die Augen und starrte ihn mit schmerzverzerrter Miene an. »Meine Tochter und meine Mutter«, brachte er mühsam heraus. »Sie schliefen zusammen im Zimmer im Erdgeschoss.« Er bewegte den Kopf, als wollte er Luftblasen erhaschen, und fasste sich an ein Ohr, um sich zu kratzen, doch das Ohr blieb in seinen Fingern hängen. Teilnahmslos betrachtete er es, aber seine Augen standen nicht still, als folgten sie dem Flug eines Insekts. »Auch Luca und Marcantonio sind dort unten«, sagte er.

Der Werkmeister sah, dass sein Nacken und ein Teil des Kopfes schmorten und rauchten. Er versuchte, den Mann in eine nasse Decke zu hüllen. Dieser wich entsetzt zurück und wurde zornig. Er drohte mit erhobenen Fäusten.

Andrea, der dazugekommen war, um zu helfen, erkannte in ihm einen Mann, der in der Münze arbeitete, einen gewissen Cenigo, Vetter von Antonio Milledonne, dem Sekretär des Rates der Zehn. Ein einfacher Bürger und Buchhalter, der ein solcher geblieben wäre, wenn er im vergangenen Jahr nicht in einen Skandal wegen seiner Einstellung bei der Münze verwickelt worden wäre. Die abgewiesenen Konkurrenten hatten ihn beschuldigt, den Platz nicht wegen seiner Verdienste bekommen zu haben, sondern weil Milledonne Druck auf die Mitglieder des Zehnerrates ausgeübt hatte.

Andrea selbst hatte im Namen einer großen Gruppe junger Patrizier die scharfe Kritik von Teilen des Großen Rates an diesem Fall von Nepotismus zum Ausdruck gebracht. Es hatte nichts genützt: Der Skandal war einige Wochen lang in aller Munde gewesen und dann in Vergessenheit geraten. Er erinnerte sich, dass die Misshelligkeiten mit seinem Vater, dem nichts wichtiger war als der liebe Friede, auch anlässlich der Geschichte mit Cenigo entstanden waren und einige Monate später zu dem Streit geführt hatten, der ihn bewogen hatte, den Palazzo zu verlassen.

Als er jetzt die Verzweiflung dieses armen Mannes und seinen zerfallenden Körper sah, vergaß Andrea allen Groll. Aufgrund jenes seltsamen Phänomens, durch das Feinde manchmal zu besten Freunden werden, hätte Andrea sogar alles getan, um Cenigo und seine Familie zu retten, und sollte es ihn das eigene Leben kosten. Mit zwei entschlossenen Sprüngen war er an seiner Seite, um den Mann aufzumuntern und ihm beim Graben zu helfen. Doch die Stimme des Werkmeisters hielt ihn zurück:

»Dieser Mann hat schon Hilfe, Ser Loredan, kommt mit!«, sagte Bepo Rosso. »Dort hinten sind Menschen, die uns wirklich nötig brauchen!« Andrea beeilte sich, dem Werkmeister zu folgen, der mit den anderen Freiwilligen auf das zuging, was von der Kirche der Celestia übrig war. Dort, weniger als vierzig Schritte entfernt, stimmten die Nonnen das Requiem an.

10

Der Alte wusste um das launische Wesen des Feuers. Dem Wasser vertraute er. Auch dem stürmischen. Dem Feuer nicht. Das Feuer war ein Löwe, der erst mit den Klauen zuschlug und sein Opfer dann zerriss. Die Klauen spürte der Alte schon fünf oder sechs Ellen vor dem Boot, obwohl er unter Wasser schwamm. Er hatte gerade noch Zeit, sich die Lungen mit einem Schwall glühender Luft zu füllen und wieder unterzutauchen. Der Umriss des Bootes war eine dunkle Wolke im goldenen Licht des Feuers. Unerreichbar. Der Alte musste Luft holen, aber er wusste, dass er sterben würde, wenn er jetzt auftauchte. Es drängte ihn, umzukehren, doch ihm war klar, dass er es nach der Anstrengung der Kehrtwende nie und nimmer wieder zu seinem Ausgangspunkt schaffen konnte. Er biss die Zähne zusammen und machte zwei Schwimmstöße. Der Schatten des Bootes schien ganz nah, über ihm, aber es war noch weit, unerreichbar. Noch ein Stoß, er zerriss das Wasser wie einen seidenen Schal. Seine Brust bebte. Er stieß alle Luft aus, damit Bewegung in die Lungen kam und er weniger litt. Im nächsten Moment, das spürte er, würde er gegen seinen Willen den ursprünglichen Impulsen des Lebens gehorchen, sein Mund würde sich öffnen, um zu atmen. Dann würde er ertrinken.

