Ewig ist nur der Tod - Giuseppe Furno - E-Book
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Ewig ist nur der Tod E-Book

Giuseppe Furno

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Beschreibung

Rom im August: Privatdetektiv Fabio Gracco observiert den bekannten Politiker Nicola de Nicola. Seine Frau möchte Beweise für ihre Vermutung, dass Nicola sie mit einer Jüngeren betrügt. Und tatsächlich findet Gracco heraus, dass Nicola eine Affäre mit der hübschen Archäologin Carla Caggiani hat. Gracco will den Auftrag möglichst schnell beenden, denn er riskiert seine Zulassung, da Nicola Immunität genießt. Doch dann findet man am Ausgrabungsort eines alten römischen Tempels Carlas übel zugerichtete Leiche. Und Gracco steckt plötzlich mitten in einem Mordfall ...

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EPUB

Seitenzahl: 491

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Buch

Rom im August: Privatdetektiv Fabio Gracco observiert den bekannten Politiker de Nicola. Seine Frau möchte Beweise für ihre Vermutung, dass ihr Mann sie mit einer Jüngeren betrügt. Und tatsächlich findet Gracco heraus, dass de Nicola eine Affäre mit der hübschen Archäologin Carla Caggiani hat. Gracco will den Auftrag möglichst schnell beenden, denn er riskiert seine Zulassung, da de Nicola Immunität genießt. Doch dann findet man am Ausgrabungsort einer der Glücksgöttin Fortuna geweihten Grabkammer Carlas übel zugerichtete Leiche. Und Gracco steckt plötzlich mitten in einem Mordfall …

Informationen zu Giuseppe Furno finden Sie am Ende des Buches.

Giuseppe Furno

Ewig ist nur der Tod

Kriminalroman

Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »La dea della fortuna« bei Longanesi, Mailand.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2018

Copyright © der Originalausgabe 2016 by Giuseppe Furno

Published by arrangement with Berla & Griffini Rights Agency, Milano

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: mauritius images / John Warburton-Lee / Carlos Sanchez Pereyra

Redaktion: Sigrun Zühlke

BH · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-21235-3V001

www.goldmann-verlag.de

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Erster Teil

1

August. Kochender Asphalt, schwitzende Menschen. Der glühend heiße Wind ließ die Luft flimmern, die Straßen und Häuserfassaden silbern glänzen und die knorrigen Äste der mächtigen Pinien neben der Via Appia Antica erzittern. Wie gewöhnlich um diese Zeit trug Rom die Hitze mit Gelassenheit und imperialer Würde. Fabio Gracco sog tief den Duft der ofenfrischen Cornetti ein und verfluchte seine immer noch erhöhten Blutzuckerwerte.

»Du musst dich mehr bewegen, du solltest häufiger zu Fuß gehen«, hatte ihm Giacomo geraten, sein Freund aus Kindertagen, der jetzt als Kardiologe am Krankenhaus Umberto I. arbeitete. Deshalb hatte Fabio das Auto stehen lassen, sich bequeme Schuhe gekauft und ging so oft wie möglich zu Fuß. Die ersten Spaziergänge waren hart gewesen, ein Krampf hatte den nächsten abgelöst. Doch dann war Silvia Sivieri wieder in sein Leben getreten, und die Dinge hatten sich zum Besseren gewendet: der Blutzuckerspiegel sank, und Fabio verlor das ein oder andere Pfund von den Hüften.

»Ciao, Fabio, hier ist Silvia. Silvia Sivieri. Erinnerst du dich noch an mich?« So hatte es vor vier Monaten angefangen. Irgendwann an einem verschlafenen Frühlingsnachmittag hatte sie ihn im Büro angerufen. Seit dem Studium hatte er nichts mehr von ihr gehört. »Entschuldige bitte, aber ich möchte am Telefon nicht darüber reden, auch nicht bei dir im Büro.« Sie hatten sich für den nächsten Vormittag vor dem Quirinalspalast verabredet.

Er hatte sie sofort erkannt, als sie aus dem Taxi stieg: erst die Beine, dann den Rest. Sie schien sich überhaupt nicht verändert zu haben, genau so hatte Fabio sie in Erinnerung, eng anliegende Jeans, hochhackige Schuhe, in denen sie sich sichtlich wohlfühlte, anmutig schwingender Gang. Er hatte gehofft, dass sie ihn auch wiedererkennen würde, war aber gezwungen gewesen, ihr ein Zeichen zu geben, als er ihr entgegenging. Sie hatte gelächelt. Eine schöne Frau, kein Zweifel, vielleicht ein paar Fältchen um den Mund und am Hals, aber das war unvermeidlich.

Sie waren die Treppe hinaufgestiegen, durch die Caravaggio-Ausstellung geschlendert und hatten hier und da einen Blick auf die von Schülergruppen umlagerten Gemälde geworfen. Untergehakt, zu nah, um nur alte Freunde zu sein, die sich nach langer Zeit, zum ersten Mal seit dreißig Jahren, wiedergetroffen hatten.

»Du hast kurz danach geheiratet, oder?«, hatte Fabio beiläufig gefragt, eine rhetorische Frage, er kannte die Antwort bereits. Silvias Karriere als Ehefrau und Mutter hatte schon früh begonnen, eine Tochter aus erster Ehe, eine aus der zweiten, ein Sohn aus der dritten. Schließlich legte sie die Karten auf den Tisch: »Ich glaube, ich brauche einen Privatdetektiv«, hatte sie ihm etwas verlegen gestanden. »Und da habe ich sofort an dich gedacht.« Schmeichlerin.

Silvia lebte in einer privilegierten Gesellschaftsschicht, die von den Krisen der Welt, strukturellen wie wirtschaftlichen, regionalen wie globalen, für gewöhnlich nicht berührt wurde. Der Wohlstand war nach außen sichtbar, jedenfalls für denjenigen, der die Zeichen erkannte. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihren Rubinring von schätzungsweise sechs Karat trug, das leuchtende Preußischblau ihrer Gucci-Tasche, die rechteckige Jaeger-LeCoultre Reverso-Armbanduhr an ihrem Handgelenk. Sie hatte sich immer die richtigen Ehemänner gesucht. Aktuell war sie mit Nicola de Nicola verheiratet, einem vierzigjährigen Staranwalt, sieben Jahre jünger als sie. Karriere in der väterlichen Kanzlei, Luxuswohnung in Parioli, Villa in Monte Argentario, dazu eine 15-Meter-Jacht. Nach einigen Jahren hatte er den Sprung in die Politik gewagt, war der aufstrebende Stern der demokratisch-progressiven Bewegung, Wunschkandidat für die erste Runde der Wahl zum Präsidenten des Regionalparlaments von Lazio, regelmäßiger Gast im Staatsfernsehen. Silvia bekam feuchte Augen, als sie von ihm erzählte. Doch nachdem sie Fabio bis auf die Aussichtsplattform gezerrt hatte, als Rom sich zu ihren Füßen erstreckte, hatte sie ihm mit niedergeschlagenen Augen und zitternder Stimme gestanden: »Ich glaube, Nicola betrügt mich«, und war in Tränen ausgebrochen. Unter den prüfenden Blicken von Aufsehern und Besuchern, hatte Fabio gewartet, bis sie sich wieder gefasst hatte, und dann ohne Umschweife geantwortet: »Silvia, es tut mir leid, aber ich kann dir nicht helfen. Das Risiko ist zu groß.« Woraufhin sie in noch heftigeres Schluchzen ausgebrochen war und die Blicke der Umstehenden noch bohrender geworden waren.

Ein lautes Hupen riss Fabio aus seinen Gedanken und ließ ihn an der Bordsteinkante erstarren. Unmittelbar vor ihm vibrierte Metall, quietschten Bremsen, dann öffneten sich zischend die Türen, und der 660er-Bus kam zum Stehen. Das stählerne Ungetüm schien sich zu schütteln, die Türen schlossen sich, um sich sofort wieder zu öffnen. Fabio war der Letzte, der einstieg, und hatte das Gefühl, gegen eine Eiswand zu prallen. Offensichtlich hatte der Busfahrer die Klimaanlage voll aufgedreht, um die Ausdünstungen einer Obdachlosen zu vertreiben, die ganz allein auf der hintersten Bank saß. Ein Wink des Schicksals. Denn dieses Schockerlebnis hatte ihn an Artikel 660 des Strafgesetzbuchs erinnert, die Bestimmung, die zusammen mit den Artikeln 610, 614 und 615 ff. den Bürger vor Belästigung, Hausfriedensbruch und illegaler Überwachung schützen sollte. Im Fall des Abgeordneten Nicola de Nicola kam noch Artikel 68 der Verfassung über den Schutz der Privatsphäre von Parlamentariern hinzu. Mit anderen Worten: absolute Immunität. Selbst für einen Staatsanwalt war das ein Minenfeld, für einen Privatdetektiv glatter Selbstmord. »Du bist schlechter dran als ein Polizist«, hatte Fabio gelernt, weniger Rechte, dafür ein Dschungel aus Pflichten und Verboten.

