Die Flammen von Nemi - Uwe Niemeier - E-Book

Die Flammen von Nemi E-Book

Uwe Niemeier

0,0

Beschreibung

Ihre Stimme klang sanft. Wie ein Engel. Ein Engel mit einem Messer in der Hand. In den Wirren des Zweiten Weltkriegs kreuzen sich in Italien die Schicksalswege der ungestümen Principessa Francesca und des Mainzer Archäologen Curth von Alban. Er sucht im Auftrag der Nazis nach einer antiken Gemme, die magische Kräfte besitzen soll. Sie hilft den Partisanen im Kampf gegen die Deutschen. Und doch lieben sie sich. Aber ihre fragile Welt wird 1944 von der Front zerstört, die eine Spur des Grauens hinterlässt und deren Flammen zwei wertvolle Prunkschiffe des Kaisers Caligula vernichten. Gut 70 Jahre später taucht das verschollene Tagebuch von Curth auf und enthüllt seinen Kindern eine düstere Vergangenheit, die ihn schwer belastet. Dann geschieht ein Mord. Curths Sohn Leon aus Darmstadt bricht zur Spurensuche nach Rom auf, um in der Ewigen Stadt und in den antiken Ruinen am Nemisee ein Familiengeheimnis zu enthüllen – und gerät in tödliche Gefahr. Eine skrupellose Mafiatochter will die legendäre Gemme besitzen und so die Macht über ihren Familienclan an sich reißen. Sie kennt keine Gnade.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 709

Veröffentlichungsjahr: 2024

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


UWE NIEMEIER

Die Flammen von Nemi

Thriller

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

© 2024 -Verlag, Altheim, 2. Auflage

Buchcover: Germancreative/Oliver Fürste

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Für Berit

In memoriam

Wilhelm Niemeier (1909-1969)

Helga Niemeier (1930-2018)

»Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen,

lass dich nieder auf jenen Hängen und Hügeln,

wo sanft und mild der wonnige Hauch

der Heimaterde duftet.«

Aus der Oper »Nabucco« (1841)

von Giuseppe Verdi

Vorbemerkung

Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen, wobei die Handlung im Zweiten Weltkrieg vor dem Hintergrund tatsächlicher Ereignisse und historischer Zeitabläufe erzählt wird. Die Geschichte selbst hat nichts mit realen Vorkommnissen zu tun. Auch die Darstellung historischer Personen aus der Zeit 1943/44 entspricht nicht den Vorbildern. Vielmehr sind die Charaktere und Handlungen aller Figuren fiktional und vom Autor frei erfunden.

Prolog

Rom, Palatin, 24. Januar 41 n.Chr.

Zur Mittagsstunde, Hora Sexta

D

as Schwert bohrte sich in den Hals des Kaisers und riss eine tiefe Wunde. Caligula stürzte auf die Knie, schrie auf. Der Schmerz lähmte ihn. Cassius, Tribun der Prätorianergarde, holte erneut aus und stieß die Klinge in Richtung Herz. Caligula sackte auf dem winterlich kalten Marmorboden in sich zusammen. Ein tiefes Stöhnen. Dann – Stille. Cassius schrie seinen Zorn heraus: »Nieder mit dem Tyrannen! Tod seiner Familie! Tod all‘ seinen Getreuen!« Die Rufe hallten weit in den Palast hinein.

Aurelius‘ Schlafkammer lag unweit der kaiserlichen Privatgemächer. Erst gegen Mittag, zur sechsten Stunde, kam der Leibsklave des Kaisers zu sich. Wer schrie da so aufgeregt? Was war los? Er stemmte seinen Kopf zwischen die Hände und wollte diesen pochenden Schmerz in seinem Schädel herauspressen. Langsam erinnerte er sich an den späten Abend des Vortages, als Caligula von einem dieser üblichen Gelage in seine Gemächer zurückgekehrt war und wie er, Aurelius, von einer der Palastsklavinnen einen Nachttrunk bekommen hatte. Dann war er in seiner Kammer in einen tiefen Schlaf versunken.

»Ein starkes Schlafmittel«, flüsterte er sich selbst zu und schüttelte kräftig den Kopf. »Wie konnte ich so dumm sein.« Nur mühsam fand er zu sich. Doch was war mit seinem Herrn? Er hörte von irgendwoher Schreie im Palast. Todesschreie! Jemand brüllte »der Imperator ist tot«. Er erkannte die vor Angst bebende Stimme eines kaiserlichen Beraters. Aurelius begriff allmählich. Der Kaiser selbst – ermordet von den eigenen Wachen. Auch er als Getreuer war in Todesgefahr. Er musste handeln.

In Windeseile zog er sich seine Tunika über, kramte aus einem Schränkchen ein paar Sachen zusammen und klemmte sich eine Schatulle aus Ebenholz unter den Arm. Vorsichtig blickte er in den Gang vor seiner Kammer. »Niemand zu sehen!« Dann setzte er alles auf eine Karte und rannte los. Er lief vorbei an herumirrender Dienerschaft, duckte sich weg vor flüchtenden Günstlingen des Kaisers, sprang über leblose Körper, schlug sich mal links, dann wieder rechts in schmale dunkle Gänge abseits der Gemächer. Immer auf der Flucht vor den Mördern. Bald darauf tauchte er an einer kleinen Pforte unterhalb des Palatins auf und sah die Januar-Sonne über dem Aventin stehen. Die Luft war frisch und half ihm, wieder klarer zu denken. Doch sein Körper schüttelte sich vor Angst. Er fürchtete die Prätorianer und ihre Schwerter. Er musste Rom verlassen, schnell. Aber wohin? Er war Sklave und kein freier Mann.

»Zum Tempel der Göttin Diana«, raste es ihm durch den Kopf. Dorthin, wo für ihn als Tempeldiener alles angefangen und wo sein Genius ihn schicksalhaft gelenkt hatte. Zum Nemi-See in den Albaner Bergen. Dorthin wollte er flüchten. Dort hatte er im Auftrag des obersten Priesters ein Geschenk mit magischer Wirkung an Caligula überreichen dürfen und als Dank die Weihen zum Ankleider erhalten. Aurelius war dem Kaiser als Leibsklave nach Rom gefolgt. Und die Magie des Tempel-Hains schützte den Imperator fortan vor dem bösen Blick, vor Krankheiten und Angriffen seiner Feinde. Weil er, Aurelius, das Geschenk persönlich beaufsichtigte und jeden Morgen um den Hals des Kaisers legte. Bis heute, zur Hora Sexta, der 6. Stunde. Dann war alles schiefgegangen. Weil er, Aurelius, geschlafen hatte.

Der Sklave raufte seine dunklen Locken und warf sich reumütig vor, am Tod des Imperators mitschuldig zu sein. Doch er hatte keine Zeit, viele Gedanken darauf zu verschwenden. Die Prätorianer würden nach ihm suchen und den Tod bringen. Bei Tag müsste er versteckt bleiben und sich in der Nacht entlang der Via Appia in Richtung Südosten durchschlagen, bis an den Nemi-See. Dann den steilen Weg hinunter zum Tempel am Kratersee. Er schätzte, dass es 18 bis 20 römische Meilen waren. Er trieb sich zur Eile, um Rom möglichst schnell zu verlassen. Und tauchte ein in das Labyrinth der engen Gassen. Weiter, sagte er sich, immer weiter. Immer Richtung Südosten.

Vier Tage und drei Nächte später war Aurelius am Nemi-See, wo er im Tempel Zuflucht fand. Der oberste Priester der Göttin Diana ließ ihn zu sich rufen und erkannte den früheren Diener wieder, den er einst während einer Kultfeier auf dem See mit einem Geschenk zum Kaiser geschickt hatte. Denn Caligula hatte sich nach dem Tod seines Großonkels Kaiser Tiberius als großer Verehrer der Göttin der Jagd und des Mondes erwiesen und durch seine häufige Anwesenheit auf zwei Prunkschiffen auf dem See für einen wirtschaftlichen Aufschwung des Tempels gesorgt. Für die Priesterschaft bedeutete dies Reichtum, Einfluss und großes Ansehen. Caligula war für sie ein Glücksfall, und die Pilgerströme aus dem Land rissen nicht mehr ab.

»Mein guter Aurelius«, empfing der Priester den Sklaven aus Rom. Der Alte mit den schütteren Haaren hatte sich im heiligen Hain des Tempels unter einer Eichenkrone postiert und umklammerte den Knauf seines Holzstabes. »So sehen wir uns wieder. Wie ist es dir ergangen? War der Kaiser gut zu dir?«

»Es war eine große Gnade. Doch nun fürchte ich um mein Leben, denn die Prätorianer ...« Weiter kam Aurelius nicht.

»Hier bist du in Sicherheit«, unterbrach ihn der Alte. Er sah in den Augen des Heimgekehrten die Hoffnung auf Schutz und erinnerte sich im selben Moment daran, dass auch er einst als junger entlaufener Sklave in den Tempel geflüchtet war. Plötzlich aber erwachte die Angst in ihm. »Damals! Heute! Schließt sich jetzt der Kreis«, fragte er sich. Seine Stimme zitterte. »Aurelius, bist du gekommen, um meinen Platz einzunehmen? Mich zu töten?«

Der Sklave erschrak, denn sein Genius hatte ihm erst jetzt die Augen für sein Schicksal geöffnet und ihn ans Ziel eines langen Weges geführt – zum obersten Diana-Priester, dem Rex Nemorensis. Dieser Priesterkönig, so lautete das ungeschriebene Gesetz der Vorväter, musste ein entlaufener Sklave sein und hatte im Zentrum des Heiligtums eine der Göttin geweihte Eiche zu bewachen. Dafür wurden ihm Freiheit und Unverletzlichkeit garantiert. Er durfte so lange König bleiben, bis ein anderer geflohener Sklave einen Ast vom heiligen Baum brach, den Priesterkönig im Kampf tötete und so seinerseits das gefährliche Amt übernahm.

