Die Wiedergeburt des Melchior Dronte - Paul Busson - E-Book

Die Wiedergeburt des Melchior Dronte E-Book

Paul Busson

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Beschreibung

Sennon Vorauf wird immer wieder von Deja vus heimgesucht.Diese sind in ihrer Klarheit und Eindrücklichkeit so intensiv, dass es sich um tatsächliche Erinnerungen eines schon einmal gelebten Lebens zu handeln scheint. Offenbar ist er der wiedergeborene Adlige Melchior Dronte, der im achtzehnten Jahrhundert lebte. In Form eines Gothic-Romans wird die Lebensgeschichte dieses Mannes erzählt. Damit eröffnet sich ein historisches Panorama, vom siebenjährigen Krieg bis hin zur Französischen Revolution. Und immer wieder begegnen dem Melchior Dronte auf seinem Weg metaphysische Figuren des Guten und des Bösen. Und über allen tatsächlichen und historischen Ereignissen liegt der Schleier des Mysteriums von Seelenwanderung und Transformation. Paul Busson veröffentlichte diesen Roman im Jahr 1921, drei Jahre vor seinem Tod.

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Seitenzahl: 480

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PAUL BUSSON

 

DIE WIEDERGEBURT DES MELCHIOR DRONTE

 

 

ROMAN

 

DIE WIEDERGEBURT DES MELCHIOR DRONTE wurde zuerst 1921 veröffentlicht.

Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von

© apebook Verlag, Essen (Germany)

www.apebook.de

2024

 

V 1.0

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

ISBN 978-3-96130-612-1

Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Die Wiedergeburt des Melchior Dronte

Impressum

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Zu guter Letzt

1

 

 

Der Magier: »O Scheich, ich gehe ins Jenseits;verschaffe mir ein Recht im Jenseits!«

Der Scheich: »Einen Rat kann ich dir geben;befolgst du ihn, so ist es zu deinem Heile.«

Türkische Legende

 

 

»Wenn der Todesengel dein Herz berührt,verläßt die Seele ihr enges Haus,schneller als der Blitz. Vermag sie Erinnerung mitsich zu nehmen, so bleibt sie ihrer Sündenbewußt. Dies ist der Weg zur Reinheitund der des Eingangs zu Gott.«

Geheimlehre der Beklaschi

 

 

Was ich hier niederschreibe, hoffend, daß es nach dem Willen Gottes in die richtigen Hände gelange, habe ich, Sennon Vorauf, in jenem körperlichen Dasein erlebt, das meinem jetzigen Leben vorausging. Diese Erinnerungen sind mir durch eine besondere Begnadung über jene Verwandlung hinaus, die man Tod nennt, geblieben.

Bevor ich dies erkannte, litt ich unter ihnen und hielt sie für unerklärliche, qualvolle Arten von Träumen. Nebenbei hatte ich aber auch im Leben des Tages allerlei Erschütterungen ungewöhnlicher Art durchzumachen. Es geschah zum Beispiel, daß mich der Stundenschlag einer alten Uhr, der Anblick einer Landschaft, ein Duft, die Weise eines Liedes oder auch nur eine Wortverbindung auf das heftigste mit dem Gedanken überfielen, ich hätte dies ganz bestimmt schon einmal gehört, gesehen, eingeatmet, irgendwie erlebt, ich sei an diesem oder jenem Ort, den ich im jetzigen Leben zum erstenmal erblickte, schon einmal gewesen. Ja, häufig genug wurde ich im Gespräch mit neuen Bekannten auf das stärkste von der Vorstellung ergriffen, daß ich mit ihnen schon einmal in ganz besonderen Beziehungen gestanden sein müsse. Da es mir vor dem Eintreten der Erkenntnis unmöglich war, für solche unbeschreiblich erregende Gemütsbewegungen aus scheinbar nichtigen Anlässen eine natürliche Erklärung zu finden, verfiel ich zum Kummer meiner Eltern oft in stundenlange Grübeleien, deren unbekannte Ursache sie nicht wenig beunruhigte. Aber durch die häufige Wiederholung und immer schärfer werdende Bildhaftigkeit der Geschichte wurde mir bereits im Knabenalter bewußt, daß sie nichts anderes als Spiegelbilder von Schicksalen seien, die meine Seele in einem anderen Leibe erlitten hatte, und zwar vor der Geburt meines jetzigen Körpers; zudem stellten diese »Träume« Erlebnisse dar, die meinem jetzigen Gedankenkreis völlig fremdartig und erschreckend fernstehend waren. Nie hatte ich dergleichen gehört oder auch nur irgendwo gelesen oder sonstwie erfahren. Ich begann von selbst diese »Träume« aufzuzeichnen und erreichte dadurch, daß fortan in gewissen günstigen Augenblicken auch des sogenannten Wachseins sich solche Erinnerungen mit außerordentlicher Genauigkeit einstellten.

Immer deutlicher und zusammenhängender ergab sich aus diesen »Klar-Träumen« (wie ich sie bei mir nannte) das Gesamtbild eines Lebens, das ich vor diesem unter dem Namen eines deutschen Edelmannes (ich will ihn hier Melchior Freiherr von Dronte nennen) geführt und beendigt hatte, als der Leib der Umwandlung verfiel und die jetzt in Sennon Vorauf wohnende Seele, meine Seele, frei wurde.

In das friedliche und mit innerer Ruhe gesegnete Leben, das ich führe, brach störend, verwirrend und erschreckend die Rückschau auf das wilde und abenteuerliche Dasein Melchior von Drontes ein. Was er verschuldet, war meine Schuld, und wenn er sühnte, so sühnte er für die Seele, die wiederkam, für seine und also meine Seele.

Ich bin mir zwar vollständig bewußt, daß viele dieses Buch mit ungläubigem Lächeln, ja stellenweise vielleicht mit Ekel und Abscheu lesen werden. Aber ich hoffe zugleich, daß die Zahl der Menschen von tieferem Empfinden groß genug ist, um diese Niederschrift nicht untergehen zu lassen. Denen, die sich an Einzelheiten aus früheren Daseinsformen zu erinnern vermögen, die sich also eines vorhergegangenen Lebens bewußt sind, möchte ich dieses Buch zueignen.

Ebenso wie ich den wirklichen Namen, den ich führte, durch »Dronte« ersetzte, habe ich verschiedene Personen, deren Nachkommen leben, mit erfundenen Namen bedacht. Zudem streife ich hier die Tatsache, daß ich Menschen in diesem Leben wiederfand, die ich aus der Zeit vor meinem Tode kannte. Die meisten von ihnen waren sich eines früheren Daseins keineswegs bewußt. Dennoch gab es im Zusammensein mit ihnen Augenblicke und Gelegenheiten, die deutlich erkennbar blitzartige Erinnerungen, sekundenrasches, gleich wieder zerfließendes Wiedererkennen in ihnen aufflackern ließen, ohne daß es ihnen gelungen wäre, solche beunruhigende Gefühle zu bestimmen oder Entgleitendes festzuhalten. Damit sage ich denen, die gleich mir Teile eines früheren Bewußtseins in das neue Leben hinübergerettet haben, gewiß nichts Neues.

Die rohe, derbe und oft grobsinnliche Art der folgenden Lebensbilder konnte ich schon aus Wahrheitsliebe nicht mildern, so unerfreulich und verletzend manches wirken mag. Es war mir nicht darum zu tun, durch beschönigende und geglättete Form die furchtbare Deutlichkeit zu verschleiern, mit der die Erinnerungen in mir auftauchten, und so ein angenehm lesbares Buch zu schreiben. Es mußte alles so bleiben, wie es war und wie es eine Zeit formte, deren Geist von dem der unsern verschieden war.

Aus tiefstem, eigenstem Gefühl soll aber dieses Buch die Unsterblichkeit der Seele bekennen und dieses Bekenntnis womöglich in anderen erwecken. Vor allem beseelt mich die Hoffnung, daß denen, die an die Wanderung der Seele nach dem Tode des Leibes glauben, in diesem Buche nicht ganz wertlose Fingerzeige gegeben werden. Anderen, die auf dem Wege, den ich gegangen bin, noch nicht fortgeschritten sind, mag es wenigstens um seines bunten Inhaltes willen nicht verhaßt sein.

2

 

Ich erinnere mich sehr genau an einen Vorfall aus meinem fünften Lebensjahre.

Man hatte mich, wie immer, ausgekleidet und in mein rosa lackiertes, muschelförmiges Kinderbett gelegt. Der warme Sommerabendwind trug das Zirpen vieler Insekten in das Zimmer, und die in einem silbernen Leuchter steckende Wachskerze flackerte. Sie stand auf einem niedrigen Kasten neben dem Glassturz, unter dem der »Mann aus dem Morgenlande«, oder der »Ewli«, wie man ihn auch nannte, sich befand.