»Du musst mich verstehen«, hatte er Silvia zu erklären versucht. »Dein Mann ist ein bekannter Politiker, noch dazu ein gewiefter Anwalt. Um das aufzuklären, müsste ich fotografieren, filmen, vielleicht sogar Gespräche abhören. Wenn ich dabei erwischt werde, kassiere ich von ihm ganz sicher eine Anzeige. Verliere vielleicht sogar meine Lizenz.« Silvia hatte ein Päckchen Tempos aus der Tasche geholt und sich die Tränen aus den Augenwinkeln getupft. »Aber du würdest es doch für mich machen. Ich will ja nur wissen, ob er mich betrügt. Mehr nicht«, hatte sie geantwortet und noch hinterhergeschoben: »Du bist der Einzige, der mir helfen kann.« Und dann war sie aus dem Quirinalspalast gerannt. In der Zwischenzeit hatte es zu regnen begonnen, das nasse Kopfsteinpflaster glänzte wie Krokodilleder. Silvia hatte ihn ein wenig verloren angesehen: »Kein Problem, mach dir keine Sorgen. War schön, dich wiedergesehen zu haben.« Dann war sie durch den Regen zum Taxistand geeilt, an dem aber keine Taxis warteten.

Fabio hatte ihr versonnen hinterher geblickt, völlig durchnässt vom stärker werdenden Regen. Seine Gedanken waren zu Nicola de Nicola gewandert. Er kannte ihn zwar nicht persönlich, hatte ihn aber in letzter Zeit oft im Fernsehen gesehen. Ein unerbittlicher Verfechter von Recht und Ordnung, angriffslustig, mit einer messerscharfen Zunge. Er hatte ihn sich in einer dunkelblauen Regierungslimousine vorgestellt, wie er sich in die eleganten Polster lümmelte, einen halb gerauchten Zigarillo lässig zwischen Mittel- und Zeigefinger geklemmt, während er die Autotür öffnete und nonchalant seine Geliebte einsteigen ließ. Die Verachtung war wie eine blubbernde Blase aus dem Bauch nach oben gestiegen. Er wusste, dass es falsch war. Er wusste es genau. Aber seine Beine hatten sich wie von selbst bewegt, langsam zunächst: Das ist ein Spiel mit dem Feuer, ein Drahtseilakt, voller Risiken und Gefahren. Ich werde in Schwierigkeiten geraten. Doch dann war er schneller gegangen, weil ein Taxi aufgetaucht war. »Silvia, warte!« Er war mit ihr eingestiegen.

Bevor er an der Haltestelle Colli Albani aus dem 660er stieg, steckte Fabio instinktiv eine Hand in die Jackentasche. Fast zärtlich berührten seine Finger die 500-Gigabyte-CD: das Ergebnis von vier Monaten Ermittlungsarbeit, Protokolle, mehr als fünfzig Fotos, zwei Videos und der zufällige Mitschnitt eines Telefongesprächs. Was die beiden alles getrieben hatten! Er war sich wie ein Voyeur vorgekommen, wie ein Perverser. Bei aller Professionalität war es ihm nicht gelungen, die emotionale Distanz zu wahren. Die arme Silvia. Doch beim Mitleid war es nicht geblieben. Beim Betrachten der Kamasutra-würdigen Stellungen hatte sich auch bei ihm etwas gerührt, ein Verlangen, das längst erloschen schien. Wie lange lebte er schon abstinent? Fünf, sechs Monate, seitdem die Sache mit Valeria in die Brüche gegangen war?

Er tastete nach dem Handy, wählte ihre Nummer.

»Ciao, Silvia. Ich habe das Material. Bist du in Argentario? Kannst du kommen?«, fragte er und wartete auf die Antwort. »Ich hol dich am Bahnhof ab. Heute Abend, ja, direkt am Bahnsteig. Bis bald.«

2

Der Pförtner hatte sie gefunden. Er war nach unten gegangen, um zwei Flaschen Wasser am Brunnen abzufüllen, dabei hatte er Geräusche gehört. Erst dachte er, es seien Katzenbabys, und hatte die Scheinwerfer angeschaltet, die für die Grabung benutzt wurden: Carla Caggiani hatte leblos am Boden des geweihten Brunnens gelegen, um sie herum unzählige Mäuse.

»Signor Mogana, beantworten Sie bitte meine Fragen ganz genau.« Vizeinspektor Domenico Ramino von der Mordkommission lockerte den Knoten seiner Krawatte und unterbrach den Redefluss des Pförtners. »Sie bestätigen also, dass die Klimaanlage, die Videoüberwachung und sämtliche Scheinwerfer ausgeschaltet waren?« Dabei drehte er den Ausweis des Zeugen zwischen den Fingern und befühlte ihn, als sei er Falschgeld. Geboren am 18.10.1946 stand da zu lesen. Eine andere Generation, und doch kam er ihm kaum älter vor als er selbst.

»Ja, das kann ich bestätigen«, antwortete der Pförtner mit ausgeprägtem römischem Akzent und deutete dabei eine Verbeugung an. »Die Scheinwerfer der Archäologen waren ausgeschaltet, nur die Notbeleuchtung war an, wie immer, aber man sieht kaum etwas, deshalb habe ich die hier immer dabei«, fuhr er fort und deutete auf eine große Taschenlampe.

Der Vizeinspektor musterte ihn eindringlich. Ein eher orientalischer Typ, die immer noch schwarzen Haare ähnelten dem Federkleid eines Raben, auch seine Haut wies kaum Runzeln auf, keinerlei Zeichen des Alters, genau wie seine ebenmäßigen weißen Zähne. Alles an ihm wirkte irgendwie künstlich.

»Schauen Sie hier.« Er deutete auf ein Lämpchen über ihnen, das die tiefe Dunkelheit nicht durchdringen konnte.

»Gut, schön. Wiederholen Sie bitte, was Sie dann gemacht haben«, drängte der Polizist und massierte sich mit der Zungenspitze den mittleren Schneidezahn, der wieder zu pochen begonnen hatte.

Francis Mogana stammte aus Laoag auf den Philippinen und war seit fast dreißig Jahren Pförtner in dem Palazzo am Corso Vittorio Emanuele II., Nummer 207. Er wischte sich den Staub von der grauen Uniform und sprach weiter. Seit etwa einem Jahr arbeiteten drei Archäologen an dieser Grabung, auch »Dottoressa Carla«, wie er die Frau immer genannt hatte. Als er auf der glatten Aluminiumleiter zum Brunnen hinabgestiegen war, wäre er beinahe über ihren Leichnam gefallen. Das Herz war ihm fast stehen geblieben vor Entsetzen, als er sie da so kalt und tot hatte liegen sehen. Die Mäuse hatten ihre Augäpfel gefressen. Eigentlich hatte er sofort die Polizei verständigen wollen, aber da unten war ja kein Netz, das wusste er. So hatte er in Panik erstmal nach Gesù gerufen, dem Hausmeister. Der hatte ihm geholfen, sich zu beruhigen, und ihn die schmale Leiter wieder nach oben geführt, in den Hof, wo es warm und hell war. Dann hatte er den Notruf 118 gewählt, aber kaum die drei Ziffern tippen können, so sehr hatten ihm die Finger gezittert. Die Ambulanz war schnell da gewesen, die Straßen Roms waren ja wie leer gefegt, ein Vorteil der Ferienzeit. Der Arzt war in den Brunnen gestiegen, mit Überschuhen, Handschuhen und Schutzmaske, hatte aber nur noch den Tod der Archäologin feststellen können. »Sie ist noch nicht lange tot, vielleicht ein, zwei Stunden. Wir müssen die Polizei einschalten.« Und die hatte er dann auch angerufen. Eine halbe Stunde hatten die ihm nun Fragen über Fragen gestellt, die er alle geduldig beantwortet hatte.

Domenico Ramino gab Francis Mogana seinen Personalausweis zurück. Er fröstelte, die Kälte war ihm fast unbemerkt bis in die Knochen gekrochen. Von hier oben sah der Keller aus wie ein Filmset. Die Halogenlampen beleuchteten den im 3. Jahrhundert v. Chr. erbauten Votivbrunnen, ihr Strahlen wurde von der Aluminiumleiter reflektiert, neben der Leiche der jungen Frau kauerte ein Feuerwehrmann mit Atemschutzmaske und Sauerstoffflasche. Ein Kollege sicherte ihn mit einem Seil. Das Ganze sah aus wie ein tragischer Arbeitsunfall.

»Das ist ein überaus wertvolles Fundstück, eine der Glücksgöttin Fortuna geweihte Grabkammer. Carla war eine leidenschaftliche Archäologin, heute war ihr Geburtstag und ihr letzter Arbeitstag vor den Ferien«, berichtete Dottoressa Flavia Melodia von der Denkmalbehörde unter Tränen. Sie war eng mit der Toten befreundet gewesen.

»Merkwürdige Glücksgöttin«, sinnierte Ramino kopfschüttelnd, dann stieg er die Leiter hinunter und folgte dem mit Plastikfolie abgedeckten Pfad, eine Schutzmaßnahme, um den Tatort nicht zu verunreinigen. Am Rand der Ausgrabungsstätte beugte er sich nach vorn. Schätzungsweise zwei Meter tief, und ebenso breit. Auf dem Boden rund um den Leichnam und die Fußabdrücke des Feuerwehrmanns erkannte man Dutzende von Opfergaben aus Terracotta, modellierte Köpfe, Phalli, Vulven, Brüste, Hände, Füße und was auch immer. Der Vizeinspektor wandte sich wieder der Toten zu. Sie trug einen weißen Arbeitsoverall und Turnschuhe. Der gelbe Helm mit der Grubenlampe lag ein paar Meter neben ihr, schwer beschädigt. Die Geschichte mit den ausgeschalteten Scheinwerfern ging ihm nicht aus dem Kopf. Warum steigt jemand im Dunkeln in einen so tiefen und gefährlichen Brunnen? Und was war mit diesem Helm passiert, der ihn an einen Motorradhelm nach einem schweren Verkehrsunfall erinnerte?

