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Magie, Gefahr und Leidenschaft!
Als Meisterdiebin des Jadedrachen soll Rayne Trevalis das Drachenauge entwenden - einen äußerst wertvollen magischen Kristall. Doch dann begegnet ihr der attraktive Wandler Alec, der nicht nur das Juwel, sondern auch noch einen Kuss von ihr stiehlt. Kurz darauf verschwindet das Drachenauge spurlos, und Alec und Rayne müssen zusammenarbeiten, um es wiederzufinden. Sollte der Kristall in die falschen Hände geraten, droht eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes. Bei der Suche kommen sich Alec und Rayne schon bald näher, doch irgendjemand scheint es auf ihr Leben abgesehen zu haben ...
Dieses E-Book beinhaltet die beiden ursprünglich einzeln erschienenen Teile "Flammenreiter - Gestohlenes Herz" und "Flammenreiter - Gefährlicher Tanz".
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Seitenzahl: 602
Veröffentlichungsjahr: 2017
Titel
Zu diesem Buch
Flammenreiter – Gestohlenes Herz
Prolog
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Flammenreiter – Gefährlicher Tanz
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Epilog
Danksagung
Die Autorin
Sara Roth bei LYX
Impressum
SARA ROTH
Die Flammenreiter-Chroniken
Gestohlenes Herz Gefährlicher Tanz
Roman
Gestohlenes Herz
Als Meisterdiebin des Jadedrachen ist Rayne Trevalis gefährliche Aufträge gewöhnt. Doch als sie das so genannte Drachenauge, einen Kristall mit gewaltigen magischen Kräften, aus der Villa des Industriellen Edward Eisenberger stehlen soll, werden ihre Fähigkeiten auf eine harte Probe gestellt. Umso ärgerlicher, dass ihr der Kristall auch noch gleich wieder abgejagt wird – von dem gut aussehenden Alec Rossokow. Alec gehört der Wandlergilde an, aus deren Besitz das Drachenauge kurz darauf verschwindet. Alec und Rayne müssen zusammenarbeiten, um das magische Artefakt wiederzufinden. Sollte es in die falschen Hände fallen, droht ein Krieg von unvorstellbaren Ausmaßen. Obwohl Rayne auf den sturköpfigen Alec alles andere als gut zu sprechen ist, kann sie doch nicht leugnen, dass ihr Herz in seiner Anwesenheit schneller schlägt. Aber dann ereignen sich eine Reihe mysteriöser Vorkommnisse, und bald schon wird klar: Wer immer den Kristall gestohlen hat, scheut selbst vor Mord nicht zurück, um seine Spuren zu verwischen.
Gefährlicher Tanz
Auf der Jagd nach dem Drachenauge finden Rayne und Alec endlich eine heiße Spur. Doch diese führt sie direkt zu Liam Atherton – dem Rubindrachen. Atherton ist einer der mächtigsten und gefährlichsten Männer der Welt. Rayne und Alec müssen um jeden Preis verhindern, dass ihm der magische Kristall in die Hände fällt, wenn sie einen Krieg zwischen den Drachenhäusern verhindern wollen.
Das Auge des Drachen erstrahlte mit dem Glanz von tausend Sonnen. Blitze zuckten unstet unter der Oberfläche des eisblauen Kristalls. Er schien alles Licht an sich zu ziehen und in sich aufzusaugen. Aus seiner klaren, bodenlosen Tiefe gab es kein Entrinnen.
Es hieß, das Auge sehe in die Zukunft.
Doch in eine Zukunft, wie kein Mensch sie sich je ausmalen könnte. Eine Zukunft, in der die Erde von dichten Wäldern bedeckt ist, die vor Leben nur so überquellen. Unter den Bäumen und auf den weiten Grasebenen tummeln sich niedere Geschöpfe. Doch am Himmel über ihnen ziehen die wahren Herrscher dieser Welt ihre Kreise – die Schwingen majestätisch ausgebreitet, die funkelnden Augen wachsam spähend. Schattenwächter und Lichtgestalten. Kraftvolle Wesen, deren gewaltige Körper sich mühelos in die Lüfte erheben. Ihrem scharfen Blick entgeht nichts, und ihre Macht ist grenzenlos.
Einst hatte das Drachenauge die Kronen von Fürsten geschmückt und ganze Königreiche ins Verderben gestürzt. Den Legenden nach konnte sein Besitzer den Lauf der Zeiten beeinflussen. Über die Jahrhunderte waren unzählige Kriege um den Kristall geführt worden.
Er war ein altes und unermesslich wertvolles Artefakt.
Und eines, das Rayne schon bald in den Händen halten könnte, wenn es ihr denn gelang, die mehrfach gesicherte Vitrine aufzubrechen, in der es aufbewahrt wurde. Ihr blieben dafür genau zehn Minuten. Dann würde der nächste Wachwechsel stattfinden, und das Wachpersonal der Villa würde beim Routinerundgang natürlich als Erstes den Raum kontrollieren, in dem der Kristall gesichert war. Entdeckten die Wachmänner sie hier, konnte sie von Glück reden, wenn sie nicht auf der Stelle erschossen wurde. Aber zehn Minuten waren für einen Profi wie sie eine Menge Zeit. Sie musste nur die Nerven bewahren. Rayne atmete tief durch.
Die Vitrine war mit einem Fingerabdruckschloss ausgestattet, dem modernsten seiner Art. Wenn es um die Sicherheit seiner Villa ging, ließ Edward Eisenberger sich nicht lumpen. Nur das Neueste vom Neuesten kam für ihn infrage. Doch Rayne hatte vorgesorgt. Fingerabdruckschlösser mochten modern sein, unknackbar waren sie jedoch längst nicht. Es erforderte lediglich ein wenig mehr Vorbereitung und – im wahrsten Sinne des Wortes – Fingerspitzengefühl, um sie auszuhebeln.
Rayne nahm eine der kleinen Folien aus dem Kästchen an ihrem Gürtel. Sich Eisenbergers Fingerabdrücke zu besorgen, hatte sie erstaunlich wenig Bestechungsgeld gekostet. Eine Küchenhilfe war nur zu gern bereit gewesen, ihr für einen Hunderter ein benutztes Glas aus der Küche herauszuschmuggeln, ohne Fragen zu stellen. Das geschah dem alten Geldsack recht, sollte er seine Angestellten doch besser bezahlen.
Die Folie war eine exakte Kopie von Eisenbergers Fingerabdruck. Rayne legte sie sich auf den Zeigefinger und drückte ihn auf die blau leuchtende Fläche des Scanners. Nichts passierte. Mist! Sie versuchte es noch einmal, doch wieder keine Reaktion. Natürlich kam es vor, dass die Folien nicht richtig funktionierten. Außerdem wusste sie nicht, welchen Finger Eisenberger normalerweise zum Entsperren des Schlosses benutzte. Jeder Finger hatte bekanntlich einen einzigartigen Abdruck. Aus diesem Grund hatte Rayne von sämtlichen Abdrücken auf dem Glas Folien hergestellt und gleich mehrere mitgebracht. Sie nahm eine weitere aus dem Kästchen, legte sie sich auf die Fingerkuppe und drückte sie auf den Scanner. Noch immer rührte sich das Schloss nicht. Also weiter probieren. Im blauen Licht des Kristalls suchte Rayne sich eine neue Folie, drückte sie auf ihren Zeigefinger und hauchte sie sicherheitshalber noch einmal an, um den Kontakt zu verbessern. Sie berührte mit dem Finger den Scanner und … bingo! Ein Lämpchen leuchtete grün, und ein Klicken war zu hören. Das Schloss war entriegelt.
Auf der anderen Seite der Vitrine befand sich ein identisches Schloss, ebenfalls mit einem Fingerabdruckscanner. Auch dieses ließ sich mit der Folie problemlos öffnen. Doch als Rayne die beiden Paneele aufklappte, die durch den Schließmechanismus verriegelt gewesen waren, konnte sie ein Aufstöhnen nicht unterdrücken. Darunter kamen zwei weitere Schlösser zum Vorschein. Weniger Hightech, dafür gute, solide Schließzylinder. Das durfte doch nicht wahr sein! Wer war denn so paranoid, eine Vitrine zusätzlich zu den beiden Fingerabdruckscannern auch noch mit konventionellen Schlössern zu sichern? Rayne seufzte. Offenbar jemand, der den Wert des Gegenstandes, den er unter Schloss und Riegel hielt, sehr genau kannte und kein Risiko eingehen wollte.
Zum Glück hatte Rayne in weiser Voraussicht auch ihre üblichen Werkzeuge mitgebracht. Sie ging um die Vitrine herum und nahm sich das erste Schloss vor. Spanner in den Schlitz, und los ging’s. Ein rascher Blick auf die Uhr: Ihr blieben noch sechs Minuten. Verbissen stocherte sie in dem Schloss herum und lauschte auf das verräterische Klicken der Pins. Doch es war nichts zu hören. So einfach gab sich das Schloss nicht geschlagen.
Rayne fluchte leise. Dass das Ganze ein Himmelfahrtskommando werden würde, hatte sie in dem Moment gewusst, als vor drei Wochen nachts ihr Handy geklingelt hatte. Das spezielle Handy, dessen Speicher nur eine Nummer enthielt. Als Klingelton hatte sie die ersten Takte von »Eternal Flame« von den Bangles einprogrammiert.
»Hallo«, hatte sie noch halb im Schlaf gemurmelt.
