1,59 €
Heulend kam der Föhn die Brennerstraße hinuntergefahren, wirbelte den weißen Kalkstaub vom Prämonstratenserkloster bis zum Erker mit den vergoldeten Dachziegeln auf und zwang Peter Storck zweimal, zur Freude der Gassenjungen seinem raugebürsteten Kastorhut nachzulaufen. Ungeheuerlich, atemraubend, mit finstergrünen Wäldern, steilen Almwiesen und grauem Fels reckte sich die Nordwand auf. An den Brückenjochen vorüber schossen gurgelnd und brausend die Wasser des Inn.
Verdrießliche Menschen sahen dem jungen Mann nach, der in seinem vielkragigen leberfarbenen Mantel und den gelb ausgeschlagenen Stulpenstiefeln, mit blendend weißem Halstuch und modisch geschweiftem Zylinder einen ungewohnten Anblick bot. Es war Markt unter den offenen Bogen der Lauben, aber es wurde wenig umgesetzt. Die Butterhändler aus dem Duxer Tal, die Käseverkäufer, Melber, Metzger und Selcher hatten sich auf die teure Zeit eingestellt und verlangten viel. Und wenig Geld war im Land. Da mussten noch solche Menschen wie dieser Fremde zureisen und die Preise hinauftreiben!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2023
Roman aus der Zeitder Tiroler Freiheitskämpfe von 1809
1923
© 2023 Librorium Editions
ISBN : 9782383837480
Die Feuerbutze
Zu diesem Buch
Spät erklingt, was früh erklang. Glück und Unglück wird Gesang.(Alter Spruch)
Heulend kam der Föhn die Brennerstraße hinuntergefahren, wirbelte den weißen Kalkstaub vom Prämonstratenserkloster bis zum Erker mit den vergoldeten Dachziegeln auf und zwang Peter Storck zweimal, zur Freude der Gassenjungen seinem raugebürsteten Kastorhut nachzulaufen. Ungeheuerlich, atemraubend, mit finstergrünen Wäldern, steilen Almwiesen und grauem Fels reckte sich die Nordwand auf. An den Brückenjochen vorüber schossen gurgelnd und brausend die Wasser des Inn.
Verdrießliche Menschen sahen dem jungen Mann nach, der in seinem vielkragigen leberfarbenen Mantel und den gelb ausgeschlagenen Stulpenstiefeln, mit blendend weißem Halstuch und modisch geschweiftem Zylinder einen ungewohnten Anblick bot. Es war Markt unter den offenen Bogen der Lauben, aber es wurde wenig umgesetzt. Die Butterhändler aus dem Duxer Tal, die Käseverkäufer, Melber, Metzger und Selcher hatten sich auf die teure Zeit eingestellt und verlangten viel. Und wenig Geld war im Land. Da mussten noch solche Menschen wie dieser Fremde zureisen und die Preise hinauftreiben!
Peter Storck sah die übellaunigen Blicke nicht, die ihm nachflogen, und verstand auch nicht viel von dem, was hinter ihm her gesprochen wurde. Er war müde vom langen Stehen und Warten im bayrischen Generalkommissariat, das im ockergelben Gebäude der ehemals kaiserlichen Hofburg seinen Platz hatte. Aber nun bauschten die abgestempelten und unterschriebenen Papiere seine Rocktasche.
Eine Weile stand er vor dem kleinen halbrunden Auslagefenster eines Drogenladens und betrachtete silberfarbene Schellackstangen, braune Leimtafeln, Gläser mit Indigo, Krapprot, Spangrün, Gelb und Drachenblut, sog den eigenartigen Geruch nach allerlei Würzen ein, der aus dem Laden mit dem lächerlich ausgestopften Krokodil wehte.
Es gab auch in den Gewölben nebenan allerlei Dinge zu sehen: Fazzelhauben aus kostbarem Biber, Frauenhüte mit schwerer Goldstickerei auf dem flachen Rande, silberbeschlagene Maserpfeifen, bocklederne Geldbeutel, Gürtel, mit Stachelschweinkielen ausgenäht, goldglänzende Heiligenbilder auf Spitzengrund. Zwei bayrische Soldaten, gutmütig und derb, bestaunten neben ihm einen bemalten Kupferstich, der die „hochfeyerliche Vermählung” Kaiser Karls des Sechsten darstellte, in schneckenartig gewundenem Zug aus Prunkwägen, Reitern und Fußgängern.
Peter Storck gelangte wieder an den Fluss, ging eine Weile neben seinen tosenden Fluten hin und setzte sich endlich auf einen Bretterstapel. Es kam ihm seltsam vor, dass er da auf einmal in der blassen Märzsonne saß und einem vierspännigen Frachtwagen nachsah, der Wein ins Oberland brachte. Der Messingschmuck an den Kummeten klingelte, Dachsfell und rotes Ziertuch flatterten im Wind. Der Fuhrmann im blauen Kittel ließ die Peitsche knallen. – Dann zog Peter seine Tabakspfeife aus der Tasche und besah die apfelgrün und pfirsichroten Quasten, die Farben der Würzburger Franken, deren Bund er vor zwei Jahren beigetreten war als Sohn eines Landsmannes. Damals in Wien war er wegen dieser bunten Pfeifentroddeln einen ganzen Vormittag auf der Polizei verhört worden, und der Kommissär hatte ihm empfohlen, solche studentische Abzeichen ja nicht zur Schau zu tragen. Der Fürst Metternich dulde dergleichen in keinem Wege...
Aber was war mit dem Oheim geschehen? Wieder zog er die Zuschrift des bayrischen Amtmannes in Landeck aus der Tasche, nach der sein Oheim Martin Storck in Sankt Marein im Oberen Inntale, Besitzer des Zeitlanghofes, plötzlich verschwunden sei und außer etlichem Hab und Gut nichts hinterlassen habe als einen Zettel, in dem er eigenhändig bestimmte, der Hof mit Einrichtung und allen Gründen gehe als Schenkung in den Besitz seines Neffen Peter Storck über, wohnhaft zu Wien im eigenen Hause zum Alten Blumenstöckel. Da bisher über das Schicksal des Verschollenen nichts erforscht werden konnte, möge der p. p. Peter Storck einstweilen das Haus in seine Obhut nehmen, widrigenfalls es von der Behörde versiegelt werden müsse, wobei für Abgänge und Schäden keinerlei Zahlung geleistet werden könne. Obschon nach der Meinung der Ortsinsassen der Herr Martin Storck auf einer Gebirgswanderung verunglückt sei, wofür aber keinerlei Beweise vorlägen, müsse dennoch abgewartet werden, ob der Eigentümer nicht zurückkehren wolle.
Das weitschweifig abgefasste Schriftstück aus Landeck enthielt außerdem noch eine Aufstellung des Besitzes und namentlich der Einrichtungsgegenstände, die im Hause vorgefunden wurden, wie sie von der Kommission nach dem Verschwinden des Oheims verfasst worden war.
Die ungezählten Laufereien in Wien und nun in Innsbruck waren erledigt, der Pass in Ordnung und nichts stand der weiteren Reise mehr im Wege. Peter konnte endlich zu seinem Oheim Martin, der in den Träumen seiner Jugend eine so große Rolle gespielt hatte. Aber der Oheim war nicht mehr da.
In der Familie war oft von ihm gesprochen worden. Vor dem heranwachsenden Knaben war dies stets mit einer sonderbaren Vorsicht geschehen. Oft hatte man, kindliche Beobachtungsgabe unterschätzend, beim Eintritt Peters das Gespräch auffallend und plump auf etwas anderes gelenkt, sich durch Winke und Augenblinzeln zur Behutsamkeit ermahnt. Peter wusste nur, dass dieser Oheim, ein Bruder seines Vaters, gleich diesem aus Franken nach Wien zugewandert, plötzlich in die Einöden des Tiroler Hochgebirges geflohen sei und nie mehr zurückkehren würde. Fragen seinerseits wurden mit Verweisen abgetan. So geschah es, dass ihm erst in seinem siebzehnten Lebensjahr genauere Kunde von dem rätselhaften Einsiedler wurde, freilich unter Begleitumständen, die ein tiefaufwühlendes Erlebnis bedeuteten und ihn auf eigenartige, schwer zu erklärende Weise in ein gänzlich verändertes Verhältnis zur bisher überaus zärtlichen und liebevollen Mutter brachten.