»Dürfen wir das Absauggerät benutzen?«

Ramino wandte den Blick zu dem Feuerwehrmann, der die Maske abgenommen hatte und ihn von unten ansah. Er sah auf die Uhr, fast elf. Es war August, Ferienzeit, und es waren bereits zwei Stunden vergangen, seit er die zuständige Staatsanwältin Lucia Campazzo verständigt hatte. Er musste sich noch gedulden, denn auf einen Rüffel seiner verspäteten Vorgesetzten hatte er keine Lust.

»Wir warten auf die Staatsanwältin«, antwortete er knapp.

Wer stirbt schon an seinem Geburtstag, ging es ihm erneut durch den Kopf. Er griff nach seinem Telefon, um nachzuhören, wo die Campazzo bliebe, hatte hier unten aber kein Netz. Nach draußen in die Hitze gehen, wollte er auch nicht. Er blieb an Ort und Stelle stehen, zückte sein kleines Büchlein und notierte: Todeszeitpunkt vermutlich zwischen sieben undacht. Dann fügte er hinzu: Handy des Opfers suchen. Er blickte sich um. Und erst jetzt sah er die bunt verzierte Torte, die Kerzen, die Plastikteller, die Plastikgläser und die Sektflasche. Auf einem langen Holztisch, der eigentlich dafür gedacht war, die Fundstücke aus dem Brunnen abzulegen und sie später zu katalogisieren, thronte die Torte zwischen zwei riesigen Phallusskulpturen, offenbar eine Wunschfantasie der alten Römer, jedenfalls hoffte Domenico Ramino das für sich und den Großteil der restlichen Männerwelt. Er griff erneut nach dem Handy und machte ein paar Fotos. Dann zog er die Latexhandschuhe über und betastete die Torte, ganz vorsichtig, um nichts zu verändern. Es war eine Blätterteigtorte mit Vanillecreme und Früchten: Kiwi, Bananen, Erdbeeren und Heidelbeeren. Zwei Stücke fehlten, die ursprüngliche Größe war als Abdruck auf der Silberfolie noch gut zu erkennen. Es gab auch zwei rote Kerzen, eine zwei und eine fünf. Ihr 25. Geburtstag. Dazu zwei geblümte Plastikteller mit Blätterteigresten, zwei Plastikgabeln, zwei Plastikmesser und zwei Plastikgläser, in denen sich noch Sektreste befanden. Allerdings vom Feinsten: die danebenstehende Flasche war eine 375-ml Krug Rosé. Und es gab ein noch verpacktes iPad. Im Anschluss untersuchte Ramino den schwarzen Mülleimer. Er fand den Tortenkarton mit dem Namen und der Adresse der Konditorei und einen Strauß roter Rosen, in Folie eingewickelt und mit einem roten Band verziert. Blumen warf man nur aus zwei Gründen weg: entweder weil sie welk waren oder weil man sich gestritten hatte. Er notierte alles in seinem Notizbuch.

3

Er hatte ihn voll erwischt, auf der Piazza Barberini, an der Ecke der Via delle Quattro Fontane. Ein graublauer Wagen, ein chromglänzender Lancia Thema mit abgedunkelten Fenstern war viel zu schnell aus der Via del Tritone gekommen. Er hatte die Kurve geschnitten, um im letzten Moment bei Gelb über die Ampel zu kommen und sich dann zügig in den fließenden Verkehr der Via delle Quattro Fontane einfädeln zu können. Und fast hätte er es auch geschafft. Doch dann war wie aus dem Nichts ein Typ mit einem Safarihut vor der Motorhaube aufgetaucht. Mitten auf der Straße, mit dem Rücken zu ihm und die Hand nach seiner Frau ausgestreckt, damit sie mit ihm die Straße überquerte. Ein Tourist aus Australien, der wahrscheinlich annahm, dass rote Fußgängerampeln in Rom tatsächlich nur unverbindliche Vorschläge machten und man sie nicht ernst nehmen musste. Und eigentlich hatte er damit auch recht gehabt. Nur dieses Mal nicht.

Die Umstehenden hatten einen dumpfen Knall gehört und einen Mann und seinen Hut durch die Luft fliegen sehen, allerdings nicht mit der Leichtigkeit eines Artisten, sondern plump wie eine Schaufensterpuppe. Als er in den Rettungswagen geschoben wurde, atmete er kaum noch, die Polizisten versuchten, die genervten Autofahrer zu besänftigen, deren Hupkonzert bis zur Via Veneto zu hören war. Obwohl es August war, staute sich der Verkehr. Busse konnten nicht weiterfahren, die laufenden Motoren verpesteten die Luft. Das Heulen des Krankenwagens hallte von der Fassade des Hotels Tritone wider und legte sich über die Autoschlangen, die nach und nach wie eben noch flüssige Lava zu einem festen Gebilde erstarrten. Menschen drängten sich an den Fenstern und auf den Balkonen der Häuser, weil in diesem teuren Viertel der Stadt vor allem Banken, Versicherungen und gepflegte Langeweile angesiedelt waren.

Der Fahrer des Lancia Thema, ein gut aussehender, ganz in Schwarz gekleideter junger Mann, fuhr sich mit den Fingern durch die raspelkurzen blonden Haare und tigerte nervös hin und her, bemüht, das Chaos zu ignorieren, das er verursacht hatte.

»Ich bin erledigt …«, seufzte er mit erstickter Stimme und offensichtlich meinte er das genau so, wie er es sagte. Ein Polizist auf einem Motorrad überprüfte mit einer Kollegin den Bremsweg: fünfzehn Meter. Daraus ließ sich schließen, dass er mit sechzig Sachen unterwegs gewesen sein musste, wofür auch die Schleifspur sprach, die er an zwei parkenden Autos hinterlassen hatte. Aus dem eingedellten Kühler tropfte Wasser, und Dampf stieg auf, ein ideales Motiv für die wie aus dem Nichts aufgetauchten Pressefotografen.

Durch das Schaufenster der Apotheke beobachtete Nicola de Nicola die Szene und presste sich dabei eine Mullkompresse auf die Stirn. Er schaute auf die Uhr, bis zu seinem Flieger nach Sardinien hatte er nur noch eine Dreiviertelstunde. Der war weg. Mist. Er betrachtete die blutgetränkte Kompresse. Er musste zur Ruhe kommen und nachdenken. Das Problem war weniger der verpasste Termin für die Eröffnung des Zentrums für Schwerstbehinderte in Olbia, sondern die Tatsache, dass er sich in Rom befand, auf der Piazza del Tritone, während Silvia davon ausging, dass er bereits seit gestern Abend in Sardinien war. Er hatte sie angerufen und ihr das atemberaubende Panorama der Bucht beschrieben, das sich vom Balkon der Suite im Hotel Luna aus in der Abenddämmerung vor ihm ausbreitete. Die Zeitungen würden über den Unfall berichten, auch das Fernsehen. Zweifel und Verdächtigungen, das ganze Programm. Und Silvias Fragen. Vor allem diese eine: Warum hast du mich angelogen? Er suchte fieberhaft nach einem Ausweg. Plötzlich bemerkte er das weiße M auf rotem Grund: die U-Bahn. Da war sein Ausweg. Es waren höchstens fünfzig Meter bis zur nächsten Station, er könnte in einen Waggon steigen, zum Flughafen fahren und den erstbesten Flug nach Olbia nehmen. Er würde sogar noch rechtzeitig beim Büfett da sein und die sardischen Spezialitäten genießen können, die er so liebte: Kichererbsen mit Schweinefleisch.

»Geht es Ihnen besser, Herr Abgeordneter?«

Die Stimme ließ ihn zusammenzucken. Eine der Apothekerinnen reichte ihm lächelnd einen Plastikbecher mit Wasser. Sie hatte ihn erkannt.

»Sie sollten das besser im Krankenhaus behandeln lassen, das ist ein tiefer Schnitt und muss genäht werden«, fuhr sie fort. Ihrem Akzent nach kam sie aus dem Süden, vielleicht aus Sizilien.

Nicola de Nicola nickte mechanisch, nahm den Becher und trank, während ihn ein kalter Schauer überlief. Warum musste er nur so oft im Fernsehen zu sehen sein? Er spürte alle Anzeichen einer nahenden Katastrophe. Doch als die Apothekerin ihn mit ihren wunderschönen Augen anstrahlte, schöpfte er neue Hoffnung.

»Ich muss Sie um einen Gefallen bitten, Dottoressa«, flüsterte er in vertraulichem Ton und ging dabei ganz nah an ihr Gesicht heran. »Da draußen lauern schon die Fotografen, wenn sie mich entdecken, werde ich meines Lebens nicht mehr froh …«

»Kommen Sie mit, Herr Abgeordneter«, unterbrach sie ihn, bereits ahnend, was er wollte, und zog ihn zwischen den dunklen Regalwänden hindurch ins Hinterzimmer und dann durch den Lieferanteneingang hinaus in einen stillen kühlen Innenhof.

»Danke«, sagte Nicola de Nicola.

»Wissen Sie, dass ich Sie gewählt habe?«, fragte ihn die Apothekerin bewundernd und ein wenig verlegen.

Er hielt inne und hätte sie am liebsten umarmt, aber sie hatte die Tür schon wieder hinter sich geschlossen, allerdings nicht, ohne ihm ein letztes Lächeln geschenkt zu haben. De Nicola atmete tief durch. Wie nett Menschen doch sein konnten.