»Der Jadedrache hat einen Auftrag für dich.«
»Der Jadedrache kann mich mal kreuzweise.«
Schweigen am anderen Ende. Dann ein Räuspern. »In der Villa des Industriellen Edward Eisenberger befindet sich ein wertvolles Artefakt«, fuhr die Männerstimme fort. »Der Jadedrache will, dass du es für ihn stiehlst.«
Mit einem Stöhnen richtete sie sich auf. »Verflucht, es ist mitten in der Nacht. Menschen schlafen nachts. Richten Sie das dem Jadedrachen mal aus. Außerdem liegt er falsch, wenn er denkt, er könnte mich rumkommandieren wie eine Leibeigene.«
Unwillig schlug Rayne die Bettdecke zurück und setzte die nackten Füße auf den Boden. »Die Eisenberger-Villa ist so gut wie uneinnehmbar. Ein verdammtes Fort Knox. Da kommt höchstens eine Armee rein.«
»Oder die Meisterdiebin des Jadehauses.«
Rayne stieß einen weiteren Fluch aus. Sie hatte schon verloren, und sie wusste es. Nicht nur, weil man dem Jadedrachen keinen Wunsch abschlug, sondern auch, weil es sie bei dem Gedanken an die Eisenberger-Villa gewaltig in den Fingern juckte.
Eisenberger war ein Großindustrieller, der mit seinem Vermögen den halben afrikanischen Kontinent hätte ernähren können. Stattdessen sammelte er seltene Artefakte und wertvolle archäologische Fundstücke. Der Tresorraum seiner Villa auf dem weitläufigen Anwesen in Kalifornien stellte Gerüchten zufolge so manchen Drachenhort in den Schatten. Deshalb war das Haus auch einer der am stärksten gesicherten Orte der Welt. Um dort einzubrechen, musste man absolut furchtlos sein. Oder lebensmüde. Böse Zungen behaupteten, Rayne sei beides.
Weshalb sie jetzt auch in diesem fensterlosen, dunklen Raum kauerte, vor einer Vitrine, die das wohl kostbarste magische Artefakt der Welt barg. Über ihr baumelte das Seil von der Öffnung des Lüftungsschachts herab, durch den sie hereingekommen war. Sie warf einen Blick auf die Uhr – noch drei Minuten.
Jetzt bloß schön ruhig bleiben.
Rayne rückte die Schweißerbrille zurecht, die sie tragen musste, damit das Gleißen des Drachenauges ihr nicht die Netzhaut verdampfte. Ein weiteres Mal schob sie vorsichtig ihre Werkzeuge in die Öffnung des Schlosses an der Vorderseite der Vitrine und stocherte darin herum. Immer noch nichts! Verfluchter Mist! Der Schließmechanismus des Schlosses war einer der kompliziertesten, die ihr je untergekommen waren. Aber sie hatte sich nicht in diese Festung von einer Villa eingeschlichen, um unverrichteter Dinge wieder abzuziehen. Noch einmal zurückkehren konnte sie auch nicht. Das Drachenauge wurde nur an diesem Abend in dem gesicherten Raum aufbewahrt. Eisenberger wollte es morgen bei einer Privatparty seinen prominenten Gästen zeigen. Danach würde der Kristall wieder in seinen unterirdischen Tresor zurückwandern, der vermutlich selbst für eine Meisterdiebin wie Rayne unknackbar war. Oder sie zumindest vor einige Herausforderungen stellen würde. Und wer wusste schon, wann das Artefakt das nächste Mal zum Vorschein kam. Vielleicht geschah es nicht noch einmal in ihrer Lebenszeit. Dann war dieser Abend ihre einzige Chance.
Rayne atmete tief durch und rückte dem widerspenstigen Schloss ein weiteres Mal zu Leibe. Spanner hineinschieben und drücken. Dann mit dem Draht die Pins ertasten. Und … ein Knacken. Endlich. Der Riegel schnappte zurück. Na bitte! Rayne atmete auf. Sie verlor keine Zeit und lief sofort zu dem identischen Schloss auf der Rückseite der Vitrine. Als hätte dieses angesichts der Kapitulation seines Kompagnons allen Mut verloren, setzte es ihr keinerlei Widerstand mehr entgegen. Spanner und Draht glitten in die Öffnung, und kurz darauf war auch dieses Schloss geknackt.
Lächelnd hob Rayne die Glashaube der Vitrine an und streckte die behandschuhten Finger nach dem Kristall aus. Er hatte etwa die Größe eines Hühnereis und wog erstaunlich schwer in ihrer Hand. Ein merkwürdiges Kribbeln wanderte ihren Arm hinauf. Bildete sie es sich nur ein, oder flackerte das unheimliche Licht im Inneren des Kristalls schneller, seit sie ihn hochgehoben hatte? Das Drachenauge schien aus seinem Schlaf erwacht und seine Umgebung nun interessiert zu mustern. Sein kalter Blick richtete sich auf Rayne. Ihr lief unwillkürlich ein Schauer über den Rücken.
Rasch nahm sie den Behälter vom Gürtel, den sie für die Aufbewahrung des Juwels mitgebracht hatte. Sie legte den inzwischen hektisch flackernden Kristall in das mit schwarzem Samt ausgeschlagene Stahlkästchen und klappte den Deckel zu. Sofort war der Raum in völlige Dunkelheit getaucht.
Rayne drehte sich zu der Öffnung des Lüftungsschachts um, wo ihr Seil hing. Ihr blieb höchstens noch eine Minute, um sich daran hochzuziehen und zu entkommen. Bei der Vorbereitung der ganzen Aktion hatte sie sich die Baupläne der Villa genau angesehen und das verschlungene Lüftungssystem als Sicherheitslücke erkannt. Es endete in einer Öffnung an der Rückseite der Villa, durch die man problemlos wieder ins Freie gelangen konnte. Offenbar hatten die Konstrukteure nicht damit gerechnet, dass jemand so verrückt sein könnte, sich durch diese endlosen, kaum einen halben Meter breiten Röhren zu quetschen. Zum Glück war Rayne sehr schlank – klaustrophobisch veranlagt sein durfte man dabei aber nicht.
Sie tastete sich in der Dunkelheit zu dem Seil vor, als sie einen Lufthauch an der Wange spürte. Instinktiv duckte sie sich – gerade noch rechtzeitig! Eine Faust zuckte nur knapp an ihrem Ohr vorbei. Was zum Teufel?
Rayne hob abwehrbereit die Hände. Ihre Augen hatten sich inzwischen an das schummrige Dämmerlicht im Raum gewöhnt, der nur noch von den roten LED-Lämpchen der Sicherheitskameras an der Decke erhellt wurde. Um die Kameras hatte Rayne sich schon im Vorfeld gekümmert. Sie liefen zwar noch, zeigten den Wachleuten aber lediglich die letzten Minuten vor Raynes Eindringen, die sich in einer Endlosschleife ständig wiederholten.
Rechts im Dunkeln nahm Rayne eine Bewegung wahr. Sie fuhr herum und machte sich auf den nächsten Angriff gefasst. Der erste Tritt hätte sie fast am Knie getroffen. Danach folgte Schlag um Schlag, die Rayne so gut wie möglich abwehrte. Ihr Kontrahent war um einiges größer als sie und eindeutig männlich. Seine Attacken erfolgten trotz der Finsternis mit großer Geschwindigkeit und Zielsicherheit. Rayne hatte Mühe, seinen Bewegungen zu folgen. Normalerweise konnte sie sich durchaus wehren. Auf einen Boxkampf im Dunkeln war sie allerdings nicht vorbereitet gewesen. Die Schweißerbrille vor ihren Augen machte die Sache nicht leichter. Aber ihr blieb keine Zeit, um sie auf die Stirn hochzuschieben.
Wieder erfolgte ein Angriff. Rayne wich aus, doch sie war zu langsam. Der auf ihre Körpermitte gezielte Tritt erwischte sie voll an der Hüfte. Sie wurde gegen die Wand geschleudert und stieß einen unterdrückten Schrei aus. Heißer Schmerz durchzuckte ihre Seite und raubte ihr einen Moment lang den Atem. Sofort stieß sie sich wieder von der Wand ab. Langsam wurde sie wirklich wütend. Wer war dieser Kerl? Woher war er so plötzlich gekommen? Ein Wachmann schien es jedenfalls nicht zu sein, sonst hätte er längst auf sie geschossen. Offenbar war er unbewaffnet. Unbewaffnet, aber gefährlich.
Der Angreifer hatte sich einen Schritt von ihr zurückgezogen, und Rayne beugte sich blitzschnell vor und holte das Damastmesser aus ihrem Stiefel. Der Jadedrache hatte ihr die Klinge vor Kurzem zum Geschenk gemacht, und seither trug sie sie ständig bei sich.
Mit dem Messer war sie eindeutig im Vorteil. Es funkelte im rötlichen Schein der LED-Lämpchen. Die schillernde Klinge mit den wirbelnden Mustern ließ es wie ein kostbares Schmuckstück aussehen, und das war es auch. Aber die Schneide war rasiermesserscharf und durchaus brauchbar. Rayne hielt das Messer vor ihren Körper und folgte mit den Blicken ihrem Angreifer, der sie wachsam umkreiste. Sie machte einen Ausfallschritt und ließ die blutrote Klinge nach vorn zucken. Leichtfüßig sprang ihr Gegner aus dem Weg. Rayne drehte sich mit ihm, das Messer in der Rechten erhoben. Ihr Atem ging keuchend, und ihre Wahrnehmung war bis zum Äußersten geschärft. Sie hörte jedes Rascheln, das die Füße ihres Angreifers auf dem Boden verursachten, spürte jede seiner Bewegungen, auch wenn sie sie nicht sah.