Das geschah an jenem Tag, da eine Base der Mutter, die eben verwitwete Frau Genoveva Schnäbele aus Augsburg, von Passau her auf einem Gesellschaftsschiff eintraf, um durch einige Zeit in Wien ihre Trauer zu vergessen. Die schöne und ebenmäßig gebaute, noch junge Frau, eine schwarzhaarige Schwäbin mit goldig schimmernder blasser Haut, erschien dem von den ersten Schauern des Verlangens erfassten Jüngling als eine Göttin von überirdischer Herrlichkeit. In ihrer heiteren Gesundheit und schlanken Fülle mochte sie auch verwöhnten und erfahrenen Männern mehr als nur begehrenswert erscheinen. Beim ersten Abendessen, das die eben Angekommene in seinem Elternhaus einnahm, wagte Peter es kaum, die Augen zu der schalkhaft und munter plaudernden Frau zu erheben. Der aufgeräumte Vater, offensichtlich über den Besuch erfreut, ermunterte ihn zu allerlei Ritterdiensten. So musste Peter endlich der Fremden mit dem großen silbernen Doppelleuchter vorangehen, als sie ihr Schlafgemach zu beziehen wünschte. Als er sich artig mit einem Kratzfuß empfehlen wollte und schüchtern eine geruhsame Nacht wünschte, gähnte die schöne Muhme hinter der anmutig vorgehaltenen Hand und sagte: „Seitdem ich in Passau den Trauner bestiegen habe, bin ich noch nicht rechtschaffen zum Schlafen gekommen. Jetzt wär's mir halt gut, wenn Er mir als mein Kavalier die Schühle von den Füßen ziehen täte!”
Alsogleich fiel Peter, von solchem süßen Dienst berauscht, auf die Knie, knüpfte in ungeschickter und eifriger Hast die Bänder von der feinen Fessel und zog die Schuhe ab, behielt aber in einer heftigen Verzücktheit das zierliche warme Gebilde des kleinen Fußes mit den sich mutwillig bewegenden Zehlein in der Hand, indes seine Augen sich aus unbekannter Ursache mit Tränen füllten. Die Muhme bemerkte dies wohl, lachte girrend auf, gab ihm einen sanften Klaps auf den Kopf und ließ ihre Finger in seinem Haar spazieren gehen, wobei sie sagte: „Ei, ei! Er ist ja gar schon ein richtiges Männle!”, worauf er verlegen und stolpernd das Zimmer verließ, um den Eltern gute Nacht zu sagen und ehrerbietig die Hände zu küssen, wie es der Brauch war. Als er danach sein Gesicht erhob, sah er die Augen seiner Mutter mit einer so bangen Frage auf sich gerichtet, dass er erschrak.
Bald darauf lag er in seinem Bett oben im Dachgeschoß, recht eigentlich Wand an Wand mit der Frau Genoveva. Es war still, von weither nur tönte das Schnurren einer gezupften Gitarre und hinderte ihn am Einschlafen, wie er meinte. Aber er merkte bald, dass er dieses schwache Geräusch nur deshalb als störend empfand, weil er mit gespanntester Aufmerksamkeit zu lauschen sich mühte, ob nicht ein Laut des Kleiderabstreifens oder Bettknackens aus dem himmlischen Gemach nebenan käme. Es rührte sich aber nichts; nur ein feiner, zischelnder Regen begann zu fallen und der nächtlich Übende ließ endlich ab von seinem Saitenspiel. Der Schlaf wollte jedoch nicht kommen. Unruhig und von innerer Hitze gequält wendete sich Peter im schmalen Bett hin und her und lag endlich mit fieberig geöffneten Augen auf dem Rücken. Aber jäh blieb ihm der Atem aus, denn unter leisem Türöffnen schlich etwas in die Mansarde und ließ sich leicht und warm auf dem Bettrand nieder. Eine Hand fühlte nach seiner Brust, in der das Herz hämmerte, kitzelndes Haar strich um seine Wangen, schlüpfrige Lippen pressten sich erstickend auf seinen Mund, und in unbeschreiblicher Angst und Wonne gab sich der Unerfahrene überirdischen Empfindungen hin, fühlte traumhaft unbekannte schwellende Formen, trank betäubenden Duft und versank nach fast schmerzender Wonne der Erlösung in einen Zustand der Bewusstlosigkeit.
Erst beim Frührotschein erwachte er, sah die Schläferin neben sich, fühlte die eigenen Glieder mit den ihren selig verschlungen und unlösbar vermischt. Ein leises Kreischen der Angeln zwang seinen Blick zur Türe, die sich handbreit auftat. Eben wollte er zu denkender Besinnung kommen, als er einen Augenblick im Türspalt das Gesicht seiner Mutter zu erkennen meinte, mit einem so entsetzten und trostlosen Ausdruck, dass ihn heftigster Schrecken emporriss. Aber schon war die schattenhafte, vielleicht nur geträumte Erscheinung verschwunden, und die erweckte Frau an seiner Seite sprang auf und flüchtete nach einem hingehauchten Kuss in ihr Gemach. Peter stand sogleich auf, wusch sich schaudernd im eisigen Wasser, bekleidete sich und ging leise hinunter, von der Magd ein Frühstück heischend. Er gab vor, eine Wanderung in die Praterauen machen zu wollen, was er des Öfteren getan hatte.
Als er nach einem planlosen Irrgang zurückkehrte, ungewiss, ob er einige Sicherheit des Betragens würde gewinnen können, wenn er in Gegenwart der Eltern dieser Frau gegenüberstehen müsse, fand er Vater und Mutter allein und schlechtester Laune vor. Seine tödliche Angst, es würde das Ungeheure dieser Nacht an seiner Stirn zu lesen sein, schwand vor dem, was er nun erfuhr. Der Vater brummte ärgerlich über den Sohn, der sich erst zeige, wenn der Suppentopf auf dem Tisch stünde, die Mutter saß bleich, mit verkrampften Händen, als hätte sie unter Vorwürfen zu leiden gehabt. Und kaum war die zweite Speise aufgetragen und die Magd aus dem Zimmer, schalt der Vater über die Art der Zubereitung, von der man doch endlich wissen könne, dass sie ihm nicht behage, und fügte in demselben Reden hinzu, es sei unerhört, dass man ihm ins Amt nicht Botschaft getan von der Abreise des lieben Gastes. Es sei übrigens schlechterdings unglaublich, dass die Erkrankung einer gleichgültigen und weitschichtigen Verwandten in Linz so fluchtartiges Abgehen veranlasst haben könne. Und woher die Nachricht gekommen sei? Die Mutter erwiderte stockend, dass ein Bauernbub den Brief gebracht und den Entschluss in der Base gezeitigt habe, schon jetzt den für später geplanten Besuch in Linz zu machen, dies umso mehr, als gegen Mittag ein Schiffszug die Bergfahrt antreten werde, wie der Junge mitgeteilt. Sicherlich käme die Base wieder, fügte die Mutter mit niedergeschlagenen Augen hinzu. Der Vater befasste sich knurrend mit einem Hühnerschenkel und beugte sich über seinen Teller. Da hob die Mutter plötzlich die Augen und ein flammender, unguter Blick traf Peter, der nun mit furchtbarem Schreck erkannte, dass er am Morgen nicht geträumt und dass die Mutter auf irgendeine Art die schöne Frau Schnäbele aus dem Hause getrieben habe.