4

Der Frecciabianca kam pünktlich um 20.03 Uhr kreischend und zischend zum Stehen. Nach einem kurzen Moment öffneten sich die Türen, und die Treppen klappten nach unten. Fabio Gracco spürte einen Moment lang, wie es war, komplett anonym zu sein. Gedankenverloren blickte er auf einen Süßigkeitenautomaten, in dessen Scheibe er sich spiegelte. Er hatte sich für den blauen Leinenanzug entschieden, der ihn schlanker aussehen ließ. Er fuhr sich mit den Fingern durch die hochgegelten Haare, um ihnen mehr Natürlichkeit zu verleihen, als ihm klar wurde, wie lächerlich diese Geste war. Es wimmelte von Menschen, die Luft war erfüllt vom Surren der Rollkoffer. Dann entdeckte er Silvia. Sie stand auf dem untersten Trittbrett des Erste-Klasse-Wagens. Bei ihrem Anblick kam er sich vor wie in einem amerikanischen Musical: graue Leggings, türkisfarbene Sandalen, türkisfarbenes T-Shirt, eine geblümte Tasche über der Schulter. Sie sah noch schmaler aus, jünger, mädchenhafter. Ihre perfekt sitzenden Haare glänzten, als käme sie gerade vom Friseur. Ihre Haut war leicht gebräunt, ihr Lächeln fast scheu. Fabio schob sich durch die Menschenmenge und ging ihr entgegen. Um nicht für einen illegalen Taxifahrer gehalten zu werden, küsste er sie auf die Wange und nahm ihr die Tasche ab.

»Lass uns irgendwohin gehen, wo es ruhiger ist«, sagte sie, während sie ihn in ihr Parfüm einhüllte. Er hatte sich vorbereitet und nach einem passenden Lokal in der Nähe des Bahnhofs gegoogelt.

»Bitte sehr, gnädige Frau, hier entlang«, versuchte er es mit einem Scherz. Zehn Minuten später saßen sie auf der Dachterrasse eines Fünf-Sterne-Hotels mit einem traumhaften Blick auf Rom in der Abenddämmerung.

»Möchtest du etwas trinken?«, Fabio warf einen raschen Blick auf die Weinkarte.

»Such du aus«, antwortete sie und schenkte ihm ein scheues Lächeln. Als der Kellner kam, deutete Fabio mit dem Zeigefinger auf den Namen des Weins, nicht weil er ein Snob sein wollte, sondern weil er Gewürztraminer liebte, jedoch den Namen nicht aussprechen konnte.

»Spann mich nicht auf die Folter«, drängte Silvia, nachdem der Kellner ihnen eine Kerze angezündet und sich wieder entfernt hatte. »Ich hatte recht, oder?«

Fabio reagierte nicht gleich, er wollte wohlüberlegt antworten. Allmählich wurde es dunkel, und eine leichte Abendbrise begann die drückende Schwüle zu vertreiben. Silvia interpretierte sein Schweigen auf ihre Weise. »Dieses Schwein!«, rief sie und funkelte Fabio an. Den Kellner, der sich mit einer Flasche Wein dem Tisch näherte, bedachte sie mit einem eisigen Blick. »Entschuldige«, setzte sie hinzu. Zu spät, Fabio registrierte die Verlegenheit des Kellners, der nur das zweite Wort gehört und die Situation falsch verstanden hatte. Am liebsten hätte er ihm erklärt, dass sie nicht ihn gemeint hatte. Er gab ihm ein Zeichen. Immer noch verunsichert kam der Kellner an ihren Tisch, nahm die Flasche aus dem Eiskübel und löste den Korken, ohne ihnen in die Augen zu sehen.

»Was für ein prächtiger Anblick, oder?«, fragte Fabio, in dem Versuch, die Atmosphäre zu entspannen, und deutete auf das Lichtermeer der zu ihren Füßen liegenden Stadt. Sie bestellten Pasta mit Hummer. Beide das Gleiche, um unausgesprochene Harmonie zu demonstrieren. Silvia nahm einen Schluck Wein und sagte dann: »Na los, raus mit der Sprache.«

Fabio ließ sie nicht aus den Augen, während sie sich die fünfzig Beweisfotos anschaute, jedes einzelne. Er hatte sie im Format 13 × 18 ausgedruckt, die Reihenfolge sorgfältig ausgewählt. Die ersten Bilder zeigten flüchtige Berührungen, aus der Ferne aufgenommen, dann folgten vertraute Gesten und Umarmungen, unwiderlegbare Beweise, dass sie sich nähergekommen waren. Auf einem Foto hielt Nicola einer Unbekannten die Tür eines Taxis auf, im Hintergrund ein Park mit Pinien, Blumen und Tauben. Auf dem nächsten betraten sie ein Haus, das »Danach« lag in der Fantasie des Betrachters. Bis dahin waren Silvias Kommentare zwar nicht gerade wohlwollend, aber doch sachlich und kontrolliert gewesen, wie es ihrer Persönlichkeit entsprach. »Die zwanzigjährige Praktikantin, sieh mal an« oder »Ich habe einen Trottel geheiratet, der für ein paar knackige Brüste alles aufs Spiel setzt«. Bei einigen Schnappschüssen hatte sie sogar aufgelacht: »Das schicke ich seinem Parteivorsitzenden, und das hier meiner Schwiegermutter, die mich für eine Ehebrecherin hält.« Das Essen kam, und Silvia stocherte immerhin in der Pasta herum und versuchte, das Drama auszublenden. Sie bestellten eine zweite Flasche Gewürztraminer. Silvia hatte ihr Glas schon heruntergestürzt, bevor der Kellner Fabio auch nur einschenken konnte. Danach zeigte er ihr die anderen Fotos, die man nicht mehr kommentieren musste, aufgenommen mit einer Spezialkamera. Intime Fotos, auf denen die ineinander verschlungenen Körper durch den leichten Grünstich fast wie Leichen aussahen. Silvias Gesicht erstarrte zu einer Maske, sie sagte nichts mehr. Hoch konzentriert blätterte sie die Fotos durch, als suchte sie in einem Waffenkatalog nach der richtigen Pistole. Doch als sie den Blick wieder hob, konnte Fabio die Tränen sehen, in denen sich das flackernde Licht der Kerze spiegelte.

Fabio hasste diesen Moment, denn nachdem die Beweise auf dem Tisch lagen und er ein paar Fragen beantwortet hatte, war seine Arbeit beendet. Die Entscheidungen mussten die Auftraggeber selbst treffen, er hatte seinen Teil des Vertrags erfüllt.

»Trifft er sie oft?«

Keine ungewöhnliche Frage, der Betrogene versucht in seiner Verzweiflung mildernde Umstände für den Betrüger zu finden.

Fabio konnte ihr nicht helfen. »Jeden Tag, würde ich sagen.«

Sie war überrascht: »Aber Nicola hat doch so viele Termine und ist ständig unterwegs. Manchmal erreiche ich sogar nur seine Sekretärin.« Dann bekam ihr Gesicht einen hasserfüllten Ausdruck: »Ich bin ja so was von naiv, natürlich, sie arbeitet ja für ihn!«

»Treffer, versenkt«, hätte Fabio gesagt, wenn das alles nur ein Spiel gewesen wäre. »Sei nicht so streng mit dir, Silvia.«

Silvia schloss die Augen und ließ den Kopf sinken. Zum einen lag es am Wein, zum anderen aber auch an der Gewissheit, dass sich ihr Verdacht bestätigt hatte.

»Was hast du noch über sie herausgefunden?«, fragte sie und hob den Kopf. Sie wirkte erschöpft.

Fabio zog einen Umschlag aus der Jackentasche, auf dem sein Firmenlogo prangte: eine große Lupe über einem sehr kleinen Kolosseum. Dieses Markenzeichen hatte er von seinem Vater übernommen, der die Detektei in den 1960er Jahren gegründet hatte.

»Das findest du alles hier.« Er legte den Umschlag auf den Tisch, dabei streifte er ihre Hand. »Das, was du wissen wolltest, weißt du jetzt«, sagte er sanft. »Silvia, die Entscheidung liegt bei dir. Denk aber auch an euren Sohn, er ist erst neun. Alles andere sind Nebensächlichkeiten.«

Silvias Körper straffte sich, sie griff nach dem Umschlag und schlitzte ihn mit ihrem Messer auf, dann zog sie das Blatt heraus und begann zu lesen.

»Carla«, flüsterte sie, das Papier zitterte, »netter Name. Kurz, aber prägnant«, sie bemerkte das Zittern und griff fester zu. »Immerhin Akademikerin«, versuchte sie zu scherzen, auch das machte ihr zu schaffen. »Archäologin, aha«, ihre Stimme vibrierte, »25 Jahre, kein Wunder, halb so alt wie die Ehefrau.«

Fabio bemerkte, dass der Kellner unschlüssig einige Schritte vor ihrem Tisch stand und darauf wartete, dass Silvia verstummte. Er gab ihm zu verstehen, sich noch etwas zu gedulden. Aber auch sie hatte ihn bemerkt und fragte mit eisigem Blick: »Entschuldigen Sie, wünschen Sie noch etwas?« Der Kellner war wie vor den Kopf geschlagen und stammelte: »Äh, nein. Aber wünschen Sie noch etwas …?«

Silvia spielte ihr Spielchen weiter: »Sind Sie verheiratet?«

»Silvia …«, Fabio versuchte sie zu beruhigen, ohne Erfolg.

»Ja, Signora«, antwortete der Kellner leicht irritiert.

»Seit wann?«

»Seit fünfundzwanzig Jahren, Signora. Wir feiern in diesem Jahr Silberhochzeit.« In seiner Stimme lag Stolz.

»Wie schön!«, gab Silvia voller Sarkasmus zurück. »Und haben Sie Ihre Frau jemals betrogen?«

»Silvia, ich bitte dich …«

Der Kellner riss entgeistert die Augen auf, dann blickte er Hilfe suchend zu Fabio, dann zu Silvia, dann wieder zu Fabio. Wie sollte er heil aus dieser Situation herauskommen?