Dies war eine spannenhohe, sehr schön gebildete Figur, die ein Verwandter, der einem vornehmen Venezianer Dienste geleistet, von dort als Geschenk des Nobile mitgebracht hatte. Es war die in Wachs bossierte Gestalt eines mohammedanischen Mönchs oder Derwisches, wie ein alter Diener mir oft sagte. Das Gesicht hatte für mich den lieblichsten Ausdruck. Es war völlig faltenlos, hellbräunlich und von sanften Zügen. Zwei schöne dunkle Augen glänzten unter einem tiefschwarzen Turban, und über den weichgeschwungenen roten Lippen war ein kleiner schwarzer Bart zu sehen. Der Leib stak in einer braunroten Kutte mit langen Ärmeln, und um den Hals trug der Derwisch eine Kette aus winzigen Bernsteinperlen. Die beiden feinen Wachshände waren an herabhängenden Armen mit den Handflächen nach vorne gekehrt, gleichsam bereit, jeden, der nahen sollte, aufzunehmen und willkommen zu heißen. Dieses ungemein zart und kunstvoll in Wachs und Stoffen ausgeführte Bildnis war in meiner Familie hochgeschätzt, und schon deshalb zum Schutze gegen Staub und ungeschickte Hände unter eine Glaskuppel gestellt worden.

Stundenlang saß ich oft vor diesem mir aus unbekannten Gründen so teuren Figürchen, und mehr als einmal hatte ich die Empfindung, als beseele sich im Alleinsein mit mir das dunkle Auge, als ziehe ein leises, gütiges Lächeln seine schwache Spur um die Lippen.

An diesem Abend nun konnte ich nicht einschlafen. Vom Brunnen im Hofe her klang das Plätschern des Wassers und das Lachen der Mägde, die sich wuschen und gegenseitig bespritzten und mit ähnlichem Schabernack einander neckten. Auch schrillten die Zikaden und Grillen auf den Wiesen, die das Herrenhaus umgaben, überlaut. Dazwischen klangen dumpf die Töne eines Waldhorns, auf dem einer der Waidjungen einen Ruf übte.

Ich kletterte aus meinem Bett und ging im Zimmer umher. Dann aber begann ich mich vor dem Augenblick zu fürchten, der die alte Margaret zum Lichtlöschen, falls ich eingeschlafen sei, allabendlich ins Zimmer führte, und ging in mein Bett zurück.

Gerade als ich im Begriffe war, mit meinen nackten Beinchen den Rand der Bettmuschel zu überklettern, war es mir, als hätte eine Stimme leise meinen Namen gerufen. Ich sah mich erschrocken um. Mein Blick fiel auf den Mann aus dem Morgenlande. Ganz deutlich sah ich, wie er einen Arm unter der Glasglocke hob und mir winkte.

Ich begann vor Schreck zu weinen, unverwandt die kleine Figur ansehend.

Da sah ich es ganz deutlich zum andernmal: er winkte mir sehr hastig und befehlend mit der Hand.

Zitternd vor Angst gehorchte ich; dabei rannen mir unaufhaltsam die Tränen über das Gesicht.

Am liebsten hätte ich laut geschrien. Aber das wagte ich nicht, aus Furcht, den kleinen Mann, der nun auf einmal lebendig war und immer heftiger winkte, in Zorn zu versetzen, wie etwa meinen Vater, dessen kurzer einmaliger Wink nicht nur für mich, sondern für alle Hausbewohner ein Befehl war, der schnurstracks befolgt werden mußte.

So ging ich denn, lautlos weinend, dem Kasten zu, auf dem der winkende Derwisch stand.

Ich hatte ihn beinahe, trotz meiner bange zögernden Schritte, erreicht, als etwas Furchtbares geschah. Mit entsetzlichem Dröhnen und Prasseln, in einer Wolke von Staub, Schutt und Splittern stürzte die Zimmerdecke über meinem Muschelbett ein.

Ich fiel zu Boden und schrie. Etwas flog sausend durch die Luft und schmetterte den Glassturz und den winkenden Mann aus Wachs in tausend Scherben und Stücke. Ein Ziegel, der über mich hinweggeflogen war.

Ich schrie aus Leibeskräften. Aber es schrie im ganzen Hause, draußen am Brunnen und überall, und die Hunde im Zwinger heulten auf.

Arme packten mich, rissen mich von der Erde auf. Blut rann mir in die Augen, und ich fühlte, wie man ein Tuch auf meine Stirne drückte. Ich hörte die scheltende, aufgeregte Stimme meines Vaters, das Jammern der alten Margaret und das Stöhnen eines Dieners. Mein Vater schlug ihn mit einem Stock und schrie: »Er Esel, warum hat Er nicht gemeldet, daß Sprünge im Plafond waren? Ich haue Ihn krumm und lahm...!«

Da schrie ich so laut, daß mein Vater von ihm abließ.

»Die Kröte kann es nicht vertragen, wenn man die Kanaille züchtigt«, sagte er ärgerlich, »wird sein Tage kein rechter Kerl!« Sporenklirrend ging er hinaus.

Vor diesem Klirren fürchtete ich mich mehr als vor allem anderen.

Dann gab man mir Konfekt und streichelte mich

Eine junge Magd küßte meine nackten Waden. »Süßer Bub!« sagte sie.

In einem Spiegel zeigten sie mir, wie mich ein Glassplitter an der Nasenwurzel getroffen und einen kleinen Schnitt quer zwischen den Brauen gerissen hatte.

Es blieb eine Narbe davon.

3

 

Ich spielte im Garten mit meiner kleinen Base Aglaja, die ich sehr lieb hatte. Aus schwarzen, glänzenden Kugelbeeren hatte ich einen Kranz geflochten, den setzte ich wie eine dunkle Krone auf ihr kupferfarbenes Haar, das golden in der Sonne leuchtete. Sie war die Königstochter, verzaubert in Dornenhecken, und ich schickte mich an, sie zu erlösen. Den Drachen, der sie bewachte, mußte die schwarze Diana spielen. Mit klugen Augen wartete der Hund auf das neue Spiel

Da kam in Begleitung einer Magd eilig der Bader mit dem Messingbecken durch den Garten, und in der Haustüre erschien ein Diener, es war der Stephan, der rief ihm zu, er möge sich beeilen.

Aglaja warf ihren Beerenkranz zur Erde, und beide liefen wir hinterdrein, bis in das Zimmer des Großvaters, das wir sonst nur mit seiner besonderen Erlaubnis betreten durften. Solche Besuche waren immer sehr feierlich und fanden nur an den großen Festtagen des Jahres oder an Geburtstagen statt, wobei wir kleine Gedichte aufsagen mußten und dafür Näschereien erhielten.

Es erschien uns beiden als ein großes Wagnis, ungebeten in das Zimmer des strengen alten Herrn einzutreten, aber die Neugierde trieb uns vorwärts.

Der Großvater saß ganz ruhig in seinem Schlafstuhl. Er trug wie immer eine grauseidene Ärmelweste mit gestickten Rosensträußchen, schwarze Hosen, weiße Strümpfe und Schuhe mit breiten Silberschnallen. An seiner Uhrkette hing ein Bündel von goldenen, farbigen und glitzernden Dingen, geschliffenen Steinen, Korallen und Siegeln, mit denen ich manchmal hatte spielen dürfen.

Vor ihm stand mit gesenktem Haupt mein Vater, und er bemerkte uns Kinder gar nicht. Als der hagere, in einen geflickten Rock gekleidete Bader näher trat, faßte er ihn am Arm, ward rot im Gesicht und sagte halblaut: »Das nächstemal lauf Er schneller, verdammter Kujon, wenn man Ihm die Ehre erweist!«

Der armselige Bader stotterte etwas, packte mit fliegenden Händen seine roten Binden und Springmesser aus, schob Großvaters Ärmel in die Höhe, berührte mit dem Finger die Lider der verdrehten Augen, tat dann am Arm herum, wobei er das Becken unterhielt. So wartete er eine Weile, dann sagte er schüchtern: »Es nützet nichts, freiherrliche Gnaden – das Blut will nimmermehr fließen!« Da wandte sich der Vater um und blieb mit zur Wand gekehrtem Gesicht stehen.