Als die ersten angsterfüllten Stunden vergangen waren und die fürchterliche Erwartung nahenden Unheils sich verzog, versuchte Peter schamhaft, sich der Mutter zu nähern und durch allerlei Aufmerksamkeiten und Dienste die verlorene Huld wieder zu gewinnen. Aber er stieß auf kalte Ablehnung und Gleichgültigkeit. Nie sprach die Mutter ein Wort, das mit dem Vorfall in irgendeiner Weise zusammenhing, aber auch nie mehr trat das alte Verhältnis zwischen ihr und ihrem Sohn wieder ein. Ihre zunehmende Fremdheit schmerzte ihn bitter. Später gewöhnte er sich, trotzig erst, dann unempfindlich werdend an das veränderte Zusammenleben. Und als der Vater, kurz bevor er an einem Stickfluss verschied, ihn auf die hohe Schule nach Würzburg schickte, fiel Peter der Abschied von der strenge gewordenen Frau leicht. Erst als er an ihrem Totenbett stand und die Sterbende, des Sprechens nicht mehr fähig, die wächserne Hand wie vergebend unendlich mühsam hob und auf seinen Scheitel legte, machte sich der so lange begrabene Schmerz über den Verlust ihrer Liebe frei. So war er, fünfundzwanzigjährig, eben zum Doktor der Rechte promoviert und Besitzer des Hauses zum Alten Blumenstöckel, in einem jähen Feuer hervorbrechender Reue reifer geworden, als es seinen Jahren zukam.
An jenem Schicksalstag jedoch wurde ihm durch einen Zufall nähere Kunde vom Oheim Martin Storck, über den von den Eltern nichts zu erfragen war, dessen Schicksal ihm im Gegenteil sorgsam verhüllt wurde.
An diesem Tag also, als die Eltern am späteren Nachmittag auswärts zu Besuch weilten, setzte sich Peter, von Langeweile geplagt, zu der alten Magd in die Küche. Die Ludmilla war von frühester Kindheit an seine Pflegerin gewesen und hing mit hartnäckiger Zärtlichkeit, die gelegentlich auch der Herrschaft trotzte, an dem Jungen. An diesem Tag nun sah die Magd von ihrer Strickarbeit auf, heftete einen langen und eindringlichen Blick auf den Haussohn und murmelte: „Wie der Herr Rittmeister – der Herr Martin –!” Peter fühlte sich eigentümlich erregt und bedrängte die Alte, die ihm mehr von dem Verschollenen zu wissen schien, mit kindlichem Gebettel, dem sie nie zu widerstehen vermochte, sie möge ihm nun endlich von dem Oheim erzählen, da die anderen dies nicht tun wollten und er doch ein Recht habe, Näheres über den Bruder seines Vaters zu erfahren. Die alte Ludmilla erschrak, wehrte ihn heftig ab, konnte aber allgemach der Lust, zu erzählen, nicht mehr widerstehen und begann, ängstlich wispernd und immerfort nach der Türe lauschend, die Geschichte des älteren Vatersbruders dem Neffen mitzuteilen, wobei sie ihm wiederholt das Versprechen abnahm, alles gut bei sich zu bewahren und um des Heilandes willen dem Herrn Gubernialdirektor, dem Vater, oder gar der Frau Mutter kein Sterbenswort davon zu verraten, was Peter bereitwilligst versprach.
So erfuhr er denn, dass der Bruder seines Vaters in die kaiserliche Armee eingetreten sei und es in einem Kürassierregiment zum Rittmeister gebracht habe. Dieser stolze und ritterliche Offizier, körperlich und geistig unähnlich dem mehr zur Behäbigkeit neigenden Bruder, hatte zu seiner Liebsten oder Braut eine Aktrice des Kärntnertortheaters erkoren, eine Fremde von großer Schönheit. Bei dieser, die er allabendlich zu besuchen pflegte, um eine Partie Tric-Trac zu spielen und sich in holdseliges Geplauder über das Glück der Zukunft zu verlieren, entdeckte er hinter einem Vorhang, vor ihm verborgen, ein Herrlein, das hervorgeholt sich überaus hochmütig stellte und erklärte, der gefeierten Künstlerin einige kostbare Kamelienblüten, die in der Tat auf dem Tisch lagen, als eine durchaus einwandfreie Aufmerksamkeit überbracht zu haben. Auf die Frage des Reiteroffiziers, ob jenem die Stunde für einen solchen Besuch nicht etwas zu vorgerückt erscheine, setzte der hochnäsige Geck eine unnahbare Miene auf und erklärte, er müsse sich in Fragen der feineren Lebensart jede Belehrung von einem Deutschen verbitten. Das dummdreiste Lächeln des Menschen, die widerlich-süßen Wohlgerüche, die sein seidener Rock ausströmte, und nicht zum Letzten die schuldbewusste Verlegenheit der Geliebten versetzten den Kürassier in eine so rasende Wut, dass er wortlos den geputzten Affen beim Kragen erwischte und über die steile Treppe des Hauses in der Ballgasse hinabschleuderte, so dass der unten wie ein Bündel Kleider blutend und kläglich ächzend liegen blieb. Der Lärm lockte Polizisten herbei, die erschrocken feststellten, dass der übel Verletzte ein Prinz von der französischen Ambassade sei.
Wenige Tage danach wurde der Rittmeister Martin Storck durch ein Handbillett Seiner Majestät des Kaisers Leopold ganz plötzlich und ohne weitere Begründung aus dem Heere ausgestoßen oder, wie man es nannte, schimpflich kassiert. Wohl versuchten es Kameraden des beliebten Offiziers, sich gegen solche Willkür aufzulehnen, und bewogen ihren Obristen, den Monarchen um Gnade für Martin Storck zu bitten, obschon jedermann wusste, wie sehr der Kaiser alles Welsche begünstigte. So war zu erwarten, was wirklich geschah. Der Kaiser sagte zornig, er könne es nun und nimmer unbestraft lassen, wenn ein bürgerlicher Offizier den schuldigen Respekt und die Ehrerbietung gegen eine Standesperson in solcher Weise verletze, und er würde jeden, der wegen dieses Martin Storck zu ihm vordringe, als seinen Mitschuldigen in gleicher Weise bestrafen. Damit zog der Obrist ab.
Am Tag, da dies geschehen, sei der Herr Rittmeister um die Mittagszeit zu seinem Bruder, Peters Vater, in die Wohnung gestürzt, habe unter grimmigem Gelächter den goldenen Quast vom Pallasch gerissen, zur Erde geschleudert, und sei mit den Füßen drauf herumgetreten, indem er laut ausrief, so achte er das Zeichen eines ungerechten und niedrig denkenden Tyrannen. Worauf der Herr Gubernialdirektor, sein Bruder, ihn aufs Höchste erschrocken zur Ruhe und Besinnung verwiesen, auch sich solche fürchterlichen, die Majestät beleidigende Reden in seinem, als eines kaiserlichen Beamten, Hause auf das Ernstlichste verbeten. Der Herr Martin habe ihn zuerst angestarrt, als habe er nicht recht gehört, sodann auf den Fußboden gespien und in schäumender Furie ausgerufen: „So speie ich auf euch, ihr elenden Knechte eines schändlichen Despoten! Wenn du, mein von Stund' ab gewesener Bruder, nun auch zum Judas Iskarioth an mir werden willst, so tue es flugs und kröne damit deine überaus verächtliche Gesinnung!” Damit sei er, von der weinenden Schwägerin gefolgt, sporenklirrend davon, habe jedoch, als er im Nebenzimmer, das er durchschreiten musste, den kleinen Peter in der Wiege gesehen, ihn sogleich aus den Kissen gehoben und an die Brust im weißen Waffenrock gepresst, mit dem Ausruf: „Mögest du einst lichtere Zeiten und edlere Menschen erleben, du kleiner Storck! Mit diesem Kuss sei dir meine Seele eingegossen!” Die Mutter sei fast in Ohnmacht gesunken vor Schrecken, der Kleine aber habe, wohl aus Freude über den Glanz der goldenen Knöpfe, laut aufgejauchzt und dem Oheim beide Händlein entgegengestreckt. „Dies nehm' ich als ein Zeichen, du kleines Menschlein!”, rief der Reitersmann aus, legte das Kindchen sorgsam zurück und stürmte hinaus. Erst nach vielen Monaten erfuhren Bruder und Schwägerin zufällig, dass der Entflohene in einer einsamen und finsteren Gegend Tirols ein Anwesen erworben und als ein Einsiedler sich niedergelassen habe. Die welsche Aktrice, von der es bald offenbar wurde, dass sie ein Kind unter dem Herzen trug, verschwand bei Nacht und Nebel aus der Wienerstadt, und niemand erfuhr, wohin sie sich gewendet haben mochte.