»Nein, Signora. Nie«, antwortete er mit einer Inbrunst, die Silvia zusammenzucken ließ.

»Danke«, sagte sie. »Vielen Dank.« Dann fragte sie seufzend: »Haben Sie Profiteroles?« Es klang wie eine Entschuldigung.

»Selbstverständlich, Signora, hausgemacht von unserem Patissier«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen, sichtlich erleichtert, das Minenfeld verlassen und auf sicheres Terrain zurückkehren zu können.

»Und für Sie?«, fragte er Fabio kühl, fast ein wenig feindselig.

Fabio verstand, dass der Kellner ihn noch immer für den betrügerischen Ehemann hielt. Er dachte an seinen erhöhten Blutzuckerspiegel, aber vor allem an seinen Freund Claudio, der eine Vinothek in Prati besaß und ihm einmal erzählt hatte, dass seine Kellner unangenehmen und unhöflichen Gästen manchmal heimlich in die Teller und Gläser spuckten.

»Für mich nichts, danke«, sagte er knapp.

Der Kellner verbeugte sich und verschwand.

Die Melodie der »Cavalleria rusticana« ertönte. Silvia wühlte in ihrer Handtasche. Sie zog ein Päckchen Taschentücher, Schlüssel und einen Parfümflakon heraus. Dann das Handy.

»Er«, zischte sie und schaute fragend zu Fabio hinüber. Die Musik wurde lauter, die Gäste am Nachbartisch drehten sich um.

»Mach keinen Fehler«, warnte Fabio.

Sie drückte eine Taste, und die Melodie verstummte.

5

Der Abgeordnete Nicola de Nicola ließ das Handy auf das Doppelbett fallen, neben die drei anderen Mobiltelefone, die dort lagen, und wartete darauf, dass der Höllenlärm des startenden Airbus 320 endlich verebbte. Da die Suite im Luna nicht mehr frei gewesen war, hatte die Organisation ihm ein anderes Hotel in Olbia gebucht, das verkehrsgünstig in der Nähe des Flughafens lag. Ganz hübsch, bequem, sauber, aber zu nahe an der Startbahn. Zur Eröffnung des neuen Therapiezentrums für Schwerstbehinderte hatte er es nicht mehr geschafft, aber er war noch wie geplant rechtzeitig zum Empfang und zum Büfett gekommen, das neben dem Sportschwimmbecken aufgebaut worden war. Erst die Preisverleihung für die siegreiche Schwimmmannschaft, dann eine Präsentation auf der 50-Meter-Bahn. Man gratulierte ihm zur Kandidatur für die Regionalwahlen, selbst der Abgeordnete Fracarru von der Opposition. Und alle hatten ihn natürlich gefragt, was mit seiner Stirn passiert sei. Eine Glastür, hatte er geantwortet. Das hatte er auch dem Arzt am Flughafen gesagt, der ihn mit drei Klammerpflastern verarztet, aber nicht genäht hatte. »In zwei Monaten ist nichts mehr davon zu sehen«, hatte er ihm versichert. Gerade rechtzeitig für die wichtigen Fernsehtalkrunden im Herbst. Trotz der Schmerzen hatte er die Rede halten können, die ihm sein Assistent Borgonovo geschrieben hatte. Er sprach gern in der Öffentlichkeit, er hatte Spaß daran, die Worte zu zelebrieren und die Tonlage zu variieren, bei ernsten Passagen getragen, bei heiteren locker und gelassen. Durch die vielen Plädoyers vor Gericht hatte er ausreichend Erfahrung sammeln können. Doch obwohl alles wie am Schnürchen lief, war er verunsichert: Warum meldete sich Silvia nicht? Gerade jetzt, wo er wirklich in Sardinien war und ihr etwas vorschwärmen konnte, was auch den Tatsachen entsprach. Zum Glück war der australische Tourist nicht gestorben, er lag im künstlichen Koma im Krankenhaus Umberto I. in Rom, die Ärzte waren optimistisch. Federico Maini, sein Fahrer und Vertrauter, hatte ihn angerufen und ihm außerdem noch versichert, dass niemand seine Anwesenheit im Wagen bemerkt hatte. Nicola schaute auf die Uhr, fast Mitternacht. Nachdem ein bemühter Pianist, ein halbseitig gelähmter Patient aus dem Zentrum, das Nocturne in c-Moll, Opus 48 von Chopin gespielt hatte, war sein Wunsch, Carla anzurufen, geradezu übermächtig geworden. Auch sie spielte Klavier und hatte ihm dieses Stück vorgespielt, am vergangenen Wochenende, das sie gemeinsam in Neapel verbracht hatten. Sie war von einer Tagung zur Rettung Pompejis gekommen, und er hatte die langweilige Präsentation eines Buches über die kampanische Grabungsstätte über sich ergehen lassen müssen, das der Parteivorsitzende geschrieben hatte. Sie hatten sich die ganze Nacht geliebt. Allein die Erinnerung daran jagte ihm Schauer über den Rücken. Aber jetzt war es zu spät, um sie anzurufen, daran hätte er früher denken müssen.

6

Domenico Ramino war erschöpft und frustriert. Nach diesem stressigen Tag musste noch die bürokratische Routinearbeit erledigt werden. Ein tragischer Arbeitsunfall am Corso Vittorio Emanuele II. Nummer 207, es gab Zeugen zu befragen, Neugierige abzuweisen und Auskünfte zu geben. Als Erstes erschienen die Verwandten und Freunde des Opfers, sichtlich erschüttert, dann der Hausverwalter, der nervös und verärgert darüber war, dass er aus dem Urlaub geholt worden war, nur wegen dieses mysteriösen Unfalls. Und dann noch die Methangasspuren, die die Feuerwehr im Haus entdeckt hatte! Ein weiteres Rätsel. Zu allem Überfluss musste er sich noch mit den Journalisten herumschlagen, die das Präsidium belagerten, Praktikanten, die nach Neuigkeiten gierten und auch bereit waren, ein paar Worte frei zu erfinden, in einer Zeit, in der es nicht viel zu berichten gab. Am frühen Nachmittag hatte sich die Nachricht verbreitet, dass die E. R. T. eingeschaltet worden war, spöttisch »Ghostbuster« genannt, eine Spezialeinheit der Spurensicherung. Ein einziges Durcheinander. Zu den Journalisten hatte sich eine Horde von Fotografen gesellt, die sich bis zum Tatort durchgekämpft hatten, trotz des heroischen Widerstandes der Polizisten vor Ort und von Francis Mogana, der sich ihnen mutig zur Seite gestellt hatte.

Aber es gab auch erste Erkenntnisse. Und wenn es doch kein Unfall gewesen war? Wie ein Spürhund hatte Ramino es schon den ganzen Morgen im Blut gehabt, dass sich hier Großes anbahnte, hatte zunächst aber darauf verzichtet, die Kriminaltechnik hinzuzuziehen. In weiser Voraussicht hatte er der Staatsanwältin und dem Pathologen Druck gemacht und bis zu ihrer Ankunft alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Um den Fundort der Leiche zu sichern, hatte er zwei Polizisten als Wachen postiert, einen am Haupteingang, und einen vor der Tür des ehemaligen Kohlenkellers. Er hatte einen weißen Overall mit Kapuze übergezogen, seine Hände steckten in Latexhandschuhen, die Schuhe in Überschuhen, über Mund und Nase trug er eine Schutzmaske. Mutterseelenallein hatte er sich an den Rand des Brunnens gesetzt um Carla Caggianis Leichnam zu bewachen und mit einer langen Stange, die ihm der Pförtner gegeben hatte, die Mäuse daran zu hindern, den toten Körper weiter zu verunstalten. Er betrachtete das einstmals ebenmäßige Gesicht des Opfers und dachte nach. Stück für Stück entfernte er sich von der Annahme, dass es sich hier um einen Arbeitsunfall handelte, immer mehr deutete auf ein Verbrechen hin. Dieser modrig-düstere Keller bot den idealen Schauplatz, er war fast ein Hochsicherheitstrakt. Die Denkmalverwaltung hatte eine Alarmanlage installiert, die Türen waren verstärkt, es gab Überwachungskameras, Infrarotgeräte und weitere Sicherungssysteme, dazu eine hochsensible Lüftungsanlage, die jedes schädliche Gas sofort ableitete, und Hochleistungsscheinwerfer, in deren Licht sogar Ameisen auf zehn Meter Entfernung zu erkennen waren. Aber selbst mit noch so ausgefeilter Technik ließen sich Überraschungen nicht ausschließen. Wenn zum Beispiel plötzlich der Strom ausgefallen war? Auch menschliches Versagen konnte man nie ausschließen. In Raminos Kopf überschlugen sich die Gedanken. Vielleicht waren es doch unglückliche Umstände gewesen, die zu diesem Verhängnis geführt hatten? Er hatte sich weitere Notizen gemacht, sein Büchlein hatte er immer dabei, zusammen mit seinem Handy. Er hatte notiert: Wann genau sind die Überwachungskameras ausgefallen? Wann genau war der Kurzschluss? Besteht ein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang? Technisches Problem? Unwahrscheinlich. Kauf der Torte überprüfen. Rosen im Mülleimer – Streit? iPad? Wo gekauft? Höhlenforscherhelm – auch nach Sturz noch funktionsfähig? Grund für den Sturz? Gab es eine Auseinandersetzung? Wo ist das Handy des Opfers? Videoaufzeichnungen der Überwachungskameras. Liste der Hausbewohner, Büros, etc. Und an den Rand, weiter unten: Zahnarzttermin wegen Schneidezahn.