Das Messer schien dem Unbekannten Respekt einzuflößen. Jedenfalls tänzelte er deutlich vorsichtiger als zuvor um sie herum und wagte sich nicht mehr so nah an sie heran. Aufgegeben hatte er den Kampf aber noch lange nicht. Er umkreiste sie weiter und suchte nach einer Schwäche in ihrer Deckung. Allerdings wurde die Zeit langsam knapp. Sie konnten nicht ewig umeinander herumtanzen. Rayne musste diese Auseinandersetzung schnellstens für sich entscheiden, wenn sie nicht am Ende doch noch von Eisenbergers Wachleuten erwischt werden wollte. Sie täuschte eine Finte an, indem sie das Messer nach vorn stieß, als wollte sie ihren Angreifer am Bauch treffen. Als er nach hinten auswich, zog sie die Hand mit der Klinge in einem weiten Bogen herum und erwischte ihn an der rechten Schulter. Das Messer schnitt durch den Stoff seines schwarzen Overalls in die Haut darunter. Er stieß einen schmerzerfüllten Schrei aus.
Dann ging plötzlich alles sehr schnell. Vor Rayne erloschen die roten LED-Lämpchen, dann flammten sie wieder auf. Im nächsten Moment traf sie ein gut gezielter Tritt in der Magengegend. Zum zweiten Mal wurde sie hart gegen die Wand geschleudert. Ihr Gegner hatte sich von seiner Verletzung unerwartet rasch wieder erholt. Die Luft wurde Rayne aus den Lungen gepresst. Schmerz blühte in ihrem Bauch auf. Einen Moment lang war sie abgelenkt, sodass der Angreifer ihr das Messer aus der Hand schlagen konnte. Es flog durch die Luft und landete klirrend in einer Ecke. Unerreichbar für sie.
Ihr Gegner ließ ihr keine Zeit, Luft zu holen. Anscheinend hatte sie ihn nur leicht an der Schulter verletzt, denn die Geschwindigkeit seiner Angriffe war unvermindert. In der linken Hand hielt Rayne immer noch das Stahlkästchen mit dem Kristall. Einhändig wehrte sie so gut es ging eine ganze Reihe von Schlägen ab, die auf ihren Kopf gezielt waren. Ihr Atem ging schwer, Adrenalin schoss durch ihre Adern.
Gleichzeitig suchte sie fieberhaft nach einem Ausweg. Der Angreifer war schneller und stärker als sie. Ohne ihr Messer würde sie im direkten Kampf nicht lange gegen ihn bestehen können. Ihr blieb nur eines: Sie musste ihn mit einem Überraschungsmanöver überrumpeln und über das Seil entkommen. Die Rohre des Lüftungssystems waren so eng, dass er ihr dorthin vermutlich nicht folgen konnte. Mit seinen breiten Schultern würde er in der Öffnung stecken bleiben.
Ihr Kontrahent hatte sich mit erhobenen Armen einen halben Schritt von ihr zurückgezogen und schien seinen nächsten Angriff zu überdenken. Jetzt oder nie! Das Kästchen mit dem Kristall fest an die Brust gedrückt, stürmte sie vorwärts, um ihrem unbekannten Gegner mit aller Kraft den Kopf in den Bauch zu rammen. Doch der Angreifer befand sich nicht mehr an der Stelle, wo er eben noch gestanden hatte. Irgendwie war es ihm gelungen, unbemerkt auf ihre rechte Seite zu gelangen. Beim nächsten Schritt nach vorn stolperte sie. Der Kerl hatte ihr glatt ein Bein gestellt. Von ihrem eigenen Schwung vorangetragen, schlug sie der Länge nach hin. Sie keuchte überrascht auf. Das Kästchen mit dem Kristall entglitt ihrem Griff und polterte ebenfalls zu Boden. Der Deckel sprang auf, und der Kristall purzelte heraus und rollte in eine Ecke des Raums. Rayne streckte die Hand danach aus, doch er war zu weit weg. Sie konnte ihn nicht erreichen. Mühsam rappelte sie sich auf und warf sich trotz ihrer schmerzenden Knie und Ellbogen nach vorn. Aber ihr Angreifer war schneller. Er stürzte sich von hinten auf sie und ergriff sie am Arm.
Wütend rollte sie sich herum und versuchte, seinen Kopf zu packen, um ihn auf den Boden zu schlagen. Doch der Unbekannte schüttelte sie mühelos ab und war blitzschnell über ihr. Sein ganzes Gewicht ruhte auf ihr, er hielt ihre Arme fest umklammert und drückte sie zu Boden. Rayne wand sich unter ihm und versucht, ihre Arme zu befreien. Doch sie hätte genauso gut gegen Granit kämpfen können. Der Griff des Mannes glich einer Schraubzwinge. Ihr Zappeln kümmerte ihn nicht im Geringsten. Mit seinen muskulösen Schenkeln drückte er ihre Beine nieder, sodass Rayne sich keinen Millimeter bewegen konnte.
Im hektisch flackernden Licht des blauen Kristalls konnte sie die Gesichtszüge des Mannes ausmachen. Genau wie sie trug er eine abgedunkelte Brille und hatte kurz geschnittenes braunes Haar, von dem ihm einige widerspenstige Strähnen in die Stirn hingen. Sein kantiges Kinn wurde von Stoppeln umrahmt, die über einen Dreitagebart ganz knapp hinausgingen. Gar nicht mal so unsympathisch. Der weich geschwungene Mund und die Grübchen auf seinen Wangen waren sogar richtiggehend sexy.
Verdammt, der Typ hätte als Calvin-Klein-Model durchgehen können. Was tat er hier in der Eisenberger-Villa? Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als Rayne den genialsten Coup ihrer Karriere durchziehen wollte? Plötzlich war sie sich des Gewichts seines Körpers sehr deutlich bewusst. Unter seinem eng anliegenden schwarzen Overall zeichneten sich stahlharte Muskeln ab. Seine Oberschenkel drückten auf ihre, und ein merkwürdiges Prickeln breitete sich in ihrem Unterleib aus. Unter anderen Umständen hätte sie diese Position durchaus anregend gefunden. Vielleicht hätte sie sich sogar gefragt, wie es wäre, diese weichen, sinnlichen Lippen zu küssen.
Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen. »Danke für die Vorarbeit, Meisterdiebin«, sagte er. Seine Stimme klang tief und ein wenig rau, verlockend wie rauchiges Karamell.
Rayne fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Aus dem Prickeln in ihrem Unterleib war ein angenehmes Summen geworden. Wie schaffte er es, sie so anzuturnen? Eben noch hatten sie miteinander gekämpft, und er hatte sie mit einem Fußtritt durch den halben Raum geschleudert. Jetzt spürte sie, wie es ihr beim Anblick seiner breiten, muskulösen Schultern heiß wurde. Fehlte nur noch, dass sie sich an ihm rieb wie eine läufige Katze.
»Leider wirst du den Drachen diesmal enttäuschen müssen.«
»Woher …« Ihre Stimme klang belegt. Sie räusperte sich. »Woher weißt du, dass ich für einen Drachen arbeite?«
»Ich rieche den Drachenhort an dir.« Bei diesen Worten beugte er sich doch tatsächlich zu ihr herunter und sog die Luft ein, was ebenso merkwürdig wie erregend war. Sein Gesicht war jetzt nur noch wenige Zentimeter von ihrem entfernt, und sie nahm seinen Geruch wahr. Er roch nach Benzin, Leder und etwas Undefinierbarem, Männlichen. Sandelholz und Zitrus. Rayne lief das Wasser im Mund zusammen. Sie schluckte rasch.
»Den Geruch von Gold würde ich überall erkennen.« Er lachte kehlig, und bei dem Klang durchlief Rayne erneut ein heißer Schauer. Unter dem Stoff ihres schwarzen, hautengen Oberteils richteten sich ihre Brustwarzen auf. Die empfindlichen Spitzen rieben bei jeder Bewegung über seine muskulöse Brust. Und sie wollte mehr. Am besten direkten Kontakt ohne die störenden Schichten Stoff dazwischen. Ob die Haut seiner Brust wohl glatt und weich war oder von männlichem Brusthaar überzogen? Teufel nochmal, sie musste dieses Kopfkino ausschalten und sich konzentrieren. Ende der Vorstellung.
»Wie bist du hier reingekommen?«, fragte sie, um sich abzulenken. Ihr musste schleunigst ein Ausweg aus dieser Situation einfallen, bevor ihr Körper sie noch mehr im Stich ließ.
»Das verrate ich dir, wenn du mir verrätst, wie du die Schlösser an der Vitrine geknackt hast. Daran bin ich nämlich gescheitert.«
»Leck mich.«
Er lachte erneut und schüttelte den Kopf. »Ein andermal vielleicht. Ich würde mich wirklich gerne noch länger mit dir unterhalten, aber die Zeit wird knapp. Ich will vor dem nächsten Wachwechsel hier weg sein. Und du bestimmt auch. Nimm’s nicht persönlich. Mach’s gut, Meisterdiebin.«
»Moment mal«, fuhr Rayne auf. »Was meinst du mit …«
In diesem Augenblick berührten seine Lippen ihren Mund, und er küsste sie. Seine Zunge fuhr spielerisch an ihren Zähnen entlang, schlüpfte dann hindurch und drang tief in ihren Mund ein. Rayne war so überrumpelt, dass sie gar nicht reagieren konnte. Sein Mund schmeckte nach Salz und Bitterschokolade. Verdammt, er schmeckte so gut wie er roch! Noch ehe sie ganz begriffen hatte, was geschehen war, löste sich sein Gewicht von ihrem Körper. Er wurde eins mit den Schatten und verschwand – und der Kristall mit ihm.
Rayne war allein in der Dunkelheit.
Der Fahrstuhl des Firmensitzes von Transports International an der 6th Avenue in New York City bewegte sich langsam in die Höhe. In den glänzenden Messing- und Stahloberflächen spiegelten sich die grellen Lämpchen an der Decke des Aufzugs. Alles funkelte wie frisch poliert, als würde hier stündlich eine Putzkolonne durchrauschen und sämtliche Fingerabdrücke wegwischen. Der Rest des Hauses wirkte genauso klinisch steril, wie Rayne von ihrem letzten und einzigen Besuch vor knapp sieben Jahren wusste.