Aurelius antwortete seinem alten Mentor nicht, sondern eilte ein paar Schritte auf ihn zu. Er brach einen herabhängenden Zweig, legte seine Hände um den faltigen Hals des Priesters und drückte entschlossen dessen Kehle zu. Gegenwehr verspürte er nicht. Er sah nur die Angst in den trüben Augen des Mannes. Dann sackte der leblose Körper in den Staub.

Der Sklave verharrte einige Minuten, schwieg und schaute seine Hände wie die eines Fremden an. Er fühlte Kälte. Der Nordwind kreiste im Oval über dem Kratersee und blies beißende Böen in den Tempelbezirk. Ein paar Meter hinter Aurelius raschelte es an einer Mauer. Er drehte sich um. Es war nicht der Wind. Er entdeckte eine Gruppe von vier Vestalinnen, die ihn im Schutz einer halbhohen Steinmauer beobachtet hatten.

»Was macht ihr da? Kommt raus! Ich sehe, ihr seid Dienerinnen der Vesta, der Hüterin des heiligen Feuers.« Aurelius spürte, wie seine Kraft wieder wuchs. »Kümmert euch um den Toten und schafft ihn weg«, rief er hinüber. »Und sorgt für eine anständige Bestattung.«

Die Jahre vergingen. Aurelius wurde alt, sehr alt. Niemand hatte ihn seit diesem Tag im späten Ianuarius herausgefordert. Und Claudius und Nero, die Kaiser nach Caligula, hatten sich für den Diana-Tempel nicht mehr interessiert. Die neue Politik Roms ging am Heiligtum vorbei.

Irgendwann spürte der Rex Nemorensis auch seine Zeit gekommen. Er fühlte sich schwach, legte ein Stück Pergament zurecht und schrieb bis zum Abend.

»... All das habe ich heute aufgeschrieben, am Ende meiner Tage. Doch das Geheimnis der Schatulle will ich nicht den neuen Herren in Rom überlassen, die das Andenken meines geliebten Kaisers Caligula in den Schmutz gezogen haben und ihn der Vergessenheit Preis geben wollen. Die Schatulle mit der Gemme, dem göttlichen Zauber und auch meine Geschichte werde ich gut im Tempel der Diana verstecken, bis sie jemand findet, der es verdient. Und dann wird eine neue Zeit anbrechen.«

Nachdenklich strich Aurelius im Licht der untergehenden Sonne über das feine Ebenholz, das er einst aus dem Kaiserpalast in Rom mitgenommen hatte. Ob der Inhalt des Kästchens alles hätte ändern können? Damals, als Caligula getötet worden war? Der Priesterkönig dachte nach, wie so häufig in den vielen Jahren am See. Der Zauber der Gemme mit dem kunstvoll herausgeschnittenen Abbild der Göttin Diana hatte für ihn als neuen Besitzer einen Schutz ausgebreitet und ihn sehr alt werden lassen. Er spürte für einen Moment wieder diese geheimnisvolle Wärme in seiner Hand. Er wusste aus uralten Mythen aber auch, dass der Zauber eine dunkle Seite in sich barg. Wann immer der Besitzer wechselte, ging dies mit einer Katastrophe oder einer Naturgewalt einher, wie bei der Übergabe des wertvollen Schmucksteins an Caligula, als am Tag zuvor die Erde und der See gebebt hatten. Oder mit Mord und Totschlag. So wie beim Sturz des Kaisers. Nur, dass damals nicht die Mörder in den Besitz gekommen waren. Sondern er – der kleine Tempeldiener, der kaiserliche Haussklave, der Rex Nemorensis. Vielleicht der Letzte seiner Art.

Der Grieche schaute hinaus in das sanfte Licht, das sich auf dem See spiegelte. Ein kalter Abendhauch wehte durch sein Fenster.

1

Fast zwei Jahrtausende später

Italien, im September 1943

Nemi, Albaner Berge bei Rom

F

rancesca fühlte ihr Herz bis zum Hals schlagen. Schnell, hektisch, unnachgiebig. Sie hatte das Gefühl, ein böser Alptraum würde gerade beginnen. Aber es war wirklich. In der Gasse unter ihnen stampften Stiefel über das Kopfsteinpflaster, die Schritte kamen Sekunde für Sekunde näher. Sie spürte Furcht. Ihr Freund Tommaso kauerte regungslos neben ihr am Boden. Hinter einer Sitzbank. Kreidebleich im Gesicht. Sie schaute ihn an. »Wir müssen weg, Tommaso, schnell!« Er nickte nur und sprach kein Wort.

Francesca zog sich an der Bank hoch und schaute ängstlich. Sie befanden sich im kleinen Kirchgarten von Nemi, mitten in der Altstadt, und sie wusste, dass es von hier nur einen Fluchtweg gab. Weg, nach hinten, um die Kirche herum. Sie mussten schnell sein, wenn sie den Handlangern des faschistischen Bürgermeisters nicht in die Arme fallen wollten. Schnell laufen, vielleicht auch klettern. Für ein Mädchen mit siebzehn kein Problem. Aber für Tommaso. Der Sohn der Kaufmannsfamilie Fabrizi aus ihrer Nachbarschaft hinkte mit dem rechten Bein. Seit seiner furchtbaren Kinderlähmung. Er konnte flink sein, wusste Francesca. Aber laufen?

Die beiden hatten zu viel gehört. Sie waren zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Francesca knetete unruhig mit den Händen an ihrem kleinen schwarzen Gebetbuch herum. Dann fasste sie einen Entschluss. Laufen! Sie mussten es probieren.

Dabei hatte der Tag so ruhig mit einem Gottesdienst in der Kirche Santa Maria del Pozzo begonnen. Die Kirche im Zentrum von Nemi, einer italienischen Kleinstadt in den Albaner Bergen und fast 200 Meter über einem Kratersee gelegen, war an diesem Tag besonders voll gewesen. Im Halbdunkel des Kirchenraumes war Francesca der Messe nur oberflächig gefolgt, denn zu sehr hatte sie die Anwesenheit der kompletten Riege der Honoratioren des Städtchens beschäftigt. Nicht, dass es sie verwunderte, wenn die Kirche gut besucht war. Schließlich war Krieg, und die Menschen brauchten immer dann besonders viel Trost und Zuversicht, wenn die Not am größten war. Aber heute schien der Bedarf auf Hoffnung und Fürbitte dringend, und späte Besucher mussten sogar an der Eingangspforte stehen bleiben.

Francesca und ihre Eltern saßen vorne. In der ersten Reihe, wo seit Generationen der Name der Fürstenfamilie Capriri in die blankgesessene Holzbank eingraviert war. Sie hatte ihr bestes Sonntagskleid angezogen, das dunkelgrüne mit dem weißen Bubikragen, und sich kleine Schleifen in ihr halblanges, schwarzes Haar gebunden. Nicht zu groß, nicht zu auffallend, eher dezent. Sie fand es langweilig. Ihre Mutter nicht. Die legte Wert auf Zurückhaltung und war heute mit dem Aussehen ihrer fast erwachsenen Tochter zufrieden. Denn Pater Lucius, der knapp vierzigjährige Pfarrer der Kirchengemeinde, musterte die junge Principessa seit der Kommunion recht genau und achtete in dem kleinen Bergstädtchen streng auf Sitte und Anstand.

Das junge Mädchen war eine Schönheit, schlank und groß gewachsen. Francescas ovales Gesicht verzauberte mit ebenmäßigen Zügen und einem strahlenden Lächeln. Ihre kohlschwarzen Augen schauten frech und neugierig in eine Welt hinein, die sich in diesen Kriegsjahren so abgrundtief schlecht zeigte. Francesca war impulsiv, zum Leidwesen ihrer Eltern hin und wieder zu impulsiv. Und sie neigte zu spontanen Abenteuern, wenn sie den grauen Familienpalazzo in der Altstadt erst verlassen hatte. Speziell nach dem Privatunterricht bei einem ältlichen Tutore privato, der Musik, Sprachen und Literatur lehrte, hielt es sie immer seltener zuhause. Die Mutter war über diese Ausflüge besorgt. Der Vater dagegen blieb zuversichtlich. Solange sich die Tochter an seine Regeln hielt.

In der Kirchenreihe hinter den Capriri saß Tommaso Fabrizi. Der sieben Jahre ältere Sohn des Kaufmanns aus der Nachbarschaft war eingeklemmt zwischen seinem Vater und seiner Mutter und trug mit missmutigem Gesicht seinen guten Sonntagsanzug. Die langen Haarsträhnen, die ihm sonst wild über die Stirn wedelten, waren heute streng nach hinten gekämmt. Francesca konnte seine frisch aufgelegte Pomade mit einer dezenten Duftmischung aus Limone und Sandelholz riechen, die Tommasos Vater von einer Reise aus Venedig mitgebracht hatte.

Eine Reihe hinter den Fabrizi saß die Familie des wohlhabenden Apothekers Matteo Mancini. Er betrieb sein Geschäft in einem alten Patrizierhaus in der Hauptgasse am Kraterrand und bewohnte mit seiner Familie die Räume darüber. Francesca hatte sich mit zarten 14 Jahren den Avancen des jüngsten Sohnes Marcello ausgesetzt gefühlt, der ihr schöne Augen machte. Doch sie mochte weder den beißenden Geruch von Arznei noch den von stinkenden Salben – und ihr großer Bruder Vittorio, der kurz darauf zum Militär musste, hatte auf ihr Bitten hin alle Probleme in der Angelegenheit beseitigt.