Der Stephan schob Aglaja und mich sanft zur Türe hinaus und flüsterte: »Seine Gnaden sind zu dero Vätern eingegangen.« Und als wir ihn fragend anblickten, da wir dies nicht zu verstehen vermochten, sagte er: »Der Herr Großvater ist tot.«

Wir gingen wieder in den Garten und lauschten dem Rumoren, das alsbald im Hause anhub. Rechts im Flur war eine geräumige Kammer, in der ich als ganz kleines Kind, wie ich mich wohl entsann, meine Mutter zwischen vielen Lichtern hatte liegen sehen. Diese Kammer, in der sonst allerlei Gerät stand, räumten sie nun aus und schleppten große Ballen schwarzen Tuches herbei, das häßlich roch.

Die Aglaja hatte der Großvater lieber gehabt als mich und ihr öfter Leckereien und Zuckerzeug gegeben als mir. Diese guten Sachen hatte er in einer Schildkrotdose verwahrt, die nach Zimt und Muskat duftete. Sie weinte ein wenig, die Aglaja, weil sie daran dachte, daß das nun vorüber sei, wenn der Großvater fortkäme. Dann aber erinnerten wir uns beide an die andere Dose, die er hatte und die uns nur höchst selten zu beschauen verstattet war. Das war seine goldene Schnupftabakdose, die ihm der Herzog von Braunschweig geschenkt hatte. Aber auf dieser schönen, funkelnden Dose, auf ihrem Deckel, war noch ein zweites Deckelchen, und wenn dieses aufsprang, erschien ein ganz kleines Vögelein, blitzend von grünen, roten und violetten Steinen, das wippte mit den Flügeln und flötete trillernd wie eine Nachtigall. Wir konnten uns an ihm kaum satt sehen und hören, aber der Großvater schob es in die Tasche, sobald nach einer kurzen Weile das Deckelchen von selbst zuklappte, und hieß uns zufrieden sein.

Ich sagte zur Aglaja, nun könnten wir wohl das Vögelchen genau betrachten und sogar befühlen, da der Großvater ja tot sei. Sie fürchtete sich anfangs, hinaufzugehen, aber ich faßte sie an der Hand und zog sie hinter mir her.

Niemand war auf dem Gange, und auch das Zimmer war leer. Leer stand der breite Lehnstuhl da, in dem der Großvater zuletzt auch die Nächte verbracht hatte. Auf dem Tischchen daneben standen noch die Flaschen mit den langen Zetteln.

Wir wußten, daß der Großvater die Dose immer aus der mittleren Lade eines Schubkästchens geholt hatte. Dieser Kasten war aus bunten Hölzern, mit Schiffen, Städten und Kriegsleuten aus alter Zeit verziert und auf der Lade, die wir öffnen wollten, waren zwei dicke Holländer zu sehen, die Pfeife rauchten und von knienden Mohren bedient wurden. Ich zog an den Ringen; aber erst, als mir die Aglaja half, gelang es uns, die Lade aufzuziehen.

Da lagen Großvaters Spitzenjabots und Tüchlein, eine Rolle Golddukaten, eine große, mit Gold eingelegte Pistole, viele Briefe in Bündeln, Schuhschnallen und Rasiermesser und auch das Döschen mit dem Vogel.

Ich nahm es heraus, und wir versuchten, das Deckelchen springen zu lassen. Aber es gelang uns nicht. Bei dem Herumarbeiten aber ging der große Deckel auf, und von diesem löste sich eine dünne Platte nach innen, die für gewöhnlich etwas verbarg. Es war ein kleines Bild, das in feinen Schmelzfarben gemalt war. Ein Bild, aus dem wir nicht klug wurden und das uns das Vöglein ganz vergessen ließ.

Auf einem kleinen Sofa lag eine Dame mit ganz emporgeschobenen Röcken, und ganz bei ihr war ein Herr mit Degen und Perücke, dessen Kleider ebenfalls in seltsamer Unordnung waren. Sie taten etwas, was uns ebenso komisch wie unheimlich vorkam. Zudem ging auf den Mann ein kleines, geflecktes Hündchen los, worüber die liegende Dame zu lachen schien. Auch wir lachten. Aber dann stritten wir sehr aufgeregt, was dies sei.

»Sie sind verheiratet«, sagte Aglaja und wurde ganz rot.

»Woher weißt du das?« fragte ich, und mein Herz klopfte sehr stark.

»Ich glaube, es sind Götter...«, flüsterte Aglaja. »Ich habe ein Bild gesehen, da tun die Götter so. Aber sie hatten keine Kleider an.«

Auf einmal war uns, als ob im Nebenzimmer, in dem der tote Großvater lag, die Diele knarre. Wir fuhren zusammen, und Aglaja schrie auf. Da warf ich die Dose rasch in die Lade, drückte diese zu und zog meine Base aus dem Zimmer. Wir schlichen in den Garten.

»Aglaja...«, sagte ich und faßte nach ihrer Hand. »Wollen wir auch so heiraten...?«

Da sah sie mich erschrocken an, riß sich los und lief ins Haus zurück. Betreten und verwirrt ging ich zum Stephan, der Rosen von den Stöcken schnitt und sie in einem Korb sammelte.

»Ja, junger Herr!« sagte er. »So geht es mit uns allen dahin!«

4

 

Neben mir saßen Phöbus Merentheim und Thilo Sassen. Wir drei waren die vornehmsten. Hinter uns hockte Klaus Jägerle, der Prügelknabe. Er durfte mit uns lernen, bekam zu essen, und wenn wir etwas nicht wußten, wurde an ihm die Strafe vollzogen. Seine Mutter war eine Waschfrau, und der Vater flocht Körbe, obschon er nur einen Arm hatte. Der andre war von einem feindlichen Reiter durchhauen worden, als er den schwerverwundeten Vater Thilos mit seinem Leibe schützte. Dafür durfte Klaus mit uns lernen und reihum zu Mittag an den Gesindetisch kommen. Der Klaus war sehr fleißig, schüchtern und bedrückt, und mußte alles erdulden, was seine Mitschüler ausheckten, wenn sie übermütiger Laune waren. Es erging ihm fast noch schlimmer als dem buckligen Sohn des Krämers Isaaksohn, den sie einmal an die Türe gestellt hatten und ihm einer nach dem andern ins Gesicht spuckten, so daß ihm der eklige Saft, vermischt mit seinen Tränen, über das neue Rokelor rann.

Ich war in großer Angst, weil ich nichts gelernt hatte. Denn vor mir stand der kleine, giftige Lehrer des Französischen in seinem tintenbespritzten, tabakfarbenen Rock mit den verbogenen Bleiknöpfen, den Gänsekiel hinter dem Ohr, durch die spaniolgefüllte Nase sprechend. Sein blasses Gesicht war voll von Sommersprossen und zuckte unaufhörlich. In der linken Hand hielt er ein grüngebundenes Buch, und mit dem schwarzgeränderten knotigen Zeigefinger der rechten Hand fuchtelte er vor meinem Gesicht herum.

So machte er es immer. Ganz plötzlich, nachdem er eine Weile hämisch unsere Gesichter studiert hatte, fuhr er wie ein Stoßgeier auf einen der Schüler los und fand stets den Unsichersten heraus. Es war seine Gewohnheit, zu Beginn der Stunde das Vocabulaire zu prüfen, das heißt, er schleuderte dem Opfer einige französische Wörter ins Gesicht, die sofort übersetzt werden mußten.

Diesmal hatte er mich auserwählt.

»Allons, Monsieur–«, zischte er. »Emouchoir – Tonte – Méan. – Sofort! Rasch!«

Ich war erschrocken und stammelte:

»Emouchoir – der Fliegenwedel, tonte – die Schafschur – méan... méan, das ist – das heißt –«

Er wieherte vor Freude.

»Ah – Sie wissen es nicht, cher Baron?«

»Méan –, das ist – –«

»Assez! Setzen Sie sich!«

Er meckerte, und seine kleinen schwarzen Augen sprühten vor Vergnügen. Langsam nahm er eine Prise aus seiner runden Horndose, fuhr mit zwei Fingern unter der spitzen Nase hin und her und stach dann mit der Dose nach meinem Nachbarn.

»Monsieur Sassen! – Auch nicht? – Merentheim? Ebenfalls nicht? – Jägerle, steh Er auf und sag Er es!«

Der arme Klaus fuhr wie von einer Feder geschnellt in die Höhe und sagte mit dünner Stimme:

»Méan –, so nennet man bei den Salzteichen am Meere das fünfte Behältnis, in welches man das Seewasser zur Gewinnung des Salzes einfließen läßt.«

»Gut«, nickte der Lehrer und lächelte boshaft. »Er selbsten weiß es zwar, aber als Anhängsel der Noblesse in dieser Schule nenne ich Ihn sot, paresseux et criminel! Heraus mit Ihm aus der Bank, damit Er bekommt, was Ihm als dem Stellvertreter der unwissenden Noblesse gebührt!«

Ich ward blaß vor Wut. Dieses Übermaß von Ungerechtigkeit gegen den armen Jungen, den einzigen, der das seltene und kaum gebräuchliche Wort kannte, erschien mir himmelschreiend. Ich stieß Sassen an, aber er zuckte nur die Achseln, und Phöbus sah in die Luft, als ginge ihn das nichts an.