Die Erzählung der Alten, durch geheime seelische Fäden mit der Erschütterung dieses Tages innig verbunden, machte auf Peter den allertiefsten Eindruck. Fortan beherrschte ihn der Gedanke an den Oheim, dessen Schicksal ihm in romantischer Verklärung als das eines edlen und unglücklichen Ritters erschien. Auf vielfache Art malte er sich in wachen Träumen dieses Trauerspiel der Liebe aus: Den hohen Reiteroffizier im weißen Koller mit den Aufschlägen aus schwarzem Samt, die weinende und händeringende Schöne, ausgestattet mit den Reizen der Muhme Genoveva, das schlotternde Französchen, zuckend unter der stählernen Faust des Rächers. Manchmal auch sah sein inneres Auge den Oheim im schwarzen Mantel mit flatternden Haaren, eine tiefe untilgbare Falte zwischen den dunklen Brauen, im schwefligen Licht der Blitze, vom Donner umschüttert auf zackigen Felsenriffen stehen, kühn die Mächte des Himmels und der Hölle herausfordernd.
Erst im brausenden Burschenleben der grün- und rosenfarbenen Franken zu Würzburg schwanden diese Bilder aus den Vorstellungen des Tages, um desto öfter in nächtlichen Traumgesichten wiederzukehren, wobei immer gewisser Peter selbst zum zürnenden Liebhaber und die Schauspielerin überhaupt nicht mehr anders als in Gestalt der Frau erschien, die sich in jener fernen Nacht seiner bemächtigt hatte. Stets aber trat eine uneingestandene, furchtbare Erscheinung am Schluss des Traumes auf, die ihn auf das Schauerlichste erschreckte, ohne je deutlich zu werden, bis beängstigendes Herzklopfen mit Atemnot ihn weckten. Sehr lange dauerte es, bis auch diese Traumbilder schwächer wurden und verblichen.
Die Zuschrift des bayrischen Amtsgerichtes hatte ihn jedenfalls in nicht geringe Aufregung versetzt, und ohne zu zögern trat er die Postwagenreise von Wien nach Innsbruck an, um so schnell wie möglich den plötzlich verschwundenen Oheim wieder aufzufinden oder wenigstens seine Leiche ehrlich zu bestatten, falls jenem ein tödliches Unglück zugestoßen war.
Hier am Ufer des Flusses, der vom Oberland hinunterfloss und in dem sich wohl auch die Berge spiegelten, in denen Sankt Marein lag, flammte die Erinnerung an den Abgott seiner Jugendjahre mit aller Kraft wieder auf. Es war ihm, als verbänden ihn mit dem einsamen Mann unzerreißbare geheimnisvolle Bande, als sei es an ihm, dem aus einer Welt voll Lüge und Niedertracht Geflohenen in irgendeiner Art zu Hilfe zu eilen. Sein Verlangen, mehr, ja alles vom Oheim zu wissen, wurde umso stärker, je näher er sich dem Ziel wusste, und der Gedanke, den Rest des Tages und eine lange Nacht bis zum Abgang der Post warten zu müssen, erschien ihm fast unerträglich.
Rauer Gesang und klirrendes Pollern ließen ihn aufblicken. Eine bayrische Batterie, mit schnaubenden und schweißnassen Pferden bespannt, rasselte an ihm vorüber. Sie kamen wohl von einer Übung, die Kanoniere sangen, der junge Leutnant ließ seinen Goldfuchs tanzen. Der Wind wehte starken Geruch von Pferdeleibern, Leder, Schweiß und Wagenschmiere zu ihm her. Er stand auf und ging im wirbelnden Staub hinter dem Zug her zur Stadt zurück. Im Westen glomm ein feuriges Gold am Himmel.
Aber so klein und eng gebaut die Stadt auch war, so verging er sich doch und geriet in allerlei Gässlein. Zwei Bauern, hohe Nebelstecher auf dem Kopf, lehnten rauchend an einer Mauer und sahen den Herankommenden mit wägenden Blicken an. Er fragte sie nach der Herberge zum Goldenen Adler. Aber der Grauhaarige, an den er das Wort gerichtet hatte, blickte finster zum Hochdeutsch des Fremden und sagte laut und mit deutlicher Beziehung zum andern: „Die bayrischen Spione möchten wohl ein Mehr wissen als den Weg ins Gasthaus. Bleibt ihnen aber doch der Schnabel sauber!”, worauf ihm beide klotzig den Rücken wandten und weitergingen.
Als er dann nach kurzer Suche den stattlichen Gasthof fand, musste er im blutglitschigen Flur achthaben, um nicht an die Kübel und Mulden zu stoßen, die überall umherstanden. Ein Schwein war geschlachtet worden, aus der Spritze quoll dunkelrotes speckwürfeliges Füllsel in Därme, die in lockeren Haufen lagen. Auch graues Lebergemisch stopften emsige Hände in die Blechhülse und streiften das Darmende über die Mündung. Mit ängstlich gerafften Rockschößen stieg Peter die Wendelstiege hinauf und betrat das Gastzimmer.
Nebenan das Herrenzimmer, in das er wollte, war mit Offizieren vom bayrischen Regiment Kinkel besetzt. Es waren jüngere und ältere Herren, lauter biedere und einfache Menschen, die sich auf den Sautanz freuten und auf den Banzen mit heimatlichem Bier, der in der Ecke stand. So setzte sich Peter hinaus in die Schankstube an einen Klapptisch in der Fensternische. Außer ihm war nur ein einziger Gast im Zimmer, ein riesiger wildbärtiger und zausiger Bauer mit schwärzlicher Haut, der ganz allein am nächsten Tisch saß, über dem ein versilbertes Zunftzeichen hing. An der Wand lehnten die hochbepackte Kraxe und ein Griesbeil mit langem scharfem Zahn, wie es die Holzknechte bei den Riesen und Triften gebrauchen. Ein schweres Bündel Roheisenstäbe lag auf der Erde. Die Kellnerin kam, ein zwar hübsches, aber mürrisches Mädchen, stellte dem fremden Herrn eine zinnerne Öllampe auf den Tisch und zog mit einer Haarnadel den Docht etwas hervor. Muffig fragte sie nach dem Begehren des Gastes, auf die frischen Würste verweisend. Peter aß, als die Schüssel vor ihm stand, und trank roten Wein dazu. Als er gegessen, trat der beleibte Wirt zu ihm, lüftete höflich die Schlegelhaube und setzte sich zu ihm an den Tisch. Aus dem Herrenzimmer klang eine derbe Männerstimme, die saftige Strophen zu singen schien, wie man aus dem in Zwischenräumen losdonnernden Gelächter unschwer erraten konnte.
„Gar aus Wien?”, flüsterte der Mann. „Etwa einer von den Herren, die unser Kaiser auf Kundschaft sendet, wie es in dem Tirol ausschaut?”
Peter verneinte, das Geflüster war ihm unangenehm und so sagte er laut, dass er gekommen sei, um nach der Wirtschaft seines Oheims zu Sankt Marein im Oberen Inntal zu sehen.
Ein Stuhl schlug krachend zur Erde, so dass Wirt und Gast erschrocken auffuhren. Der wildbärtige Mensch am Nebentisch war ohne erkennbare Ursache aufgesprungen. Sein breiter hellgrüner Hut glitt vom Tisch, klirrend stieß sein Nagelschuh an die Eisenstangen. Aus den schwarzen, weit aufgerissenen Augen loderte ein Blick zu Peter hinüber, in dem Erstaunen, Wut und Neugierde zu lesen waren. Aber gleich darauf erlosch die dunkle Glut, der Mann bückte sich brummend nach dem Stuhl und schob ihn wieder zurecht. Dann nahm er den Hut auf und wischte die Seide der Krempe mit dem Rockärmel ab. So war das Böse in seinen Augen wohl nur Schreck über das eigene Ungeschick gewesen.