Dann hatte er Stimmen gehört. Erst aus der Ferne, eine klang verzweifelt, eine andere beruhigend, wahrscheinlich seine Kollegen. Als sie näher kamen, konnte er »Carla, Carla!« und »Bleiben Sie stehen, hier können Sie nicht durch, Vorsicht!« unterscheiden.

Der Vizeinspektor hatte nach oben gesehen. Neben den beiden Polizisten war ein hochgewachsener junger Mann aufgetaucht, der sich wild gestikulierend über die Treppe nach vorne beugte und sich von den Händen zu befreien versuchte, die ihn zurückreißen wollten. So ein Mist! Sie würden jede Menge Fingerabdrücke hinterlassen, was die Ermittlungsarbeit zusätzlich erschweren würde.

»Schluss damit!«, hatte Ramino gebrüllt, so laut, dass alle erstarrten. Es wurde schlagartig still. Dottoressa Melodia, der anderen Archäologin, war es schließlich gelungen, den aufgeregten Mann zu beruhigen. Jetzt war es vorbei mit der Ruhe. Nun würde der schwierige Teil des Tages beginnen, die Information der Angehörigen und Freunde, Trauer, Schmerz und Leid. Und Raminos Aufgabe war es, das alles schwarz auf weiß in seinem Protokoll festzuhalten.

Dottoressa Melodia hatte Marcello Russo verständigt, den Ehemann der Toten, der jetzt völlig aufgelöst in ihren Armen lag und wie ein Kind schluchzte. Ramino hatte beschlossen, mit der Befragung noch zu warten, in diesem Zustand würde er ihm nicht einmal seine Adresse nennen können. Aber er musterte ihn genau. Und hatte den Eindruck, ihm schon einmal begegnet zu sein. Aber das war sicher nicht der richtige Moment, danach zu fragen. Er stellte sich vor und drückte sein Beileid aus. Russo hörte auf zu weinen und schaute ihn ausdruckslos an. Sein Bart war ungepflegt, die Haare klatschnass, das hellblaue Hemd hatte sich durch den Schweiß dunkel gefärbt und klebte auf seinem muskulösen Körper. Ja, irgendwoher kannte er ihn. »Beruhigen Sie sich doch, bitte beruhigen Sie sich.«

»Kann ich sie sehen? Kann ich Carla sehen?«, fragte Russo, setzte die runde Brille ab und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab.

»Nein, tut mir leid, wir müssen auf den Pathologen und den Staatsanwalt warten«, antwortete der Vizeinspektor mit aufrichtigem Bedauern.

Gegen eins, nach geschlagenen vier Stunden, war Staatsanwältin Lucia Campazzo aufgetaucht, die sich erst noch mit einer Massenkarambolage mit sieben Toten auf dem Zubringer zur Autobahn Fiano-San Cesareo hatte auseinandersetzen müssen. Den Pathologen, Aldo Sanremo, brachte sie gleich mit. Ramino hatte die beiden sofort über seine Zweifel informiert, dann hatte der Arzt den Overall übergestreift, seine Tasche genommen und war in den Brunnen hinabgestiegen. Dottoressa Campazzo war etwa Mitte dreißig und noch nicht lange dabei. Auf ihrer Bluse waren Schweißflecken, kein Wunder bei dem Stress. Bei der Frage, ob sie die Spezialeinheit der Spurensicherung einschalten sollten oder nicht, hatte sie sich auf Raminos Gespür verlassen. Sie hatten hin und her überlegt, konnten sich nicht entscheiden. Verständlicherweise. Es war Mitte August, Urlaubszeit und die Personaldecke dünn.

Nach etwa einer halben Stunde war Aldo Sanremos Kopf wieder am Brunnenrand aufgetaucht. »Das ist natürlich nur ein erster Eindruck«, sagte er mit neutraler Stimme, »aber der Körper weist keinerlei Brüche oder sonstige Verletzungen auf, die auf einen Sturz hinweisen.«

Der Vizeinspektor und die Staatsanwältin hatten sich angesehen, und eine Stunde später waren die drei diensthabenden Ghostbuster der Kriminaldirektion Tuscolana vor Ort gewesen: Bertozzelli, Gualtieri und Santolamazza, ein Biologe, ein Experte der Gerichtsmedizin und ein Spezialist für Tatortanalyse. Und in diesem Keller, in dem man Tag und Nacht nur anhand einer Armbanduhr mit fluoreszierenden Zeigern unterscheiden konnte, wie auf einem U-Boot beim Tauchgang, begriff Ramino, dass die bevorstehende Nacht noch härter werden würde als der Tag, der hinter ihm lag.

Dann fiel ihm ein, woher er Marcello Russo kannte: Im Fernsehen gab es eine Serie, »Mysteriöse Kriminalfälle« oder so ähnlich, von der seine Frau Roberta regelrecht besessen war. Russo spielte darin einen Polizisten der Kriminalpolizei. Ja, er würde ihn sogar um ein Autogramm bitten, allerdings nur außerhalb des Protokolls. Er zog sein Notizbüchlein aus der Tasche und schrieb: Marcello Russo anrufen. Dringend.

7

Das Taxi rumpelte über das Kopfsteinpflaster. Silvia hatte den Kopf auf Fabios Schulter gelegt, und er legte den Arm um sie, damit sie nicht bei jedem Schlagloch nach vorne kippte. Bis zum Pontifikat von Papst Pius XI. war immer wieder die Idee aufgekommen, die römischen Kopfsteinpflasterstraßen zu asphaltieren, aber jedes Mal, wenn das auf der Tagesordnung des Stadtparlamentes stand, ging etwas schief. Zufall oder Fügung des Schicksals? Jedenfalls kam das Gerücht auf, dass das Asphaltieren Unglück bringen würde, und deshalb gab es das Kopfsteinpflaster bis heute, eine Konstante wie die heilige römische Kirche und eine ständige Prüfung für Karosserie, Reifen und Stoßdämpfer.

»Stopp! Halten Sie an!« Silvia war wieder aufgewacht und schon dabei, die Tür zu öffnen. Der Taxifahrer war solche Überraschungen gewöhnt, bremste scharf und blieb mitten auf der Via del Babuino, auf Höhe der Brunnenstatue, stehen. Silvia riss die Tür auf, beugte sich nach draußen und übergab sich, hustete, keuchte, ihr schweißnasser Körper zitterte. Mit schwacher Stimme stammelte sie: »Es tut mir wirklich sehr leid.« Dann wollte sie aussteigen. Fabio zahlte, gab ein üppiges Trinkgeld, der Taxifahrer murmelte »Danke, Dottore« und fuhr mit quietschenden Reifen davon.

In der Ferne waren die Spritzgeräusche eines Straßenreinigungsfahrzeugs zu hören, das langsam über die menschenleere Piazza del Popolo fuhr, das Ristorante Rosati und auch das Canova hatten bereits die Rollläden heruntergelassen. Selbst die vier Fontänen des Brunnens in der Mitte des Platzes waren stumm, er wurde gerade restauriert. Nur das Klackern von Silvias hohen Absätzen war zu hören.

»Ich wohne in der Nähe. Zwanzig Minuten, wenn ich schnell gehe«, sagte sie mit neuem Mut. »Mach dir keine Sorgen, das schaffe ich schon.« Dann hakte sie Fabio unter und zog ihn zu sich heran.

Er suchte nach den richtigen Worten, er wollte weder anbiedernd noch aufdringlich klingen. Er genoss einige Schritte lang die Nähe ihres weichen Körpers, dann sagte er: »Ein kleiner Spaziergang wird mir guttun.« Das war die unverfänglichste, aber auch die aufrichtigste Antwort.

»Und ich gehe gern ein Stück mit dir.«

Er schaute sie zweifelnd an. Meinte sie das ernst?

»Wenn ich nur nicht so reich wäre, dann könnte ich ihn so richtig bluten lassen, aber leider habe ich mehr Geld als er.« Der Verdacht, dass Nicola eine Geliebte haben könnte, hatte schon seit über einem Jahr erstickend auf ihr gelastet, aber jetzt hatte sie Gewissheit.

Rachegelüste stiegen in ihr auf. Die Laternen an der Muro Torto leuchteten in mattem Gelb, die Straße war menschenleer, wie es eigentlich nur Mitte August und um zwei Uhr morgens denkbar war. Fabio sah, wie sich das Licht in Silvias Augen spiegelte, und hatte plötzlich Lust, etwas ganz Verrücktes zu tun. Wenn er allein gewesen wäre, hätte er sich vielleicht mitten auf die Straße gelegt und mit den Beinen gestrampelt. Oder sich einen Platz unter den mächtigen Bäumen der Villa Borghese gesucht, unter den Obdachlosen, die sich dort auf Pappkartons zwischen Flaschen und Fastfoodverpackungen häuslich niedergelassen hatten.

Rache. Was Fabio von Anfang an befürchtet hatte, war eingetreten. Silvia wollte Rache. Obwohl er ihr erklärt hatte, dass die Fotos, das Video und die Tonaufnahme nur für die Auftraggeberin Beweiskraft hatten, also für sie und ihr Gewissen. Entsprechend ihrer Abmachung würde er ihr das Material überlassen, einen lückenlosen Bericht über das schreiben, was er entdeckt hatte, und auch als Zeuge zur Verfügung stehen. Aber als Erfüllungsgehilfe ihres persönlichen Rachefeldzugs gegen ihren Ehemann oder gar für die Vernichtung seiner Existenz, war er nicht zu haben. Denn eine offene Konfrontation mit Nicola de Nicola, der im Übrigen parlamentarische Immunität genoss, war höchst riskant. Er hatte ihr eindringlich den dritten, vierten und fünften Absatz des Artikels 610 des Strafgesetzbuchs erläutert sowie auf die damit verbundenen Folgen hingewiesen: von einem bis zu fünf Jahren Haft, oder aber hohe Geldstrafen. Er setzte einiges aufs Spiel: Die Aussetzung oder gar den Entzug seiner Detektivlizenz durch den Präfekten, verbunden mit allen Folgen, die das nach sich ziehen würde. Es wäre sein Ruin, beruflich und finanziell.