Eine Blondine im grauen Kostüm mit ordentlich hochgesteckten Haaren und Designer-Kastenbrille war mit ihr eingestiegen und musterte Rayne argwöhnisch von der Seite. Zwischen all dem blitzsauberen, funkelnden Stahl kam Rayne sich in ihrer an den Knien schon leicht abgewetzten schwarzen Lederhose, den Biker-Boots und der nietenbesetzten Jacke selbst ein bisschen fehl am Platze vor. Ihr kurzes schwarzes Haar konnte mal wieder einen neuen Schnitt vertragen und stand ihr wirr vom Kopf ab. Raynes’ Job ließ ihr wenig Zeit für Friseurtermine und Wellnessanwendungen im Beauty-Spa. Die Blondine betrachtete sie, als fürchte sie, Rayne könnte sie jeden Moment überfallen und ihr die Mini-Handtasche von Dolce & Gabbana klauen.
»Welches Stockwerk?«, fragte Blondie.
»Dreiundfünfzig.« Chefetage.
Blondie klappte die Kinnlade hinunter. Sie sagte jedoch nichts. Im elften Stock stieg sie aus. Die Erleichterung war ihr an jedem hastigen Schritt ihrer Stöckelpumps anzumerken.
Rayne war allein im Fahrstuhl, allein mit ihren Gedanken. Ihre Nervosität stieg mit jedem Stockwerk. Sie hatte keine Ahnung, weshalb Mei Liu sie zu einem Gespräch hergebeten hatte. Halt, das stimmte nicht ganz. Eigentlich wusste sie ziemlich genau, weshalb. Es ging um diese verfluchte Drachenauge-Geschichte.
Nach dem verpatzten Diebeszug hatte Rayne noch in derselben Nacht den Kontaktmann des Jadedrachen auf dem Handy angerufen und ihm ihren Fehlschlag gebeichtet. »Verstehe«, hatte er nur geantwortet und aufgelegt. Eigentlich hätte Rayne danach erleichtert sein sollen. Schließlich hätte es schlimmer kommen können. Er hätte sie beschimpfen oder ihr drohen können. Doch ein ungutes Gefühl in der Magengegend hatte sie gewarnt, dass die Sache noch ein Nachspiel haben würde.
Und tatsächlich war sie drei Nächte später wieder zu den Klängen von »Eternal Flame« aus dem Schlaf hochgeschreckt. »Mei Liu will Sie sehen. Morgen zur Mittagszeit in ihrem Büro. Seien Sie pünktlich«, hatte die tiefe Männerstimme im Handy gesagt.
Den letzten Satz hätte der Typ sich sparen können. Der rechten Hand des Jadedrachen war Rayne zwar bisher erst einmal begegnet, aber wenn sie etwas über Mei Liu wusste, dann dass man sie nicht warten ließ. Mei Liu würde Rayne wegen des Drachenauge-Reinfalls mit Vergnügen persönlich den Kopf waschen. Und das war zweifellos ihre Absicht. Sonst hätte sie Rayne nicht hierher ins Haus des Jadedrachen bestellt. Von außen wirkte das Gebäude wie der Sitz eines großen, internationalen Handelsunternehmens. Die perfekte Fassade, denn das Drachenhaus war ein wahrer Umschlagplatz für Schmuck, Antiquitäten und alle möglichen anderen Wertgegenstände. Der eigentliche Hort, wo die kostbarsten Dinge aufbewahrt wurden, befand sich jedoch – soweit Rayne wusste – an einem geheimen Versteck irgendwo in der Wüste Nevadas.
Sie hatte das Gebäude das letzte Mal von innen gesehen, als Mei Liu sie für den Job als Meisterdiebin des Drachenhorts angeheuert hatte. Damals war Rayne zwanzig gewesen. Die Agenten des Drachen hatten sie aufgespürt, nachdem sie sich mit Kunstdiebstählen in den entsprechenden Kreisen so etwas wie einen Namen gemacht hatte.
Als Teenager hatte sie sich aus dem Haus ihrer Pflegeeltern in Arizona abgesetzt und war mit dem wenigen Geld, das sie damals besaß, nach New York gefahren. In der Großstadt war das Leben ungleich härter als auf dem Land. Das hatte sie bald erfahren müssen. Aber sie besaß ein scharfes Auge und flinke Finger. In New York war sie in Apartments eingebrochen und hatte Kunstgegenstände und Antiquitäten gestohlen, die sie an Händler verhökert hatte. Gern dachte Rayne an diese Zeit nicht zurück. Damals war es für sie ums nackte Überleben gegangen. Eine Stadt wie New York sprang mit heimatlosen Ausreißern nicht gerade sanft um. Mei Liu hatte Raynes Potenzial erkannt und ihr eine Chance gegeben. Dafür würde Rayne ihr immer dankbar sein.
Ihren Wert für den Jadedrachen hatte sie allerdings seither auch schon vielfach unter Beweis gestellt. Der Drachenhort wuchs, und das nicht zuletzt wegen Raynes besonderem Riecher für seltene Kunstgegenstände und Antiquitäten. Die Investition des Jadedrachen in eine zwielichtige Kleinkriminelle hatte sich also gelohnt. Und Raynes Schuldgefühle ihm gegenüber hielten sich deshalb in Grenzen.
Der Drachenauge-Raub war überhaupt der erste Auftrag, den sie jemals verpatzt hatte. Sieben Jahre im Dienst des Jadedrachen, und bisher hatte sie alle Missionen zu seiner Zufriedenheit ausgeführt. Und die Drachenaugen-Nummer war auch nicht ganz alltäglich gewesen. Normalerweise brach Rayne in private Museen oder Apartments ein und stahl Gemälde oder Wertgegenstände – einen nahezu unbekannten Van Gogh, den der Besitzer jahrelang vor der Welt geheim gehalten hatte, Goldschmuckuhren von Omega oder diamantbesetzte Rolex, Colliers aus massivem Gold oder silberne Perlenohrringe. Auch wirklich antike Gegenstände hatten schon auf ihrer Auftragsliste gestanden, wie etwa eine mit riesigen Smaragden besetzte goldene Klinge, die dem berühmten Topkapi-Dolch zum Verwechseln ähnlich sah. Einmal hatte sie aus der Villa eines reichen Unternehmers eine goldene Scheibe mit einem Sonnenmotiv entwendet, die mit Sicherheit aus der Bronzezeit stammte.
Da Rayne diese Gegenstände in der Regel von privaten Sammlern stahl, machte sie sich deswegen keine großen Gedanken. Die meisten von ihnen waren so wohlhabend, dass sie den Verlust verschmerzen konnten und wahrscheinlich nicht einmal bemerken würden. Die Kunstwerke waren oft Beutegut aus den Weltkriegen, das ihre Besitzer ohnehin unrechtmäßig an sich gebracht hatten. Rayne hatte keine Skrupel, von solchen Leuten zu stehlen. Was der Jadedrache mit den entwendeten Dingen tat, wusste sie nicht, und sie fragte auch lieber nicht nach. Wahrscheinlich verkaufte er einen Teil davon, um das Drachenhaus und seine vielen Angestellten zu finanzieren. Der Rest wanderte in jenes geheime, dem Vernehmen nach mit atemberaubenden Sicherheitsvorkehrungen geschützte Lagerhaus, dessen genauen Standort niemand kannte – den Drachenhort.
Rayne hatte den Hort noch nie mit eigenen Augen gesehen. Es musste eine beeindruckende Sammlung von unvorstellbarem Wert sein. Der Jadedrache hatte eine Schwäche für alles, was glänzte und funkelte. Die Gegenstände, die Rayne auf ihren Diebeszügen erbeutete, verschwanden in den Tiefen seines Hortes und tauchten nie wieder auf.
Für ihre Dienste wurde Rayne gut bezahlt. Sie war dem Jadedrachen in den sieben Jahren ihrer Anstellung noch nicht persönlich begegnet, aber niemand konnte behaupten, er sei geizig. Über die normale Bezahlung hinaus zeigte er ihr seine Anerkennung auch oft mit besonderen Geschenken – wie etwa dem Damastmesser mit Büffelhorngriff, das er ihr vor einem Monat hatte zukommen lassen. Gelegentlich hatte ein Kurier auch schon mal eine Flasche 1956er Bowmore oder ein Paar scharlachroter Prada-Pumps mit schwindelerregend hohen Absätzen an Raynes Apartmenttür abgeliefert. Für die Pumps hatte sie bisher bedauerlicherweise keine Verwendung gefunden, obwohl der Gedanke sie reizte, einmal in diesen sündigen Knöchelbrechern die 5th Avenue entlangzustöckeln. Das Damastmesser dagegen steckte inzwischen ständig in einer Scheide in ihrem linken Stiefel.
Bisher hatte Rayne ihre Aufträge stets tadellos erfüllt. Nicht ein einziges Mal hatte sie versagt. Bis jetzt.
Bei dem Gedanken daran wurde ihr wieder mulmig zumute. Sollte dieses verfluchte Drachenauge ihr das Genick brechen?
Zugegeben, noch nie zuvor hatte sie einen so wertvollen Gegenstand im Visier gehabt. Und die Umstände waren alles andere als ideal gewesen. Eigentlich war die Sache von Anfang an ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Trotzdem hatte Rayne es geschafft. Sie war ins innerste Heiligtum der Eisenberger-Villa vorgedrungen, einem der am stärksten gesicherten Orte der Welt, und sie hatte den Kristall in Händen gehalten.
Alles wäre perfekt gewesen, wenn ihr nicht ein gewisser Jemand -- dessen Namen sie immer noch nicht kannte -- dazwischengefunkt hätte. Nicht nur einen Kuss hatte der Fremde ihr gestohlen, sondern obendrein ihre schwer verdiente Diebesbeute!