Ihr war nie klar geworden, wie Vittorio dies geschafft hatte. Erst gerieten der ältere Mancini-Sohn Mario und ihr Bruder heftig aneinander und schließlich die Väter. Später war nur noch von einem Missverständnis die Rede. Und bald darauf grüßten sich die Familien Capriri und Mancini wieder ausgesprochen höflich, wenn sie sich in der kleinen Stadt begegneten. Und das geschah häufig.

Es kam der große Krieg. Und der jüngste Apothekersohn starb als Soldat elendig in einem ostafrikanischen Schlammloch. Nun beteten die Eltern für das Seelenheil des verstorbenen Marcello und noch intensiver für die unversehrte Rückkehr des ältesten Sohnes Mario, der bis zur Invasion der Alliierten auf Sizilien stationiert war.

Auch die Capriri beteten. Für Vittorio, den Erben des Principe. Francescas großer Bruder kämpfte seit drei Jahren als Offizier im Krieg und war zuletzt in Norditalien stationiert. Dann – vor wenigen Tagen – hatten der König und Marschall Badoglio ihren Ministerpräsidenten Mussolini abgesetzt, inhaftiert und die Waffenniederlegung im Kampf gegen die Alliierten befohlen. Fast alle italienischen Soldaten wollten jetzt nach Hause. Dies jedoch gegen den Willen der weiterkämpfenden Deutschen, dem bisherigen Bündnispartner. Von Vittorio hatte die Familie seitdem nichts mehr gehört. Francesca sah mit Sorge, dass die Mutter schon am Morgen verweinte Augen hatte.

Selbst Bürgermeister Jacopo Rossi hatte sich an diesem Sonntag mit zwei Begleitern in die Messe gesetzt, was Francesca überraschte. Rossi hatte die Hand auf dem Städtchen. Er war in den dreißiger Jahren von der Faschistischen Einheitspartei als Bürgermeister eingesetzt worden, nachdem die Faschisten den liberalen Vorgänger wegen angeblicher Veruntreuung von Geldern aus dem Amt gejagt hatten. Der neue Mann aus Ariccia, von der anderen Seite des Sees, glaubte immer noch an Mussolini und an den Fascismo. Jacopo Rossi liebte es, Menschen zu schikanieren und sich hofieren zu lassen. Nur vor der Kirche hatte er Respekt. Genügend jedenfalls, um Pater Lucius in Ruhe zu lassen. Und der Bürgermeister hatte Achtung vor Principe Umberto, dem Fürsten. Doch er fürchtete ihn nicht. Seit Mussolinis Absetzung aber war die Lage unsicher geworden und er verspürte großes Unbehagen. Bis jetzt war er das politische Oberhaupt in der kleinen Gemeinde. Doch wie lange noch? Urplötzlich suchte Jacopo Rossi eine Nähe zu Gott.

Die Heilige Messe ging unter dem Geläut der Kirchenglocke zu Ende und die Besucher drängten hinaus. Francesca kniff ein wenig die Augen zusammen, als sie dicht hinter ihren Eltern die dunkle Kirche verließ und ins gleißend helle Mittagslicht trat. Sechs Stufen führten nach unten auf einen kleinen Platz im Zwickel zwischen der rauen Fassade des Bürgermeisteramtes und dem Sakralbau. Schnell bildeten sich dort erste Grüppchen. Ihr Vater hatte als Principe eine besondere Rolle in dem Auflauf nach der Messe. Er galt als Ansprechpartner für weltliche Nöte, gefolgt vom Pfarrer als Helfer in allen Glaubensfragen und bei familiären Problemen. Matteo Mancini erteilte medizinische Ratschläge abseits teurer und zeitraubender Sprechstunden beim Arzt, und Kaufmann Simone Fabrizi machte den Müttern aus Nemi die Aufwartung – immer in der Hoffnung, seinen hinkenden Sohn mit einer der Töchter in den Hafen der Ehe zu lotsen. Er wollte endlich einen Erben. Tommaso, wie Francesca wusste, hasste diese Auftritte. Sie zupfte ihn am Ärmel und zog ihn im Getümmel vor der Kirche von seinem Vater weg.

»Was ist heute nur los? Da kann unser Pfarrer ja demnächst anbauen.« Die junge Principessa ging mit Tommaso ein paar Meter auf einem kleinen Weg am Gotteshaus entlang, der oberhalb einer engen und abfallenden Gasse in den Kirchgarten führte. Während Tommaso seinen Sonntagsanzug glatt streifte und an den Knöpfen seiner Jacke nestelte, hatte Francesca schon die Eisenpforte geöffnet. Sie wedelte ungeduldig mit ihrem Gebetbuch zwischen den Fingern und lotste ihren Freund weiter hinein.

Sie setzte sich mit ihrem knielangen Sonntagskleid auf eine Holzbank und drehte mit der Hand einen ihrer Zöpfe nach. »Also, mein lieber Tommaso, was ist mit meinem Bruder? Als ich gestern bei euch im Hof war, hast du erzählt, dass er zu uns unterwegs ist. Von Norditalien. Un lungo percorso.« Sie drängte auf eine Antwort.

Tommaso setzte sich neben sie. »Ja, das ist ein langer Weg. Vittorio ist zuletzt am Trasimener See gesehen worden, noch weit vor Rom. Das haben mir Soldaten aus der Stadt Velletri berichtet, die ihn aus der Einheit kennen und die bei uns nachts vor zwei Tagen heimlich durchgekommen sind.« Dann beugte er sich weiter zu ihr und sprach mit leiser Stimme: »Heute Nacht, wieder sind versprengte Soldaten durch unsere Stadt gezogen. Die haben mir gesagt, dass Vittorio Helfer gefunden hat. Vielleicht ist er morgen schon in Nemi. Vielleicht später. Wir wissen nicht, was auf dem Weg alles geschehen kann.«

Den letzten Satz überhörte Francesca wissentlich. »Oh, Tommaso, das sind gute Nachrichten.« Sie strahlte. »Mein Bruder, er ist bald wieder hier.«

»Langsam, Franca. Denn auch, wenn er in Nemi ist, muss er sich erstmal verstecken. Schließlich ist er bei uns als Offizier und Sohn des Fürsten zur Genüge bekannt, leider auch bei unseren italienischen Faschisten im Ort, beim Bürgermeister, und somit auch bei den Nazis. Ich werde mit deinem Vater darüber sprechen. Denn Bürgermeister Rossi, der Hund, wird seine Augen überall haben. Und du weißt, dass die Deutschen weiterkämpfen und unsere Soldaten wieder in den Krieg schicken wollen. Mit oder ohne Mussolini, aber bestimmt für ihren Hitler. Wer sich weigert, wird festgenommen. Oder eben gleich an die Wand ...« Seine Stimme stockte.

»Was meinst du mit gleich an die Wand?« Francesca ahnte die Antwort. Das Strahlen in ihrem Gesicht wich auf der Stelle. Wie eingefroren wirkte sie plötzlich. »Tommaso, wir müssen was tun. Wir müssen Vittorio helfen.« Sie griff seine Hand und drückte fest zu.

Tommaso rückte auf der Bank ein wenig näher an Francesca heran, sodass sie wieder deutlich den Duft seiner Haarpomade roch. Er hob einen Finger. »Ich habe dir doch erzählt, dass viele unserer Soldaten nach Hause kommen, weil sie von Badoglio und dem König den Befehl erhalten haben, die Waffen niederzulegen. Der Krieg ist für sie vorbei. Aber nicht für die Deutschen. Man hört von Internierungen, von Erschießungen, von Gräueltaten. Daher versuchen unsere Soldaten zu Tausenden, nachts durchs Land zu flüchten, über Berge, durch Wälder, um durch die deutschen Linien zu kommen. Aber sie stecken ja noch in ihren Uniformen und tragen Waffen – das kann nicht gutgehen. Da fackeln die Deutschen nicht lange.«

»Dann sollen sie doch die Uniformen ausziehen.« Francesca dachte pragmatisch.

»Gute Idee, da sind die Jungs auch schon draufgekommen. Und dann? Sollen sie in Unterhosen rennen? Und was ist mit ihren Gewehren?« Tommaso blickte dem Mädchen ernst ins Gesicht.

»Aber ...«, sie überlegte kurz, »aber wie können wir da nur helfen?« Die Principessa legte ihre Hand vorsichtig auf Tommasos Arm und ermunterte ihn zu weiteren Erklärungen.

Tommaso bestärkte mit eindringlichen Gesten seine Worte. »Franca, in ganz Italien haben sich örtliche Gruppen gebildet, die alte Kleider sammeln, verstecken und an unsere Soldaten austeilen, wenn sie in der Nacht an unsere Türen klopfen und sich mit dem verabredeten Geheimzeichen zu erkennen geben.«

»Das ist doch gefährlich. Wenn die Deutschen ...«

»Die alten Uniformen verbrennen wir. Ihre Waffen werden versteckt. Unsere Partisanen in den Bergen können Gewehre und Munition gut gebrauchen. Die Deutschen können so nichts finden und niemanden beschuldigen. Wir wollen auch in Nemi vorbereitet sein, um unseren Soldaten zu helfen. Die sind in Not. Auch bei der Verpflegung.«

»Und das funktioniert?«

»Ja, so gut es eben geht. Seit unserem Waffenstillstand mit den Alliierten wurden auf diese Art Tausende Soldaten im ganzen Land neu eingekleidet, versteckt, ernährt, versorgt und wieder auf den Weg zu ihren Heimatorten gebracht. Andere bleiben als Partisanen in den Bergen und wollen gegen die Nazis weiterkämpfen. Auch, weil sie im Süden zuhause sind, wo gerade die Front tobt.«

»Das ist gut, Tommaso. Da will ich mithelfen, ich bin dabei. Schließlich ist auch mein Bruder zu uns unterwegs und bestimmt vielen Gefahren ausgesetzt.« Francesca war entschlossen und wiederholte. »Ich will mitmachen.« Dabei ließ sie ihre Hand langsam vom Arm des Freundes gleiten und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Der Pakt war besiegelt. Ob er wollte oder nicht. Tommaso fühlte sich großartig und spürte eine warme Röte auf Stirn und Wangen aufsteigen. Vielleicht, so hoffte er, würde Francesca von seiner Verlegenheit nichts bemerken. Denn das Mädchen war für den Kaufmannssohn ein Traum, ein unerreichbarer Traum, wie er glaubte. Und schließlich war Franca ja auch die Schwester seines besten Freundes Vittorio, dem er zu Kriegsbeginn ein Versprechen abgegeben hatte. »Tommaso«, hatte Vittorio vor drei Jahren zu ihm gesagt, »ich muss in den Krieg und du wirst auf meine kleine Schwester aufpassen. Versprich es mir!« Der junge Fabrizi hatte sich geehrt gefühlt und die Hand zum Schwur unter Freunden erhoben.