Zögernd kam Klaus Jägerle aus der Bank hervor. Dicke Tränen standen ihm in den Augen. Glührot vor Scham nestelte er an seinem Hosenbund...

»Schneller! Entblöße Er seinen derrière!« kreischte der Schulfuchs und wippte mit dem vierkantigen Lineal, »auf daß Ihm an Stelle der Noblesse sein ordentlicher Schilling zuteil werde!«

Entsetzt sah ich, wie Klaus ergeben die Hose fallen ließ. Zwei arme, magere Beine kamen zum Vorschein, ein graues, zerfranstes Hemd. Der Lehrer griff mit gespreizter Klaue nach ihm.

Da sprang ich aus meiner Bank.

»Sie werden den Jägerle nicht schlagen, Monsieur!« schrie ich. »Ich dulde es nicht...«

»Ei, ei!« lachte der Mensch, »dies wird sich ja allsogleich zeigen...« Er drückte den willigen Kopf des armen Jungen nieder und holte zum Schlage aus.

Da sprang ich dem Lehrer an die Kehle. Er schrie keuchend und stieß mit den Füßen nach mir. Wir fielen zu Boden. Die Bank stürzte um, Tinte floß über uns. Die andern Schüler jauchzten vor Freude und trampelten mit den Füßen. Ich fühlte plötzlich einen starken Schmerz in der rechten Hand. Er hatte mich gebissen, mit seinen häßlichen, schwarzen Zahnstumpen gebissen. Ich schlug ihn mit der Faust ins Gesicht. Blut und Speichel spritzten aus seinem Mund.

Eine Hand packte mich am Kragen und riß mich in die Höhe. Ich sah in ein grobes, gutmütiges Gesicht unter einer zausigen grauen Perücke. Der Rektor.

»Verrückt geworden, Domine? – Erheben Sie sich, Monsieur!« rief er den blutenden Lehrer an.

»Er will mir ans Leben!« kreischte der.

»Baron Dronte, Sie verlassen sofort die Schule!« sagte der Rektor und wies auf die Türe.

Klaus Jägerle stand noch immer mit demütig gesenktem Kopf und seinen dünnen, zitternden Beinen da, und wagte es nicht, ohne Erlaubnis die Hose hinaufzuziehen.

5

 

Schlimm erging es mir, als der Vater den Reitknecht mit dem Fuße vor den Leib stieß und auf ihn, der sich auf dem Boden krümmte und wimmerte, mit der Hetzpeitsche einhieb. In einem Anfall von Mitleid riß ich die Peitsche aus des Vaters Hand und schleuderte sie weit weg.

Dafür saß ich nun in einer Dachkammer unseres Hauses bei Wasser und Brot. In der Kammer war nichts als eine Schütte Stroh im Winkel und ein Schemel, auf dem ich sitzen konnte. Jeden Morgen kam mein Vater, gab mir eine wuchtige Ohrfeige und zwang mich, mit lauter Stimme einen Bibelvers zu sprechen:

»Denn der Grimm des Mannes eifert und schonet nicht zur Zeit der Rache. Und siehet keine Person an, die da versöhne, und nimmt's nicht an, ob du viel schenken wolltest.«

Wenn ich den Vers gesprochen hatte, bekam ich eine zweite Ohrfeige. Ich ließ alles über mich ergehen und war voll von Haß.

Heute war der fünfte und letzte Tag der Strafe.

Leise drehte sich ein Schlüssel im Türschloß. Ich wußte, daß es nicht der Vater sein konnte.

Es war Aglaja. Mein Trotz gegen alle Welt hinderte mich, der süßen Freude nachzugeben, die ich bei ihrem Anblick empfand. Hold und errötend trat sie in ihrem weißen, blaugeblümten Kleidchen über die Schwelle des düsteren und staubigen Dachraumes. Ihr Gesicht war kindlich und von unbeschreiblichem Reiz. Milchweiß leuchtete ihre fleckenlose Haut, gehoben vom metallenen Rot der Haare. Ich wußte wohl, wie lieb sie mich hatte, und auch ich dachte in meiner Einsamkeit und Not nur an sie, Tag und Nacht. Aber in mir war Böses genug, um den Wunsch aufkommen zu lassen, auch sie in Leid zu versenken.

»Was willst du hier?« knurrte ich. »Geh doch zu meinem Herrn Vater – mach dich lieb Kind bei ihm! Du kannst dich sogleich fortscheren, du!«

Ihre Wimpern zitterten, und ihr kleiner Mund begann zu zucken.

»Ich wollte dir ja nur meinen Kuchen bringen...«, sagte sie ganz leise und hielt mir ein großes Stück Torte hin.

Ich riß es ihr aus der Hand, warf es auf die Erde und trat mit dem Fuße drauf.

»So!« sagte ich. »Geh, und erzähle es der Frau Muhme, oder meinem Vater, wenn du willst!«

Sie stand ganz regungslos, und ich sah, wie langsam zwei Tränen aus ihren schönen grauen Augen rannen. Dann ging sie in die Ecke, setzte sich auf das Strohlager und weinte bitterlich.

Ich ließ sie weinen, indes mir selbst das Herz in der Brust zerspringen wollte. Aber dann hielt ich es nicht mehr aus. Ich kniete mich zu ihr hin und streichelte ihr Haar.

»Liebe, liebe Aglaja...«, stammelte ich, »verzeih mir – du bist ja die einzige hier, die ich lieb habe...«

Da lächelte sie unter Tränen, nahm meine rechte Hand in die ihre und führte sie an ihre junge Brust. Und ich dachte daran, wie ich einmal des Nachts, in einem dunklen, angstvollen Trieb, in ihr Zimmer geschlichen war und beim Schein der Nachtlampe ihre Decken gehoben hatte, um ihren Körper ein einziges Mal zu sehen. Sie war erwacht und hatte mich starr angesehen, bis ich aus dem Zimmer geschlichen war, von Reue und Furcht erfaßt.

Als hätte sie erraten, woran ich dachte, sah sie mich plötzlich an und flüsterte:

»Du darfst es nie mehr tun, Melchior!«

Ich nickte stumm und hielt noch immer eine ihrer kleinen Brüste umfaßt. In stoßenden Wellen ging mein Blut.

»Ich will dich gerne küssen –«, sagte sie dann und hielt mir ihre süßen, weichen Lippen hin.

Ich küßte sie ungeschickt und heiß, und meine Hände verirrten sich.

»Nicht – o nicht –«, stammelte sie und schmiegte sich doch fest in meine Arme.

Da ging irgendwo im Hause eine Türe und schlug knallend zu. Sporen klirrten. Wir fuhren auseinander.

»Wirst du mich immer lieben, Aglaja –?« flehte ich.

»Immer«, sagte sie und sah mir gerade in die Augen. Und auf einmal begann sie wieder zu weinen.

»Warum weinst du?« drang ich in sie.

»Ich weiß es nicht – vielleicht ist es wegen des Kuchens –«, sagte sie und lächelte vor sich hin.

Ich nahm das zertretene und beschmutzte Gebäck vom Boden auf und aß es.

»Vielleicht ist es auch – weil ich nimmer lang bei dir sein werde –.«

Wie ein Hauch kamen die Worte aus ihrem Munde

Ich sah sie bestürzt an. Ich verstand sie nicht.

»Gib nicht acht auf mich«, lachte sie plötzlich. »Wenn es auch sein sollte – ich komme immer wieder zu dir!«

Einen raschen Kuß drückte sie noch auf meinen Mund, glättete ihre Kleider und lief rasch aus dem Dachzimmer.

»Aglaja! Bleib bei mir!« rief ich in jäher Angst.

Mir war auf einmal so bang. Aber ich hörte nur mehr das harte Klappern ihrer hohen Stöckel auf der Treppe.

Eine Herbstfliege summte an dem kleinen, spinnwebverhangenen Fenster ruhelos. In den verrußten, zerrissenen Netzen hingen ausgezogene Käfer, leere Schmetterlinge, Insektenleichen aller Art. – Die Fliege zappelte. Der summende Ton ward hoch. Langsam kroch aus einem dunklen Loch eine haarige Spinne mit langen Beinen, faßte die Fliege, senkte ihre giftigen Kiefer in den weichen Leib. – Das Summen wurde ganz hoch – der Todesschrei eines kleinen Wesens. Plötzlich sah ich, daß die Spinne ein fürchterliches Gesicht hatte.