Wie es ihm gelungen war, unbemerkt den Raum zu betreten und ihn wieder zu verlassen, war ihr ein Rätsel. Aber er hatte es geschafft. Und er hatte den Kristall mitgenommen, ihn ihr buchstäblich aus der Hand gerissen.
Anscheinend hatte er nur darauf gewartet, bis sie die Schlösser geknackt hatte – der faule Hund! Wenn ihr dieser Typ noch einmal unter die Augen treten sollte, würde sie ihm den Hals umdrehen. Über die perfekten Grübchen auf seinen Wangen und die vollkommen unangebrachte Reaktion ihres Körpers auf seine Nähe dachte sie jetzt lieber nicht nach.
Der Unbekannte war schuld an ihrem Versagen, aber das half ihr auch nicht weiter. Mei Liu war an Ausreden nicht interessiert. Rayne hätte wachsamer sein sollen. Aber wie, verflucht nochmal, war der Kerl in den Raum gekommen, ohne dass sie es gemerkt hatte? Diese Frage stellte sie sich nicht zum ersten Mal.
Rayne seufzte, als die Anzeige des Fahrstuhls auf die Dreiundfünfzig sprang. Mit einem Pling öffnete sich die hochglanzpolierte Fahrstuhltür, und Rayne trat hinaus. In dem in mattem Beige gestrichenen Korridor gab es nur eine Glastür, und diese führte zum Vorraum von Mei Lius Büro. Rayne atmete tief durch, durchquerte den Korridor und stieß die Glastür auf.
Ihre Boots quietschten auf dem hellen Holzparkett des Vorraums. Sie fühlte sich genauso linkisch und fehl am Platz wie bei ihrem letzten Besuch vor sieben Jahren. Im Raum herrschte gedämpftes Licht, an den Wänden hingen teure Drucke abstrakter Gemälde, und auf dem Empfangstresen stand ein aufwändig arrangiertes Blumengesteck, das an einen abstürzenden Vogel mit merkwürdig gespreizten Flügeln erinnerte.
Die Brünette hinter dem Tresen schenkte Rayne ein Lächeln. Auf einem ihrer oberen Schneidezähne funkelte ein Diamant. »Ms Trevalis? Ms Liu erwartet Sie bereits. Wenn Sie mir bitte folgen würden.« Sie stand auf, ging um den Tresen herum und führte Rayne zu einer nicht weiter gekennzeichneten Tür an der Rückseite des Raums.
Die Tür zu Mei Lius Büro. Rayne wappnete sich innerlich.
Sie betrat den Raum, und die Tür schloss sich hinter ihr. Wie bei ihrem ersten Besuch hier raubte ihr der Anblick von Mei Lius Allerheiligstem einen Moment lang den Atem. Der Raum wurde von einer gewaltigen Glasfront beherrscht, die vom Boden bis zur Decke reichte. Durch die Fenster hatte man einen fantastischen Ausblick auf die Stadt. Wolkenkratzer reckten sich in den Himmel. In zahllosen Fensterscheiben spiegelte sich Sonnenlicht, während am Himmel Flugzeuge vorbeizogen. Und tief unten in den Häuserschluchten schlängelten sich Ketten winziger Autos und noch winzigerer Passanten durch die Straßen.
Vor dieser Kulisse wirkte die Silhouette der kleinen Asiatin, die mit dem Rücken zu Rayne vor dem Fenster stand, schmal und zierlich wie die eines Kindes. Doch der Eindruck täuschte – dieser Frau lag die gesamte Stadt zu Füßen. Inoffiziell war sie einer der mächtigsten Menschen des Landes.
Mei Liu drehte sich nicht um, obwohl sie Raynes Eintreten sicherlich bemerkt hatte. In der Mitte des Büros stand ein langer Verhandlungstisch mit einer nachtschwarzen Oberfläche, die ebenso makellos glänzte wie alles hier. Jetzt erst bemerkte Rayne, dass an der Stirnseite des Tisches ein kahlköpfiger Mann mit einer Brille saß. Er trug ein graues Sakko, das ihm ein paar Nummern zu groß zu sein schien. Vor sich hatte er einen Notizblock liegen, und er spielte nervös mit einem Kugelschreiber.
Rayne verlagerte das Gewicht. Langsam wurde sie sauer. Sie hasste es, dass sie sich in Mei Lius Gegenwart so unsicher fühlte. Die rechte Hand des Jadedrachen ließ keine Gelegenheit aus, sie ihre Macht spüren zu lassen. Das Ganze war so orchestriert, dass es geradezu lächerlich wirkte.
Eben wollte Rayne sich räuspern, als Mei Liu mit dem melodischen asiatischen Akzent in ihrer Stimme sagte: »Setzen Sie sich, Ms Trevalis. Trevor, bieten Sie Ms Trevalis doch bitte einen Stuhl an.«
Der Glatzkopf stolperte in seiner Eile, einen der Stühle an der Längsseite des Konferenztisches für Rayne zurückzuziehen, fast über die eigenen Füße. Zögernd ging Rayne durch den Raum und nahm am Tisch Platz.
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte Mei Liu, den Blick immer noch auf die Stadt gerichtet.
»Wasser, bitte«, erwiderte Rayne. Bis jetzt hatte Mei Liu ihr noch nicht den Kopf abgerissen, aber es konnte nicht mehr lange dauern, bis die rechte Hand des Jadedrachen ihre Klauen ausfuhr. Trevor, der anscheinend Mei Lius Assistent war, goss aus einer Karaffe Wasser in ein Glas und stellte es vor Rayne auf den Tisch. Sie bedankte sich mit einem Nicken.
In diesem Moment drehte Mei Liu sich um und kam zum Tisch. Ihr perfekt maßgeschneidertes blassblaues Kostüm schmiegte sich eng an ihren schmalen Körper, die rabenschwarzen Haare umrahmten in einem strengen Bob ihr herzförmiges Gesicht. Von Nahem betrachtet war sie kaum älter als Rayne, höchstens zwei, drei Jahre, doch ihre aufrechte Haltung und ihre selbstsicheren Bewegungen verliehen ihr eine Autorität, wie sie sonst nur weitaus ältere Frauen besaßen. Sie setzte sich Rayne gegenüber und musterte sie gelassen.
Rayne rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Warum nur fühlte sie sich in Gegenwart dieser Frau immer wie ein Schulmädchen, das in das Büro der Direktorin gerufen wurde?
»Sie wissen, weshalb Sie heute hier sind?«
Na bitte, da ging’s schon los mit der Strafpredigt. In solchen Momenten half nur die Flucht nach vorn.
»Hören Sie, ich weiß, die Sache mit dem Drachenauge ist ein bisschen schiefgelaufen. Aber Sie müssen zugeben, dass es auch kein ganz leichter Auftrag war.« Verflucht, eigentlich hatte sie sich gar nicht entschuldigen wollen. Sie hasste es, wenn ihre Stimme so weinerlich klang.
Mei Liu schaute sie nur an. Ihr schmales Gesicht mit den mandelförmigen Augen zeigte keine Regung.
»Und eigentlich war es nicht meine Schuld, dass es am Ende nicht geklappt hat«, fügte Rayne hinzu.
»Ach so? Wessen Schuld war es dann?«
»Tja, also, das kann ich Ihnen auch nicht so genau sagen.« Na, das lief ja wirklich großartig. Verdammter Mist! Rayne suchte nach den passenden Worten. Wieso herrschte bei solchen Gesprächen eigentlich immer gähnende Leere in ihrem Kopf? Sie nippte an ihrem Wasserglas. »Da war ein Typ. Er kam aus dem Nichts.«
»So, so, aus dem Nichts also?« Mei Lius Miene war immer noch ausdruckslos. »Wie hat er denn ausgesehen?«
»Nun ja, es war dunkel im Raum. Aber er war groß und schlank, ziemlich muskulös …« Rayne erinnerte sich an die breiten Schultern des Fremden, als er sich über sie gebeugt hatte, und an den Druck seiner Schenkel auf ihren. »Kurze Haare, markantes Kinn und Dreitagebart. Und er trug eine dunkle Brille, sodass ich seine Augen nicht sehen konnte.« Außerdem hatte er das atemberaubendste Lächeln, das Rayne je untergekommen war. Und sein Geruch nach Leder und Maschinenöl … »Wahrscheinlich Motorradfahrer.«
»Interessant«, sagte Mei Liu. »Wie ist er in den Raum gelangt, ohne dass Sie es bemerkt haben?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
»Hat er irgendetwas darüber gesagt, was er dort wollte?« Mei Liu musterte Rayne aufmerksam.
Danke für die Vorarbeit, Meisterdiebin. »Er wusste, wer ich bin. Und er hatte es eindeutig auf das Drachenauge abgesehen. Wie es dazu kam, dass er genau zum selben Zeitpunkt dort war wie ich, kann ich Ihnen nicht sagen.«
Mei Liu nickte. »Also gut. Nun zu Ihnen.«
Oh-oh, die Strafpredigt war anscheinend noch nicht vorüber.
»Wie Sie sich vorstellen können, war der Jadedrache über Ihr Scheitern wenig erfreut.«
Rayne verdrehte innerlich die Augen. Als ob sie das nicht selbst wüsste. »Ich werde mir Mühe geben, den Verlust wieder wettzumachen«, sagte sie betont ruhig. »Das können Sie mir glauben.«
»Dazu kommen wir gleich.« Mei Liu schlug eine graue Aktenmappe auf, die sich auf dem Tisch befunden hatte, nahm etwas heraus und ging um den Tisch herum zu Rayne. Sie legte ein Foto vor sie hin. Es war die Aufnahme eines Mannes um die dreißig, der eine schwarze Jeans und schwarze Lederjacke trug, unter der ein graues Shirt mit dem Schriftzug »Fast Driver« zu sehen war. Die Jacke umschloss breite Schultern und, soweit sie es erkennen konnte, muskulöse Arme. Der Mann lief eine belebte Straße entlang, vermutlich in New York City. Anscheinend wusste er nicht, dass er fotografiert wurde. Seine Haltung wirkte lässig und beherrscht, in einer Hand hielt er eine Sonnenbrille. Aber sein Gesicht … das kantige Kinn mit den Bartstoppeln und die sexy Grübchen auf den Wangen erkannte Rayne sofort. Unwillkürlich spürte sie ein Flattern in der Magengegend.