Der Wirt schenkte dem unbedeutenden Vorfall keine Beachtung. Ihn bewegte anderes. Für ihn war der feine hübsche Herr mit den blonden Bartstreifen am Ohr und dem jungen klugen Gesicht trotz des Leugnens ein geheimer Bote des Kaisers und konnte wohl Tröstendes wissen. So begann er denn zu fragen: Ob denn der gute Kaiser Franz das Landl ganz und gar vergessen? Ob er mit seinen vielen Soldaten nicht doch die bayrischen Lotter ausjagen könnte? Katholisch sei der Herr wohl? Dann sei alles recht. Es wär' halt gut, wenn die Herren in Wien wüssten, wie es hier ausschaue und was das arme Volk erleiden müsse.
Wieder flog brüllendes Lachen hinter einer unverständlichen Strophe her. Die Faust des Wirtes ballte sich.
„Operment sollte man in das fremde Bier schütten, das sie saufen tun, die Wildling'. Wie kann ein Wirt bestehen, wenn die Gäste den Trunk selber herbeischaffen?”
„Sind die Bayern wirklich so arg?”, fragte Peter ungläubig. „Ich kenn' sie auch von Würzburg her und meine, sie sind nicht gar zu verschieden von den Österreichern. Sind immer noch besser wie die Franzosen, die wir in Wien gehabt haben.”
Der Wirt lachte geringschätzig. „Die Französlen? O mein, die kommen nimmer. Die haben noch von anno 96 die Hosen voll. Dazumal haben wir ihnen hinausgeholfen. Es müsste grad der Teufel den Schwanz im Gespiel haben, wenn es mit denen Bayern nicht auch sollte gelingen!”
Mit leiser Bosheit deutete Peter auf das Bild des Bayernkönigs an der Wand und die Fahnen mit den blauweißen Wecken, die über dem Schanktisch die Wand schmückten. Der Wirt verschob mit der Hand die Haube und kratzte sich im eisengrauen Haar.
„Was willst machen?”, brummte er. „Soll ich mir lassen die Gerechtigkeit nehmen? Sie sperren mir Keller und Haus, wenn ich das Zeug da nicht dulde. Und leben muss ich. Deswegen ist inwendig doch alles schwarz und gelb.”
Die Kellnerin lief mit neuen Wurst- und Krautschüsseln, stieß mit dem Fuß die Türe hinter sich zu und kreischte drinnen, derb angefasst. Hochrot kam sie wieder heraus und schmetterte den Türschlag in das Lachen, das ihr nachsprang.
„Davon war mir nichts bewusst, dass die Bayern hier so arg verhasst sind”, sagte Peter einigermaßen erstaunt. „Es sind sonst gute Leut'!”
„Gut?!”, zischte der Wirt und sein Gesicht wurde blaurot. „Das heißen die Wiener gut? Freilich, ich hab' mir immer sagen lassen, dass kein Glauben mehr ist in der Wienerstadt. Gut? Die Christmetten haben sie uns verboten, die schönen bunten Glaskugeln dürfen in der Karwoche nimmer leuchten am heiligen Grab, die frommen Klosterleut' sind landesverwiesen. Es muss wohl wahr sein, dass der Satan ihr Oberkommandant und Herr ist. Wie sonst können Christenleute den Mesner strafen, der das Glöcklein läutet, wenn eines in Zügen liegt? Die Patres Kapuziner und Franziskaner haben sie auf Leiterwagen nach Altötting geführt und eingesperrt, wie man es mit sündigen Priestern tut. Die armen Leut', Bresthafte und Krüppel weinen vor der verschlossenen Pforten, aus der ihnen sonst Klostersuppe gekommen ist und Brot. Und die jungen Buben stecken sie in die Montur und machen sie zu Soldaten, was eine Schande ist und nie in Tirol hat sein dürfen, seit die Welt steht.” Lautes Rufen aus dem kleinen Zimmer unterbrach ihn. Schwerfällig stand er auf. „Die Herren Offiziere wollen zahlen”, sagte er, griff nach Tafel und Kreide und ging hinein.
Nachdenklich schluckte Peter den herben Rotwein und sah wieder zu dem zottigen Riesen hinüber, der von Zeit zu Zeit einen blinzelnden Blick nach ihm tat. Silbergeld klingelte nebenan, Säbel rasselten. Die Blauröcke strömten aus der Türe. Ein junger Leutnant blieb vor dem Bauer stehen. Er schwankte ein wenig: „He, Landsmann!”, rief er, „was hast in deiner Kraxen?”
Der Bauer gab keine Antwort. Sein eben noch lebhaftes Auge war stumpf und dumm geworden.
„Lass ihn, Crailsheim!”, lallte ein dicker Hauptmann. „Das Vieh ist ja be – besoffen. Komm, Herr Bruder!”
Lachend klirrten sie hinaus und polterten die Treppe hinunter. Peter ließ sich noch einen Pfiff Wein geben und zündete seine Pfeife an.
Da trat ein Mädchen ins Zimmer, sah sich einen Augenblick lang um und ging dann schnurgrad auf den Bauer zu, der sich ehrerbietig erhob und sich erst nach wiederholter Nötigung wieder setzte.
Peter fühlte einen leisen feinen Stich im Herzen. In seinem ganzen Leben hatte er eine Frau von so vollkommenem Liebreiz noch nicht gesehen. Die junge Dame, denn das war sie, trug einen breitbändrigen Hut am anmutig gerundeten Arm. Der kleine schmale Fuß steckte in Glanzlederschuhen, die über Kreuz gebunden waren. Ein kostbarer karmesinroter Schal, der ihre schmalen Schultern umhüllte, ließ weiter unten ein violbraunes Wollkleid sehen. Die schwarzen Locken des zierlichen Kopfes rahmten ein elfenbeinfarbenes, zartes Gesicht von unbeschreiblich rührender Schönheit ein. Die nachtdunklen großen Augen, der winzige, sanftlächelnde Mund, die kleine, völlig gerade Nase, verliehen dem jungen Antlitz eine edle Schönheit, die an die wundervollsten griechischen Kunstwerke erinnerte. Es war dem jungen Mann, als müsse er alsogleich zu dieser engelhaften Erscheinung hineilen und anbetend auf die Knie stürzen. Nie war ihm Ähnliches widerfahren. Die Pfeife, deren er sich plötzlich schämte, entsank seiner Hand, und ohne eines klaren Gedankens fähig zu sein, starrte er die überirdische Erscheinung an.
Das Mädchen sprach unterdessen sehr leise mit dem Bauern, der mit eigenartig unbeholfener Zärtlichkeit, ganz hingegeben zuhörte und eifrig kopfnickend zu bestätigen schien, dass er die Wünsche oder Mitteilungen der Dame wohl beherzige. Behutsam übernahm er aus ihrer schmalen Hand ein Päckchen und barg es sogleich im Brustlatz. Dann stand die Schöne auf und verabschiedete sich. Der bärtige Kopf neigte sich zum Handkuss.
Sie ging an Peters Tisch vorüber, hob die erst gesenkten Lider und sah ihn voll an. Ein winziges Zeitteilchen lang lohte ihr dunkler saugender Blick in den seinen, ein goldiger Ton lief über ihre Wangen und dann war sie ebenso schnell verschwunden, wie sie eingetreten war.