»Du machst also mit«, fragte Tommaso. »Dann pass auf, hör mir genau zu.« Er klopfte mit den Fingerknochen seines Handrückens fünf Mal auf eine der Holzrippen in der Bank.

Tock-tock-tock-tock-tock.

Es war eine schnelle Rhythmusfolge. Dann machte er eine kleine Pause. Noch einmal klopfte er fünfmal. »Das ist unser Zeichen. Daran erkennen wir uns.«

Francesca schaute ihn verständnislos an. »Ich verstehe nicht. Was soll das? Zweimal fünfmal klopfen?«

»Du musst dabei eine Melodie im Ohr haben, dann geht es besser. Du wirst sie kennen. Unsere Partisanen singen das Lied.« Tommaso sprach mit leiser Stimme in einem Singsang: »Una mattina mi son svegliato.« Dann klopfte er fünfmal im schnellen Rhythmus auf die Bank, wobei er das vierte Anschlagen speziell betonte:

Tock-tock-tock-tock-tock.

»U-na mat-ti-na.«

Dann, nach einer kleinen Pause, pochte er mit den Fingerknochen erneut auf die Holzrippe: »Mi son sveg-lia-to.«

Tommaso brach ab. »Erkennst du es? Das Lied?«

Er flüsterte weiter in dem Sprechgesang: »Eines Morgens erwachte ich ...«

Jetzt erkannte Francesca die Melodie. Sie hatte sie im Sommer bei den Arbeiterinnen auf den Feldern gehört. Seitdem immer wieder mal an den Ständen des kleinen Marktes in der Altstadt, wo das Warenangebot dürftiger geworden war. Und neulich erst hatte im Palazzo die Köchin der Familie die Anfangstöne gepfiffen, als sie ein Huhn rupfte. Das Lied der Partisanen! Die Deutschen durften es nicht hören. Wenn sie es denn überhaupt kannten. Aber die italienischen Faschisten kannten es und die hatten ihre Ohren überall.

Francesca sang den Refrain leise im Flüsterton.

»O bella, ciao! Bella, ciao! Bella, ciao ciao ciao!

Eines Morgens erwachte ich

und fand den Eindringling vor.«

Sie und Tommaso steckten die Köpfe zusammen und sagten die zweite Strophe auf:

»O Partisan, bring mich fort,

O Schöne, tschau, Schöne tschau,

Schöne tschau tschau tschau,

O Partisan, bring mich fort,

Denn ich fühle, dass ich bald sterben werde.«

»Nicht vergessen«, sagte Tommaso, »zweimal fünfmal klopfen, Betonung auf vier, mit einer kleinen Pause dazwischen.«

Francesca nickte. Sie verstand. Dann hörten sie plötzlich Stimmen aus der abschüssigen Gasse unterhalb des Kirchengärtchens. Und was sie hörten, war nicht für ihre Ohren bestimmt.

Sie sahen ihn nicht. Aber es war die markante Stimme des Bürgermeisters Jacopo Rossi.

»Also, was ist jetzt? Die Deutschen wollen wissen, wer in Nemi unseren geflüchteten Soldaten und den Partisanen in den Bergen hilft. Eure Informationen? Ich warte.«

Eine für Francesca und Tommaso nicht gleich zuzuordnende Stimme mit einem heiseren Unterton antwortete dem Bürgermeister. »Letzte Nacht, irgendwas muss gelaufen sein. Deutsche Feldjäger haben heute Morgen einen Trupp Italiener in Zivil in den Bergen entdeckt, südlich von hier. Die waren auf dem Weg runter nach Velletri, quer durch den Wald. Sechs Mann wurden festgenommen, drei andere konnten weglaufen, zwei haben sie auf der Flucht gleich erschossen. Alles italienische Soldaten, zwar in Zivil, aber eben noch mit Militärstiefeln an den Füßen. Die Deutschen kennen da keinen Spaß.«

Dann hörten Francesca und Tommaso wieder die Stimme von Jacopo Rossi, der mit einem mahnenden Unterton sprach. »Ich bekomme keine Befehle mehr von der Partei, wie wir uns verhalten sollen. Alles geht drunter und drüber, und die Deutschen besetzen Rom. Wir müssen uns mit ihnen mehr als bisher arrangieren. Sie sind jetzt die Herren im Land. Und wo unser Duce in Haft ist, weiß der Geier.«

»Aber Badoglio und der König ...« Eine dritte Stimme war zu hören. Sie klang zaghaft.

»Alles Verräter.« Das war wieder Rossi. Seine Stimme zischte wie eine Schlange. »Die werden noch ihre Quittung bekommen. So lange müssen wir möglichst gut mit den Deutschen auskommen.«

»Und unsere Landsleute verraten?« Es war wieder die dritte, zaghafte Stimme zu hören, die die beiden unfreiwilligen Zuhörer oben im Kirchgarten nicht zuordnen konnten, aber die zu einem der Helfer des Bürgermeisters gehören musste.

»Wenn du lieber an der Wand stehen willst ...« Jacopo Rossi wurde schärfer im Ton. »Jetzt pass mal auf. Wenn die Deutschen herausbekommen, dass in unserer Stadt den fahnenflüchtigen Soldaten geholfen wird und hier womöglich auch noch Waffen für die Partisanen versteckt werden, dann sind wir am Arsch. Klar? Und andere auch. Die Deutschen werden ein Exempel statuieren und zur Abschreckung viele Menschen an die Wand stellen. Und, was meint ihr, machen sie wohl mit uns?«

Danach herrschte kurzes Schweigen. Schließlich hörten Francesca und Tommaso erneut die drängende Stimme des Bürgermeisters. »Was ist also besser? Wegschauen oder verraten, wie du es nennst? Stupido idiota! Wir müssen den deutschen Stellen die Verantwortlichen melden. Also, nochmal, was wissen wir?«

Jetzt gaben seine Begleiter ihre Zurückhaltung auf. Der Heisere sprach: »Die Frau des Apothekers Matteo Mancini hat gestern Abend alte Kleider über die Straße geschleppt, so kurz nach acht. Zu den Fabrizi.«

»Woher weißt du das? Hast du es gesehen?« Die Stimme des Bürgermeisters klang neugierig.

»Eine Mitarbeiterin der Apotheke hat‘s mir gesteckt. Rosalie, die Brünette.«

»Kann man ihr trauen?«

»Ich war gestern Nacht bei ihr zuhause, du weißt schon.«

»Mit wem du‘s treibst, na, ist deine Sache. Deswegen wird deine Rosalie auch nicht glaubwürdiger. Vielleicht sollten wir bei den Fabrizi vorbeischauen, ganz überraschend sozusagen und fragen, ob sie ihr Geschäftsmodell gewechselt haben. Vielleicht können wir den Deutschen einen Tipp geben, wer den flüchtenden Soldaten und Partisanen hilft.« Dann, nach einer Pause, sprach der Bürgermeister weiter. »Am besten gehen wir gleich, holen die Gemeindepolizei, den Posten unserer Polizia Municipale dazu und machen eine Hausdurchsuchung. Wenn wir was finden, ist der Apotheker dran. Und du darfst deine Brünette zum Essen einladen. Auf Staatskosten.«

Francesca oben im Kirchgarten dachte an den Vorabend, an das Gespenst auf der Gasse. Sie hatte das Treffen des Vereins der »Kulturfreunde Nemi« besucht, die im Hof der Fabrizi ein kleines Bühnenstück einstudierten. Tommaso war der Regisseur. Spät war es geworden, weit nach acht. Die schmale Straße zum Fürstenpalazzo lag in einem grauen Halbdunkel, da im Krieg kein Licht die Stadt erhellen durfte. Francesca war aus dem Hoftor der Fabrizi hinausgegangen und über das Kopfsteinpflaster geeilt. Sie war allein auf der Gasse und fürchtete schon das Donnerwetter ihres Vaters, der sie mit Sicherheit längst erwartete. Nein, nicht ganz allein, wie sie sah. Weiter vorne, an der Kante des Eckhauses zum Corso, kam eine schmächtige, untersetzte Person geschlichen. Gebeugt, von einer Last. Francesca hatte einen Sack auf dem Buckel erkannt. War das gespensterartige Wesen eine Frau? Sie war sich nicht sicher gewesen. Es ging alles so schnell. Die Gestalt hatte Francesca bemerkt, war stehengeblieben und zurückgegangen.

Jetzt war der Principessa klar, wen sie gesehen hatte. Die Apothekerfrau. Der Kumpane des Bürgermeisters hatte die Wahrheit gesprochen, beziehungsweise seine Geliebte, die Brünette aus der Apotheke. Sie sah die junge Verkäuferin vor sich: pausbackiges Gesicht, graue Augen, eine markante Nase, grauer Verkaufskittel und dieser kleine weiße Knopf an der Bluse, der – je nach Besucher – mal aufsprang oder geschlossen blieb. »Diese Denunziantin! Wie niederträchtig«, ging es Francesca durch den Kopf. Die Eltern von Tommaso schwebten in höchster Gefahr. Und die Frau des Apothekers. Nein, sagte sie sich, die ganze Familie war in Gefahr.