»Ist das der Mann?«, fragte Mei Liu.
»Ja, d-das ist er«, stammelte Rayne. »Sie wissen, wer er ist?«
»Sein Name ist Alec Rossokow. Er arbeitet im Auftrag der Wandlergilde.«
Ein Wandler? Das würde so einiges erklären. Ich rieche den Drachenhort an dir.
Rayne hatte wenig Erfahrung mit Wandlern, und wissentlich war sie noch nie einem begegnet. Sie hatte nur gehört, dass die meisten von ihnen übernatürlich geschärfte Sinne besaßen, sich sonst aber wie normale Menschen verhielten. Abgesehen von der Tatsache, dass sie sich einmal im Monat in haarige Ungeheuer verwandelten. War dieser Rossokow ein Werwolf?
»Die Gilde hat mit uns Kontakt aufgenommen. Sie wünschen ein Treffen.«
Rayne blickte überrascht zu Mei Liu, die wieder ihr gegenüber Platz genommen hatte.
»Nach Ihrer Aussage«, fuhr die Asiatin fort, »und dem, was Sie mir gerade bestätigt haben, glauben wir, dass sich die Gilde im Besitz des Drachenauges befindet.«
»Aber warum wollen die Wandler sich mit uns treffen?«
»Das wissen wir nicht«, sagte Mei Liu. »Wir vermuten, dass sie das Drachenauge gestohlen haben, um Profit daraus zu schlagen. Die Wandler haben Wind davon bekommen, wie viel dem Jadedrachen der Kristall wert ist. Wir denken, dass sie ihn uns zum Kauf anbieten wollen.«
»Tatsächlich?«, sagte Rayne. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass jemand einen so wertvollen Gegenstand wieder hergeben würde, nachdem er ihn erst einmal in seinen Besitz gebracht hatte. Aber bei den Wandlern konnte man nie wissen. Natürlich war es möglich, dass sie es nur deshalb auf das Drachenauge abgesehen hatten, weil sie wussten, dass der Jadedrache sämtliche seiner grünen Schuppen dafür hergeben würde, um den Kristall für seinen Hort zu gewinnen. Die Wandler verband keinerlei Geschichte mit dem Edelstein. Für die Drachenhäuser dagegen gehörte er zu ihrer jahrhundertealten Tradition.
»Okay, aber was hat das alles mit mir zu tun?«, fragte sie.
»Wir möchten, dass Sie uns zu dem Treffen begleiten. Als Expertin quasi«, sagte Mei Liu. »Sie sind die Einzige, die den Kristall bisher mit eigenen Augen gesehen hat. Sie sollen bestätigen, dass es sich bei dem Stein, den die Gilde uns zweifelsohne anbieten wird, wirklich um das Original und nicht um eine Fälschung handelt.«
Innerlich war Rayne erleichtert. Der Jadedrache hatte sie also noch nicht aufgegeben.
»Das Treffen findet morgen in einem Restaurant in Downtown statt. Ich möchte, dass Sie dort sind. Trevor wird Ihnen alles weitere erklären.« Damit klappte Mei Liu ihre Aktenmappe zu und schob ihren Stuhl zurück.
Auch der glatzköpfige Anzugträger, der sich die ganze Zeit schweigend Notizen gemacht hatte, stand auf. Mei Liu ging zu Rayne, die sich ebenfalls erhoben hatte. Die rechte Hand des Jadedrachen trat dicht an Rayne heran. Sie reichte ihr gerade bis zur Schulter und musste zu ihr hochblicken. Doch angesichts der Kälte in ihren Augen lief Rayne ein eisiger Schauer über den Rücken.
»Ich muss Ihnen wohl nicht erklären, dass es sich bei der ganzen Angelegenheit um ein Debakel erster Güte handelt«, sagte Mei Liu mit gefährlich leiser Stimme. »Ich persönlich hätte Sie für dieses Versagen zur Rechenschaft gezogen. Der Jadedrache hat jedoch beschlossen, Ihnen noch eine Chance zu geben. Enttäuschen Sie ihn nicht!«, schloss sie.
Sie drehte sich um und ging wieder zur Fensterfront, ohne Rayne eines weiteren Blickes zu würdigen. Die Drohung in Mei Lius Stimme war unmissverständlich gewesen. Rayne schüttelte innerlich den Kopf. Erstaunlich, wie ihr Leben von einem Moment auf den anderen eine solche Wendung hatte nehmen können. Vor nicht allzu langer Zeit hatte der Jadedrache seine Meisterdiebin, eine geschätzte Angestellte seines Hauses, noch mit kostbaren Aufmerksamkeiten überschüttet. Jetzt stand sie offenbar kurz davor, ihren Job zu verlieren … oder Schlimmeres. Es hieß, die rechte Hand des Jadedrachen fackelte nicht lange, wenn jemand sie verärgert hatte. Und um ihre Gunst zurückzugewinnen, würde Rayne nun wie ein braves Schoßhündchen durch eine Menge Reifen springen müssen. Hoffentlich brach sie sich dabei nicht das Genick.
Unter den Tattoo Shops in der Nähe der Bowery Street in Manhattan war Magic Ink sicherlich eine Besonderheit, auch wenn das von außen nicht auf den ersten Blick erkennbar war. Die untere Hälfte der Fensterscheiben des kleinen Ladens bestanden aus Milchglas, wer durch den oberen Bereich hindurchschaute, sah Zeichnungen mit bunten Designs an den Wänden hängen. Direkt hinter der Eingangstür lauerte ein großes ausgestopftes Gürteltier. Daneben stand ein mit Totenköpfen verzierter Kleiderständer.
Auch im Warteraum hätte bei einem Blick auf die vielen Zeichnungen von keltischen Symbolen, barbusigen Meerjungfrauen und hüpfenden Delfinen wohl niemand vermutet, dass Magic Inkdie Anlaufstelle für magische Tätowierungen und Voodoomixturen in New York war. Der Besitzer, George La Roche, war einer der besten Tattookünstler der Stadt und nebenberuflich freischaffender Voodoopriester. Außerdem war er Raynes ältester und bester Freund. Sie hatte ihn kurz nach ihrer Ankunft in New York kennengelernt. Damals war es ihr eine Zeitlang ziemlich dreckig gegangen. Sie hatte kein Geld gehabt und keine Wohnung, hatte sich nur mit kleinen Diebstählen über Wasser gehalten. George hatte sie von der Straße geholt und sie bei sich wohnen lassen, bis sie ihr Leben wieder einigermaßen im Griff hatte. Das würde sie ihm niemals vergessen. Inzwischen war Rayne längst kein mittelloses Straßenmädchen mehr, das nicht wusste, wo es die nächste Mahlzeit herbekommen sollte. Dennoch war George immer noch wie ein Bruder für sie und sein Tätowierstudio in der Nähe der Bowery Street ein sicheres Zuhause.
Rayne ging durch den leeren Warteraum zum Eingang des Tätowierzimmers. Auf ihr leises Klopfen hin flog die Tür auf. Als George sie sah, leuchtete ein breites Lächeln in seinem dunklen Gesicht auf. Im nächsten Moment riss er sie in seine muskulösen Arme.
»Hey, Baby, schön, dass du mal wieder vorbeischaust.« George presste Rayne so ungestüm an seine Brust, dass ihr der Atem wegblieb.
»Hey, Georgie, nett dich zu sehen«, keuchte sie. »Aber du musst mir vor lauter Freude nicht gleich sämtliche Rippen brechen.«
»Oh, sorry.« George ließ sie augenblicklich los. Er hatte früher Profi-Football gespielt und besaß immer noch eine beachtliche Statur. In der Aufregung vergaß er manchmal, wie kräftig er war. »Denver, schau doch mal, wer da ist!«
Georges Hund kam schwanzwedelnd angelaufen und leckte Rayne die Hand ab.
»Hi, Denver. Ja, ich habe dich auch vermisst, Buddy.« Rayne ging auf die Knie und kraulte Denver hinter den Ohren, der daraufhin in begeistertes Japsen verfiel und ihr das Gesicht abzulecken begann. Rayne richtete sich lachend auf und wischte sich das Gesicht ab. »Uui, Denver, du weißt, ich steh nicht so auf feuchte Küsse.«
Denver war ein Barsoi, ein russischer Windhund, und hatte ein herrlich weiches beigefarbenes Fell mit rostbraunen Flecken. Außerdem war er ein ganz brauchbarer Jagdhund, wie George versicherte. Das Gürteltier im Warteraum hatte Denver angeblich bei Georges letzter Reise in der Nähe seiner Heimatstadt in Louisiana im Sumpf aufgespürt.
George strahlte immer noch über das ganze Gesicht und drückte sie erneut an sich. Vorsichtig diesmal, um ihr nicht weh zu tun. Er trug ein weißes, kunstvoll zerrissenes Muskelshirt mit dem Motiv eines schwarzen Schmetterlings, dazu eine hautenge silbergraue Röhrenjeans. Die Rastazöpfe hatte er im Nacken locker zusammengebunden, und von einem Ohr hing ein langer Silberohrring hinab. Seine linke Braue war mit zwei Ringen gepierct.