Er schloss die Augen, neigte den Kopf und ließ sich nach oben treiben. In dem Moment, in dem seine Lippen sich öffneten und der erste Schwall Wasser ihm in die Kehle drang, hatte er das deutliche Gefühl, dass ihm eine warme Wollmütze aufgesetzt wurde. Er spürte seine Finger an die innere Bootshaut schlagen, ohne Halt zu finden, aber seine Augen sahen wieder. Er war im Bauch des umgekippten Bootes, lebendig, wenn auch kurz vor dem Ertrinken.

Er hustete den Pfropfen Wasser aus der Luftröhre, der auf seine Lungen drückte und sie verschloss. Zappelnd, denn das Meer sog ihn ein wie eine halbleere Flasche ohne Korken. Wieder berührten seine Finger festes Material. Jetzt griffen sie zu. Er zog sich hoch und konnte einen Arm über die Sitzbank des Bootes schieben.

Ein halber, schmerzhafter Atemzug. Ein Auswurf aus Wasser und Schleim. Wieder ein Atemzug, noch mit halber Kraft. Doch fast schon befreiend zwischen erneutem, röchelndem Husten, das all den flüssigen Dreck auswarf. Noch ein Atemzug. Dieser war vollständig. Und mit der Luft kam die Kraft zurück. Der Alte zog sich mit dem anderen Arm hoch, bis er die Sitzbank unter beiden Achseln hatte. Er hätte geweint, wenn er Zeit gehabt hätte.

Beschützt durch den Bauch des umgekippten Bootes fühlte er sich wie eine Schildkröte in ihrem Panzer nach dem Angriff des Löwen. Erschrocken, aber in Sicherheit. Die Luft, die er atmete, war warm, aber es war Luft. Sie war erfüllt von Rauch und dem starken Geruch des Holzes mit dem erhitzten Pech der Kalfaterung.

Er musste umdrehen, denn das Boot konnte im nächsten Moment von den Flammen erfasst werden. Wieder verließ er sich auf seine Erfahrung: Das einzige Licht in diesem Dunkel waren die Reflexe des Feuers, die das Wasser von unten widerspiegelte. Also drehte er dem Vordersteven und dem Feuer den Rücken zu und begann, gestützt auf die Sitzbank, mit den Beinen zu schwimmen wie ein Frosch. So schob er seinen Panzer hinaus auf das rettende dunkle Wasser.

11

Im Halbdunkel der Apsis war die Luft lau, und es war ruhig, sogar das Prasseln der Flammen drang nicht bis hier hinein. Ein Dutzend Nonnen und drei Novizinnen knieten im Halbkreis zu Füßen des Altars unter dem Bild der Muttergottes mit Kind und setzten ihren Gesang fort. Die weißen Kutten ließen sie alle gleich alt erscheinen, nur ein paar Falten um die Augen und Lippen gestatteten es, manch betagtere von den jüngeren zu unterscheiden. Alle hatten weiße Haut, weiß wie ihr Gewand und von wächserner Konsistenz.

Bepo Rosso lauschte reglos dem Requiem und schien seine Selbstsicherheit als Kommandant verloren zu haben, denn er zögerte, das Lied zu unterbrechen, als böte die Heiligkeit des Gesangs Schutz und Rettung, nicht der starke Bau der Apsis. Das Winseln eines Hundes lenkte ihn ab. Und dieses klagende Winseln ließ auch den Gesang verklingen. Das Tier erschien zwischen Marmorblöcken und Backsteinen, die den Campanile gestützt hatten. Es war ein kurzhaariger Mischling. Er kam mit scharrenden Vorderpfoten näher, den Rest seines Körpers oder was davon geblieben war, hinter sich her schleifend. Denn das war kein Körper mehr, sondern ein zerfetztes Etwas aus Hinterbeinen, dem Schwanz und dem Bauch, das den Boden der Kirche mit einem dunklen Streifen Blut bemalte. Von Zeit zu Zeit drehte er den Kopf und wühlte mit den Zähnen in seinem Fell. Wie ein sterbender Fußsoldat, der den anderen und sich selbst beweisen will, dass er noch lebt, schleppte sich der Hund zwischen den Freiwilligen und dem Chor der Nonnen hindurch. Bei Andrea angekommen, kauerte er sich an dessen Seite, wie er es bei seinem Herrchen getan hätte. Er fing an zu zittern und nach Luft zu schnappen. Da ergriff Bepo Rosso einen Stein und näherte sich dem Hund, um ihm den Gnadenstoß zu geben.