Tommaso musste in diesem Moment ebenso denken. Sie konnten von der Gasse aus nicht gesehen werden, aber instinktiv rutschten sie von der Bank im Kirchgarten nach unten auf den Boden. Der Kopf der Principessa stieß an Tommasos Schulter und ihr glänzendes Haar lag direkt vor seinem Gesicht. Ein Hauch von Lavendel kroch ihm in die Nase. War da ein Kribbeln? Zu spät. Er konnte es nicht mehr verhindern und nieste krachend in die hochgerissene Armbeuge seines Sonntagsanzugs.

Unten auf der Gasse stockte das Gespräch. Oben im Gärtchen sah Francesca erschrocken in Tommasos bleiches Gesicht. Auch sie sprachen kein Wort und hielten die Luft an.

Einer der Rossi-Kumpane wurde laut. »Das war doch über uns!«

Dann folgte die Stimme des Bürgermeisters: »Der Kirchgarten. Los, schaut nach. Avanti. Wir brauchen keine Mitwisser.«

Francesca und Tommaso hörten schwere Stiefel über das Pflaster rennen. Zur Kirche hoch, zu ihnen in den Garten. Sie mussten fort, sie mussten Tommasos Eltern warnen. Und sie mussten die Frau des Apothekers informieren. Und sich selber in Sicherheit bringen. Die Principessa zog Tommaso hoch und zerrte ihn in den rückwärtigen Teil des Gartens. Ihr Sonntagskleid verhakte sich dabei in der verholzten Hecke neben der Bank. Mit einem beherzten Ruck am Kleid löste sie das Problem. »Komm, weiter. Dort, über die Mauer.«

Die halbhohe Mauer am Ende des Gärtchens war für Tommaso ein Hindernis. Konnte er das mit seiner Gehbehinderung schaffen? Francesca dachte kurz nach. Noch hatten sie Zeit. Im letzten Moment sah sie ihr Gebetbüchlein im Staub des Gartens liegen und hob es auf. »Jetzt nur nichts vergessen.« Das Geschenk ihrer Mutter zur Erstkommunion hatte einen schwarzen Einband mit dem goldenen Aufdruck »Massime eterne« – Sprüche für die Ewigkeit. Die Principessa stellte sich mit dem Rücken zur Mauer, legte das Büchlein wieder zur Seite und formte mit beiden Händen einen Tritt. Der Druck durch das Gewicht des sieben Jahre älteren Tommaso war größer, als sie vermutet hatte. Sie schwankte und ging in die Knie. Aber sie hielt durch. Dann hatte sich der Freund unter heftigem Schnaufen seitlich über ihre Schulter gerollt und lag auf dem höher liegenden Teil der Gartenterrasse.

Francesca schaute zurück in Richtung Kirche. Kamen schon die Männer des Bürgermeisters gerannt? Wie viele waren es überhaupt? Noch waren sie nicht zu sehen. Und sie mussten über den vollen Kirchplatz. »Das hält sie auf.« Und was, fragte sich Francesca, wenn sie einfach stehen bliebe und wartete? Schließlich war sie die Tochter des Principe, des Fürsten, und man durfte sie nicht einfach jagen. Sie war eine Principessa, jung zwar, aber mit Respekt zu behandeln. Und welche Macht hatten die Faschisten ohne Mussolini? Die Gedanken flogen ihr nur so durch den Kopf. Was würde passieren, wenn man sie gleich mitverdächtigte? Und sie damit ihren königstreuen, aber liberalen Vater in Gefahr brachte, der den Faschisten ohnehin ein Dorn im Auge war? Darauf durfte und wollte sich Francesca nicht einlassen. Die Faschisten waren immer noch mächtig in Nemi und konnten Ärger machen. Und Unheil verbreiten.

Sie mussten weiter. Jetzt. Beide liefen einen schmalen Weg entlang, der auf eine bebaute Ebene führte. Tommaso keuchte und schnaufte. Francesca drehte sich um. Sie sah, dass er zwar wenige Meter hinterherblieb, sich trotz seiner Behinderung aber tapfer schlug und Anschluss hielt. Nach hinten öffnete sich für Francesca jetzt ein atemberaubender Blick auf den still ruhenden Kratersee, der weit unter ihnen azurblau in der Mittagssonne strahlte und seinem antiken Ruf als »Spiegel der Diana« alle Ehre machte. Der See funkelte wie eine mit Juwelen bestickte Decke, entrückt aus der Welt der Sterblichen. Francesca erinnerte sich an ihre Großmutter, die Nonna, die ihr als Kind von einem Zauber am See erzählt hatte, von etwas Verborgenem im alten Tempel. Dort unten, wo das Unkraut sich ausbreitete, gleich neben den Erdbeerfeldern. Sie hatte dafür jetzt keinen Sinn, drehte sich nach vorne um und rannte weiter. Zu ihrer Linken wucherte eine grüne Hecke, dahinter lag ein Garten. Francesca hörte die Stimmen der Verfolger. Jetzt brauchte sie einen Zauber, besser ein Wunder.

»Sch-sch-sch.« Eine leise Stimme, ganz nah bei ihr. Oder bildete sie sich das nur ein? Nein. »Sch-sch-sch.« 

2

Italien, im September 1943

Pratica di Mare, südlich von Rom

E

r hatte sich ein wenig davongeschlichen und lag der Länge nach auf dem hellen, von der Nachmittagssonne erwärmten Strand. Feine Kiesel blinkten wie Diamantsplitter im Sand, und ein schwacher Wind wehte durch eine Reihe knorriger Korkeichen, die etwas abseits des Ufers standen. Er stützte das Kinn auf die verschränkten Arme. Dort, wo er lag, auf dem Kamm der Düne, ging es rechts sanft abwärts zum blauen Funkeln des Tyrrhenischen Meeres. Geradeaus, in Richtung Süden, blickte er in die Weite der Pontinischen Ebene, wo er durch den Dunstschleier hindurch den schräg nach Westen ansteigenden Monte Circeo zu erahnen glaubte. Der Berg, auf dem einst Odysseus der zauberhaften Kirke erlegen war.

»M wie Mailand, N wie Neapel, O wie Ostia.« Sein Blick rutschte im Buchregister weiter nach unten.

Über dem nahen Meer stieg feuchtwarmer Dunst auf, ließ sich träge über den Strand treiben und schlich sich wie eine dünne klebrige Folie auf die Haut. Neugierig leckte der Leutnant in seine Armbeuge und schmeckte feine Salzkristalle, die sich in die Poren gelegt hatten. Dann trank er einen Schluck Wasser aus der Feldflasche und wischte sich mit dem Ärmelrücken den Schweiß von seiner Stirn. Anschließend blickte er wieder zum Buch, das er in einer kleinen Sandkuhle vor sich aufgeschlagen hatte.

»P wie Padua, Pompeji, P - Prrrr. Prato... Pratica di Mare? Nichts!«, flüsterte er vor sich hin. »Nichts. Ein Nest.«

Vergebens blätterte er in den dünnen Seiten seines dunkelrot eingebundenen Reisehandbuches. Doch mehr als einen Fliegenschiss auf einer Übersichtskarte für die Umgebung Roms konnte er nicht finden. Der junge Mann, groß und hager, mit blondem, sonnengebleichtem Haar und heißroten Wangen im Gesicht, trug einen dünnen, abgescheuerten Flieger-Overall und halb aufgeschnürte Stiefel an den Füßen. Die Koppel seiner Uniform schmorte im Sand neben ihm. Dann schlug er das Büchlein mit dem Daumen zu, um es vorne auf den ersten Seiten gleich wieder aufzuschlagen. Seine Augen glitten mit Sehnsucht über die auf Seite IV mit blauer Tinte akkurat gezeichnete Sütterlinschrift. Die Worte kannte er auswendig, und wenn er ein wenig in sich hineinlauschte, dann hörte er sogar die Stimme seines Stiefvaters.

»Mein lieber Curth,

möge Dir dieses Buch zum 18. Geburtstag

viel Freude schenken und in Dir die Neugier wecken,

fremde Länder und deren Menschen zu erforschen.

Va, pensiero, sull'ali dorate!

Dein dich liebender Vater.«

Mainz, 1934

Va, pensiero, sull'ali dorate! Der Gedanke aus Verdis Oper Nabucco, auf goldenen Schwingen zu fliegen, war Curth von Alban in den Kriegsjahren ein ums andere Mal zum ideellen Lebensretter geworden. Manchmal, wenn er in den kleinen Pausen dieses verheerenden Krieges die Muße hatte, in dem Italien-Reiseführer mit Texten von Karl Baedeker zu lesen, schöpfte er ein wenig Hoffnung. Hoffnung, dem zerstörerischen Treiben um ihn herum mit heiler Haut zu entkommen. Und Hoffnung, irgendwann dieses herrliche Land wieder in Frieden bereisen zu können.

»Ach, Verdi«, seufzte er mit geschlossenen Augen. Seine Gedanken trugen ihn fort vom Strand, fort aus dem Nest Pratica di Mare, wohin er seit kurzem auf den von der deutschen Wehrmacht und Luftwaffe besetzten Militärflugplatz abkommandiert war. Auch er fühlte sich wie ein Mitglied des hebräischen Gefangenenchores im babylonischen Reich, der in Verdis Oper das ferne Heimatland beklagt und Gott um Hilfe ruft. Und er verachtete die von den Nazis erfundene arisierte Fassung mit Ägyptern statt Israeliten als Gefangene.