Er hielt Rayne auf Armlänge von sich und musterte sie. »Lass dich anschauen. Hab dich ja ewig nicht gesehen. Wo hast du dich wieder rumgetrieben, hm?«
»Ist ’ne lange Geschichte. Hör mal, können wir reden?« Rayne warf einen vielsagenden Blick auf den Typen, der im Tätowiersessel saß und neugierig zu ihnen herübersah.
»Klar doch. Bin gleich fertig hier.« George ging zu seinem Kunden zurück und ergriff seine Instrumente, um seinem Werk den letzten Schliff zu geben.
Auf dem Oberarm des jungen Mannes prangte ein rotes Herz mit einem Pfeil und dem Namen irgendeines Mädchens darin. Der Kunde sah aus wie ein Student, der seine letzte Kohle zusammengekratzt hatte, um mit einem Liebestattoo seine Angebetete zu beeindrucken. Tätowierungen wie diese machte George notfalls linkshändig und mit verbundenen Augen. Manchmal beschwerte er sich über die wenig originellen Wünsche seiner Kunden – immer nur Herzen, Einhörner oder nackte Frauen. Dabei konnte George Tätowierungen erschaffen, die in ihrer Ausdruckskraft richtiggehend lebendig wirkten. Magische Tätowierungen. Rayne hatte einmal einen Magier gesehen, dem George einen feuerspeienden Drachen auf den Rücken tätowiert hatte. Das Auge des Drachen hatte bösartig gefunkelt. Die Flammen aus seinem Maul hatten auf den Armen des Mannes getanzt und seltsame Schatten geworfen. Es war faszinierend und furchterregend zugleich gewesen.
In magischen Kreisen war George bekannt und berühmt. Seine Dienste waren nicht ganz billig. Dennoch kamen Magier und Hexen aus dem ganzen Land, um sich von ihm tätowieren oder einen Voodoozauber mischen zu lassen. Doch den Großteil seiner Kunden machten Normalsterbliche wie der Student mit dem Herz auf dem Arm aus, die von seinem Nebenberuf nicht das Geringste ahnten. Irgendwie musste auch ein Voodoopriester seine Miete bezahlen.
»Mach’s dir bequem«, sagte George. »Willst du ’nen Tee? Ich hab eine tolle Heublumenmischung da. Bei Mondschein gepflückt.« Er beugte sich wieder über den Arm des Studenten, der tapfer die Zähne zusammenbiss, während George ihn mit der Tätowiermaschine bearbeitete.
»Klar, warum nicht?«, erwiderte Rayne.
»Du weißt, wo alles steht. Mach’s dir selbst, Süße«, sagte George und arbeitete fröhlich pfeifend weiter.
Rayne ging zum Spülbecken in der Ecke, wo der Wasserkocher stand. Sie setzte Wasser auf und betrachtete unschlüssig die verschiedenen Döschen mit Tee, die auf einem Wandbrett über dem Spülbecken aufgereiht standen.
»Die Heublumen sind in der roten Dose«, sagte George.
Sie nahm die Dose vom Wandbrett, öffnete den Deckel und schnupperte an ihrem Inhalt. Ein würziger Duft von Wald und taufeuchtem Gras stieg ihr entgegen. Sie gab ein wenig von den getrockneten Blüten und Kräutern in ein Teesieb und hängte es in die Steingutkanne mit der rissigen Glasierung, die den braunen Ablagerungen in ihrem Inneren nach zu urteilen schon seit Generationen in Benutzung war und noch nie einen Geschirrspüler von Weitem gesehen hatte. George behauptete, das sei gut fürs Aroma. Rayne hatte den Verdacht, dass er einfach nicht gerne Geschirr spülte.
Als der Tee fertig war, schnappte sie sich eine leidlich saubere Tasse vom Spülbecken, goss sie voll und machte es sich auf dem Sofa neben der Spüle bequem. Der Bereich des Raumes, in dem tätowiert wurde, war peinlich steril. Verschiedenfarbige Kerzen in den Zimmerecken und ein kleiner Altar mit Götterbildchen, Figürchen und herabbaumelnden Kräutersträußchen verrieten jedoch dem eingeweihten Betrachter, dass der Raum gelegentlich auch für andere Praktiken benutzt wurde. Praktiken, von denen kein Normalsterblicher etwas wissen durfte.
George war mit seinem Werk fertig und warf einen letzten zufriedenen Blick auf das blutrote Herz. Der Student hatte es sehr eilig, von dem Stuhl herunterzukommen. Er stolperte aus dem Raum, offenbar erleichtert, die Prozedur hinter sich zu haben. Rayne hörte, wie George ihn im Wartezimmer abkassierte. Dann ertönte das Bimmeln der Ladenglocke, die Tür klappte zu und der Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht.
George kam wieder in das Tätowierstudio zurück. Er nahm sich ebenfalls eine Tasse aus der Spüle, schaute prüfend hinein und goss sich von dem Tee ein. Damit schlenderte er zu Rayne hinüber und ließ sich neben ihr aufs Sofa fallen. Denver kam herbeigeschlurft und legte seinen Kopf auf Georges Schoß.
»Der letzte Kunde für heute?«, fragte Rayne.
George nickte und nippte an seinem Tee. Geistesabwesend kraulte er Denver hinter den Ohren. »Zumindest zum Tätowieren, ja. Nachher kommt noch eine Hexe aus New Jersey. So eine hysterische New-Age-Tussi mit Walle-Walle-Klamotten. Die war schon mal hier und wollte unbedingt einen dreifachen Bindezauber haben. Ist angeblich selbst eine Voodoopriesterin. Hat sie jedenfalls behauptet. Als ob sie ein paar Halskettchen und Fetische schon zur Mambo machen.« George schüttelte den Kopf. »Ich hab ihr gesagt, dass ich grad kein Graupulver dahabe und sie später wiederkommen soll.«
»Und wirst du ihr den Zauber geben?«
»Ein echter dreifacher Bindezauber ist keine ganz ungefährliche Sache. Man kann damit einen Menschen zum willenlosen Objekt machen«, sagte George. Er nippte an seinem Tee. »Ich denke, ich drehe ihr einen leichten Anziehungskraftverstärker an. Den Unterschied merkt die sowieso nicht.«
»Du bist ein Schlitzohr, George La Roche.« Rayne schlug ihm mit gespielter Empörung auf die Schulter.
George lachte und entblößte seine weißen Zähne. »Ich sehe das eher als Schadensbegrenzung. So ein Zauber gehört nicht in die Hände von unerfahrenen Kleinstadthexen. Da kann aller möglicher Mist passieren.« Er klopfte Rayne aufs Knie. »Aber jetzt erzähl mal. Weswegen bist du hier? In was für eine Scheiße hast du dich wieder reingeritten?«
Rayne senkte den Kopf. George kannte sie viel zu gut. »Okay«, sagte sie. »Aber du weißt, kein Wort davon darf diesen Raum verlassen.«
George verdrehte die Augen. »Ja, ja. Als ob es mit dir jemals anders wär.«
»Ich meine es ernst.«
»Schon gut. Ich werde niemandem etwas verraten. Das schwöre ich beim Grab meiner wiederauferstandenen Großmutter – Bondieu möge ihrer Seele gnädig sein.« George legte sich den Zeigefinger an die Lippen. »Aus mir kriegt keiner was raus. Außerdem – bei den Storys, die du mir immer erzählst, stecken die mich sowieso in die Klapse, wenn ich die jemandem auf die Nase binde. Also, schieß los.«
»Diesmal stecke ich echt tief drin.« Rayne seufzte.
»Baby, du bist eine noch größere Dramaqueen als ich. Nun mach schon und spann mich nicht länger auf die Folter.« George wedelte mit den Händen, deren Finger von mehreren klobigen Ringen geziert wurden.
Rayne nahm einen großen Schluck Tee. »Hast du schon mal vom Drachenauge gehört?«
»Du meinst diesen teuren Klunker, der gerüchteweise in der Villa von Edward Eisenberger lagert? Diesem Großindustriellen?«, fragte George.
»Genau den. Und nicht nur gerüchteweise. Ich habe ihn gesehen, habe ihn in der Hand gehalten. Jedenfalls einen Moment lang.«
»Du bist in die Eisenberger-Villa eingebrochen?« George pfiff durch die Zähne. »Mannomann, wenn du ein Kerl wärst, würde ich sagen, du musst Eier aus Granit haben. In dieser Villa soll es mehr Sicherheitspersonal geben als im Weißen Haus.«
»Das ist tatsächlich nicht übertrieben«, sagte Rayne. Sie musste an die Trupps von bis an die Zähne bewaffneten Security-Leuten mit Hunden denken, die auf dem weitläufigen Anwesen patrouilliert waren. Es hatte ihr ganzes Können und ihre jahrelange Erfahrung als Meisterdiebin gebraucht, um sich an diesem Aufgebot vorbeizuschleichen.
»Du warst wirklich in der Eisenberger-Villa?« George sah sie geradezu ehrfürchtig an. »Und bist mit heiler Haut wieder rausgekommen?« Seine Miene verfinsterte sich. »Ich glaube, ich muss mit deinem Boss mal ein ernstes Wörtchen reden. Auf was für gefährliche Diebeszüge die grüne Echse dich schickt, das ist wirklich unfassbar! Er hat dich doch geschickt, oder nicht?« George zog die gepiercten Augenbrauen zusammen.
»Ja, hat er.« Angesichts von Georges beschützerischem Eifer musste Rayne beinahe lächeln. George sah aus, als würde er selbst jeden Moment Feuer spucken.
»Und dann auch noch das Drachenauge, diesen berüchtigten Energiestein.« Er runzelte die Stirn. »Du hast ihn angefasst, sagst du?«
»Ja, einen Moment lang. Wieso?«
»Du hast hoffentlich Handschuhe getragen?«
»Ja, und eine Schutzbrille, damit er mir nicht die Netzhaut wegbrennt. Was ist denn los? Was hast du?« Rayne spürte Beunruhigung in sich aufsteigen.