Lange saß Peter in einer Art Lähmung, bemüht, das reizende Bild festzuhalten. Eine Sekunde lang hatte er aufspringen, ihr nacheilen wollen. Aber er behielt doch so viel Besinnung, um von diesem lächerlichen und törichten Beginnen abzustehen. Die jugendliche Wallung der Unbesonnenheit wandelte sich in eine träumerische Wehmut. Es war ihm, als wäre da eben das Glück an ihm vorübergegangen, hätte ihm einen einzigen Blick geschenkt, als eine Gabe für das Leben. Der Gedanke, dass ihn morgen der Postwagen in unbekannte Fernen entführen würde und dass er dieses liebliche Geschöpf wohl nie mehr wiedersehen werde, erfüllte ihn mit jener süßen Trauer, die der Jugend eigen ist, wenn starke Eindrücke der Liebe sich ins Herz pressen.
Der Bauer schien nur auf die Ankunft der Fremden gewartet zu haben. Gleich nach ihrem Abgang bezahlte er, was er verzehrt hatte, stand auf, lupfte die schwere Kraxe ohne Mühe auf die Schultern, griff nach dem Griesbeil und hob dann wie spielend das schwere Bündel der klirrenden Eisenstangen auf. Schweren Trittes, ohne Gruß, stapfte er aus der Trinkstube.
„Gescherter Rammel!”, spottete der Wirt hinter ihm drein. „Aber eine Kraft hat der in sich. – Moidl, weis dem Herrn sein Zimmer!”
Peter stand auf. „Wer war das Fräulein?”, fragte er leise.
Der Wirt zuckte die Achseln. „Kann dem Herrn nicht dienen”, sagte er. „Hab' sie mein Tag' noch nicht gesehen. Eine Saubere, gelt?” Er verzog feixend das Gesicht und schnalzte mit der Zunge.
In dem kleinen gewölbten Zimmer flackerte die Talgkerze im Kupferleuchter. Peter griff nach der Putzschere und kniff den Räuber vom Docht. Eine Muttergottes, sieben blanke Schwerter im blutenden Herzen, bewachte treulich sein hochgetürmtes Bett. Schwacher Moderduft kam aus den Polstern. Der Sturm wehte noch immer vom Süden her, strich um das Haus, weinte im Rauchfang und pochte an die Scheiben. Dumpf toste der Fluss.
Der Schlaf kam im singenden Dunkel und brachte allerlei. Der Kaiser Franz fuhr vorüber, in seinem langen faltigen Gesicht war ein boshaft grämlicher Zug, die schmalen Lippen bewegten sich hochmütig: „Also ein neveu vom selbigen malcontenten Rittmeister Storck?”, fragte er und lächelte tückisch. „Man hat Mittel für Ihn, junger Mensch!” Am Wagenschlag dienerte der Wirt mit der grünen Samtweste: „Halten zu Gnaden – alleruntertänigst –” Saiten schwirrten, ein grober Bierbass brummte drein: „Mädel leg' dich her zu mir, dass ich dich noch besser spür'!” Aber da stand der schwarze Bauer und sperrte die Gasse. Dieser Weg, das wusste Peter, ging zu dem schönen Mädchen. Er wollte vorbei, da griff die ungeheure haarige Hand des Riesen nach ihm... Stöhnend lag er unter dem Alb, fuhr mit einem erstickten Schrei auf und hörte, wie der Märzregen an die Scheiben trommelte. Dann fiel er in traumlosen Schlummer.
Am andern Tag stieg er frierend und mit einer sonderbaren Bangigkeit in die Postkutsche. Der Schwager knallte mit der Peitsche, die Räder knirschten. Das schöne Mädchen blieb in Innsbruck.
Als er am Ziel der Reise aus dem Wagen stieg, steif vor Kälte und zerschlagen von den Stößen der schlechten Federn, stöberte es. Weiß und ruhig lag alles Land, tief begraben unter weichem Schnee, der nach dem warmen Wetter hereingeweht war.
Peter wunderte sich über die vielen Menschen, die vor dem Gasthaus zur Post standen. Aber er sah bald, dass ihre Aufmerksamkeit weder dem angekommenen Wagen noch ihm galt. Eine schrecklich bewegte Gruppe lenkte seinen Blick auf sich. Eine sehr junge, totenblasse Nonne mit weißer Flügelhaube und schwarzem Gewand drehte sich, von zwei Schwestern aus dem Kloster nur mühsam gehalten, in entsetzlichen Krämpfen. Sie bäumte sich, warf den Oberleib schnellend von vorne nach rückwärts, so dass die weiße Haube fast den Boden und die Absätze ihrer plumpen Schuhe berührte. Schaum stand ihr vor dem Mund, die Augäpfel waren weißlich verdreht, die Hände krampfig verbogen.
Eine Irrsinnige vielleicht, eine Kranke jedenfalls. Von Grauen erfasst, sah Peter, dass ein Priester vor ihr stand, ein magerer Mann mit strengem Gesicht und tiefliegenden Augen. Sein fuchsroter Vollbart wehte im kalten Wind, das geschorene Haupthaar umgab in feuerfarbenem Kranz das braune Kapuzinerkäppchen über der Tonsur, den Leib umschlotterte die Kutte; ein zerknittertes Chorhemd war darübergezogen und über den Schultern lag die violett und goldene Stola.
Der Anblick war erschreckend und unheimlich. Viele Frauen lagen auf den Knien, ohne des Schneeschlammes zu achten, der sie durchnässte, Männer mit harten Gesichtern glotzten fassungslos, Kinder schrien auf. Den Schwestern, die die Kranke mit aller Anstrengung festhielten, klapperten die Zähne.
Angewurzelt stand Peter vor so gänzlich überraschendem Anblick. Welch unsichtbare Gewalt drehte und schüttelte den armen Nonnenleib so grausam? Aus blauen Lippen im blassen verzerrten Gesicht reckte sich die geschwollene Zunge, der zerbissene Mund schien Sätze bilden zu wollen. Gellende Schreie fuhren schneidend auf, die Augen wölbten sich vor, ein springendes Zittern durchlief ihre Glieder. Dann gröhlte eine tiefe Männerstimme aus ihr: „Tarach ziach zo! Joho! Du Göttle, du Teigmanndele du! Luder, Luder, ich zerschmeiß' dich!”
Ein junger Bauer musste den Schwestern zu Hilfe eilen, um die in Krämpfen um sich schlagende Nonne vor eigenem und fremdem Schaden zu bewahren. Rötlicher Speichel rann über ihr Kinn, die Flügelhaube fiel und ließ das kurzgeschnittene dunkle Haar erblicken.
„Was, Luder, wart', du gebackenes Herrgöttle...”, schrie es aus ihr. „Hast ja gar keine Gewalt über mich und die Meinen!”
Da nahm der Kapuziner eines der mit kreuzförmig aufgenähten Goldborten geschmückten breiten Enden der Stola und legte es der Nonne aufs Haupt. Mächtig klang seine Stimme über die atemlos lauschenden Menschen hin: „Adjuro te, diabole, ut hanc creaturam Veronicam ... – Ich beschwöre dich, Teufel, dass du dieses Geschöpf Veronica...”
„'Nunter, 'nunter!”, brüllte es heiser aus der Besessenen. „Alopech, alohach, Sabbathei! Lass das Luder – Bruder – Luder –”
Sie fuhr wild mit dem Kopf hin und her, warf ihn in den Nacken und schloss die Augen. Sie schluckte und ächzte. Und auf einmal glättete sich das qualvoll verzogene Gesicht, ein klägliches armes Lächeln umspielte kurz den Mund, die Körperhaltung wurde natürlich und Peter hörte die Ursulinerin mit matter und sanfter Stimme sagen: „Gott dem Herrn sei Lob und Preis, für heute gibt er Ruhe und kann nicht mehr aufsteigen.”
„Wie fühlet Ihr Euch, Schwester?”, fragte der Geistliche.
„Gar so müde halt, grad zum Sterben!”, antwortete sie schwach. „Ich mein', er bringt mich doch noch um, der böse Feind.”
„Fürchtet Euch nicht!”, rief der Priester und seine Augen glühten eifervoll. „Er muss und muss ausfahren, der stinkige Höllenbock! Hat er nicht gestern mit Gewinsel versprochen, er wolle am Sonntag zu Mittag von Euch lassen, dafür, wenn ich nicht wieder mit dem Käpslein komme, darinnen ein heiliger Faden ist vom Schweißtuch des Heilandes? Es ist nicht der Erste, der mir weichen muss, Schwester Veronika, und, wie ich sage, am nächsten Sonntag seid Ihr durch Gottes Gnade von der beelzebübischen Einquartierung erlöst.”