»Nein!« Der Schrei einer Novizin ließ den Werkmeister innehalten, bevor der Stein fiel. Die Novizin kniete nieder, bettete den Kopf des Hundes auf ihre Knie und streichelte ihn. Andrea trat einen Schritt zurück, als verdiente diese Geste des Mitleids ihren eigenen sakralen Raum. Dann blickte er zum Werkmeister auf, der in einer Geste unterbrochen worden war, die, obgleich entgegengesetzt, von ebenso viel Mitleid zeugte. Bepo Rosso schien etwas sagen zu wollen, vielleicht eine Entschuldigung. Doch er warf nur den Stein weg. »Wer ist die Äbtissin?«, fragte er die Nonnen, zu seinem Kommandoton zurückfindend.

Diese sahen ihn überrascht an, dann wechselten sie bestürzte Blicke, als gäbe es auf diese Frage keine eindeutige Antwort oder als käme sie ungelegen. Eine sehr alte Nonne erhob sich mühsam, unterstützt von der Novizin neben ihr. »Ich bringe Euch zu ihr«, sagte sie mit heiterer Gelassenheit, als empfinge sie einen unerwarteten Gast am Tor des Klosters. Ihre Worte begleitete sie mit einem Fingerzeig auf eine dunkle Nische, die sich über den Bodenfliesen aus rosa Marmor öffnete. Es war der Eingang zur Krypta. In der kurzen Zeit, die Bepo Rosso benötigte, um dort anzukommen, erteilte er Befehle nach allen Seiten.

»Moretto, Davide, Campolongo und Rocco!«, sagte er, viermal auf die Reihe der Arsenalotti zeigend. »Ihr geht in die Häuser und seht nach, ob dort Lebende geborgen werden können. Ihr drei«, er zeigte auf ein Terzett aus Matrosen, die sich zusammengeschlossen hatten, »bringt die ehrwürdigen Schwestern zum Campo San Francesco. Sofort.«

Während die Angesprochenen sich eilig in Bewegung setzten, erfasste der Werkmeister alle anderen, einschließlich Andrea, mit einem Blick und schrie: »Wenn hier in der Umgebung Verletzte sind, die gehen können, begleitet ihr sie zur San Francesco. Sucht Türen und Torflügel und macht daraus Tragen für die, die nicht gehen können. Die Toten überlasst ihr der Gnade Gottes.« Bepo Rosso berührte das Schwert, das er am Gürtel trug. »Wen ich beim Stehlen erwische, den spieße ich auf!« Stille entstand, gefolgt von einem dumpfen, unverständlichen Gemurmel. Dann liefen alle los.

»Gestattet Ihr, dass ich mit Euch gehe?« Der Werkmeister drehte sich um: Andrea fixierte ihn ungeduldig.

»Natürlich«, sagte Rosso nur und wandte ihm den Rücken zu, um auf den Eingang der Krypta zuzugehen, wo die Nonne, auf jeder Stufe schwankend, schon hinabstieg. Andrea folgte ihm, nachdem er seinen Blick von der Novizin und dem armen Hund in ihrem Schoß gelöst hatte. Seine Zunge hing zwischen den Zähnen heraus, die Augen waren starr, während die junge Frau noch immer seine Schnauze streichelte.

12

Die sechs Stufen aus weißem, istrischem Kalkstein fielen fast senkrecht ab und zwangen den Besucher, den Oberkörper zu drehen, jeden Schritt genau abzuwägen und sich an dem starken Hanfseil festzuhalten, das an drei in der Mauer steckenden Eisenringen befestigt war.

Das Erste, was Andrea wahrnahm, war der Geruch von brennendem Wachs und ein Ansteigen der Temperatur, als käme man in einen Backofen. Er dachte an das Feuer ganz in der Nähe und wunderte sich, dass die Flammen unterirdische Wege gefunden haben mussten, um bis hierher zu gelangen. Als seine Füße den Boden der Krypta berührten, verstand er: In dem Raum