George schüttelte den Kopf. »Wir werden ein energetisches Reinigungsritual durchführen müssen. Nur zur Sicherheit.«
»Was ist das Problem?«, fragte Rayne. George war doch sonst nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. Aber seit sie das Drachenauge erwähnt hatte, benahm er sich wie eine übervorsichtige Glucke.
»Ich weiß nicht. Es gibt da so Gerüchte. Der Kristall soll Unglück bringen«, sagte George. »›Hüte dich vor dem Blick des Drachenauges, denn sein kaltes Feuer bringt Seelen zum Schmelzen.‹ So heißt es jedenfalls. Keine Ahnung, ob da was dran ist.«
Rayne musste an das Pulsieren des Kristalls denken, als sie ihn aus der Vitrine genommen hatte. Schneller und immer schneller war es geworden. Ein seltsames Prickeln war ihren Unterarm hinaufgefahren. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl gehabt, das Drachenauge blicke sie an, schaue tief in ihr Inneres. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.
»Wie dem auch sei.« George räusperte sich. »Ein kleines Reinigungsritual kann nie schaden. Wenn du willst, können wir gleich damit anfangen.« Er ging zu einem Schränkchen neben dem Altar, in dem er seine rituellen Gegenstände aufbewahrte.
»Moment«, sagte Rayne. »Meine Geschichte ist noch nicht zu Ende.«
»Oh, tut mir leid.« George nahm verschiedene Dinge aus dem Schränkchen – eine Messingschale, ein Fläschchen mit einer braunen Flüssigkeit und etwas, das aussah wie ein großer mumifizierter Frosch. »Ich war so abgelenkt von dieser Sache mit dem Drachenauge. Erzähl weiter.«
Er zog ein glänzendes Messer aus der Hosentasche und schnitt ein Stück vom Bein des verschrumpelten Frosches ab.
Rayne wandte angewidert den Blick ab. »Ähm. Ist das das, was ich denke, was es ist?«, fragte sie.
»Die Zehe einer Kröte hat hervorragende reinigende Eigenschaften«, sagte George. »Keine Sorge, das Tier ist eines natürlichen Todes gestorben. An Altersschwäche. Hat mir der Händler jedenfalls versichert.«
»Na, da bin ich aber beruhigt.« Raynes Magen zog sich zusammen. Sie stellte die Teetasse auf den Boden.
»Also …« George gab das Krötenbein in die Schale und goss ein wenig von der braunen Flüssigkeit darauf. Er schwenkte die Schale hin und her. »Wo waren wir stehen geblieben? Du hast den Klunker geklaut und ihn deinem Boss, dem alten Reptil gebracht, ja?«
»Nein, eben nicht.«
»Wie das?« George blickte überrascht von der Schale hoch.
»Ich hätte dem Jadedrachen den Stein ja gerne gebracht, aber jemand anderes hat ihn mir abgenommen.« Bei der Erinnerung daran hätte Rayne sich immer noch vor Wut ohrfeigen können. Wie hatte sie sich den Kristall bloß so wegschnappen lassen können? Und damit den größten Diebeszug ihrer Karriere vermasseln? Sie war so nah dran gewesen! Und dann hatte sie sich von diesem Kerl mit den sinnlichen Lippen ablenken lassen. Wie eine verdammte Amateurin. Alec Rossokow – wenn sie den in die Finger bekam! Für das, was er ihr angetan hatte, würde er büßen, Werwolf hin oder her.
George sah sie immer noch an und schwenkte die Schale mit dem Krötenbeinsud.
»Da war ein Kerl. Aus der Wandlergilde.«
»Wandlergilde?« Erneut pfiff George durch die Zähne. »Diesmal hast du dir aber wirklich einen Haufen schlechtes Karma eingefangen, das muss ich schon sagen.«
»Es war nicht meine Schuld. Keine Ahnung, woher der wusste, dass ich genau zu diesem Zeitpunkt in der Eisenberger-Villa sein würde. Vielleicht hat er mir dort aufgelauert«, sagte Rayne. Sie erinnerte sich an den Angriff aus dem Dunkeln. Alecs Faust, die knapp an ihrer Wange vorbeigezischt war. Nur ihren guten Reflexen und einer gehörigen Portion Glück war es zu verdanken, dass sie nicht bewusstlos zu Boden gegangen war. Bei dem Gedanken packte sie erneut die kalte Wut. »Jedenfalls hat er sich das Drachenauge gegriffen und ist damit abgehauen. Das hat mich dem Jadedrachen gegenüber in ziemliche Erklärungsnot gebracht.«
»Ach, die alte Echse soll sich nicht so haben«, entgegnete George. »Du bist doch sonst immer die mustergültige Angestellte. Hast noch nie einen Auftrag vermasselt.«
»Irgendwann ist immer das erste Mal«, sagte Rayne düster. »Und dann auch noch ausgerechnet das Drachenauge.«
»Wenn du mich fragst, kannst du froh sein. Dieser Stein bringt nichts als Unglück. Je weniger du mit ihm zu tun hast, desto besser. Sollen die Wandler sich doch die Finger daran verbrennen.« George entzündete eine große rote Kerze auf dem Altar. Er flüsterte etwas, streute ein schwarzes Pulver über die Flüssigkeit in der Messingschale und hielt sie über die Flamme.
»Mein Boss sieht das anders«, sagte Rayne. »Und pass auf, jetzt kommt’s: Die Wandler wollen den Kristall gar nicht behalten.«
George nickte, wobei er die Augen nicht von der Flamme ließ. »Sehr vernünftig.«
»Offenbar haben sie ihn nur gestohlen, weil sie wissen, dass der Jadedrache ganz versessen darauf ist. Und sicherlich ein paar Dollar dafür springen lassen wird.«
George lachte. »Schlauer als gedacht, die Mondanbeter. Und, wie viel verlangen sie?« Er hielt die Messingschale noch einmal über der Flamme und goss die Flüssigkeit dann durch ein Sieb in einen kleinen Becher.
»Das haben sie noch nicht gesagt. Ich soll mich morgen mit ihnen treffen, um die Einzelheiten zu besprechen.«
»Sollen sie das alte Reptil ruhig ordentlich schröpfen. Geschieht ihm recht, dem ollen Geizhals.«
»Ach, so schlimm ist der Drache auch wieder nicht. Er kann auch ganz großzügig sein.«
»Ja, aber er hat dich ohne jede Unterstützung quasi in eine Festung reingeschickt, um ein brandgefährliches magisches Artefakt für ihn zu stehlen. Wenn Eisenbergers Wachleute dich erwischt hätten, wärst du jetzt nur noch eine hübsche Leiche. Das steht mal fest«, sagte George mit ernster Miene. »Ein solches Risiko lässt sich durch keine Bezahlung der Welt wettmachen.«
»Ich bin ja lebend wieder rausgekommen«, sagte Rayne lächelnd.
George verdrehte die Augen. »Nein, sag jetzt nicht, dass dir die Sache auch noch Spaß gemacht hat.«
Rayne lachte. Er kannte sie tatsächlich zu gut. »Ein bisschen schon, das muss ich zugeben. In eine Villa reinzumarschieren, die als unknackbar gilt, das ist der feuchte Traum jeder Meisterdiebin. Bis auf das Ende des Ausflugs. Das hatte ich mir etwas anders vorgestellt.« Missmutig blickte Rayne in die flackernde Kerze. Ihr Triumph wurde ein wenig dadurch geschmälert, dass sie offenbar nicht die Einzige war, die es geschafft hatte, in die Villa einzubrechen.
»Womit wir wieder beim Thema wären«, sagte George. »Weißt du, wer das war, der dir da aufgelauert hat?«
»Irgendein Wandler. Wobei mich schon sehr interessieren würde, wie sich so ein Werwolf da reinschleichen konnte, ohne dass ich etwas gemerkt habe.«
»Werwölfe sind ziemlich gerissen. Ich kannte mal einen, der war ein echtes Ass beim Pokerspielen.«
»Du warst mit einem Werwolf befreundet?«, fragte Rayne. Georges Affären der letzten Jahre hätten Stoff für mehrere Sitcoms liefern können. Aber dass er auch mal etwas mit einem Gestaltwandler gehabt hatte, war ihr neu.
»Ja, lange Geschichte.« George nickte. »Ich war ungefähr zwei Monate mit ihm zusammen. Einmal haben ein paar Nachbarn Animal Control gerufen, weil sie glaubten, einen streunenden Hund auf der Straße gesehen zu haben. Ich musste ins Tierheim fahren und ihn befreien, bevor die Vollmondphase vorbei war und er wieder menschliche Gestalt annahm.« Er lachte kurz und schüttelte den Kopf. »Ungefähr zur selben Zeit habe ich dann erfahren, dass er mich mit einer Werhyäne betrogen hat. Danach war es aus zwischen uns.«
»Es gibt Werhyänen?«, fragte Rayne.
George riss die Augen auf. »Baby, du hast nicht die geringste Vorstellung, was da draußen alles rumläuft. Aber immerhin hatte die ganze Geschichte auch ein Gutes. Damals im Tierheim habe ich Denver gefunden. Und was wäre ich heute ohne ihn? Nicht wahr, Buddy?« Er kraulte Denver den Hals. Der hechelte zufrieden. »Weißt du, wie der Werwolf heißt?«
»Sein Name ist Alec Rossokow. Kennst du ihn vielleicht?« Von seiner speziellen Kundschaft hörte George so einiges und war deshalb über Ereignisse in der Welt der Übernatürlichen meist recht gut informiert.
»Rossokow … Rossokow … Nein, das sagt mir nichts. Tut mir leid.« George hielt ihr den Becher mit der abgekühlten braunen Flüssigkeit hin. »Hier, trink das.«
Rayne zog die Augenbrauen hoch. »Das ist nicht dein Ernst, oder?«