»Mach dir keine Sorgen, du kannst ganz beruhigt sein«, hatte Silvia ihm versichert. Aber nach allem, was passiert war, war er ganz und gar nicht beruhigt. Sie schlenderten durch die Via Flaminia, und auf Höhe des Viale delle Belle Arti fiel Silvia ein, dass sie ihr Handy noch immer ausgeschaltet hatte.

»Er wird sich Sorgen machen«, sagte sie und schaltete es wieder an. Kurze Zeit später zeigten Piepgeräusche die verpassten Anrufe an, drei des untreuen Ehemanns, einer von Silvias Mutter aus der Villa in Terminillo, einer von der rumänischen Hausangestellten in Argentario. Nach einer Weile ertönte die Melodie der »Cavalleria Rusticana«. Silvia zögerte keinen Augenblick. Fabio ließ sich diskret ein paar Schritte zurückfallen. Aber sie stellte den Anruf auf Lautsprecher, damit er und ein eventuelles Publikum mithören konnten.

»Ciao«, sagte sie eisig.

»Verdammt, ich versuche dich schon den ganzen Tag lang zu erreichen«, dröhnte Nicolas verzerrte Stimme aus dem Telefon.

Silvia reagierte nicht und setzte sich auf die zweite Stufe der Freitreppe der Chiesa di Sant’Eugenio. Fabio fragte sich, warum er unbedingt Zeuge eines so intimen Gespräches sein sollte. Das konnte nur eines heißen: Die Ehe war am Ende.

»Silvia, bist du noch dran?«

»Weißt du, wo ich gerade sitze?«

Nicola schwieg einen Moment, dann erwiderte er: »Das ist mir egal! Du hast mir eine Heidenangst eingejagt!«

Nach kurzem Zögern sagte sie: »Vor der Chiesa di Sant’Eugenio.«

Pause.

»Bist du verrückt geworden? Es ist drei Uhr morgens!«

»Weißt du noch, wie du vor drei Jahren hier im Wahlkampf auf Knien um die Unterstützung des Opus Dei gefleht hast?«

Eine längere Pause, Nicola hustete, dann räusperte er sich.

»Silvia, was ist los? Geht’s dir gut?«

»Hier haben wir unseren Sohn taufen lassen.«

Ihre Augen glänzten feucht. Wie gerne hätte Fabio sie in den Arm genommen und getröstet.

»Silvia, meine Liebe, was ist passiert?«

»Nenn mich nicht meine Liebe, du Schwein!«

Eine noch längere Pause.

»Warum sprichst du so mit mir? Was habe ich denn getan, kannst du mir das bitte mal erklären?« Er wurde allmählich wütend.

Silva legte das Handy auf die Treppe und putzte sich die Nase.

»Silvia, antworte bitte, Silvia!«

Verächtlich musterte sie das Telefon, dann fragte sie eisig: »Hast du sie mit nach Sardinien genommen?«

Tiefes Schweigen, dann erwiderte er mit gedämpfter Stimme: »Sie? Was willst du damit sagen?«

Ein Reinigungswagen fuhr langsam die Straßenbahnschienen entlang.

»Ich weiß Bescheid.«

»In ein paar Stunden bin ich wieder in Rom, dann klären wir das.«

»Ich werde nicht mehr da sein.«

»Silvia …«

Sie holte tief Luft.

»Du verlogenes Stück Scheiße mit deiner Archäologenschlampe!«

Sie brüllte so laut, dass der Fahrer des Reinigungswagens jedes Wort hörte, bremste und sich zu ihnen umdrehte.

»Jetzt hört mal auf zu streiten«, sagte er freundlich und lächelte wissend. Fabio spürte den Drang, das Ganze zu erklären und sich zu rechtfertigen. Aber der Fahrer hatte schon wieder Gas gegeben und spritzte weiter Wasser auf die Schienen.

8

Inzwischen gab es keinen Zweifel mehr: Carla Caggiani war ermordet worden, genauer gesagt, erstickt. Und der von Dottor Sanremo und seinem Kollegen Gualtieri festgestellte Todeszeitpunkt passte genau zu der Vermutung des Notarztes: zwischen 7.00 und 8.00 Uhr am Morgen des 13. August, einem Samstag. Ramino hatte sofort an die 48-Stunden-Regel denken müssen. Die warme tiefe Stimme von Commissario Luciano Randone, seinem ersten Chef bei der Mordkommission, hatte er immer noch im Ohr: »Ein Mord aus Leidenschaft muss innerhalb von 48 Stunden aufgeklärt sein, sonst wird das Rätsel nie gelöst.« Das waren seine Worte gewesen, dann hatte er bedächtig an seiner Zigarre gezogen und den Innenhof von San Vitale eingenebelt. Und die Erfahrung gab ihm recht. Aber in Rom, an Ferragosto, würden die 48 Stunden kaum einzuhalten sein. Denn je weiter die Untersuchung des Leichnams und des Tatorts voranschritt, desto klarer wurde, dass es sich um eine »graue Bestie« handelte, wie Randone Verbrechen aus Leidenschaft oder Beziehungstaten genannt hatte. Nach einer ersten Rekonstruktion des Tathergangs hatte der Täter das Opfer zunächst bewegungsunfähig gemacht, ihm dann Nase und Mund zugedrückt, was schließlich zum Tod durch Ersticken geführt hatte. Die Anzeichen dafür waren im Gesicht der jungen Frau deutlich zu erkennen, trotz der Bisswunden durch die hungrigen Mäuse: fleckenartige Einblutungen und Zyanosen rund um die Augen, Kratzspuren von Fingernägeln auf den Wangen, ein Bluterguss auf der Nase, möglicherweise ein Nasenbeinbruch, Einrisse in den Lippen außen und innen, Verletzungen des Zahnfleischs, ein Schneidezahn fehlte. Hatten sie es etwa mit einem Ritualmord zu tun? Nach der Tat hatte der Mörder die Tote sorgfältig im Brunnen abgelegt, womöglich mithilfe des handbetriebenen Lastenaufzugs, der für den Materialtransport benutzt wurde. Oder er hatte sie sich über die Schulter gelegt und getragen. Aber da war noch etwas. Bereits vor der Obduktion hatten die beiden Ärzte mithilfe einer Computertomografie Scheidenflüssigkeit in der Unterhose des Opfers gefunden, ein mögliches Indiz auf Geschlechtsverkehr unmittelbar vor der Tat. Der Leichnam war routinemäßig fotografiert, vermessen und äußerlich untersucht worden, ebenso wie die Kleidung, die das Opfer getragen hatte. Das ganze Programm. Auch eine vaginale und rektale Untersuchung gehörte dazu. Damit keine später vielleicht doch noch verwertbaren Spuren verloren gingen, waren Hände, Füße und Kopf mit sterilen Beuteln versiegelt worden. Gegen zwei Uhr morgens hatte die Staatsanwältin die Leiche für den Transport freigegeben.

Danach waren die Spezialisten noch einmal in Aktion getreten. Sie steckten noch immer in ihren weißen Plastikoveralls, und die Luft rund um den Ort des Geschehens war von Schweißgeruch erfüllt. Unterstützt von Ramino, hielten Bertozelli und Santolamazza schriftlich jedes Detail fest, wie es das Protokoll verlangte. Sie hatten mit den Rosen, der Torte und den auf dem Arbeitstisch und im Mülleimer gefundenen Gegenständen begonnen. Akribisch nummerierten sie alles und notierten die detaillierten Beschreibungen auf Karteikarten. Trotz intensiver Suche war das Handy des Opfers noch nicht gefunden worden. Eines stand fest: Gestohlen worden war nichts. Keine antiken Fundstücke, nichts, was der ermordeten Archäologin gehört hatte, wie ihre Rolex oder das noch verpackte iPad. Die Stunden zogen sich dahin und der Vizeinspektor hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Zum Glück tauchte im Morgengrauen der Angestellte einer Bank im Nachbargebäude des Corso Vittorio Emanuele II. 207 auf, stinksauer, dass er seinen Urlaub unterbrechen musste. Zusammen mit dem Techniker einer Sicherheitsfirma, auch er nicht gerade erfreut. Sie hatten die Außenaufnahmen der Videoüberwachung der näheren Umgebung dabei. Kaum hatte der Bankangestellte die Festplatte mit den Aufzeichnungen mit einem lässigen: »Ich will los, wem soll ich das geben?« verkündet, dass er nicht vorhatte, sich länger als nötig am Tatort aufzuhalten, entbrannte ein Streit darüber, wem die Aufnahmen zustanden. Der Mordkommission oder der Spurensicherung? Ramino oder Bertozzelli?