Ich lief zur Tür und polterte mit beiden Fäusten an das Holz.

»Aglaja!« schrie ich. »Aglaja!«

Niemand hörte mich.

6

 

Wir hatten unter dem blauen Himmel, in ganz warmem, tiefem Sonnenschein geholfen, die Obsternte des großen Angers hinter dem Hause einzubringen. Die Pflaumen troffen vor Süße. Wie Wein schmeckten sie. Wir konnten nicht genug bekommen. Die Reineclauden, an die wir gerieten, waren noch köstlicher. Sie zerschmolzen im Munde.

Am Abend schrie Aglaja vor Schmerzen.

Um Mitternacht war sie tot.

Das Haus war von Jammergeschrei erfüllt. Der Vater hatte sich in sein Schreibzimmer eingeschlossen. Die Mägde heulten in ihre Schürzen.

Aglaja war tot.

Ich ging nur so hin und her, nahm Dinge in die Hand, ohne zu wissen, was ich da ergriffen hatte, lehnte lange, ohne irgend etwas zu denken, mit dem Kopfe an einem geschnitzten Türpfosten, bis mich der Schmerz weckte, trank Wasser aus einer Gießkanne.

Die Tage, die Tage gingen. Ohne Anfang oder Ende. Überall weinte es. Ich sah zu, wie sie aus der Kammer im Flur die Habersäcke ausräumten und die schwarzen Tücher brachten. Wie sie Astern und Herbstrosen schnitten und zu Kränzen wanden, aufschluchzend und mit erdigen Händen die nassen Gesichter beschmierend. Ich streichelte die Klinke der Kammer, eine vom vielen Gebrauch dünn geschliffene Klinke, an der man sich weh tat, wenn man unachtsam war. Aber als sie drinnen die Tücher an die Wände nagelten und die Leuchter aus der Silberkammer brachten, als die Schritte von Leuten, die etwas Schweres trugen, die Treppe herunterkamen, lief ich in den Blätterfall des Gartens.

Nebel zogen und es tropfte. Die schöne Zeit war dahin. Der letzte Tag vorbei. Ich sah einen blauen Laufkäfer und trat nach ihm. Gelbliche Eingeweide quollen aus seinem kleinen Leib, die Beine zuckten, zogen sich still und steif zusammen. So tat ich nicht anders, als mein Vater tat, wenn er Leute schlug. Ich mußte weinen, ganz allein auf einer Bank aus kaltem Stein. Einmal im Sommer war der Stein so heiß gewesen, daß Aglaja und ich versucht hatten, wer länger die Hand auf ihm halten könne. So fein war ihre weiße Hand gewesen, daß sie eine Brandblase bekam. – Ein kalter Tropfen fiel vom Himmel auf meine Stirn.

Ich ging wieder zurück. Dunkelgelbes Licht fiel aus der Kammer; ein Sarg stand auf schwarzverhangenen Böcken, auf dem war ein Kreuz aus Silber, und eine hohe Totenkrone, mit Flittern, buntem Glas und Spiegelchen behängt. Das Wachs rann und tropfte, die Kerzen flackerten. Die Blumen rochen nach Erde. Die Muhme kniete am Sarg.

»O mein Aglajele! Mein Aglajele!« rief sie. »Und daß ihr Gesichtlein nimmer zum kennen ist! – Regnet's schon?« fragte sie mich und wandte mir ihre verschwollenen Augen zu.

»Weiß nicht –«

Und dann kam aus mir ein Aufschrei und ein so wildes Weinen, daß mich die Muhme um die Schultern nahm und mir zusprach.

»Mußt nicht, Bub, mußt nicht – es kommen schon die Leut'!«

Man hörte Füße trappen. Menschen kamen, murmelten. Der Fink im Hausflur sprang in seinem Käfig von Sprosse zu Sprosse und schrie immerfort: »Sieh – sieh – sieh – den Reitzug!«

Ich stand auf.

Der Pfarrer kam. Er hatte den Schnupfen und zog oft das Taschentuch. Er hatte Aglaja getauft und eingesegnet.

Wagen fuhren vor: die Sassens kamen, die Zochte, die Merentheim, die Kürassiere aus der Stadt, der Doktor Zeidlow, die alte Gräfin Trettin, die Hohentrapps.

Eine Glocke läutete im Dorf, schwang; bing – beng – bing – beng. Schulkinder.

Die Muhme winkte dem Lehrer. Ich hörte, wie sie schluchzend sagte: »Er läßt mir dasselbige Lied singen wie bei meinem seligen Hänschen, wenn sie auch schon eingesegnet war. Aber sie ist in weißer Unschuld, gleichsam wie ein neugeborenes Kindlein – O Gott, o Gott!«

Die Ursula Sassen und die Gisbrechte Hohentrapp umfaßten sie und führten sie.

Dann hoben die Diener den Sarg auf und trugen ihn in den Regen hinaus.

Es war nicht weit zum Friedhof. Krähen saßen in den Trauerweiden. Schiefe alte Kreuze verneigten sich zu beiden Seiten des kiesbestreuten Weges. Das eiserne Tor des Erbbegräbnisses stand offen mit rostroten Innenseiten. Darüber war aus Marmor ein Totenkopf mit zwei gekreuzten Knochen. In seinem offengähnenden Maul hatten Vögel ein Nest gebaut. Es stand leer und verlassen. Oben auf dem Kopf wuchs Moos wie wolliges Haar. Alles sah ich.

Sie stellten den Sarg zur Erde, und die Schule sang wieder. Wie die Muhme es gewollt hatte, ein Lied, das man sonst nur bei ganz kleinen Kindern singt. Mein Vetter Hans war zwei Jahre alt gewesen, als er starb.

Wenn kleine HimmelserbenIn ihrer Unschuld sterben,So büßt man sie nicht ein.Sie werden nur dort obenVom Vater aufgehoben,Damit sie unverloren sein.

Dann sprach der Pfarrer, schneuzte sich, schneuzte sich und sprach. Der alte Mann weinte. Die achtzigjährige Gräfin Trettin führte ihr Spitzentüchlein empor.

»Staub zu Staub –«, sagte der Pfarrer.

Sie trugen den Sarg hinunter. Die Schritte klangen hohl, es gab einen schrecklichen Widerhall. Stimmen kamen aus der Tiefe. Etwas fiel polternd um da drunten in der Finsternis.

Der Regen rauschte immer stärker. Die Wagen fuhren in Wasserlachen. Die Männer banden rote Taschentücher über die Hüte, die Weiber schlugen die Röcke über den Kopf, als sie draußen waren

Mein Vater sah streng nach allen Seiten. Der Küster brachte ihm den Schlüssel der Gruft.

»Da – trink Er eins!« sagte mein Vater, und der Küster, naß und mit den Zähnen klappernd, verbeugte sich tief. Er schnitt ein Gesicht und fuhr mit der Hand nach der Schulter. Er litt am Gliederfluß.

»Die Aglaja friert –«, sagte eine trostlose Stimme in mir. »Die Aglaja –«

Das große Haus war leer, als ich heimkam, die Gänge still. In den Ecken wisperte es, und die Uhren tickten. Die Treppe krachte in der Nacht, und der Wind weinte im Kamin. Es war ein ganz fremdes Haus. So groß und so leer.

7

 

Auf dem dunklen Flur des ersten Stockwerks war eine Holländeruhr mit blankem Zifferblatt, auf dem Mond, Sonne und Sterne sich bewegten. Darüber gingen die verschnörkelten Zeiger ihren Gang. Mit dumpfem und tiefdrohendem Ton schwang das Pendel hin und her, wumm – wumm. Nach jeder Viertelstunde ließ das Schlagwerk wie aus weiter Ferne seinen Dreiton hören: Gling-glang-glong. Nach Ablauf jeder Stunde kündeten Glockenschläge ihre Zahl. Dann öffnete sich oberhalb des Zifferblattes eine Türe, und aus ihr glitt ein kleiner brauner Hahn, der mit ächzendem Geräusch die hölzernen Flügel bewegte. Seine Stimme war verlorengegangen. Immer nahm ihn eine unsichtbare Kraft zurück und schloß das Türchen wieder. Um die Mittagsstunde erschien jedoch statt des Hahnes ein Engel aus Porzellan mit blauem, goldgerändertem Gewande und hob in drei steifen Rucken einen grünen Palmzweig.