Die Nonne beugte sich tief, um die Hand des Mönches zu küssen. Die Schwestern führten sie weg. Kaum trugen sie die Füße. Klappernd schlugen die Messingmünzen und das Kreuz mit dem kleinen knöchernen Totenkopf des Rosenkranzes zusammen.
„Betet!”, rief der Kapuziner dröhnend über die erstarrte Menge. „Wachet und betet, denn der Satan geht um wie ein brüllender Löwe und suchet, wen er verschlinge. – Vater unser, der du bist...”
Vielstimmiges Murmeln erhob sich. Peter zog fröstelnd den Mantel an sich, drei Schritte hinter ihm war das Tor des Gasthofes zur Post. Ungesehen verschwand er im Flur.
Als er das große Gastzimmer mit der holzvergitterten Schank betrat, sah er nur den Postknecht, der ihn geführt und zwei Tische weiter einen bärbeißig aussehenden dicken Herrn sitzen, dem ein gelber Walrossschnurrbart über die Lippen hing. Zwei grellblaue Augen blickten aus kräuselndem Tabaknebel nach dem Eingetretenen, aus dem Rohr der Meerschaumpfeife quollen neue schwere Wolken hervor.
„Guter Freund!”, redete Peter den Knecht an. „Sagt mir, wo ich in diesem Ort den bayrischen Bezirksamtmann treffe?”
Aber bevor noch der Schwager antworten konnte, kam es dumpf und grollend aus dem Rauchschwaden: „Da sitzt er, der bayrische Amtmann, wie er leibt und lebt. Wer ist man? Was will man?”
Artig trat Peter an den Tisch, nannte seinen Namen und zog die Papiere hervor, um sich auszuweisen. Der Gestrenge sah alles genau durch und machte dann eine Handbewegung nach einem Stuhl. „Setzen!”, sagte er.
Peter setzte sich. Eine ältliche Kellnerin trabte, als der Amtmann einen schrillen Pfiff auf zwei Fingern tat, mit einem „Befehlen, Gnaden Herr Amtmann?” herein.
„Bier für den Herrn und Schreibzeug für mich!”, befahl er kurz.
„Sie sein also der Herr Storck, der unterdessen den Hof da droben übernimmt? Was? Wie? Ein Wiener? Wie kann ein Wiener sich dahier länger als drei Stund' aufhalten? Übrigens, – von Pflederer ist mein Name!”
Peter verwies höflich auf die Zuschrift, der er gefolgt war, und bat, ihm Genaueres mitzuteilen.
Der Amtmann gab vorerst keine Antwort, rührte mit dem Kiel in der eingetrockneten Tinte, die auf den Tisch gestellt worden war, faltete das Schriftstück zusammen und schrieb auf den äußeren Rand mit dicken Strichen: „Gesehen! Genehmigt! v. Pflederer.” Dann holte er einen Messingstempel aus der Rocktasche, spuckte darauf, rieb die Fläche ein wenig an seinem Schuh und drückte ein blasses schwärzliches Siegel auf das Papier.
„So!”, sagte er und tat dann einen langen Schluck aus dem Glas. „Wenn Sie den Wisch oben beim Rosenwirt vorweisen, folgt er Ihnen die Schlüssel zum Zeitlanghof aus. Verstanden? Oben in Sankt Marein, mein' ich. Wie lang wollen Sie bleiben?”, fragte er und sah Peter scharf an.
„Bis ich weiß, welches Schicksal meinen Oheim betroffen hat!”, sagte Peter.
„Was? Schicksal betroffen? Abgestürzt wird er halt sein, der alte Herr. Ist ja immer allein im Gebirg herumgelaufen!”
„Oder ermordet...”, erwiderte Peter und seine Stimme bebte. Ganz plötzlich war dieser Gedanke in ihm aufgestiegen.
„Ach, woher!”, lachte ärgerlich der Beamte. „Da bei uns wird niemand ermordet. Was glauben Sie denn? Wer hätt' denn das tun sollen? Wo doch der Herr Onkel den verstockten Bauern nichts als Wohltaten erwiesen hat. Wo er niemalen Geld bei sich geführt hat. – Herr, wie kommen Sie mir vor?”, fuhr er plötzlich auf Peter los und wurde brennrot im Gesicht. „Meinen Sie gar, wir bekümmern uns um gar nichts? Forschen gar nicht nach, wenn ein Mensch so mir nichts, dir nichts verschwindet? Wie? Was? Wollen Sie den Akt einsehen? Zwei Kommissionen sind hinauf, die Leute selber haben suchen geholfen, zwei Lawinen sind abgegraben worden. Wir haben unsere Pflicht getan, junger Herr. Merken Sie sich das!”
Peter beeilte sich, seiner Überzeugung Ausdruck zu geben, dass er von den amtlichen Bemühungen der bayrischen Regierungsstelle überzeugt sei. Aber dennoch – er hielte es für seine Pflicht, auch seinerseits alles zu tun, um Licht in das jähe Verschwinden des Oheims zu bringen.
„Sind also, mit einem Wort, gescheiter und tüchtiger als die Bezirksamtmannschaft. Kann mir nur recht sein. Ersparen mir die Arbeit, Herr Naseweis. Trinken Sie endlich, ich kann das nicht sehen, wie einer den frischen Schaum auf seinem Bier zergehen lässt. – So! Sie müssen sich um einen Gescherten umschaun, der Ihnen das Felleisen hinaufträgt. Ein Sauweg, ein verwünschter! Und liebe Leuteln! Schädel haben sie so hart wie Stein, sind pfiffiger und hinterhältiger als Holzfüchs', verschlossener als die Schatzkammer in München. Es ist ein Kreuz und Marter ohnegleichen mit den Bauern allhier. Also wirklich nur wegen des Oheims und der amtlichen Zuschrift?” Er sah Peter aus halbgeschlossenen Lidern prüfend an.
„Ich wüsste nicht...”, sagte Peter, durch den Ton verletzt.
Der Amtmann klopfte seine Pfeife in den irdenen Saumagen, der auf dem Tisch stand, räusperte sich, spuckte im Bogen auf den Fußboden und sagte dann lauernd:
„Gar kein Aufträgle von Wien in der Tasche? Gar nicht ein bissel aufwiegeln die braven kaisertreuen Tiroler gegen die Bayern? Sollt' mich überaus wundern, wenn's nicht so war'...!”
„Zu solchen Dingen habe ich weder Aufträge erhalten, noch hätte ich Zeit und Lust dazu”, gab Peter mit Schärfe zurück. „Ich will Ihnen bei dieser Gelegenheit sagen, Herr Amtmann, dass ich bei den Würzburger Franken nicht gelernt habe, Beleidigungen auf mir sitzen zu lassen!”
Das Gesicht des Bayern erhellte sich mit einem Schlag. Er brach in ein lautes fröhliches Gelächter aus und hieb Storck derb auf die Schulter: „Hohoho! Franconia zu Würzburg? Apfelgrün und pfirsichrot? Was macht denn der Laurenz Bartenstein mit seinem großen Hund? Und der Kropff? Sauft der Thomann noch so viel? Kreuzherrgottsaxen – mit dem Bruder vom Franken Stepf hab' ich in Erlangen gefochten. Ja – Sie sind freilich recht! He, Bier her, lahmes Mensch!”
Die Kellnerin lief.