Leise summte er die Melodie vor sich hin. Mit geschlossenen Augen sah er jetzt den Mainzer Rosengarten unterhalb der väterlichen Villa vor sich liegen und glaubte im selben Moment, den Duft der Tausende von Rosen im Stadtpark zu wittern, die im September oft noch einmal in voller Blüte standen. Er ließ sich treiben.

»Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen,

lass dich nieder auf jenen Hängen und Hügeln,

wo sanft und mild der wonnige Hauch

der Heimaterde duftet.«

Eine raue Männerstimme riss ihn aus seiner Melancholie.

»Hey, Pilot, wenn die Kettenhunde dich hier erwischen, gibt‘s Ärger, richtig Ärger.«

Mit schweren Schritten stampfte ein korpulenter Krauskopf die Düne hoch. Die polternden Worte rissen Curth jäh aus seiner Träumerei. Er schlug das Büchlein zu und blickte auf zu einem jungen Mann, den er gestern als Koch und Küchenfeldwebel im Offizierscasino des Flugplatzes kennen und wegen seiner blitzenden Augen und seines wachen Verstandes schnell schätzen gelernt hatte. Er fühlte sich mit ihm auf einer Wellenlänge.

»Reg dich ab, Hänschen. Es ist alles ruhig.«

»Das kann man nie wissen«, antwortete der Krauskopf.

»Die Kettenhunde, die du meinst, haben nach den Bomben auf unser Oberkommando in Frascati alle Hände voll zu tun, die versprengten Truppenteile dort wieder einzusammeln.« Curth zeichnetet dabei seelenruhig ein paar Striche in den Dünensand. »Der Rest der Feldjäger ist nach Rom abkommandiert und fährt wahrscheinlich schon schneidig ums Kolosseum herum. Niemand achtet da auf einen für 'ne Viertelstunde abtrünnigen Wehrmachtspiloten aus der zweiten Reihe.«

»Ja, du hast Recht.« Der Krauskopf atmete intensiv die schwere Seeluft ein, wobei sich sein Brustkorb imposant spannte. »Und ich werde nichts sagen. Aber mit dem Rumdrücken hier am Strand bekommt unser junger Herr Leutnant bestimmt keinen Orden vom Führer verpasst.«

»Orden? Diese Blechanhänger? Kann er für sich behalten, von mir aus sonst wo ... Ritterkreuze stehen mir nicht. Und? Was ist mit dir? Hast du in der Küche nichts zu tun?«

Der Krauskopf antwortete nicht darauf, grummelte nur kurz und ließ seine Knie in die warme Düne neben Curth von Alban einsinken. Dann rutschte er erschöpft in die Hocke. »Wenn das hier alles vorbei ist, werde ich die Schänke meines Vaters in Köln übernehmen. Du weißt ja, der Endsieg ist nah. Gerade jetzt, wo die Italiener uns in den Rücken gefallen sind.« Dabei kniff er die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen und legte seinen Kopf auf die Seite.

Curth wusste Hänschens Mimik zu deuten. Dann schlug er in seinem Reisebuch die Seite XXI auf und reichte es dem jungen Koch rüber: »Hier, lies mal, die Umgangsregeln für Italien. Von 1926. Da kannst du noch was lernen.«

Hänschen, der Hans Kempener hieß, wischte sich seine Hand an der Hose ab, griff neugierig nach dem weinroten Buch und hielt es mit dem Rücken gegen die flacher werdende Sonne über dem Meer. Er las laut vor.

»Der Reisende ist Vertreter seines Volkes und wird darum durch Achtung der Landesart und taktvolles, zurückhaltendes und nicht unnötig lautes oder überhebliches Auftreten mitarbeiten, diesem Achtung und Freundschaft zu erwerben.«

Hänschen verzog den Mund zu einem breiten Grinsen, Curth schwieg. Denn der italienische Kriegssommer 1943 lieferte eine ganz andere Realität als Respekt, Achtung und Rücksichtnahme.

»Achtung und Freundschaft – gilt das auch uns gegenüber?« Der Krauskopf reichte Curth das Buch zurück. »Schließlich sind die Alliierten vor acht Wochen auf Sizilien gelandet und rücken seitdem weiter vor. Und? Was macht Italien?« Hänschen Kempener wartete nicht auf eine Antwort des jungen Leutnants. »Gut zwei Wochen nach der Invasion im Süden, im Juli, setzt die italienische Regierung den Mussolini ab und steckt den Duce irgendwo in den Knast. Mit der Bündnistreue uns gegenüber war‘s dann ja schnell vorbei.«

»Die Italiener wollen endlich Frieden und nicht kämpfen. Sie sehen keinen Sinn mehr darin.« Curth von Alban dachte wieder an Verdi, an Heimaterde und Rosengarten. Und an Abschiede. So war er vor wenigen Wochen als Pilot einer Kuriermaschine aus dem besetzten Frankreich nach Mittelitalien verlegt worden. Die Stimme seines alten Vorgesetzten lag ihm noch im Ohr: »Adieu Herr Leutnant, Sie werden jetzt in Italien eingesetzt. Hinter den Linien, als schnelle Verbindung zwischen den Kommandoeinheiten. Passen Sie gut auf sich auf.«

Bald erreichten weitere Nachrichten die deutschen Truppen. Die neue italienische Regierung in Rom unter Marschall Pietro Badoglio hatte einen Waffenstillstand mit den Amerikanern und Briten ausgehandelt, das Bündnis mit Hitler aufgekündigt und den eigenen Truppen die Einstellung aller Kampfhandlungen gegen die Alliierten befohlen. Die Regierung selbst floh mit König Viktor Emanuel III. vor den Deutschen in den Süden, nach Brindisi. Das deutsche Oberkommando Süd in Frascati wurde am gleichen Tag von US-Bombern heimgesucht, die die Stadt größtenteils in Schutt und Asche legten. Und Leutnant Curth von Alban, der als Kurierflieger im Stab von General Benno Birkholz diente, war dem Grauen in Frascati nur mit knapper Not entgangen.

Jetzt hatte ihn der Krieg also im Nest Pratica di Mare ausgespuckt, was zwischen Pomezia und dem Tyrrhenischen Meer ein überaus ärmliches Dasein fristete, und wo die Italiener Ende der dreißiger Jahre einen kleinen Flugplatz abseits der Dünen gebaut hatten. Curths einmotorige Maschine, ein Fieseler Storch, wurde an diesem Nachmittag im Hangar an der Start- und Landebahn gewartet. Für ihn eine willkommene Pause, um am nahen Meeresstrand einmal durchzuatmen. Sofern ein Durchatmen in diesen Kriegstagen überhaupt möglich war. Sofern dieser kurzgeschorene Krauskopf nicht aufgekreuzt wäre, dachte Curth. Dann hörte er ihn wieder losplappern.

»Da gibt‘s ein Gerücht.« Der Küchenfeldwebel hatte im Casino Wortfetzen und Andeutungen aufgeschnappt. Und jetzt verspürte er den Drang, diese Neuigkeiten sofort bei dem jungen Leutnant loszuwerden, den er durch das von Fettdunst verschmierte Küchenfenster in Richtung Düne hatte schleichen sehen.

»Also, das war gegen Mittag«, sagte Hänschen Kempener und blickte seinem Gegenüber ins Gesicht, als würde er gleich vom Ableben des Führers oder wenigstens von Hermann Göring berichten. »Ich brachte gerade den Hasen ins Offizierscasino rein, frisch aus den Albaner Bergen.« Dabei hob er seinen rechten Arm und drehte die Hand wie zum Servieren mit der Innenseite nach oben.

»Und, was soll schon sein?«, unterbrach ihn Curth. »Die Alliierten rücken vor, wir haben Rom eingenommen und stehen kurz vor dem Endsieg.« Dabei ließ er eine Handvoll Sand zwischen seinen Fingern rieseln und beobachtete gleichmütig das Glitzern der Körnchen.

»Nein, nein. Da ging es um was anderes. Die waren am Tuscheln, von einem Geheimkommando war die Rede. Oder so ähnlich. Ich glaube, die Herren Offiziere wissen in diesen Tagen mal wieder selbst nicht so recht, was gerade läuft.«

Leutnant von Alban ärgerte sich über den abschätzigen Ton, schaltete auf formale Dienstsprache um und deutete mit zwei Fingern auf seine ranghöheren Schulterabzeichen. »Das hört sich despektierlich an. Die Führung weiß immer ...« Doch weiter kam er nicht.

»Ja, ist schon recht.« Der Koch stützte sich auf seine kräftigen Arme und stemmte seinen schweren Körper hoch. Dann reichte er Curth von Alban seine Hände.

»Na, komm schon, Herr Leutnant. Es wird Zeit, dass wir wieder zurückkehren und uns blicken lassen. Wenn ich bitten darf.«

Curth griff die verschwitzten Hände und ließ sich mit einem Ruck hochziehen. Sie klopften sich den Sand aus den groben Uniformstoffen und verschwanden im Sichtschutz der Düne in ein angrenzendes Waldstück mit Pinien, wo ein staubiger Pfad zurück zum Flugplatz führte. Nicht, dass sie fürchteten, bei ihrem kleinen Ausflug erwischt zu werden. Schließlich hatten sie gerade eine Art Dienstpause. Aber Spitzel und Denunzianten gab es in diesen Tagen genügend.