Des Nachts um zwölf Uhr jedoch sollte ein Tödlein an Stelle des Engleins erscheinen. So erzählte man uns Kindern, als die Aglaja noch lebte.

Auf diesem Flur stand ich eines Nachts. Es roch nach Äpfeln und nach den fremden Hölzern der breiten Wäscheschränke an der Wand. Aus Holz geschnitzte Hirschhäupter hingen da. Sie hielten weiße Rüben im Äser und trugen Geweihe, die der Vater und der Großvater erbeutet hatten. Gewiß hundert solcher Hirschhäupter waren im ganzen Hause verteilt. Einer von den Hirschen war zahm im Gatter gehalten und dann freigelassen worden. Später hatte er einen Futterknecht zu Tode geforkelt, und die Mägde sagten, daß das Blut des Knechtes noch am Geweih klebe. Von den Augäpfeln des Holzkopfes war die Farbe abgeblättert, und so sah er schauerlich weißen und blinden Blickes auf mich herunter.

Die alte Margaret, die mit ihrem Stock durch die Gänge schlurfte und das Gnadenbrot genoß, hatte mir gesagt, daß um die Mitternachtsstunde des Sterbetages die Toten in dem Hause umgingen, in dem sie bei Lebzeiten gerne gewesen seien. Ich hielt in meiner Hand einen Leuchter mit einem der Wachslichter, die vor einem Jahre an Aglajas Sarg gebrannt hatten, und wartete, daß sie käme.

Die Schränke knackten, es pochte in der Wand, dann war es wie ein Seufzen. Der Wind ging übers Dach, daß die Schindeln rasselten. Da hob die Uhr an –

Als der Stundenschlag beginnen sollte, klappte die Tür über dem Zifferblatt auf, und wirklich kam ein kleines Tödlein mit Sanduhr und Hippe hervor, drehte sein Gerippe einmal rechts und einmal links und hob die winzige Sense zum Hieb. »Wumm – wumm –«, machte das Pendel in den Pausen des heiseren Glockenschlages.

»Aglaja« rief ich leise und spähte den Gang hinunter.

Da öffnete sich lautlos die Türe des Schrankes, an dem ich gerade stand, und im unsicheren Lichte der Kerze glaubte ich eine uralte Frau mit ganz verrunzeltem, braunem Gesicht und einer großen weißen Haube zu sehen. Ich taumelte an die Wand, aber als ich mich mit allem Mut zwang, noch einmal hinzublicken, konnte ich nichts wahrnehmen als die geschlossene Türe.

Dann hüstelte es, und Schritte schlurften. Etwas Graues und Gebücktes. Der Leuchter klirrte in meiner Hand.

Aber es war nur die alte Margaret, die Angst um mich hatte und nachsehen kam, ob ich wirklich heroben sei. Wie ein Kind hielt ich mich an ihrem Ärmel fest und erzählte ihr, was mir begegnet war. Sie kicherte und nickte.

»Die alte Frau war's –. Die Urgroßmutter von der Aglaja – die Aglaja Starke, die Tochter vom Bürgermeister, die ihnen den Stammbaum verungeniert hat – die Krämerische. Hast schon recht gesehen, mein Melchior, schon recht. Ist halt sie gekommen, statt der Jungen.« Sie faßte mich am Rock.

Ich riß mich los und stolperte die Stiegen hinunter.

8

 

Am Nachmittag wurde der Heiner Feßl hingerichtet. Er hatte den Amtmann belauscht, wie er seiner Frau zusetzte, und da er merkte, daß die Frau dem mächtigen Manne nachgab, war er aus der Werkstatt ins Zimmer gerannt und hatte dem Amtmann ein glühendes Eisen, das im Feuer lag, durch den Leib gestoßen, so daß der Gestrenge elendiglich umkommen und verenden mußte. Grausam hatte er ihn zugerichtet und ebenso die Frau. Sie liege im Sterben, sagten die Leute. – Mächtige Helfer, die sich seiner angenommen hätten, waren nicht da, und so brachen sie ihm das Stäblein.

In der Morgenfrühe war der Angstmann auf das Feld gegangen und hatte es den Raben angesagt, daß Armesünderfleisch zu haben wäre vor Sonnenuntergang. So saßen des Henkers Tauben auf allen Dächern und warteten.

Der Vater hieß mich, den seidenen, lavendelgrauen Rock anzutun und mit ihm gehn.

»Du bist ein Schlappschwanz und Jammerlappen, aber kein Dronte«, sagte er. »Ich werde dich nunmehr in die Kur nehmen, Bürschlein!«

Mir ward übel vor Angst, als ich von weitem den dumpfen Trommelschlag und das Brausen der Menge hörte. Alle Gassen waren voll. Den Feßl hatten sie auf des Henkers Karren überall herumgefahren, und nun sollte er zurückkommen.

Zu meinem Trost mußten wir in ziemlicher Entfernung vom Gerüst stehenbleiben, da die Menge nicht wich und keine Rücksicht auf den Rang meines Vaters nahm.

»Da siehst du, wie keck die Kanaille ist, wenn ihrer viele beisammen sind«, sagte mein Vater laut und zornig. Er ward aber besänftigt, als uns der Bäck, der gerade da seinen Laden hatte, eilfertig zwei Stühle brachte, damit wir einstweilen ruhen konnten.

»Es ist sehr heilsam für dich, was du sehen wirst«, sagte mein Vater nach einer Weile. »Die Gerechtigkeit arbeitet nicht mit Rosenwasser und Zuckerplätzchen. Wäre das, so könnten wir Edelleute Schotter schlagen an den Straßen und unser Hab und Gut dem Gepövel überantworten.«

Auf den Bäumen, die vor uns standen und den Platz umsäumten, saßen viele Menschen. Gerade vor uns hockte ein abscheulicher Kerl, nach Art der hessischen Viehhändler gekleidet, in der Krone einer Linde. So widerwärtig mir sein Anblick auch war, ich mußte immer wieder hinsehen. Unter dem abgegriffenen Dreispitz, den er trug, grinste ein Affengesicht mit einem Maul, das er auf alle Weise verrenken konnte, wie auch seine gelben Augen auf das gräßlichste zu schielen vermochten. Seine gekrümmte Nase berührte fast das Kinn und gab ihm ein geradezu teuflisches Aussehen, das noch durch die widerlichen Grimassen verstärkt wurde, die er schnitt. Die Leute um ihn herum fanden ihn weniger unheimlich als belustigend, und schrien ihm allerlei derbe und zotige Worte zu, die er mit unanständigen einladenden Gebärden erwiderte.

Dann aber ging ein Ruck und ein Hälserecken durch die Menge. Der traurige Zug war zurückgekommen.

Zwei Knechte in schmutzigen roten Röcken führten einen beleibten älteren Mann mit grauem Haar auf das Gerüst. Hinter ihm stieg der Rotmantel die Stufen hinauf und stand gleich mit nackten Armen da.

»Geistlichen Zuspruch hat der Heiner abgelehnt«, sagte eine Stimme hinter uns. »Er meint, daß die Großen auch im Himmelreich droben Unrecht tun dürfen, nicht nur auf Erden und so hat er keine Lust –«

Mein Vater drehte sich rasch um. Die Stimme schwieg.

»Verfluchtes Pack!« grollte er in sich hinein. »Gut, daß wiederum ein Exempel statuiert wird.«

Jemand las lange mit fetter, näselnder und ganz gleichgültiger Stimme etwas vor. Zwei Stücke Holz flogen auf das Schafott, Stücke vom Stäblein, das der Richter brach. Der Meister Hans trat auf den Schmied zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. Das war jetzt sein Recht, und der Feßl knickte ein wenig zusammen. Nun sah ich, daß er ein grobes Hemd trug, an dem schwarze Schleifen waren. Ich hatte den Mann oft in seiner Schmiede lustig arbeiten sehen. Seine Frau war sehr schön und noch jung. Ich sah ihn jetzt gut. Unter seinem grauen, wuscheligen Haar standen die hellen Schweißtropfen auf der Stirne. Auf einmal tat er den Mund auf und ließ sich auf die Knie fallen.

»J–i–i–i«, hörte man.

»Plumplumplum« kollerten die Trommeln der Soldaten, die das Schafott umgaben.

Da stand der Mann auf, fuhr sich mit der Hand über die naßglänzende Stirne und blickte wie verwundert um sich. Aber gleich darauf warfen sich die Knechte auf ihn, zwangen ihn nieder und hantierten mit Stricken und Riemen. Man sah, wie ein Bein in die Luft stieß, gepackt und gebogen wurde und verschwand.