»Nehmen Sie das Beweisstück, Ispettor Ramino«, hatte die Staatsanwältin entschieden und das »Vize« wohlweislich unterschlagen, um nicht noch Hierarchieprobleme heraufzubeschwören. Ramino wollte Konflikte vermeiden und sagte: »Ich mach dir eine Kopie und schick sie dir heute noch.« Er wusste ganz genau, dass Bertozzelli sauer war. Denn sie waren sich ähnlich: Sie wollten Fakten, die noch »warm« waren, Beweisstücke, die nach Blut und Tod rochen, dicke Wintermäntel, Zigarettenkippen, Kaffeeflecken. Ihre Stärke war die Intuition, ohne allerdings die technischen Hilfsmittel und die Wissenschaft zu vernachlässigen, wie Latexhandschuhe und Spezialoveralls, DNA-Profile, genetische Fingerabdrücke, Internetrecherchen und Laborauswertungen durch Chemiker und Biologen.

9

Fast alles, was in Rom gerade und rechtwinklig war, stammte von den Piemontesern. Vor Pius IX. war alles anders gewesen, verschnörkelt, schief und krumm. Doch das Militär braucht gerade Wege und klare Strukturen. In dieser Stadt mischte sich alles auf engstem Raum: das antike Rom, das Rom Mussolinis mit Foro Italico und EUR und das moderne Rom.

Daran dachte Fabio frühmorgens um halb fünf, als er auf der Ponte Regina Margherita stand, von der aus man in der Ferne die Lichter der Piazza Risorgimento und die imposante Silhouette des Vatikan erkennen konnte. Dieses Ensemble aus Militäranlagen und Profanbauten war mit Zirkel und Lineal geplant, hatte aber trotz aller Nüchternheit einen gewissen Charme, der womöglich auch den Piemontesern eigen war. Die Straßen trugen die Namen derer, die Rom wirklich zu dem gemacht hatten, was es war: Julius Cäsar, Octavian, Vespasian, Pompeius Magnus, Scipio und Tiberius Gracchus, ein Name auf den Fabio Gracco zu Recht besonders stolz war. Dazu Tacitus, Cicero, Horaz, Ovid, Plinius, Lucrezius und Quintus Fabius Maximus. Das Stadtviertel Prati war schachbrettartig angelegt worden, früher waren dort »Prati« gewesen, fruchtbare Wiesen. Und an einer dieser Ecken, zwischen der Via Fabio Massimo und der Via Cola di Rienzo, in einem stattlichen Palazzo in Pompejanischrot, befand sich der Sitz der Detektei Gracco, eines der ältesten privaten Ermittlungsbüros von Rom.

Er war von der Via Giuseppe de Notaris bis nach Parioli gegangen und hatte dabei davon geträumt, endlich die Bettcouch ausziehen zu können, die er im Büro nutzte, wenn er noch spät arbeiten musste. Was oft geschah. Es war bequem, im Büro zu schlafen. Zum ersten Mal hatte er diese Vorzüge entdeckt, als seine erste und einzige Ehe in die Brüche ging, und dann erst kürzlich wieder, als seine Beziehung zu Valeria schon nicht mehr zu retten war. Warum zu Fuß den langen Weg von West nach Ost machen, bis zu seiner Wohnung in der Via Muzio Scevola, das wäre nun wirklich des Guten zu viel gewesen. Fast ein Gewaltmarsch, wenn man bedachte, dass er einen Abendanzug trug. Außerdem wollte er sich nicht nur ausruhen, sondern auch das Material zum Fall Sivieri im Safe verstauen. Genau wie Silvias Scheck über 6000 Euro.

Er war schnell gegangen und endlich am Ziel. Im Innenhof des Palazzo war es kühl wie immer, aber um diese Uhrzeit fiel das nicht so auf. Die Sache tat ihm leid für Silvia. Ihr stand ein schwieriger Tag bevor. Wenn man auf den Fortbestand ihrer Ehe Wetten abschließen würde, wäre die Quote sicher eins zu zehn, vielleicht sogar eins zu fünfzehn. Fabio ignorierte den altmodischen Aufzug aus Eisen, Holz, Glas, Messing und dem Duft nach Vergangenheit, und nahm die zwei Treppen bis zum Büro. Er schaltete die Alarmanlage aus und betrat sein Reich. Es roch nach Tapete, Leim und Farbe, Zeichen der üblichen Sommerrenovierung, die Luft war warm und stickig, Stille umfing ihn. Ferragosto. Bis zum Ferienende am 26. August waren alle im Urlaub. Nur Dario Arese, die treue Seele, hielt die Stellung. Und er selbst natürlich. Im matten Licht der Straßenbeleuchtung, das durch die Fenster in den Flur drang, tastete sich Fabio bis zur ersten Tür links ins Bad. Nach dem Pinkeln ging er ins Nebenzimmer. Dort war es noch wärmer. Er griff nach der Fernbedienung und fuhr die Klimaanlage hoch. Dann verwandelte er die Couch in ein bequemes Bett, was ihn allerdings einige Mühe kostete. Endlich. Er zog die Schuhe aus und kickte sie weg, dann das Jackett, das Hemd und die Hosen. Danach schaltete er das rote Standby-Lämpchen am Fernseher aus, das er so hasste. Jetzt war alles schwarz, auch der Bildschirm. Er dehnte und streckte Arme und Beine, hörte aber auf, als er einen Krampf in der linken Wade bekam. Eigentlich hätte er noch duschen und die Zähne putzen sollen, aber er ließ sich aufs Bett fallen wie ein Stein. Übergangslos sank er in einen bleiernen Schlaf.

10

Der Airbus-A320 bohrte sich wie ein Pfeil durch die Troposphäre, und der Abgeordnete Nicola de Nicola erkannte zwischen den Mistral- und Kerosinwolken Torre Astura und die Landzunge von Anzio. Da es infolge der Sparmaßnahmen an Bord nicht einmal mehr Zeitungen gab, musste man aus dem Fenster schauen, um sich abzulenken. Er hatte nicht geschlafen. Hatte er vielleicht die sardische Suppe mit Schweinefleisch und Kichererbsen nicht vertragen? Sie lag ihm wie Blei im Magen. Zum Glück war Sonntag, und das Parlament hatte noch bis zum 2. September Ferien. Erst am 29. August stand sein nächster Termin an, ein informelles Treffen der Partei, um die Kandidaten für die parlamentarische Kontrollkommission der RAI zu bestimmen. Er würde die freien Tage nutzen, um die Sache mit Silvia in Ordnung zu bringen. Ihre emotionale, ja fast hysterische Reaktion hatte ihn überrascht und beunruhigt. Was wusste sie? Was konnte sie überhaupt wissen? Er und Carla waren äußerst diskret gewesen, hatten Anrufe und SMS immer sofort gelöscht, außerdem hatte er ein Smartphone, das nur per Stimmerkennung zu entsperren war. Selbst in Gegenwart von Federico Maini, seinem Fahrer und engsten Vertrauten, hatte er stets äußerste Diskretion walten lassen. Niemals waren sie gemeinsam im Dienstwagen unterwegs gewesen, auch das Autotelefon hatte er nur im Notfall benutzt. Es musste eine undichte Stelle geben. Aber wer? Außerdem wusste damit nicht nur Silvia Bescheid, sondern auch jemand anderer, nämlich ihr Informant. Oder war es eine Frau? Und das könnte gefährlich werden.

Der Airbus befand sich im Sinkflug über dem Porto di Roma, doch Nicola konnte seine neue Jacht unter all den Schiffen nicht ausmachen. Dann überflog der Jet einen stillgelegten Kanal, ein Sumpfgebiet und die flaggengeschmückte Autobahn, setzte auf und schaukelte ein bisschen, bis er schließlich punktgenau zum Stehen kam.

Da er nur Handgepäck hatte, war die Chance groß, als einer der Ersten ein Taxi zu ergattern. Vor ihm lag ein turbulenter Tag. Um keine Zeit zu verlieren, verzichtete er auf die gewohnten Tageszeitungen, obwohl er natürlich gespannt war, wie über den Unfall auf der Piazza Barberini berichtet wurde. Aber er musste sich sputen, denn er wusste, dass er nicht der einzige Fluggast aus Olbia war, der dringend ein Taxi brauchte. Er ging schneller und schlängelte sich fast im Laufschritt im Zickzack durch die Menschenmenge. Dann stand er vor dem Terminal 3. Es waren noch genügend Taxis da, und er war der Erste, der eines bekommen würde.

Gerade als er in ein Taxi eingestiegen war, klingelte sein Telefon: der Parteivorsitzende.

»Nicola, was machst du denn für Geschichten? Silvia hat gerade angerufen, sie war völlig aufgelöst. Du würdest sie betrügen. Ist da was dran?«, fragte er ohne Umschweife.

»Was hat Silvia gemacht?«, fragte er zurück und wusste im gleichen Moment, dass genau das eingetreten war, was nicht hätte eintreten dürfen. Er schickte ein fadenscheiniges Lachen hinterher, stieg wieder aus dem Taxi aus und versteckte sich hinter einer Betonsäule, als wäre ein Auftragskiller hinter ihm her. Dieses Gespräch sollte niemand mithören können.

»Meine Güte, Silvia war von Anfang an eifersüchtig, sie sieht immer und überall Rivalinnen«, fuhr er betont gelassen fort. »Da ist nichts, das versichere ich dir.« Er unterstrich seine Aussage mit einer ausholenden Armbewegung, obwohl ihn sein Gesprächspartner ja gar nicht sehen konnte. »Absolut nichts, wirklich nicht, das kann ich beschwören.« So ging es ein paar Minuten hin und her. Eher ein Geplänkel unter Freunden als Vorhaltungen eines politischen Ziehvaters an seinen Nachfolger, den künftigen Präsidenten der Region Lazio. Ein Glück, dachte Nicola, während er weiter log, dass er bei der Buchpräsentation in Neapel nicht mit Carla aufgetaucht war.