Der Küchenfeldwebel suchte das Gespräch. »Was hat den Herrn Leutnant eigentlich hierher verschlagen, wo kommst du her?«

»Mainz«, antwortete Curth. »Und wenn wir allein sind, können wir uns gerne duzen. Das machen wir ja jetzt schon. Nun offiziell: Ich heiße Curth, genauer Leutnant Curth von Alban, bin aus Mainz.«

»Oh, auch noch von Adel. Ich heiße Hans, Hans Kempener, aber das weißt du ja schon. Für viele einfach Hänschen. Kein Adel, aber alter Kölner Klüngel.«

»Das mit dem von Alban«, erwiderte Curth, »ist eine längere Geschichte. Die kurze. Mein Vater blieb 1918 im großen Weltkrieg zurück, meine Mutter heiratete später einen Bankier. Einen von Alban. Ich selbst bin also nicht von Adel.«

»Aber du erbst doch alles. Namen, Titel, Geld. Na, eben alles. Oder hast du noch Brüder?«

»Einen Titel gibt es nicht. Wir sind schließlich nicht Fürsten oder Grafen. Na, du weißt schon. Außerdem bist du ziemlich neugierig.«

»Wir Kölner sind eben sehr gesellig, dazu gehört auch eine gewisse Neugier.« Hänschen Kempener spürte, dass er nicht weiter bohren sollte. Dann, nach einer kurzen Weile, dem Flugplatz schon näher, konnte er seine nächste Frage nicht länger zurückhalten.

»Was hat der Herr Leutnant denn vor dem Krieg gemacht?«

»Ich bin Archäologe, habe in Heidelberg studiert. Dann holte mich der Wehrdienst. Als passionierter Segelflieger habe ich bei der Luftkriegsschule schließlich den Pilotenschein gemacht. Jetzt bin ich Kurierflieger für Birkholz, unseren Fliegergeneral.«

»Ja, und kein schlechter Pilot, wie man so hört.«

Curth ärgerte sich über die Worte von Hänschen. »Was hörst du? Darüber rede ich nicht gerne, und du besser auch nicht. Wer weiß, wofür ich sonst noch eingesetzt werde.«

»So gereizt?« Der Krauskopf wunderte sich.

»Ich will aus diesem Schlamassel nur mit heiler Haut wieder rauskommen. Und nicht vorne in der ersten Reihe tanzen. Du verstehst?« Curth schaute seinem Freund scharf in die Augen.

Schweigend legten der junge Leutnant und der Koch das letzte Wegstück zu dem kleinen Flugplatz zurück. Der heiße Sommer hatte den Pinien zugesetzt, und unter den Tritten der Männer staubte der Boden. Es roch würzig nach verharzten Zweigen und trockenen Nadeln. Beide atmeten tief ein und genossen die letzten Minuten der Stille, bevor der Betrieb auf dem Flugplatz sie wieder einholen würde.

Plötzlich, schon nahe an den Unterkünften der Mannschaftsdienstgrade, plauderte der bislang schweigsame Hänschen wieder drauf los. »Herr Leutnant, ich muss noch was fragen, bevor ich wieder auf die Stube gehe. Was heißt eigentlich despecktierisch?«

Curth rollte die Augen. »Das heißt despektierlich. Respektlos. Und das hat nichts mit Speck zu tun. Und jetzt, du bist ja da – abtreten!« Er schnallte die Koppel strammer, ließ Hänschen stehen und eilte mit langen Schritten in Richtung Offiziersbau davon.

Hänschen schaute ihm nach, überlegte einen Moment und versteifte seinen Rücken. Dann ließ er den rechten Arm kurz herausschnellen. »Jawoll, Herr Leutnant, habe verstanden. Respektlos.«

Aber da war Curth von Alban schon außer Hörweite und sein Blick ging weit nach vorne. Etwas anderes hatte sein Interesse geweckt.

Auf dem Rollfeld, vor den Hangars und auf den Verbindungswegen war es deutlich voller und belebter als am frühen Nachmittag. Aber das musste nichts bedeuten, sagte sich Curth. Es war Krieg, und ständig wurden Truppenverbände und Luftwaffeneinheiten irgendwohin verschoben. Gerade jetzt. Einen Tag nach der Besetzung Roms. Nach der Bombardierung von Frascati. Und die Front im Süden rückte näher. Aber heute, so spürte er, war es anders. Unbehagen stieg in ihm auf. Er schob den Zeigefinger seiner rechten Hand unter den Kragen des Overalls und legte den Kopf leicht zur Seite, um sich Luft zu verschaffen. Er glaubte, neben dem Offizierscasino eine Uniform der Waffen-SS zu erkennen. Nein, er war sich sicher.

»Ausgerechnet! Was wollen die hier?«, fragte sich Curth. Dann, im Schlepptau dieser ersten Uniform, tauchten zehn, zwölf, vielleicht 20 weitere Soldaten an der Gebäudekante auf.

»Wie die Kampfameisen. Ein Trupp Waffen-SS«, durchzuckte es ihn. Und dort, am Hangar, »Fallschirmjäger, viele Fallschirmjäger«, die offensichtlich gerade angekommen waren. Curth spürte, dass etwas in der Luft lag. Etwas, das Probleme machen könnte. Etwas, das möglichst weit weg von ihm bleiben sollte. 

3

Nemi, im Kirchgarten, September 1943

S

ch-sch-sch.« Francesca hörte eine Stimme zischen. Jetzt wieder. »Sch-sch-sch!«

Sie sah nichts. Aber sie hörte es. Dieses Zischen, es kam nicht aus Richtung Kirche, nicht aus dem kleinen Kirchgarten, wo sie die Verfolger mittlerweile vermutete. Die Männer des faschistischen Bürgermeisters Jacopo Rossi mussten näher herangekommen sein, befürchtete Francesca, denn ihr Freund Tommaso hatte die letzten Meter mit seinem behinderten Bein kaum noch laufen können. Er war am Ende mit seiner Kraft und drohte jeden Augenblick auf den Weg zu stürzen.

Da, wieder dieses »sch-sch-sch«. Das Zischen kam aus dem Hof hinter einer mannshohen Gartenhecke, an der sie auf dem schmalen Weg über der Felswand entlanggelaufen waren. Jetzt hörte sie eine Stimme, eine dunkle Männerstimme. »Signorina, sch-sch, hallo Signorina Francesca. Hierher! Durch den Spalt in der Hecke.«

Diese Stimme, sie kam ihr vertraut vor. »Aber wer ...?« Francesca blieb konzentriert stehen und verharrte regungslos auf der Stelle. Ihr Sonntagskleid klebte vor Anstrengung auf dem Rücken und sie spürte Schweißperlen im Nacken. Sie deutete Tommaso, dass er stehenbleiben sollte. »Pssst!«

Dann wieder diese Stimme. »Verehrte Principessa, brauchen eure Hoheit eine besondere Einladung?« Aus einem schmalen Spalt in der Hecke schaute der schwarze Ärmel einer Soutane hervor. Die Finger einer schlanken Hand deuteten den beiden Fliehenden den Weg.

Francesca zögerte nicht länger und schob sich durch die Öffnung. Dann traute sie ihren Augen nicht.

»Pater Lucius! Hochwürden! Was machen Sie denn hier? Ich meine, warum ...?« Ohne die Antwort abzuwarten, zog sie entschlossen den erschöpften Tommaso hindurch. Der keuchte und stammelte »non posso, non posso« - ich kann nicht mehr.

»Jetzt redet nicht so viel. Ruhig, silenzio. Sie kommen.« Pater Lucius scheuchte das schnaufende Duo durch den Garten und zeigte auf eine halbgeöffnete Tür. Sie führte in das Haus hinein, das sich nach Südosten an die Apsis der Kirche anschloss. Er selbst blieb stehen und wartete. Francesca schleppte ihren Freund in die Wohnung und sog tief die Luft ein. Dann lauschte sie und legte Tommaso einen Finger auf den Mund.

Von der anderen Seite der Hecke drang eine Männerstimme in den Garten. »Euer Hochwürden? Wir haben Ihre Stimme gehört. Sie sind doch im Garten, oder? Auf ein Wort!«

Pater Lucius wusste, dass er sich der Situation stellen musste. Und rief durch die Hecke zurück. »Meine Herren, was wollen Sie? Warum stören Sie meine Mittagsruhe im Garten? Wenn Sie Beistand wollen, hätten Sie mich nach dem Gottesdienst ansprechen können.«

»Hier sind Lorenzo Minotti und Diego Pallucca. Wir sind die Freunde des Bürgermeisters. Wir brauchen keinen Beistand. Wir suchen einen Freund von uns. Er muss hier vorbeigelaufen sein.« Minottis heisere Stimme klang erschöpft und außer Atem.

»Hier ist niemand vorbeigekommen.« Der Padre rief durch die Hecke zu den beiden Männern zurück und schickte im selben Moment eine stille Bitte an Gott, er möge ihm diese Notlüge verzeihen.

Minotti gab nicht nach: »Also, Euer Hochwürden, hier sind Fußspuren auf dem Weg, und hier, am Spalt in der Hecke, da ist doch jemand durchgelaufen. Da liegen abgerissene Zweige und Blätter.«

Pater Lucius fasste sich ein Herz, ging forsch von der Gartenseite auf den Spalt zu und steckte seinen Kopf nach draußen durch. Lorenzo Minotti machte gerade Anstalten, seinen bulligen Körper durchzuzwängen.