Ich konnte vor Angst kaum atmen. Eine Frau schrie grell auf. Mein Vater schnaufte schwer durch die Nase.

Der Henker trat vor, hob mit beiden Händen ein Rad, dem ein Eisenstück aufgesetzt war, hob es hoch auf und stieß es mit der ganzen Kraft seiner fleischigen Arme nieder.

Ein Winseln – ein Schrei folgte – Heulen –

»O mein – Gott – oh – oh – oh –«

Das Rad hob sich wieder.

»Schinder! Verfluchte Schinder!« schrie in der Menge einer. Soldaten drängten hin, rissen wen heraus, führten ihn seitwärts.

Schreie – Schreie!

Ich erbrach mich.

»Mach, daß du fortkommst!« fauchte mein Vater mich an. Ich stieß schimpfende Menschen zur Seite, drängte, stieß, kam durch – lief – lief – so schnell ich nur laufen konnte.

9

 

Abends mußte ich an dem langen Tisch im Speisesaal mit meinem Vater sitzen und warten, bis er seine Maß gewürzten Wein getrunken und zwei Pfeifen Tabak geraucht hatte. Auch ich mußte Wein trinken, obschon er mir widerstand und Übelkeit brachte. Dann mußte ich allein durch den Gang gehen, in dem die Uhr mit dem Tödlein stand und mit wuchtigen Schlägen die Zeit maß und teilte. Ich hielt ängstlich die Hand vor mein Licht, damit der Zug es nicht verlösche und etwa im Dunkeln die alte Frau aus dem Kasten springe. Hätte mein Vater von dieser Angst gewußt, so wäre für mich ein Bett gerade vor dem Schrank aufgeschlagen worden, und einige Nächte hätte ich sicherlich darin verbringen müssen.

Am anderen Ende des Ganges führte eine steile Treppe zu den Mägdekammern. Als ich vorüberkam, sah ich, daß jemand am Fuß der Treppe saß und schlief. Es war die Gudel, ein braunes junges Mädel mit kecken Augen und Zöpfen, die bis an die Kniekehlen hingen. Wenn sie den Wassereimer auf dem Kopfe trug, stachen die spitzen Beeren ihrer Brüste fast durch das Gewand. Wenn ich ihr verlangend nachsah, lachte sie mit den weißen Zähnen und wendete sich des öftern um. Da saß sie nun eingeschlafen, nur mit einem kurzen roten Unterrock bekleidet, und dem Hemd, das halb von der Schulter geglitten war. Ich konnte das dunkle Haarbüschel in ihrer Achselhöhle sehen.

Bei meinem Schritt schrak sie zusammen, hob den Kopf und tat schämig die Hand vor die Augen. Ich griff nach ihrem bloßen Arm, der sich fest und kühl anfaßte.

»Laß mich in deine Kammer, Gudel –«, flüsterte ich und war ganz heiß im Gesicht.

Sie lächelte und stieg langsam, sich in den Hüften bewegend, die Treppe hinauf. Ich sah ihre Beine im geheimnisvollen Schatten unter dem roten Rock, und ein starker Geruch wie nach frischem Heu und Schweiß betäubte mich. Sie schlüpfte in den Verschlag, den sie bewohnte, und hielt die Türe zu, aber so schwach, daß ich sie ohne große Mühe eindrücken konnte.

»Der junge Herr ist ein Arger –«, lachte sie.

Ich griff nach ihr, und sie kicherte leise. Ich ward wie von Sinnen und packte sie und warf sie auf das blaue Bettzeug, keuchend und mit ihr ringend.

»So lösch doch der Herr das Licht –«, rief sie halb erstickt.

Ich ließ sie los und blies mit unnötig starkem Atem das Licht aus. Es rauschte im Dunkeln, die Bettstatt knackte. Modrig roch das Zeug der Polster. Zwiebelgeruch wehte mir warm entgegen. Ich zwängte meine Knie zwischen die ihren – – –

»Der junge Herr ist wohl noch ungeschickt –«, lachte sie wiederum auf und zog mich an sich. Ihre Arme legten sich fest um meinen Nacken –. »Aber keinem was verraten«, sagte sie nachher und strich mit ihrer groben Hand über meinen Rücken. Da ging die Tür auf. Mein Herz blieb stehen. Der Balthes war es, der Meierknecht, mit der großem Hornlaterne. Dumm und stumm sah er auf uns im Bett. Die Gudel nahm einen Zipfel des Bettuches in den Mund. Ihr ganzer fester Körper schüttelte sich vor verhaltenem Lachen.

»So soll doch ein tausendpfündiges siediges Donnerwetter –«, begann der Balthes. Aber dann blieb ihm der Mund offenstehen. Die Gudel aber sprang flugs im Hemde aus dem Bett, ging zu ihm hin und sagte leise etwas. Der Balthes ließ den Kopf hängen, zog ein schiefes Maul und kratzte sich hinter dem Ohr. Ich erinnerte mich, daß er im Hause als der Schatz der Gudel galt und daß es hieß, sie wollten heiraten.

»So geh doch nur – geh! Weißt ja, daß nichts weiter dran ist«, zischelte die Gudel und schob ihn zur Tür hinaus. Sein breiter Rücken, geduckt und stark, hatte etwas Trauriges an sich. Der Rücken eines Betrübten war es.

Es war wieder dunkel, und die Gudel schlich mit leisem Knacken der Gelenke ins Bett und wälzte sich zu mir. Mir war alle Lust an ihr vergangen, und ich lag ganz still. Da küßte sie mich zärtlich und sang leise dazu:

»Ei Du mein wackeres Reiterlein,Dein Rößlein schnaubet freiDu magst mit ihm wohl trabenEin Stündlein oder zwei.«

Aber ich stieß die Hand weg und sagte: »Was hast du mit dem Balthes gewispert?«

Sie lachte: »Du neugieriges Büble –«

Und warf sich über mich, daß mich ihr Haar im Gesicht kitzelte.

Da ward ich zornig und stieß grob nach ihr. Sogleich lag sie still und schwieg.

»Was hast du geredet?«

Sie schupfte die Achseln und drehte sich im Dunkeln von mir weg.

»Gudel, ich schenk dir meinen Tauftaler – aber sag es mir!«

»Nun, was?« sagte sie hart, »daß es um unser Heiratsgut geht, weiter nichts.«

Ich verstand das nicht.

»Wie – um dein Heiratsgut?«

»Der gnädige Herr hat es mir geschafft, und so hab ich es getan und tu's wieder, sooft der Herr Junker Verlangen nach einem Frauensmensch hat. Dafür sollen der Balthes und ich dann auf dem Wildemannslehen hausen und hofen dürfen.«

Jetzt wußte ich es.

»Und hab müssen gar in die Stadt zum Spitteldoktor, wo die freien Weiber herinnen liegen, und mich hint und vornen anschauen lassen, ob mein Geblüt gesund ist. Hab ein Zettel mitbekommen, und der gnädige Herr hat ihn gelesen und mich geheißen, ich soll nun zusehen, daß der Herr Junker beizeiten seinen ersten Galopp auf dem Gaul tut, der die Beine nach oben streckt. So hat er gesagt, der gnädige Herr!« Ich setzte mich im Bett auf. Es stank plötzlich in der engen Kammer. Die Luft war kaum zu atmen, und im Halse würgte es mich.

»Schämst du dich gar nicht, Gudel?« Mir war es, als müßte ich jetzt und jetzt weinen.

»Warum schämen?« schrie sie zornig. »Hab' müssen Seiner Gnaden zu Willen sein und dem groben Herrn von Heist auch das Bett erwärmen, wie die große Jagd war. Ich tu, was man mir schafft.«

Auf einmal packte sie mich an den Schultern und schüttelte mich mit fürchterlicher Kraft.

»Speiet mich doch an! Schlaget mich doch! Ihr macht ja aus den Menschen Hunde, ihr Verfluchten, ihr hochmütigen Teufel, und achtet ein armes Weib nicht mehrer als einen Nachtstuhl, wo ihr eure Notdurft verrichtet, wenn es euch ankommt!«

Entsetzt sprang ich aus dem Bett und eilte zur Türe.

Da lief sie mir nach, warf sich auf die Erde und umfaßte meine Knie.

»Erbarmen! Höret nicht auf das, was ich schwatzte, gnädigster Junker. Vergebet mir doch! Ich will's gutmachen – tretet mich –, aber saget um Gottes Barmherzigkeit willen nichts dem Herrn. Es erginge mir gar übel – hört Ihr, Herr Junker? Und ich hab Euch ja doch Liebes getan in dieser Nacht, mein gnädiger Herr Junker –«

»Hab keine Furcht, Gudel«, sagte ich, aber weiter vermochte ich nicht zu sprechen.