„Sie haben schon noch Zeit”, begütigte er, als er Peters leise Ungeduld sah. „Länger als drei Stunden steigen Sie nicht, und für einen Träger werd' ich schon sorgen. Aber was das Frühere anbelangt – ich revoziere und depreziere alles und jedes! Wissen Sie, ich muss aufpassen als wie! Steigen allerhand verdächtige Kerle herum mit Briefen aus Wien und so. Sie mögen uns nicht, die frommen Tiroler. Unter uns: Man hat's dumm angefangen, hat sich in alles hineingemischt. Mit ihren Kirchen, Pfaffen und Glocken verstehn sie dahier keinen Spaß. Sie haben doch die närrische Klosterfrau gesehen, wie? Was glauben Sie, sollt' ich tun? Den Pater mit dem roten Geisbart verhaften, nach München schicken, das Klösterle, ich glaub', zehn Weiber sind im Ganzen darinnen, zusperren? Einen Bericht schreiben von da bis da – ellenlang und haargenau? Und dann das ganze Obere Inntal auf dem Hals haben! Ich dank' schön. Was geht das mich an? Von mir aus sollen sie Teufel austreiben, wo anderwärts der Narrenturm gut ist. Ich scher' mich nicht darum. Und wenn es die Herren Kollegen so gehalten hätten, wär' längst Ruh' und Frieden, und kein Mensch im Land möcht' den Österreichern und ihrem schlechten Geld nachweinen.”
Peter aß und trank, und in der Gesellschaft des Amtmanns wurde ihm leichter ums Herz, als ihm nach dem gräulichen Schauspiel bei der Ankunft gewesen war. Der Amtmann hielt mit offenherzigen Bemerkungen über die Ungeschicklichkeit, mit der man die Tiroler behandelte, nicht hinter dem Berg und schimpfte weidlich über die Ganzgescheiten in München, die vom grünen Tisch aus Befehle, Verordnungen und Maßregeln ergehen ließen, die fast immer Unheil anrichteten. Durch die neue Handelssperre gegen Tirol war die große Strelesche Leinwand- und Baumwollwarenfabrik zu Imst stillgelegt worden. Hunderte von armen Oberinntalern hatten dadurch ihr Brot verloren. Als sie auswärts Arbeit suchen wollten, verbot die Münchener Regierung das Auswandern. So lungerten sie bettelnd und darbend herum und wurden von den ausgedörrten Lehrern aufgehetzt, die mit ihren fünfzig Gulden im Jahr weder leben noch sterben konnten. Auch Räuber seien aufgetaucht, Burschen, die der Stellungspflicht entlaufen, sich in den Bergwäldern zusammengerottet hatten. Der Geist der Unzufriedenheit greife immer mehr um sich und die Garnisonen seien zu schwach. Welcher Esel seine, des Bezirksamtmannes Berichte lese, wisse er nicht, aber nichts von dem, was er vorgeschlagen, geschehe oder unterbleibe. Ja, es sei ein Elend, da sitzen zu müssen, schlechtes Bier zu trinken und sich die Finger wund zu schreiben für nichts und wieder nichts. Und das Ende sei jedes Mal eine Nase für ihn, den Amtmann von Pflederer. Ja, aber nun wolle er wirklich nicht aufhalten, – der Herr Storck käme sonst doch wohl ins Abenddämmern. Und das sei nichts. Aber fei nicht vergessen und einmal ins Tal hinunterschauen! Man könne sich einmal ein Lätizerl machen mit einer tapferen gebratenen Gans, äpfel- und kästengefüllt. „Was? Wie? Und was ich sagen wollte: Der Bruder vom Bartenstein ist Leutnant bei Kinkel.”
Der Abschied war geradezu herzlich. Bis zur Türe des Gasthauses ging der Amtmann mit Peter, nahm sogar das Felleisen in seine Obhut, bis der Bote es nachtragen würde. Die Kellnerin riss den Mund weit auf vor Staunen, ein paar Bauern, die vorübergingen, vergaßen schier den Hut zu lüften. So leutselig wie mit dem jungen Herrn im siebenkragigen Mantel hatte noch keiner den Amtmann gesehen.
„Noch eins”, sagte der Beamte mit gedämpfter Stimme. „Dort oben hab' ich nicht viel Macht. Wer kann alle diese Dörfer und Einödhöfe überwachen? So viel ich weiß, ist's dort noch finsterer wie da herunten. Lebendige Teufel sollen dort umgehn, und in den Nächten hört man die armen Seelen auf dem Ferner weinen. Ich glaub' allerweil, Herr Storck, Sie kommen recht bald wieder herunter. Na also, behüt Gott und Ade, Ade!”
Er winkte noch eine Weile, vom Pfeifenrauch umflattert.
Peter ging durch den nassen Schnee die Gasse hinunter, überschritt auf ausgetretenem Pfad die Felder und stieg bei dem blauweiß gestreiften Wegweiser den Berg hinan. Im knospenden Schwarzdorn pfiffen leise ein paar rotbrüstige Kreuzschnäbel. Graugrüne Wacholderstauden standen auf dem lehmgelben, schneefreien Hang. Der Weg drehte sich, führte in Hochholz, das unter schweren weißen Lasten ächzte. Helle Tränen hingen im Barthaar der Lärchen und Fichten. Von einem gebrochenen Wipfel strich stäubend mit gellendem Jagdruf ein Habicht ab. Manchmal fiel mit dumpfem Laut Schnee auf Schnee. Von weither kam melodisches Summen und tiefer Orgelton. Aber bei einer Biegung wurde der Laut zu wildem Brausen. Hoch über einem milchig schäumenden, hellgrünen Wildwasser führte der nicht sehr breite Steig durch kleine Abstürze. Blausilbrig gleißten Glimmerblöcke.
Peter hielt, rascher als sonst atmend, kurze Rast und sah in das stürzende Wasser da unten, das um wild zerstreute Gesteinsbrocken kochte und zischend aufspritzte. Zersplitterte ausgebleichte Baumleichen ragten aus brodelnden Kesseln, grünes triefendes Moos hing voll klarer Perlen. Die furchtbare Mühle des Baches schliff und drehte das Gestein zu Kugeln. Rund und glatt lagen sie, halb im Schwemmsand des Ufers vergraben, schwarzer, gelbgeäderter Marmor, dunkelroter Porphyr, schlangengrüner Serpentin. Zwischen manchen Stücken blitzten die goldenen Plättchen eines Erzkieses. Ebereschenstämmchen, jung und schlank, aus vogelverschlepptem Samen entsprossen, verirrte Tännlein hart am Ufer zitterten unter den Stößen, die das Wasser gegen den halbunterwaschenen Grund tat. Stahlblau und smaragden, ein bunter Metallblitz, pfiff ein Eisvogel vorbei.
Lange ging es neben dem Rauschen und Toben her. Schnee rutschte tückisch unter dem Fuß, ein Stein löste sich, polterte den Hang hinab, schwand aufspritzend, mit hartem Klang verborgenen Fels berührend, im Wasser. Der Weg hob sich, lenkte in uralten Nadelholzbestand und mündete in einen grausam abgeholzten Schlag mit schneebedecktem Gerank und haubentragenden Baumstümpfen.
Hier fuhr ein kleiner plötzlicher Schreck Peter an. Unter dem einzigen übrig gebliebenen Stamm, einem silbergrauen, entrindeten und vom Blitz getöteten Baum, saß unbeweglich ein Mensch, fast unsichtbar in seinem farblosen Gewand. Es war ein alter Mann mit völlig kahlem Kopf und bartlosem Antlitz. Peter sah ihn sehr genau, blickte gerade in die stechenden dunklen Augen eines strengen, scharf geschnittenen Gesichtes mit schmaler gebogener Nase und fest geschlossenen Lippen. So ungütig und hart dieses wohlgebildete Antlitz auch schien, auf Peter übte es einen unerklärlichen Reiz aus. Es war ihm, als hätte er diesen Greis schon einmal, vielleicht in einem Traum gesehen. Unter dem haarigen Lodenmantel, den der Alte um die Schultern trug, sahen die kurzen Lederhosen und die holzbraunen nackten Knie hervor. Die sehnige Hand hielt einen kurzen Bergstock mit langer blanker Eisenspitze, mehr Speerwaffe als Stab. Riemenschuhe schützten die Füße. Höchst würdevoll, ablehnend gegen jede Art von Annäherung, sah die Gestalt aus.