»Na, na, meine Herren, ich muss doch sehr bitten. Dieses Haus und der Garten stehen unter Gottes Schutz. Und wenn Sie so wollen, die Hecke auch.« Er schob Lorenzo Minotti mit den Händen wieder auf den Weg zurück und stellte sich schützend vor den Spalt. »Nur, weil wir dieselbe Farbe tragen, haben Sie hier keinen Zugang.« Dabei zeigte er auf die schwarzen Hemden der Männer, die zur Uniform der faschistischen Miliz gehörten. Dann zeigte er auf sich. »Meine Soutane fordert Respekt!«

Diego Pallucca, der von der brünetten Apothekenhelferin Rosalie den Tipp auf die Kleideraktion bekommen hatte, gab seine Zurückhaltung auf und drängte weiter. »Hören Sie, Hochwürden, wir repräsentieren hier den italienischen Staat, die Kommune und den Bürgermeister. Und jetzt lassen Sie uns in den Garten! Unseren Freund mitnehmen!«

»Sie, meine Herren, haben doch seit Mussolinis Absetzung eigentlich nichts mehr in Nemi zu sagen. Und erst recht nicht mehr seit der Bekanntgabe des Waffenstillstands mit den Alliierten.« Pater Lucius lief jetzt zur Hochform auf und sprach weiter. »Der König und Badoglio haben die Miliz, wenn ich es recht verstanden habe, einfach aufgelöst. Und Ihr Mussolini? Wo ist er denn? Er sitzt irgendwo im Gefängnis. Und jetzt, meine Herren, richten Sie dem Bürgermeister bitte meine besten Wünsche aus. Buona giornata!«

Die beiden Schwarzhemden schauten irritiert bis fassungslos. Diesen Mut hatten sie vom Pater nicht erwartet. An diesem Hochwürden, da waren sie sich einig, gab es heute kein Vorbeikommen. Und einen Riesenärger mit der Kirche – den wollten beide nicht riskieren. Sie gaben auf.

»Rossi wird toben«, fauchte Minotti.

»Na und, wir haben niemanden gesehen. Den Pater auch nicht. Capito?« Diego Pallucca wedelte mit den Händen. »Aber die Fabrizi und die Apothekerfrau, die werden wir uns kaufen. Und diesen Pfaffen, den merken wir uns für später vor.«

4

Pratica di Mare, September 1943

E

s war Sonntag, früh morgens und die Luft war kühl und klar. Durch das Fenster seines Zimmers im zweiten Obergeschoss zeigte sich am Horizont, weit hinten in den Albaner Bergen, ein dünner Lichtschimmer. Ein leuchtender, milchiger Streifen zunächst, schmal, und nur zu sehen, wenn sich die Augen auf die Ferne konzentrierten. Dann aber zerstreute sich dieses magische Leuchten und machte Platz für eine neue, in Orange gepinselte Kulisse. Der Tag brach an.

Curth rieb sich die Augen und öffnete weit die Fensterflügel mit den dünnen Glasscheiben, die bei einem stärkeren Druck mit den Fingern zu splittern drohten. Die frische Luft strich durch seine Haare.

Aurora, die Göttin der Morgenröte, schien es heute gut mit ihm zu meinen. Jedenfalls beschloss er das beim Waschen hinten im Eck seines Zimmers. Und hatte nicht der heldenhafte Aeneas genau hier an der Küste des Latiums sein Glück gefunden, als der trojanische Prinz nach langer Irrfahrt an Land ging und eine Stadt gründete? Curth dachte zurück an seine erste Studienreise durch Italien in den Semesterferien, die ihm sein Stiefvater ermöglicht hatte und die ihn zusammen mit zwei Kommilitonen für fast drei Monate nach Florenz und Rom führte. Neben Besuchen auf Ausgrabungsstätten und in Museen las er Vergils »Aeneis« und verbesserte seine Italienischkenntnisse, in Rom sogar mit Hilfe eines Lehrers, bis er zuletzt Unterhaltungen in der Landessprache führen konnte.

In der Nacht war Curth erst spät eingeschlafen. Lange quälten ihn die Gespräche der anderen Offiziere am Vorabend im Casino. Viele hielten sich für überaus wichtig, Heldengeschichten machten die Runde, jeder lästerte in allen erdenklichen Variationen über die abtrünnigen Italiener, die sie verächtlich Lumpen- oder Dreckspack nannten. Nur selten, und wenn, dann versteckt hinter einem halbvollen Glas mit italienischem Edel-Brandy, hatte er bei einigen Kameraden eine sorgenvolle Miene entdeckt.

Das eiskalte Wasser, das Curth sich jetzt ins Gesicht spritzte, schärfte wieder seine Erinnerung an den Vorabend.

»Italien wird Deutsch«, hatte ein ebenso übereifrig wie schneidig auftretender Oberleutnant der Fallschirmjäger geprahlt, der zum engen Kreis von General Benno Birkholz zu zählen war. Curth von Alban dagegen zog es vor, sich möglichst unauffällig zu verhalten und sich wenig gemein zu machen mit einem Mob, der plündernd und mordend durch Europa zog. Aber absondern, nein, das wollte sich der junge Leutnant keinesfalls erlauben, um nicht ins Visier von Denunzianten und SS-Schergen zu geraten. Er ging ins Casino, wie zuvor in Frankreich, wenn es die Zeit erlaubte, verschwand abends nicht zu früh auf seine Stube, aber auch nicht zu spät, um nicht bei den Letzten im Offizierscasino in dumme Gespräche verwickelt zu werden. Gespräche, die er am nächsten Morgen schon bereuen könnte. Curth wollte nicht glänzen. Er nahm sich vor, stets unauffällig zu bleiben. Und sich und seine Maschine, den einmotorigen Fieseler Storch Fi 156, sicher von einem Auftrag zum nächsten zu steuern. Denn darin, so fühlte der junge Pilot, war er ein Könner. Das für extrem kurze Start- und Landebahnen gebaute Flugzeug mit dem hochbeinigen Fahrgestell war ideal für den Einsatz hinter den Linien, für Erkundungsflüge und als schneller Luft-Kleintransporter. Hinter den Linien, genau dort wollte er bleiben. Er hasste den Krieg, er verachtete die Nazis, und doch hatte er sein Schicksal, wie viele andere Tausende von Männern in den Krieg einberufen zu werden, nicht abwenden können.

Jetzt stand Curth vor dem Spiegel in seiner Stube. Mit dem Rasiermesser zog er den eingeschäumten Hals glatt und arbeitete sich zum Kinn hoch.

Am Vortag hatte er für heute den Befehl erhalten, bei einem Aufklärungsflug ein Gebiet zwischen Ostia und den Albaner Bergen in geringer Höhe zu überfliegen, um nach versprengten Truppeneinheiten der Italiener zu suchen. Bewaffnete Truppen, die sich nordwestlich von Pomezia oder in den Bergen im Rücken von Frascati versteckt halten könnten. Und so zu einem unberechenbaren Faktor für die deutschen Interessen wurden. Natürlich musste er mit feindlichen Fliegerangriffen rechnen, sagte er sich, wenn Luftverbände der Alliierten die deutschen Stellungen in Mittelitalien angriffen. Doch für US-Jagdflieger war der Storch mit seiner geringen Flughöhe bei sehr langsamer Geschwindigkeit schwer zu erwischen. Gut für ihn.

Curth zog mit der Klinge über die linke Wange, bis sie glatt war.

»Aaalbaan!«

Eine Stimme wie eine Kreissäge durchschnitt die Morgenstille. Dann wieder Ruhe. Curth setzte das Messer ab.

Ein zweites Mal: »Aaalbaan!«

Die Stimme auf dem Flur war drohend nähergekommen und stand ohne Frage unmittelbar vor seinem Zimmer. Doch bevor er den Griff herunterdrücken konnte, sprang die Tür mit einem Krachen auf.

»Mein Gott, haben Sie Watte in den Ohren? Ich schrei‘ mir ja die Lunge aus dem Leib.«

Breitbeinig stand Major Bender in der Tür und stemmte seine Hände in die Hüften. Curth hielt den Kommandeur des Flugplatzes bislang für einen ruhigen, ausgeglichenen Menschen, mit dem er vernünftig reden konnte. Aber Klaus Bender, knapp über fünfzig, Weltkriegsveteran aus Hamburg, machte an diesem frühen Morgen nicht den Eindruck, dass er sich von einem jungen Leutnant Kommentare anhören wollte. So hatte er den Alten, wie viele ihn nannten, noch nicht erlebt. Mit dickem Hals und rotem Kopf. Völlig aufgebracht.

Bei dem Vorgesetzten hob sich der Brustkorb, er holte tief Luft.

»Aaalbaan.” Jetzt schrie der Major wieder, obwohl Curths Gesicht nur 15 Zentimeter von ihm entfernt war. »Aalbaan, was muss ich machen, damit sie ihren Arsch so schnell wie möglich zu mir ins Dienstzimmer bringen? Das ist übrigens keine Frage, sondern ein Befehl!«

Curth roch kalten Kaffee in der Nase, schlug im Bruchteil einer Sekunde die Hacken zusammen und brüllte unentspannt zurück: »Jawoll, Herr Major, Arsch ins Dienstzimmer. Sofort.«

Er beobachtete, wie sich Klaus Benders Gesichtsausdruck wieder entspannte, die Röte aus dem Gesicht wich und sich sogar ein mildes Lächeln zeigte. Dann bemerkte Curth, wie der Major seine halbfertige Rasur, die blanke Brust und die kurzen Unterhosen musterte. Der Alte sprach mit ruhiger Stimme zu ihm: »Herr Leutnant, ich würde es begrüßen, wenn sie sich vorher noch anziehen könnten.« Dann machte der Kommandeur kehrt und verschwand wieder durch die Tür. Curth presste die angehaltene Luft aus seinen Lungen heraus. »Mann, was will der Alte von mir?« Dann trieb er sich zur Eile.

Nur wenige Minuten später und korrekt bekleidet rannte der Leutnant die Treppe ins Erdgeschoss hinunter und raus in den Morgen. Aus der Ferne hörte er das Schreien eines Falken, der in der Dämmerung nach Beute spähte. Mit eiligen Schritten kam Curth am Hangar vorbei und erreichte das Rollfeld, wo er die Silhouetten der Maschinen sah. Ihm stieg der vertraute Geruch von Flugbenzin in die Nase. Jetzt schwenkte er quer über die Betonpiste. Gegenüber, an der dem Meer zugewandten Westseite des Flugplatzes, lag im hinteren Bereich die Kommandantur in einem grauen Zweckbau. Er trat ein.