Sie preßte ihren heißen, nassen Mund auf meine Hand, aber ich riß mich los und ging rasch und leise die Treppe hinunter.

Als ich auf dem Gang war, schlug die Holländeruhr Mitternacht. Der Schrank knackte.

Ich blieb stehen.

»Komm doch heraus –«, sagte ich und schlug mit der Faust an den Schrank. Aber es blieb alles still.

Nur von oben kam ein weher, stoßender Ton, wie wenn jemand in seine Kissen weinen würde.

10

 

Am Karfreitag kam ich an der katholischen Kirche vorbei und spähte nach allen Seiten, ob das Lorle nicht käme.

Aber ich sah nur Leute, die in die Kirche gingen, Männer, Frauen und Kinder, und immer, wenn das Tor sich auftat, wehten traurige tiefe Klänge heraus.

Das Lorle war die Tochter des Sattlermeisters Höllbrich, ganz jung noch, und ich lockte sie in unseren Park. Sie wollte die zahmen Rehe sehen und den Damhirsch. Und in der Futterhütte war es geschehen.

Ich hatte vieles gelernt in der letzten Zeit, konnte Wein schlucken wie Wasser und hinter den Hatzrüden reiten und Mädchen ins Gras werfen. Es gab welche, die weinten bitter. Das Lorle aber lachte und sagte: »Einmal hat es sein müssen –«

Indes ich wartete, kam ein kleiner und arg zerlumpter Bub, sah mich mit listigen Äuglein an und fragte: »Sind Sie der Herr Baron Dronte?« Und als ich bejahte, zog er flugs aus seinem Hemd ein Brieflein aus veilchenfarbenem Papier und steckte es mir zu. Dann lief er rasch davon.

Ich ärgerte mich sehr, daß sie mich warten ließ, und dachte daran, daß sie dem Thilo auch liebe Äuglein machte, wenn er an der Werkstatt vorüberkam. Da ich aber nicht wollte, daß mir beim Lesen des Briefes einer zusähe, trat ich in die Kirche.

Es war halbdunkel, und die Kerzenflammen funkelten. Vorne auf einem dreieckigen Leuchter standen viele Lichter, und gerade als ich eintrat, wurde eines verlöscht. Und eben sangen sie auf lateinisch zu weinenden Noten einen Psalm, den verstand ich. Er hieß: »Jerusalem Jerusalem – bekehre dich zum Herrn, deinem Gott«. Da wußte ich, daß es die Klagelieder des Propheten Jeremia waren, die ich aus der Schrift kannte.

Regungslos saßen die Chorherren in ihren geschnitzten Stühlen zu beiden Seiten des violett verhängten Altares, und ich erkannte den Vetter des Sassen, den Heinrich Sassen, unter ihnen und wunderte mich, wie so hager und streng sein Antlitz anzusehen war im unruhigen Glanz der Kerzen und im goldenen Schimmer der Zierate an den Wänden.

Neben mir pfiff es, wie Mäuse pfeifen. Das waren zwei alte Weiblein, die beteten, tief gebückt. Und wieder begannen sie oben im Chor zu singen und huben an mit dem hebräischen Buchstaben, der Ghimel oder das Kamel genannt wird. Aber dann drang mir die süße Traurigkeit des flehenden Singens tief ins Herz und machte, daß es sich auftat vor Gott. Ich dachte daran, wie räudig und verworfen ich sein müsse vor dem Heiland, der auch für mich die bittre Todespein auf sich genommen hatte, den sie gegeißelt, bespien, mit Domen gekrönt, seiner armen Kleider beraubt und nackend ans Kreuz geschlagen hatten. Und was war ich? In meiner Tasche knisterte der leichtfertige Brief eines Mädchens, das ich auf den schlimmen Weg gebracht, und in meinem Mund war der saure Geschmack des Weines von gestern. Immer schlimmer wurde es mit mir, und ich verstand es schon gut, einem wehrlosen Knecht mit der Peitsche übers Gesicht zu wischen und alte Diener die Treppe auf und nieder zu jagen. Aber dann schob sich wieder Lorles lachendes Gesicht mit der Stupsnase zwischen die reumütigen Gedanken, und in meinem Ohr summte zu den feierlichen Klängen, die von oben kamen, ihr freches Liedchen: »Phillis hat zwei weiße Täubchen und ein güldnes Vogelnest...«

Aber aus dem kecken Angesicht des Dirnleins wuchs ein anderes Gesicht, bleich und rein, von rotgoldenen Haaren umstrahlt wie von einem Heiligenschein, und mit heftigem, nie gefühltem Heimwehschmerz dachte ich an meine tote Base Aglaja, deren Andenken ich so elend gehalten hatte, daß mir nun jede recht war. Da war es mir auf einmal, als ob dunkle Strahlen in meine Augen drängen.

Langsam kam aus der Menge, die andächtig betend vor mir das Kirchenschiff füllte, ein Mann heran. Es durchzuckte mich, als ränne ein glühender Tropfen von meinem Scheitel durch den Leib. Unverwandt sah mich der immer näher Kommende an...

Sein Gesicht war ohne jede Falte, bräunlich und schön, seine Augen tief und dunkel, von unbeschreiblicher Güte. Zwischen den Brauen war eine waagrechte, feine, rote Narbe, wie auch ich sie an der gleichen Stelle trug. Ein kleiner schwarzer Bart beschattete die obere Lippe des weichen, edelgeschnittenen Mundes. In schweren Falten fiel ein weites rotbraunes Gewand um seinen schlanken Leib. Um das Haupt trug er ein schwarzes Tuch gewunden, und um den Hals hing eine Kette von Bernsteinkugeln. Niemand schien seiner zu achten denn ich. Niemand wandte sich nach ihm um, und dennoch gingen ihm alle aus dem Weg, als sähen sie ihn.

»Der Herr Jesus –«, stammelte ich und griff nach dem Herzen, das stille zu stehen drohte. Mir war es, als müßte ich mich weinend an dieser Brust bergen, mich ihm ausliefere, ihm, der alles wußte, was mich stieß und trieb, damit er mich errettete. Er kannte den Weg, seine Füße schritten ihn.

Aber er ging an mir vorüber mit einem Blick, in dem es wie Trauer lag. Er ging vorüber!

Eine Weile stand ich und konnte mich nicht regen. Weit draußen im Raum klangen Gesang und Orgelbrausen.

Da faßte ich mich, wandte mich um und lief ihm nach, Ärgernis genug erregend bei den Betern, die meine Hast störte und aus der Andacht riß.

Aber als ich aus dem Tor trat, lag der Platz leer.

Niemand war zu sehen. Nur der Tabakkrämer stand neben dem hölzernen Türken vor seiner Ladentüre und sah mich verwundert an.

Eilig fragte ich ihn nach dem Manne in der braunen Kutte.

Er zog ein Gesicht und meinte, der Weihrauch in der Kirche müsse mich benommen gemacht haben. Ich sei solcher katholischer Räuchlein ungewohnt. Und einer, der das reine Evangelium ehre, möge sich hüten vor dem Blendwerk aus Gold, Lichtern und blauem Dampf, das sie in solchen Baalskirchen trefflich herzurichten verstünden. Ein jeder habe acht, daß er nicht strauchle, sei er auch noch so vornehmer Geburt.

Zornig warf er seine Kalkpfeife auf das Pflaster, daß sie zerbrach, wandte mir den Rücken und ging in sein Gewölbe.

Ich aber lief in den Gassen umher, die auf den Platz mündeten, und fragte nach dem Mann. Niemand wußte etwas von ihm.

Und plötzlich riß es mich zusammen, als ob ein Blitz vor mir eingeschlagen hätte.

Das Wachsbild fiel mir ein, das mich gerettet hatte in frühester Kindheit, als in meinem Zimmer die stürzende Decke mein Bett begrub.

Der Mann aus dem Morgenlande, der Ewli.

Ich zog Lorles Brief aus der Tasche und zerriß ihn in tausend Stücke.

11

 

Mit dem Phöbus und dem Thilo Sassen trieb ich mich viel herum, und wir jagten allenthalben nach Frauenzimmern und Abenteuern. Seit sie mich wegen des braunen Mönches, wie sie den Mann aus dem Morgenlande nannten, als ich ihnen von der Erscheinung sprach, weidlich ausgelacht und tagelang geneckt hatten, war ich wieder in mein altes Leben zurückgefallen und schämte mich jedesmal, wenn sie mit ihren Späßen und Schnurren über mich kamen.